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VII

Als die Büsche im Garten wieder grüne Blätter trugen und die Buchfinken in der Frühlingssonne tanzten und ihr »Würzgebier« und »Sieh-sieh« schmetterten, erwachte in Vitus ein ungeheures Verlangen nach Vernauts und er wurde nicht müde, mit dem betrogenen Herucker Pläne für den Sommer zu schmieden. Mit einem Gleichmut, der ihm selbst unerklärlich war, zerknitterte er im Sand ein Zettelchen mit einer Botschaft Gretls, indes er den unglücklich Verliebten tröstete, der vergeblich vor den kleinen Fenstern der Geliebten Wache stand und dem es auch bei Begegnungen niemals gelang, einen Blick von seiner kaltherzigen Göttin zu erhaschen. Manchmal durchfuhr Vitus das Gefühl seiner »Schlechtigkeit«, wie er sein Handeln bei sich nannte, wie ein schmerzhafter Stich, aber er war zu tief verstrickt, um für sich und den Freund einen Ausweg zu finden. Seltsam erschien ihm nur in jenen Stunden, da er mit sich allein war, daß ihn selbst jene Eifersucht, die den von fern anbetenden Herucker marterte, niemals befiel, obschon er des Alleinbesitzes durchaus nicht sicher war. Höllbarth pflegte auf seinem von Schmissen durchfurchten Gesicht ein eigenes Feixen aufzustecken, wenn er Vitus begegnete und Spadini, der seine unruhigen Augen überall hatte und wohl Lunte roch, hatte unlängst die Bemerkung gemacht, »rote Katzen hätten gewöhnlich mehr als einen Kater«. Vitus hatte an sich gehalten und dicke Ohren gemacht. Aber nur seine Eitelkeit war leicht gereizt worden, weh tat ihm der Gedanke nicht. Er besaß trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit jene kühlende Gabe der Mannesklugheit, immer seiner begehren zu lassen und lieber zu warten, als Verlangen zu zeigen, als ob er gewußt hätte, daß in dieser scheinbaren Gleichgültigkeit gerade der Zauber lag, der das Mädchen immer wieder zu ihm trieb. Des anderen aber, des Dichters Herz, zuckte in Qual und schrie nach der himmlischen Liebe, die es durch ein grausames Blendwerk des Geschickes in einem Gefäß suchte, mit dem der ewig wandelbare und vielgestaltige Gott andere Zwecke verband, Zwecke, die dem Leben dieser Erde und den einfachen Gesetzen der Natur dienstbar waren.

Dies alles empfand Vitus dumpf und in seinem hartnäckigen Schweigen dem treuen und aufrichtigen Freunde gegenüber war die unausgesprochene Erkenntnis begründet, daß der Gefährte ihn nicht hatte verstehen, nie die Notwendigkeit und Unabwendbarkeit des Geschehenen hatte begreifen können. Der wütende Schmerz, den die Wahrheit, das ausgesprochene Ungeheuerliche dieser auf unirdischen Pfaden wandelnden Sehnsucht bereitet hatte, wäre zwecklos gewesen und kein Eingriff, der Heilung gebracht hätte. So lenkte er das Gespräch immer wieder aus dem Kreise, den Heruckers Gedanken um die hoffnungslose Geliebte zog und zwang den anderen mit Glück in die Vernautser Erinnerungen. Herucker hatte stets Briefe von dort bei sich, bestellte Grüße von Leo, Christian und Moidl an den Sommergefährten und erzählte von den kleinen Ereignissen der engen und doch so unendlich weiten Welt dort oben. Ein neuer Kaplan war dem Pfarrer geschickt worden, ein lustiger, junger, eben flügge gewordener Seminarist, der gern Wein trank und auf Hochzeiten schnurrige Reden hielt. Der Geigei, den man stillschweigend gewähren ließ, hatte in der Klamm ein Heiligtum errichtet. Einen hölzernen, plump geschnitzten Gott, der ersichtlich männlichen Geschlechtes war und auf einem kunstvoll zusammengetragenen Altar aus Kristalldrusen, blauen Erzkiesen, Glimmerbrocken und sonstigen bunten Steinen stand. Ihn pflegte er mit Blumen und Tannenzweigen zu schmücken, zündete Opferfeuer an und sang ihm Hymnen. Die Dorfburschen wollten den Greuel zerstören, aber der alte Pfarrer hielt sie davon ab und meinte, man solle den armen Geisteskranken gewähren lassen, wenn er auf seine verschrobene Art Gott zu dienen wähne. Aber der Geistliche konnte sie nicht hindern, mit einem Axthieb wenigstens jenes heidnische Sinnbild der Zeugung vom Holzrumpf zu entfernen. Der Geigei tobte zwar tagelang und verfluchte, vom Berge brüllend, das ganze Dorf und die Pfaffen insbesondere. Schließlich gab er sich aber zufrieden und umwand den Leib seines geschändeten Gottes mit einem bunten Kopftuch, das er irgendwo von einem Zaun gestohlen hatte.

Bei solchen Geschichten stieg das Heimweh nach den Baumbartwäldern, den tosenden Wassern und den Wolken, die um himmelhohe Gipfel ihre Schleier spannen, mächtig in Vitus auf. Er vermeinte, den betäubenden Duft des trockenen Bergheues zu spüren, den Harzgeruch der sonnenwarmen Fichten, den beißenden Rauch nächtlicher Feuer. Er sah die Meisen und Stieglitze als bunte Federbällchen im Jungholz, hörte den ratschenden Schrei der Häher und das Trommeln verliebter Spechte. Und immer wieder kam es wie Reue über ihn, daß er Christian nicht näher gekommen war, daß er nichts von jener tiefen Freundschaft empfinden konnte, die Herucker unlöslich mit jenem verband. Es quälte ihn, daß er nicht eintreten durfte in den heimlichen Garten, in dem der Freund und der Pflasterergeselle mit dem Christusgesicht abseits von allen anderen Menschen wandelten. Das zornige Gefühl des Nichtbegehrtwerdens, des Ausgeschlossenseins, die stechende Eifersucht kamen immer wieder und mit ihm der beleidigte Stolz, der ihm damals die letzten Tage vergällt hatte. Als ihm einmal diese leise Pein des Verschmähtwerdens zu geringschätzigen, von ihm selbst als unwahrhaftig empfundenen Bemerkungen über Christian Prutzer trieb, mußte er die niederdrückende Entgegnung aus des sonst so gutartigen Freundes Mund entgegennehmen, daß er, Vitus, über Christian wohl doch nicht urteilen könne, da er ja nichts von ihm wisse, höchstens ein paar flüchtige gemeinsame Gespräche mit ihm im Beisein anderer geführt habe. Tagelang bäumte sich sein natürlicher Hochmut unter dieser kurzen Abfertigung, die ihn, wie etwa eine lässige Handbewegung einen urteillosen Schwätzer abtut, auf das zu verweisen schien, was ihm eben zugänglich sei. An dem Tage, an dem ihm das widerfuhr, ging er ins Haus und stand lange vor Veit Pieter Venloos strengem Bildgesicht. Aber in den kalten Augen des reichen Handelsherrn lag kein Trost und Vitus war es, als höre er jene Stimme wieder, die draußen im Reiche seine lebhaften Fragen mit einem schnodderigen »Jungens müssen nicht vorlaut sein« kurz und unfreundlich erledigte. Ganz anders aber als vorher wurde sein Verhältnis zum Vater. Professor Venloo trieb sicherlich ebenso ein dunkles und schmerzliches Ahnen zum Sohn, wie diesen die traurige Mitteilung des Arztes dem Vater näher brachte. Aber nie war bisher ein Wort oder eine Andeutung zwischen ihnen gefallen, die sich auf die unerbittliche Gewißheit der langsamer oder schneller nahenden Scheidestunde bezog. Es war Vitus in solchen Stunden eines ergreifenden Beisammenseins oft, als sehe er jetzt erst deutlich das schmale und leidend gewordene Gesicht des Vaters, die Silberfäden an den Schläfen und im kurzen Vollbart, das blaue Schlänglein einer Ader auf der hohen Stirn. Manchmal brannte wie eine Stichflamme der Schmerz in ihm auf, daß dieser Geist, der aus den klugen, ach so müde gewordenen Augen strahlte, sich anschicken würde den Leib zu verlassen. Er war noch zu jung, um das Mitleid mit sich selbst von dem edleren Schmerz um ein geliebtes Leben, um dieses Leben an sich, sondern zu können. Professor Venloo fühlte mehr von diesen Empfindungen seines Sohnes, als sein Mund sagen wollte. Die Stunde zu nutzen, schien ihm das Wichtigste und des eigenen Sohnes Freund zu werden, so lange ihm noch Atem und Herzschlag zugemessen waren. So entstand während der Gespräche im Arbeitszimmer und bei den Wanderungen im Inntal eine überaus innige Wechselbeziehung zwischen beiden, die Vitus unsagbar glücklich und hemmungslos aufrichtig machte. An der Hand des Vaters und unter seiner Führung betrat er das geistige Reich der Erwachsenen, lernte urteilen, erwägen und schätzen. Mit Hilfe des überlegenen Geistes, der sich mit heiß auflodernder Liebe dem weiterlebenden Teil seines Selbst zuwandte und den Unterschied der Jahre als belanglos angesichts der Pforten der Ewigkeit beiseite schob wie ein verhaßtes und unnützes Hindernis, rückten das Urteil und die Einsicht des Sohnes weit über den gewöhnlichen Entwicklungsgang seiner Jahre hinaus. Zwei unglücklich bejahrte Menschen, von denen der Ältere sich liebend zurückdenkt und der Jüngere sehnsüchtig nach des Älteren Weisheit die Hände reckt, müssen sich finden.

Alles Kindische und Bubenhafte in der Beurteilung der Lehrer fiel von Vitus ab und er sah sie alsbald, wie sie in Wirklichkeit waren, ohne das teuflische Beiwerk, das der Schwächere dem Gewalthaber gerne andichtet. Er lernte sie als Menschen kennen, als sorgenvolle Familienväter, als von Leid Bedrückte, Enttäuschte, im ewigen Werkeltag Graugewordene. Er erkannte die niedrige Kunst der Regierenden, an deren Spitze unnahbar und selbstherrlich ein manchmal gutgelaunter, manchmal boshafter Mensch stand, jene billige Hundeabrichtekunst, die Zuckerstücke für gutwillig Unterwürfige, die Peitsche für Eigenbrötler und Widerspenstige immer bereit hielt. Dietlieb blieb in alle Ewigkeit Supplent, weil er mit den schwachen Ärmchen an des Glaubens Stütze, wie es im Lied heißt, zu rütteln versucht hatte, Summerfeld verwelkte aus ähnlichen Gründen in der Tretmühle des Gymnasiums und Dr. Eierweck erhielt für ein wohlgefällig aufgenommenes »Lehrbuch der Geschichte«, voll von bewußten Verdrehungen und Klitterungen, die Stelle eines Direktors und den Franz Josef-Orden nebst der Anwartschaft auf weitere Gunstbezeigungen.

Aber nicht nur Personen lernte Vitus richtig sehen. Er erkannte, sorgsam geführt, das namenlose Unglück, in das dies herrliche, dem deutschen Volk rechtmäßig zu eigen gehörende, von ihm in das Reich der Kultur erhobene Land durch jenen Ferdinand gestürzt wurde, der die entsetzliche Zerfleischung des Religionskrieges aufleben ließ und die schon befreiten Geister wieder in das Elend überwundener Umnachtung stieß, die unseligen Gegensätze zwischen Süd und Nord, die Unfähigkeit der deutschen Menschen, sich vom Ränkespiel ihrer Herrscher und Fürsten zu befreien, die Zerrissenheit der Nation, ungezählten Maden und Schmarotzertieren ein Lebensbedürfnis und von ihnen mit allen Mitteln gefördert. In hellem Feuer schlug des Vaters innigste und heiligste Überzeugung aus der Asche empor, in die sie um der Lebensumstände und um des Amtes willen scheinbar versunken gewesen war, und Funken von dieser Glut fielen in die Seele des Jünglings. Er empfand denselben wehen Schmerz, den der Vater fühlte um das Wissen, wie schnöde sich das geeinte Deutschland unter der überklugen Führung Bismarcks von seinen verlassenen Brüdern in Österreich und Ungarn abgewendet hatte, wie gieriges Verdienertum und sogenannte Weltpolitik den Alleinstehenden die undankbare Rolle aufhalste, widerwillig Slawen und Romanen für den Kriegsfall zu »binden«. Von den Deutschen an der Donau, in Böhmen und Ungarn wußten sie draußen weniger als von Zulukaffern und Buschmännern. Feinere und empfindsamere Art wurde oft genug mit »Schlappheit« bezeichnet, Besuche bei den Brüdern in Österreich brachten nicht selten schnodderige Belehrungen und hochmütiges Schelten auf die österreichische Wirtschaft mit sich. Und Professor Venloo, der ganz und gar ein deutscher Österreicher geworden war, kränkte sich mit dem Volke seines zweiten deutschen Vaterlandes und trauerte um dessen verkannte Werte, die im lauten Geschrei der Ellenbogenmenschen, deren es da draußen allzuviele gab, keinen Marktpreis hatten und höchstens als Gegenstände des Tadels schienen. Und die Freiheit, um die die Väter auf die Barrikaden stiegen und ihre lieben einfältigen schwarz-rot-goldenen Fahnen küßten, diese Freiheit lag tiefer verschüttet denn je. – – Nur Sätze waren es, die der Professor sprach, nur einzelne Bilder, die er zeichnete. Samenkörner waren es nur, die später, viel später vielleicht aufgehen würden in der jungen Seele des Venloo, der von ihm übrig blieb, Blut von seinem Blute und Geist aller seiner Vorfahren.

Einmal zur Zeit der großen Reinigung des Hauses, die der Mutter die Abwesenheit von Mann und Sohn erwünscht machte, gingen sie den Inn entlang nach Hall, unter hellblauem freundlichem Himmel und weißen Lämmerwölkchen. Die braungrünen Gipfel des Glungetzer und die runde Kuppe des Patscherkofels waren goldig überhaucht, die Wände der Nordwand, der südlich ragenden Waldrast und Seile leuchteten in hellem Kalkgrau. Nur der Fluß, voll vom Raub der Bergbäche und seiner eigenen, ewig gescheuerten Ufer blieb lehmbräunlich, wie immer wenn es geregnet hatte. Diesen Weg liebten sie besonders. Er war damals selten benützt, nur manchmal ging ein Jäger den Fluß entlang oder ein einsamer Landstreicher, der sein Hemd zu waschen gedachte. Heute begegnete ihnen ein seltsamer Trupp. Savoyarden, die einen Affen und ein Dromedar mit sich führten und die Tiere flugs einige kleine Künste machen ließen, als sie die äußere Wohlhabenheit der beiden erkannten. Mit einer Spende kaufte sich der Vater von den bettelnden braunen Buben, den Kindern des wandernden Paares, los. Aber der Anblick der heimatlosen Fremdlinge wirkte in Vitus nach.

»Vater, ich wollte dich schon lange etwas fragen,« sagte er, »sind wir, du und ich, eigentlich Deutsche? Wir stammen von Vlamen und Franzosen ab und die Frau des Alderman Venloo soll doch eine Spanierin gewesen sein?«

»Wir gehören dem Volke, das uns erzogen hat und dessen Sprache uns die Mutter lehrte, also dem deutschen Volke. Das sollst du nie vergessen, Vitus, und wenn dir je einer sagt, daß dein Blut gemischt sei, dann sage ihm, daß das Herz, das dieses Blut wandern macht, ein deutsches Herz sei.«

Wie ein leichter zuckender Schlag fiel dieses Wort in des Jünglings Seele und stolz erzählte er von jenem Aufsatz, der Dietlieb so wohl gefallen hatte, daß er ihn vorlesen ließ. Ein Lächeln ging über Professor Venloos Gesicht und sein Arm legte sich zärtlich um des Sohnes Schultern. »Das freut mich, Vitus, das freut mich, daß ich das noch hören durfte.«

Fast erschrocken sah Vitus den Vater an. Er hatte damals aus einem ihm selbst unbegreiflichen Schamgefühl nichts von dem Schulvorfall gesagt. Der Vater erschien ihm ergriffen und gerührt und das wirkte so sehr auf ihn, daß er nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Sie setzten sich, da Professor Venloo müde war, auf einen Baumstamm, den der Fluß bei der letzten Überflutung hier liegen gelassen hatte und sahen eine Weile schweigend in die rasch gleitenden schäumenden Wellen und auf den Kies des Ufers, in dem glattgeschliffene Holzstücke und allerlei Scherben staken.

»Wenn ich einmal nicht mehr bin, Vitus, denke an dieses Wort, das von selbst von dir und mir entstand, an das Wort vom deutschen Herzen. Nur darauf kommt es an – du wirst manches erleben, was meine Augen nicht mehr sehen werden. Meine alte Mutter, die eine ›Kiekerin‹ war, wie man in Westfalen sagt, weil sie die unheimliche Gabe hatte, in gewissen Augenblicken Zukünftiges zu sehen, sagte einmal, bittere Schmach und tiefes Leid würde noch über alles kommen, was deutscher Art sei. Obwohl vieles eintraf, was die Mutter sagte, daran kann und will ich nicht glauben. Wenn es aber ja wäre, Vitus, und du müßtest es erleben, dann laß diese Stunde noch einmal lebendig werden und bleibe deutsch, wie es auch in der Welt aussehen mag. Aber die Mutter hat hinzugefügt: ›Dem deutschen Leid wird eine Krone, herrlicher als die, die auf den Häuptern der Kaiser strahlte.‹ Dies sagte sie ehe sie starb. Und auch dieses Wort sollst du für dich behalten.«

Der Professor sah in den Himmel.

»Die Geschichte dieser Welt und ihrer Völker ist voll von gewaltigen Umänderungen. Alles, was geschieht dient einem Zweck des Göttlichen, oder wie immer du die Logik alles Geschehenen nennen willst, mein Sohn. Da Karthago zu Schutt ward und das ewige Rom in Scherben brach, ungeheure mächtige Städte unter dem Wüstensand begraben liegen und riesige Stämme menschlicher Rassen spurlos verschwanden, kann keinem Staat und keiner Einrichtung ewiges Leben geweissagt werden. Nicht an die äußere Macht deines Volkes sollst du glauben, Vitus, sondern an dein Volk selbst. Nur wenn du ihm treu bleibst, kannst du dir getreu sein. Und wendest du dich je von ihm, dann wendest du dich von Vater und Mutter und bist, wie es in der Bibel heißt, ein Rohr im Winde.« Vitus griff nach der Hand des Vaters und drückte sie. Jäh und unvermittelt, als wollte die Seele eine quälende Last abschütteln, stieß er ein Geständnis hervor. »Ich habe Heimlichkeiten vor dir – ich – ich habe mit Mädchen – ich – war –« Glühende Röte überzog sein Gesicht. Der Vater schwieg. Als Vitus ihn anblickte, sah er, daß er lächelte.

»Das weiß ich längst,« sagte der Vater. »Ich habe es an deinem Benehmen, an kleinen Äußerlichkeiten erkannt –. Ich wünsche aber keine Einzelheiten zu wissen. Das muß jeder durchmachen, muß irgendwie damit fertig werden. Es geschah früher als ich dachte –. Du bist noch nicht neunzehn. Deine Mutter ahnt es wohl mehr als sie es weiß. Sprich aber nie mit ihr von solchen Dingen.«

»Nein, Vater.« Ein stürmisches Gefühl von Glück und Geborgenheit erfüllte Vitus ganz. Nun war die letzte Schranke gefallen und kein widriges Geheimnis stand zwischen ihm und dem Vater. Es war ihm zu Mute wie damals, als er, ein gläubiges Kind, zum erstenmal von seinen kleinen Sünden im Beichtstuhl losgesprochen ward und mit allen Fibern fühlte, wie rein und weiß seine Seele geworden war, rein und würdig, den Leib des Herrn zu empfangen.

Als sie aufstanden hielt er noch immer die Hand des Vaters in der seinen, wie in jener Zeit, da er an dieser gütigen Hand in die Schule ging. Nur daß er diesmal mit aufsteigender Angst das rasche Klopfen des Pulses fühlte, die zuckende Spannung des Blutstromes, den des Vaters krankes Herz so pochen ließ.

 

Der Religionsprofessor Zeindl hatte sein anfängliches Mißtrauen, das ihm das verwandelte Benehmen Vitus' eingeflößt hatte, überwunden und war sehr zufrieden mit den Kenntnissen, die der junge Venloo aus der Kirchengeschichte an den Tag legte. Weniger angenehm war ihm, daß durch das Protektorat der von seinem jüngeren Kollegen ins Leben gerufenen marianischen Kongregation sich Altböck bemerkbar zu machen begann. In den Zeitungen tauchten des öfteren kleine bissige Mitteilungen auf, die versteckte Angriffe enthielten auf »die gutmütige Schwäche jener, die strenger ihres Hirtenamtes über junge irrende Seelen walten müßten.« Gewisse Bemerkungen, die sich mit inneren Vorgängen auf dem Gymnasium beschäftigten, verrieten, daß sie nur aus der Mitte der Schüler gespeist worden sein konnten. Einer Klage über gottlose Bücher, die in der vom Supplenten Dietlieb geleiteten Schülerbibliothek enthalten seien und ausgeliehen wurden, ließ der namenlose Schreiber schließlich einen Jammerruf folgen über die mangelnde Andacht der Schüler, über die lässige Art des Religionsunterrichtes im Gymnasium. Dieser unmittelbare Angriff hatte unvorhergesehene Folgen. Zu Beginn der Religionsstunde, die dem Tage dieser Zeitungsnotiz folgte, erschien Professor Zeindl mit einem so finsteren und strengen Gesicht, daß sich ein jähes Unbehagen in der siebenten Klasse verbreitete. Der Geistliche wehrte den Primus, der wie gewöhnlich Hut und Stock in Empfang nehmen wollte, unwirsch ab, und ging, fest die knarrenden dicksohligen Schuhe aufsetzend über das Podium zum Lehrerpult. Anstatt Platz zu nehmen blieb er stehen und sandte durch blitzende Brillengläser einen furchtbaren Blick über die Schüler, die sich als zum Beginn der ersten Unterrichtsstunde zum gewohnten Abbeten des Vaterunsers anschickten.

»Das Schulgebet unterbleibt!« rief der Religionslehrer; »da, wie gestern in der Zeitung zu lesen war, die Andacht fehlet beim Gebete, so wollen wir es unterlassen – bis auf weiteres.« Sein weißes, borstig emporstehendes Haar schien sich zu sträuben, sein volles Gesicht wurde rot. »Und jetzt schreite ich zu einem Verhör, das mich mit Scham und Schande erfüllet. Aber es muß sein!«

Unter dem atemlosen bangen Schweigen der Klasse zog er einen beschriebenen Zettel aus der Tasche seines schwarzen Rockes und sagte: »Wollen Sie alle genau auf diese von mir verfaßte Erklärung achten und mit einem lauten und vernehmlichen ›Ja‹ sich bei Namensaufruf als nichtschuldig erklären, natürlich nur dann, wenn Sie es vor Gott und Ihrem Gewissen tun können.« Er nahm den Zettel und las. Seine fleischige Bauernhand zitterte. »Ich erkläre mit meinem Manneswort, jenen Notizen in den Zeitungen, wonach meinem Religionslehrer gutmütige Schwäche, Lässigkeit, Herrn Professor Dietlieb das Ausfolgen gottloser Bücher an Schüler des Gymnasiums und hinwiederum meinen Mitschülern mangelnde Andacht bei der Religionsstunde vorgeworfen wird, völlig fern zu stehen und weder mit Worten noch sonstigen Benachrichtigungen oder Machenschaften irgendeiner Art daran beteiligt zu sein.« – »Haben Sie alle dies wohl und genau verstanden? Oder hat jemand eine Frage zu stellen oder etwas zu sagen?« Ein Gemurmel entstand, aus dem das Wort »verstanden« aus vielen Kehlen drang.

»Ich warte, ob mir niemand freiwillig etwas zu sagen hat? – Nein? Josef Abrechter treten Sie vor. Sie wie jeder folgende werden mit einem einfachen Ja im Sinne der verlesenen Erklärung mit Manneswort ihre Unschuld in Bezug auf die Zeitungsangriffe dartun!«

Der Aufgerufene, ein blasser, sehr armer Schüler aus einer Gemeinde des Stubaitals trat schüchtern vor, sah aber dem Lehrer gleichwohl und frank in die flammenden Augen und sprach ein lautes »Ja.«

»Es ist gut,« sagte Professor Zeindl und machte einen Strich in sein Büchlein. »Der Nächste! Pius Altböck!«

Aller Blicke richteten sich auf den Mitschüler, der langsam aufstand. Sein finniges Gesicht war leichenblaß. Unsicheren Schrittes trat er vor die erste Bankreihe.

»Nun?«

Er schwieg und blickte den Geistlichen scheu und von unten herauf an. Zeindl faßte mit der Hand unter den mit blauen und weißen Perlen bestickten Halsstreifen, als würge ihn etwas.

»Feierlich frage ich Sie, Pius Altböck, angesichts Ihrer Mitschüler, können Sie dieses Ja aussprechen oder nicht?«

Der Bursche richtete sich auf und sagte mit heiserer Stimme:

»Ich hielt es für meine Pflicht, einem befreundeten Redakteur die Wahrheit zu sagen – –«

Vitus sah deutlich, wie Zeindl zusammenzuckte. Das feurige Rot wich aus dem Gesicht des Priesters. Er hob die geballte Faust, als wollte er sie auf den lockigen Schädel Altböcks niedersausen lassen. Aber dann öffnete sich die Hand zu einer großen wegweisenden Gebärde und grollend füllte die Donnerstimme Zeindls das Zimmer.

»Judas! – Judas Ischariot! – Hebe dich hinweg aus der Gemeinschaft dieser Klasse!«

Altböck öffnete den Mund – aber Zeindl stampfte mit dem Fuß auf den hohlen Bretterboden, daß er in allen Fugen krachte und schrie:

»Vorwärts! Nehmen Sie Ihre Bücher und wagen Sie es nicht, sich noch einmal in meiner Stunde blicken zu lassen: Ich weise Ihnen hiemit für immer die Türe. Fort mit Ihnen aus meinem Angesichte, Sie elender Verräter!« Er ballte bebend vor Aufregung die Fäuste. »Marsch hinaus, Lausbua, ellendiger, oder i vergreif mi an dir, trotz meines geistlichen Gewandes!« Altböck nahm mit einem Griff seine Bücher aus der Bank und verließ eiligst das Schulzimmer. Krachend flog die Tür ins Schloß.

»Schuft! – Schuft!« Viele Stimmen riefen es hinter ihm her.

Der Geistliche wankte zum Pult, von dem er sich einige Schritte entfernt hatte und ließ sich in den Sessel fallen. Er bedeckte einen Augenblick sein Gesicht mit beiden Händen. Als er sie entfernte, sah Vitus Tränen in seinen Augen.

»Meine lieben jungen Freunde – –« sagte er dann und seine Stimme klang unsicher. »Meine lieben Freunde – wenn ich Unrecht getan habe, so stehe einer auf gegen mich und sage es ohne Scheu!«

Da sprang Spadini auf und rief:

»Ein Hoch unserm geliebten Professor Zeindl!«

Und brausend stimmten alle ein.

Der Lehrer nickte mit dem Kopf, schneuzte sich dann umständlich und sagte rasch in völlig verändertem trockenen Ton:

»Kluibenschild, was wissen Sie mir vom Konzil in Nicäa zu sagen?«

Und stoßend, in langen Pausen, ängstlich auf den einflüsternden Nachbar Wisiak achtend, beantwortete der Aufgerufene die Frage.

Der Schluß der Stunde gab Anlaß zu neuen Kundgebungen für den überaus beliebten Seelsorger und Professor. Und kaum hatte er sich den begeisternden Zurufen entzogen und das Schulzimmer verlassen, wischte Isidor Geduldig bei der Tür herein, vor der er, der beim katholischen Religionsunterricht nicht anwesend zu sein hatte, offenbar schon lange Zeit wartend stand.

»Nu, was war?« rief er aufgeregt. »Den Altböck hab ich rennen sehen, weiß wie die Wand. Was is?«

Aufgeregt durcheinander sprechend erzählten ihm mehrere zugleich den Vorfall. Er war höchlichst befriedigt.

»Was hab ich gesagt? Ein Schuft ist er, der Altböck, ein Untham. Kunststück, daß der Herr Geistliche draufgekommen ist, was für ein Gauner der Altböck war. Wenn er aber doch wieder kommt?«

»Den kummte nimmer!« rief Petrsil, dessen Freundschaftsgefühle gestorben zu sein schienen. »Den hochwirdige Herr mecht ihm bei Kragen nehmen und hinausschmeißen, natirlicherweise.«

Altböck erschien sehr früh am nächsten Tage, der mit einer Griechischstunde anfing und holte ein vergessenes Buch aus seiner Bank. Niemand grüßte ihn. Schweigend ging er zur Tür, sah sich noch einmal um, machte eine geheime Gebärde und schrie:

»Ihr könnt's mich alle miteinander ...«

Das war sein Abschied. Wie man später erfuhr, durfte er auf besondere Verwendung einflußreicher Personen das Schuljahr im Brixner Gymnasium beenden. Die Innsbrucker Anstalt lehnte ihn ab, denn Professor Zeindl hatte kurz und bündig erklärt, daß er bei fernerem Verbleiben dieses Menschen im Gymnasium der Hauptstadt sein Gesuch um Übernahme in den Ruhestand einreichen und den Unterricht abbrechen werde. Und mit dem im ganzen Lande ungemein verehrten Priester wagten auch jene nicht anzubinden, bei denen Naturen wie Altböck beliebt und als vielversprechend angesehen waren.

Vitus, der sich längst an regelmäßige Erledigung seiner Arbeiten und an Aufmerksamkeit in den Unterrichtsstunden gewöhnt hatte, verlor allmählich auch das demütigende Gefühl, das ihn früher bei seinen häufigen Schwierigkeiten in der Schule befallen hatte. Dennoch mühte er sich nicht, über ein gewisses wohlanständiges Mittelmaß hinauszukommen. Seine geschultere und freiere Selbstbeobachtung ließ ihn seine geringe Begabung für Mathematik und Physik erkennen und Unlust stellte sich nur mehr im Unterricht im Griechischen ein, freilich gefördert durch die entsetzlich methodische und dürre Art, mit der Karfreiter die Stunde in eine Zeitspanne voll gähnender Langeweile verwandelte. Die einzige Würze dieser Öde bestand nur in den zahlreichen »Fußangeln«, wie der alte Schulfuchs die in den von ihm verfaßten Schularbeiten verborgenen Fallen nannte. Die Wahrscheinlichkeit, mit der der größte Teil der Schüler einen falschen Aorist anwendete oder ein seltenes Zeitwort, das zu gebrauchen eigens im Text vorgeschrieben war, nicht zu biegen wußte, bereitete ihm großes Vergnügen, fast mehr noch aber die Schattierung der Notenziffern durch Bruchzahlen oder Minusstriche. Aus diesem Zahlenallerlei pflegte der Krax dann am Ende des Schuljahres mittels einer geheimgehaltenen verzwickten Rechnungsart die endgültigen Zeugnisnoten herauszutifteln. Aber immerhin konnte Vitus dem Tage der Zeugnisverteilung, der mit den schönen, immer goldener scheinenden Sommertagen näherrückte, unbesorgt entgegensehen. Der Vater machte auf Wunsch des Arztes eine Ruhekur durch, schlief viel unter Tags und schien sich wieder etwas zu erholen. Aber in die Augen der Mutter war ein ängstlich gespannter Ausdruck getreten und eines Tages, als man zur Ruhe ging, ergriff sie die Hand des Sohnes und flüsterte: »Bet auch, Vitus, daß uns der liebe Vater erhalten bleibe!« Da ward ihm klar, daß das ahnende Gefühl der Mutter auch ohne die Mitteilung des Arztes, die er, Vitus, ängstlich hütete, die Gefahr erkannt hatte, die über dem Hause im blühenden Garten und über dem heimlichen Glück schwebte.

Bei den Freunden schien sich alles zum Besseren wenden zu wollen. Plöchhammer kam wieder regelmäßig ins Gymnasium, er hinkte wohl stärker als früher, aber die bohrenden Schmerzen im kranken Bein waren seit dem letzten Eingriff verschwunden. Heruckers fahle Wangen, die ein schwarzer Bartflaum zu überwuchern begann, zeigten allmählich wieder Farbe. Vitus war in der letzten Zeit häufiger in die Schmiedewohnung gekommen, vielleicht nicht ganz ohne Ichsucht, denn Vinzenz Plöchhammer hatte eine wundervolle Gabe, ihm über die mathematischen und physikalischen Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, mit denen er allein ziemlich hilflos kämpfte. Manchmal kam auch das »Judenbubele«, wie der Alte Isidor mit Wohlwollen nannte, und half mit. Ihm waren diese Dinge ein Spaß und die verwickeltsten Gleichungen löste er sozusagen im Kopf. Selten erschien in der Feierstunde Malzey, dessen Brustkasten sich ausdehnte und dessen Armmuskeln hart wurden, und betonte unbefragt und hartnäckig, wie zufrieden und wohl er sich als Handwerker fühle.

Eines Abends, als sie im Garten saßen und Bier tranken, erschien er frisch gewaschen, auf dem blütenweißen Hemd den roten Seidenschlips, hieb Isidor derb auf die Schulter, daß er erschrocken zusammenfuhr, tat einen tiefen Zug aus Vitus' Glas und setzte sich dann an den Lattentisch, die Virginia im Mundwinkel.

»Nun, Euer Hochgelahrt,« wandte er sich an Vitus, »wollet mir doch eine Liebe tun, Euer Gestrengen! Da schau her, ob du das lesen kannst!« Und er reichte Vitus einen fleckigen, französisch geschriebenen Brief hin.

Vitus sah nach den ersten Zeilen, daß dieses Schreiben in jenem Patois abgefaßt war, dessen sich wallonische Arbeiter bedienten. Er kannte die Sprache aus seinen Kinderjahren, aus Ferientagen in des Großvaters Fabrik ziemlich gut.

»Lies vor!« rief Malzey und stemmte die Arme auf den Tisch, die weiß mit schwarzen Poren bedeckt aus dem aufgekrempelten Hemd kamen. Vitus bemerkte, daß auf dem rechten Unterarm in leuchtendem Rot zwei Fahnen und ein verschlungenes Händepaar, sowie die Buchstaben K. F. tätowiert waren. Er las:

» Cher camarade! Lieber Kamerad! Ich bin zur Zeit in der Glasfabrik Bruart in Seraing und habe viele Kameraden gefunden und angeworben. Nach Deinem dreckigen Österreich komme ich nicht so bald zurück, auch sind die Mädchen hier lustiger und machen weniger Geschichten als bei Euch. Du sollst Dir auch einmal die Welt besehen. Es wächst allerlei in der Stille, was einmal blühen wird, so daß die Schweine, die uns jetzt ausbeuten, die Hosen voll haben werden, wenn es so weit ist. Ich kann das Deutsche nicht schreiben und deshalb sage der Kleinen, die Du kennst, es tut mir leid, daß sie von mir ein Kind bekommt. Sie soll es aufziehen in Liebe für die Armen und in Haß gegen die Reichen. Ich habe mich arg verbrannt im Glasofen und habe Zeit zum Schreiben. Es ist die linke Hand, die Seite und auch der linke Hintere hat sein Teil. Das macht nichts. Schreibe bald, ich kann das Deutsche gut lesen, nur nicht schreiben. Tod den Kapitalisten! Gruß an die Freunde! Dein Henri Bottin, 17 rue des Moulins, bei Madame Gilles.«

»Großartig!« rief Malzey und riß den Brief wieder an sich. »Das ist ein Kerl, der Henri!«

»Fein ist der Brief gerade nicht!« meinte Isidor.

»Fein? Ah, fein sind wir nicht, Herr Isidor Geduldig. Die Feinen seid Ihr. Aber nur langsam! Na – wie der Herr Baron Hochschreck! Im Gymnasium hat er nichts dagegen gehabt, wenn ich in der Zwischenstunde mein Weckerl mit ihm geteilt habe. Zu fressen hat er ja nichts gehabt, der Bettelbaron. Aber nobel tun, das ja! Und wie ich vor ein paar Tagen auch bei so einem Kerl, dem Grafen Pinti, am Haustorschloß gearbeitet hab, ist er auf Besuch gekommen. ›Servus Hochschreck!‹ hab ich gesagt. Da hat er mich so gewiß, versteht Ihr, von oben bis unten angeschaut und hat gesagt: ›Guten Tag!‹ So schön durch die Nase hat er das gesagt, wie der Isidor, der drei Sprachen spricht, deutsch, hebräisch und durch die Nas – der blöde Kerl! Das nächste Mal werd ich ihn zu etwas einladen – –«

»Aber geh, du wirst dich doch nicht über den Affen ärgern,« sagte Vinzenz begütigend und zündete seine Pfeife mit der schön gemalten Fliege an. Vitus, der ganz verloren gewesen war in Gedanken, die der Brief des belgischen Arbeiters in ihm hervorgerufen hatte, fühlte eine leise Röte in sein Gesicht steigen und dachte daran, wie er vor kurzem in einer dünkelhaften Anwandlung dem alten Schulgefährten ausgewichen war, bloß weil seine Kleidung die eines Handwerkers war und dann vielleicht aus einem Hochmut, der dem Hochschrecks verwandt war. Umsomehr stimmte er in die Mißbilligung von Hochschrecks Benehmen ein, obschon eine leise innere Stimme ihn der Falschheit zieh. Jetzt wie so oft merkte er mit unbehaglichem Staunen, daß ihm viel fehle zur inneren Festigkeit und zum ehrlichen Bekennen seines Empfindens. Solche Niederlagen vor sich selbst schmerzten ihn lange und die Strafe der Selbstverachtung, die ihm das Schwanken seiner Gefühle eintrug, wirkte nach und quälte ihn. Die ruhelose Fragenatur Isidors hatte sich unterdessen an dem sinnbildlichen Schmuck gefestet, den die Haut des Schmiedelehrlings trug, und Malzey machte gar kein Hehl daraus, daß die Buchstaben K. F. kommunistische Föderation bedeuten. Die prahlerischen Erklärungen, die er an diese Bezeichnung knüpfte, waren den anderen drei so gut wie unverständlich und seine geheimnisvollen Andeutungen ließen ihnen das Ganze als eine jugendliche Torheit, etwa von der Art der Hercynia erscheinen. Isidor, dessen brennender Ehrgeiz stets rege war, erzählte in der ersten Gesprächspause, daß sein Vater Mitglied eines Geheimbundes wäre, der, » B'nai Brith« heißend, über ungezählte Millionen verfüge, und Vitus wieder erklärte, daß sein Großvater und sein Onkel Marlemont Freimaurer seien und daß von seinem Urgroßvater her noch ein kleiner silberner Sarg da sei, den dieser an der Uhrkette getragen habe und in dem etwas verborgen wäre, aber man könne ihn nicht öffnen. Malzey rief, er solle ihn nur mitbringen, das Öffnen wolle er schon besorgen. Aber da kam der alte Plöchhammer und damit hatten solche Gespräche ein Ende.

Sie saßen noch lange, indes die Amseln in den Büschen sich zusammenschrillten, und lauschten andächtig der Geschichte von der Herberge im Walde, die der Alte noch gesehen hatte. Da stand in der Mitte des Schlafraumes eine dicke runde Säule und um diese Säule ordnete der Wirt die Strohlager der müden Gäste so an, daß die Kopfpolster alle sternförmig an der Säule lagen. War dann alles in tiefen Schlaf versunken, dann löste sich oben der breite Ring, der die Säule als Aufsatz zu schmücken schien. Dieser schwere breite Ring fiel krachend herunter und tötete alle Schläfer zugleich. Einmal aber kamen sechs Studenten in die Mordherberge, darunter war einer, der Ahnungen hatte. Er bewog seine Kameraden mit ihm zu wachen, und so sahen sie um Mitternacht, wie die höllische Maschine dort niedersauste, wo ihre Köpfe hätten liegen sollen. Da zogen sie ihre Stoßdegen und warteten an der Türe, und als der Wirt und die Wirtin mit Licht nachsehen kamen, Messer und Beil in Händen, fuhren ihnen die schmalen scharfen Klingen durch den Leib.

Solche Erzählungen waren für Vitus wie ein erregender Trunk. In dem Verlangen, in längst vergangene Zeiten unterzutauchen und sie aus eigenem mit jener blühenden Romantik zu schmücken, die ein Erbteil deutschen Blutes ist, fand er sich auf das Innigste mit Herucker. Und beide waren sie am liebsten in Malzeys Gesellschaft, wenn dieser sich nicht in wirren und großsprecherischen Reden gefiel, sondern eine weichere Stunde hatte und die Gitarre vom Nagel nahm. Er war trotz seiner vom Handwerk mitgenommenen Finger ein vollendeter Künstler auf der Zupfgeige. Dann saßen sie und sangen im abenddunklen Garten unter Funkelsternen und der blanken Mondsichel »Innsbruck, ich muß dich lassen –« und andere Lieder, die vor Hunderten von Jahren aus der betrübten Seele wandernder Bursche ans Licht gekommen waren. Aber Malzeys friedliche Stimmung hielt selten lang an. Isidor Geduldig erkannte sein inneres Wesen am schärfsten. Einmal, als sie nach Hause gingen, sagte er unvermittelt: »Wie es dem Malzey weh tut, daß er nicht mehr studiert und wie er seinen Vater haßt! Alles, was er redt, seine Wut gegen alle, sein ganzes Schimpfen auf die Welt – wen meint er? Nur seinen Vater –.«

Einmal begegnete Vitus der ganzen »Hercynia«, die aus der Vorstadtkneipe kam. Es dämmerte und er dachte, sich in den Anlagen an den einstigen Gefährten vorbei zu schleichen. Aber der kleine Obermayer erkannte ihn und machte Spadini auf ihn aufmerksam. Da umringten sie ihn und Spadini blies ihm seinen Bieratem ins Gesicht. »Servus Musterknabe,« rief er, »gehst vielleicht zu deinem roten Katzerl?« Vitus zwang sich zu einem Lächeln und kehrte mit ihnen um. In den Späßen, die Spadini und andere mit ihm machten, lag etwas wie Händelsucht und er fühlte, daß man seinen raschen und scheinbar unbegründeten Austritt aus der verbotenen Verbindung mit einer Geringschätzung betrachtete, die fast jener glich, mit der man Angeber behandelte. Das verletzte ihn tief, obwohl er sich nichts merken ließ und nebenbei überkam ihn etwas wie Sehnsucht nach der Zeit, in der ihm die Zugehörigkeit zu diesem blau-rot-goldenen Bunde als die wichtigste Sache seines Lebens erschienen war. Seine offenkundig schmerzliche Verstimmung versöhnte die anderen und sie ließen von Stichelworten ab. Dennoch brannte die belanglose Begegnung tagelang in ihm und er zerquälte sich, Sätze und Worte nachträglich zu finden, die er hätte entgegnen sollen. Erst mit den Tagen, die kamen und gingen, nach vielen Stunden wechselvollen Inhalts schwand allmählich die rätselhafte Bitternis des Unverstandenseins und Verkanntwerdens aus seiner Gefühlswelt. An einem regnerischen Sonntagvormittag, den die Mutter zum Erledigen einiger Besuche benützte, war Vitus mit dem Vater allein auf der Veranda und sprach einem Antrieb folgend vom Geigei und von Christian Prutzer, von denen er bisher, wenige gleichgültige Bemerkungen nach seiner Rückkehr aus Vernauts ausgenommen, geschwiegen hatte. Nun staunte er über die lebhafte Anregung, die seine Mitteilungen dem Vater bereiteten. Die Überreste verschollener Kulte, die sich in dieser ganz abgelegenen Hochgebirgsgegend erhalten zu haben schienen, erinnerten den Professor an die Vorarbeiten zu einer größeren Arbeit, die liegen geblieben war und sich mit derartigen selbst gesammelten Dingen hätte befassen sollen. Der Vater hatte Reste der persischen Mithrasreligion, die von Legionären nach Rhätien gebracht worden war, entdeckt, hatte in Trient jenen Umzug zu Ehren der bona dea, der Erntegöttin, gesehen, bei der zwei Frauenbrüste auf einem Polster getragen wurden. Nur waren sie aus einem Sinnbild der Fruchtbarkeit zu dem Märtyrerzeichen der heiligen Agathe geworden, die die Heiden um ihres Glaubens willen also verstümmelt hatten. Der gallische Gott, dessen Holzbild der Geigei errichtet hatte, gehörte ebenso zu den Vertriebenen, wie ein Heiliger, der gut fürs Vieh war und mit Hosen aus rauhem Fell abgebildet wurde, so daß man den Pan noch deutlich in ihm erkannte. Das ganze Land war voll von einem Heidentum, das durch einfache Umwandlung der Kirche dienstbar gemacht worden war. Wer die Starrheit der Gebirgsbewohner in Glaubenssachen kannte, dem war es klar, daß sie nur auf solche Art, mittelst Belassung des Gewohnten und fast unmerklicher Veränderung sehr langsam einem neuen Glauben gewonnen werden konnten. Auch in Christians Pantheismus, der sich von dem tiefsinnigen Wesen des alten Angelus Silesius nährte, meinte Professor Venloo überkommene Gefühle und ganze Geschlechter überspringende Anschauungen von Vorfahren wiederzufinden. Er kam in Eifer, machte sich Aufzeichnungen und faßte ernstlich und mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit den Plan, bei einsetzender Genesung für einige Zeit nach Vernauts zu gehen. Vitus mußte ihm sogleich eine Mappe aus den Tiefen eines Schrankes hervorsuchen, deren Aufschrift »Die Spuren vergessener Götter« den von ihrem Gespräch berührten Inhalt verriet und das Blatt mit der zitterig gewordenen Schrift kam hinein. Dieser graue warme Regensonntag im Sommer blieb dem Sohne unvergeßlich und verstärkte die Gemeinsamkeit mit dem Vater, erhöhte aber auch sein Bangen um dieses Leben und um die wertvolle Seele in dem schadhaften Gehäuse des verfallenden Körpers ins Unermeßliche.

Von den Bäumen, unter denen Vitus durch den Garten schritt, fielen noch grüne, aber schon sommermüde und kranke Blätter. Er streichelte des Vaters Jagdhündin, die ihm steifbeinig nachlief und sah auf einmal, daß das Tier alt geworden war. In einer Rose, die er vom kerzengeraden Stock niederbog, saß ein goldgrüner Käfer und fraß von ihren Herzblättern, und die Blume, von klaren Tropfen besprengt, schien Tränen zu weinen. Ein kleiner Vogel rief immerfort zwei leise schluchzende Töne im Jasminbusch. Der Tod lauerte in den Hecken. Man sah ihn nicht, aber er war da und schlich um das Haus, blickte vielleicht durch das Fenster in des Vaters Studierstube – –

Fast gleichgültig nahm Vitus an einem der nächsten Tage sein Zeugnis in Empfang und staunte vor sich selbst über die geringe Freude, die er beim Anbruch der sonst so stürmisch begrüßten Ferienzeit hatte. Es gab ein großes Händeschütteln und Durcheinanderrufen der verschiedensten Sommervorhaben.

Herucker war traurig als der Freund ihm erklärte, er wisse nicht, ob er nach Vernauts kommen könne. Der Vater sei zu krank, er traue sich nicht fort. Aber Vitus versprach später nachzukommen. In dem Augenblick, in dem er das sagte, wußte er mit grauenvoller Gewißheit, daß dies nicht der Fall sein würde, nie mehr vielleicht –. Und so schieden sie.

Am Abend dieses Tages hatte Professor Venloo einen schweren Anfall seines Leidens. Ein rasender unerwartet eintretender Schmerz benahm ihm den Atem und Todesangst umfing ihn. Der schnell herbeigerufene Doktor Hundertpfund gab ihm aus einer kleinen blinkenden Spritze den Trost des Morphiums. Später erschien auch Professor Nigg und machte ein betrübtes Gesicht. Sie gaben etliche Verhaltungsmaßregeln und verließen dann sichtlich gedrückt das Haus. Vitus hörte das Wort »Coronararterien«. Dieser Ausdruck quälte ihn bis in den Schlaf der folgenden Nacht.

Am Morgen ging es dem Vater besser, aber in seinen Mienen stand die Angst vor einem neuen Anfall geschrieben. »Es ist, wie wenn eine eiserne Faust das Herz zerdrücken wollte –« sagte er. »Nun weiß ich, was sterben heißt.« Die Mutter wischte unaufhörlich die rollenden Zähren und hielt mit der anderen Hand die des Kranken fest. Aber schon am Abend fühlte sich der Vater frischer als je und aß mit Lust, scherzte sogar über seine eigene Wehleidigkeit.

Vitus ging, von einem schrecklichen selbstquälerischen Trieb befallen, mit Vorliebe in den botanischen Garten. Dort führte ein Weg an den anatomischen Lehrsälen der alten Universität vorbei. Durch die Fenster sah man in gewölbten niedrigen Zimmern Leichenteile auf Blechtischen liegen, sah braungewordenes, lackbestrichenes Muskelfleisch mit grellrot und hellblau gefärbten Blutgefäßen. Gerippe, schneeweiß gebleicht, standen an der Wand, mit Drahtspiralen am Kiefer und Häkchen in der abhebbaren Schädelplatte. Und unweit davon, mitten im Garten, stand an einem schlammigen Becken, in dem Schwimmkäfer und Wasserwanzen rückten, ein Glaskasten, in dem der Sonnentau mit klebrigen Froschfingerchen neugierige Fliegen an sich drückte und langsam verdaute. Andere böse Pflanzen standen daneben. Der Blasenstrauch, der die Haut verbrannte wie glühendes Eisen und der Dubenbaum, von dem blasse scheue Mädchen heimlich Blätter rupften, das keimende Leben hassend, das in ihnen wuchs und drohte.

Böse Tage waren das, nebelig und drückend schwül vom giftigen Wind, der auch zur Sommerszeit vom Süden kam und die Nerven der nicht Bodenständigen verwirrte. Die Mutter und Vitus litten an halbseitigem Kopfschmerz und der Vater atmete schwerer. Staub flog in Wirbeln auf den Gassen, Ziegel klapperten von den Dächern, der Garten sah trostlos aus und die Vögel schwiegen. Nachts riefen jammernde Stimmen. Doktor Hundertpfund kam täglich, verschrieb Tropfen und heiße Handbäder, die erleichternd wirkten. Die Mutter lauerte ihm auf, wenn er fortging und bestürmte ihn mit bittenden Fragen. In ihrer Verzweiflung sprach sie von Operationen und Wallfahrten in einem Atem. Der alte Arzt beruhigte sie ernst und feierlich, ließ sie aber doch in sanfter Weise ahnen, daß sie gefaßt sein müsse – –

»Armer junger Freund,« sagte er bei der Gartentür zu Vitus, »der große Augenblick, der uns allen bevorsteht, ist nicht mehr fern. Denken Sie an Ihre Mutter und seien Sie tapfer.«

Es war für Vitus bitter schwer, nach solchen Worten ruhig erscheinend ins Krankenzimmer zurückzukehren, in dem der Vater guter Laune, nur durch mäßige Atemnot manchesmal leicht beunruhigt las oder plauderte. Vitus sah ihn oft mit vielen Zweifeln an. Wußte er, daß sein Ende nahe sei? Oder hoffte er auf Genesung?

Ein zweiter stärkerer Anfall, der aber wie der erste vorüberging, folgte. An diesem Tage traf Vitus Grete Kluibenschild in der Apotheke, wo er ein Rezept abzugeben hatte. Sie nickte ihm fast unmerklich mit dem Kopf und wartete draußen auf ihn.

»Wann kommst du wieder?« fragte sie leise, als er aus dem Gewölbe trat.

»Mein Vater ist sehr krank,« sagte er düster.

»Ach, nur das?« lachte sie. »Ich meinte, du seiest böse auf mich. Also komm bald – gelt?«

Sie wartete seine Antwort nicht ab und ging eilig die Straße hinunter. An der Ecke sah sie sich noch einmal um. »Ach, nur das?« Eine sinnlose Wut befiel Vitus. Gans! Ach, das Leben von tausend solcher Tierchen ist das eine große Leben nicht wert, dachte er. Der Zufall wollte es, daß ihm nach wenigen Schritten Adelheid Weinschenk begegnete, seidenrauschend und strahlend wie die Sonne am Himmel. Ein Säbel klirrte neben ihr, eine bunte Mütze leuchtete. Mit welcher Knabensehnsucht hatte er die Schöne, Unerreichbare der Paradieseswelt, der beneideten »Erwachsenen« angehörende von fern geliebt, schmachtend und unglücklich wie Herucker, berauscht von romantischen Einbildungen und Pagenträumen. Da ging sie – ihr Lachen klang hoch und schrill. Sie saß wohl auch zu Zeiten in einem Gartenhaus oder sonstwo und hatte sich einen bestellt zum Küssen und Betasten, vielleicht zu mehr – –. »Ich war dein Herucker,« dachte er, »aber du hast es nie gewußt – Gott sei Dank!« fügte er hinzu und warf den Kopf in den Nacken.

In den Augen des Vaters war etwas Seltsames. Wenn er still dasaß und hastig kurz atmete, wanderten seine Blicke langsam von der Mutter zum Sohn, blieben eine Weile unbewegt versunken und gingen dann wieder zu der, die seines Lebens freue und stille Gefährtin war. Es lag keine Angst darin, aber etwas Schweres doch. Diese Blicke tranken, tranken unersättlich das Bild der zwei Menschen in sich ein, denen sein Leben gehörte, als wollten sie etwas in den langen Schlaf hinübernehmen, um davon zu träumen – etwas Liebes, das ihm allein zu eigen war. Er klagte nicht, war immer gleichmäßiger und heiterer Laune, aber doch war es Mutter und Sohn, als läge schon ein überirdischer Schein auf dem geliebten Antlitz.

Am Morgen des ersten August marschierten Soldaten durch die Straße. Die Musik spielte das jubelnde Kriegslied vom Prinzen Eugen. Brausend und schmetternd flogen die Töne ins Zimmer, wurden leiser und verschwebten. Da richtete sich Professor Venloo plötzlich schwankend auf, als wolle er ans Fenster treten. Vitus sprang hin, den Vater zu stützen.

»Laß mich nicht fallen, Vitus – – ich falle ja – –«

Die Stimme brach. Der Körper sank in den Stuhl zurück, das Gesicht wurde ganz dunkel. Nur die Augen lebten – irrten angstvoll. Die Mutter schrie auf, aber Professor Venloo hörte das Wort nicht mehr, das sie rief. In dem kurzen Krampf der Todesangst, aus dem er zweimal ins Leben zurückgekehrt war, war diesmal die Seele entflohen, in den blauen Tag hinaus, ins Sonnenlicht – in die Wolken –. Professor Dr. Peter Venloo war tot. Betäubung fiel schwer und bleiern auf Vitus, hielt die Tränen in den brennenden Augen zurück. Stimmen, Schreie kamen und verstummten. Dienstmädchen heulten auf, der Baß des Arztes sprach aus der Erde, in tiefer Stille wurde ein Hörrohr auf die entblößte, regungslose Brust gesetzt. Tröstende Worte, Weinen und Weinen. Vitus fand sich an des Vaters Schreibtisch, Telegramme schreibend. Ein schnapsduftender Herr mit trauerfaltigem Gesicht stellte sich als Vertreter der Leichenbestattungsgesellschaft vor. Ein Zimmer wurde ausgeräumt. Fremde Füße polterten überall, Blattpflanzen kamen, ein silberglänzender Sarg, ein gesticktes schweres Samttuch.

»Vitusche, wie sich dein Vater gefreut hat – an dem Tag, an dem du zu uns gekommen bist,« klang es wildschluchzend an sein Ohr. Er hielt die Mutter an sich gedrückt und sah mit fürchterlicher Genauigkeit, daß ein kleines Wasserfarbenbild mit kämpfenden Hirschen schief an der Wand hing.

Nachts sah des Vaters stilles Gesicht zum Fenster herein. In der Früh mußte sich Vitus erst besinnen; der Vater war ja tot!

Onkel Marlemont kam als erster. Seine Schläfen waren silberig geworden, um seine kühlen blauen Augen lagen feine strahlige Runzeln. Vitus empfand fast feindselig den Wohlgeruch seines Taschentuches. Das leise Knarren der Lackschuhe störte ihn. »Ich wollte gerade nach Trouville!« sagte der Onkel, »wer hätte das gedacht!« Tante Bettina erschien, beleidigt durch irgendeine mangelnde Rücksicht wie immer, Tante von Reßlich, die in der Familie »von Gräßlich« hieß, ein Verwandter, der preußischer General war und zum weißen Haar ein pechschwarzes Wrangelschnurrbärtchen trug. Und am nächsten Morgen hüstelte gebückt und sorgenvoll die Geldumstände erwägend Großpapa Francois Marlemont im Hause herum, mit Fragen, aus denen Vorwürfe klangen. Vitus war krank und elend und sehnte sich nach dem Alleinsein mit der Mutter.

Am dritten Tage schloß sich der Sargdeckel über dem kleingewordenen Gesicht des Toten und der Goldeinsatz eines Vorderzahnes, der aus den halboffenen Lippen geblinkt hatte, verschwand damit. Dieses Stückchen Gold und eine Fliege, die aus dem Mund des Toten gekommen war, blieben Vitus noch lange in entsetzlicher Erinnerung.

»So a schöne Leich!« sagte die Frau des Schuldieners, als der Sarg hinausgetragen wurde. Vitus sah sie erschrocken an. Sie stand mit so viel anderen fremden Menschen im Garten. Irgend jemand schnitt sich kaltblütig eine gelbe Rose ab. Vitus sah es ganz deutlich, und doch so, wie man im Traum sieht Studenten mit bunten Schärpen und Schlägern begleiteten den Wagen mit den Rappen. Offiziere klirrten mit Sporen, Kleider rauschten. Ein Posaunenchor klagte auf, rief düster schmetternd zum Jüngsten Gericht. Man stützte die Mutter und brachte sie dann ins Haus zurück. – Schwarze Talare und Goldketten, lange Stäbe mit den Abzeichen der Fakultäten, Kränze mit farbigen Schleifen – –. Ganz unwirklich war das doch. Und das lehmgelbe längliche Loch, die polternden Schollen, die Seile, die emporschwirrten. – – »Hier ruhet Antonius Köllenpacher, seines Alters vierundsiebzig Jahre,« las Vitus auf einem eingesunkenen verwitterten Stein. Tauben flogen grau und weiß um den kleinen Turm der Kapelle, in der ein hölzerner Riese stand und glotzte. Er hielt die Zunge eines Drachen in der Hand. Weihrauch qualmte auf, eine tiefe und eine hohe Stimme wechselten ab, ein Silberdeckel rasselte in den Kettchen, die ihn hielten. » Et ex perpetua,« Trrrah – trrrah – die Posaunen. »Vater – Vater!« schrie es tief, tief in der Brust und dieser Schrei, dieser stumme Ruf tat so weh.

»Kopf hoch, Junge!« sagte eine schnarrende Stimme, »und nun sieh mal zu, daß du deiner guten Mutter ne richtje Stütze wirst, Verstan'n?« Das war der General. Die Tanten rauschten und wehten mit schwarzen Schleiern. Der Krax nickte drüben mit dem gelben Kopf.

»Ich denke, wir essen im Tirolerhof.« Eine gedämpfte Stimme sprach es. Die Stimme Onkel Ottos.

»Ich speise im Europe,« sagte ein anderer.

Vitus ging mit dem Großvater, der vor sich hinmurmelte und sich heftig seines Krückstockes bediente, nach Hause.

Auch diese Tage vergingen.


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