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V

Als Vitus mit Johann Herucker im schaukelnden Bahnwagen saß und langsam Felder, Wälder und Berge an den Fenstern vorüberzogen und neue, noch nie gesehene Ortschaften mit spitzigen, grünen und roten Kirchturmdächern wie hübsch aufgebautes Spielzeug im breiten Tal sich zeigten, verschwanden die Erlebnisse der letzten Tage in schweigsame Tiefen. Ein dicker Handelsmann aus Hohenems blickte öfters seufzend und mißbilligend mit der Zunge schnalzend seine beiden jungen Reisegefährten an, um ihnen begreiflich zu machen, daß ihr Geplauder ihm das Zeitunglesen unmöglich mache. Sie achteten nicht viel auf solche ihnen unverständliche Äußerungen, aßen Wurst und Brot, rauchten und lachten und setzten sich beim Schaffner durch eine Virginia in höchste Gunst. In Landeck stiegen sie aus, machten einen tüchtigen Fußmarsch bis zur Pontlatzer Brücke, bei der einst so viel Blut im Geröll eines künstlich herbeigeführten Bergsturzes und im Kugelregen der Freiheitskämpfe geflossen war und stiegen dann mit ihren schweren Rucksäcken den steilen, von windzerzausten Berberitzensträuchern eingefaßten Weg hinan, der nach Vernauts führte. Rechts von ihnen brach sich tosend und schäumend ein Wildbach im alten Bett einer Mure Bahn.

Die Gegend wurde einsam, großartig und wild. Grauer Baumbart wehte von den uralten Tannen des Bannwaldes, der den steilen Berghang im Zaume hielt, hellere Lärchen und dunkle Kiefern streckten ihre Wipfel in den tiefblauen Sommerhimmel. Schwarze Jochsalamander krochen schwerfällig, langsam die zierlichen Füße hebend, über silberschimmernde Glimmerbrocken. Ein Bussard stob mit klingendem Ruf aus einem Wipfel und flog fernen Bergen zu. An Wegbiegungen leuchtete weiß ein Ferner in das enge Tal. Die Luft wurde herb, rein und kalt.

Langsam begann sich die Last auf dem Rücken fühlbar zu machen. Herucker, der sonst als kühner Kletterer bekannt war unter seinen Altersgenossen, mußte öfters rasten und hustete krächzend. Dort oben, meinte er lachend, würde er den elendigen Husten schon los werden.

Es war spät am Nachmittag, als sie den Weiler Vernauts erreichten, der einst von den Steinbockwächtern des Kaisers Maximilian begründet wurde. Ein armseliges kleines Dorf, fünfzehnhundert Meter hoch gelegen, mit steinbeschwerten Hütten lag vor ihnen. Träumend hingen ansteigende schwarze Wälder über dem Ort und grüne, baumlose Kuppen. Ewig brauste der Bach vorbei, aber Vitus war so voll Frieden und glückseliger Ruhe, daß er Herucker dankbar die Hand drückte.

»Das freut mich, daß es dir gefällt,« lachte der Freund, »aber wart nur bis du die Berge kennst, bis du die Murmeltiere gesehen hast und die sieben Wasserfälle vom Alten Mann.« Er blieb vor einem recht stattlichen Hause stehen, das die Aufschrift trug: »Gasthaus zur weißen Traube.«

Ein riesenhafter Mann mit einem gutmütigen Doggengesicht empfing sie. Vitus brauchte einige Zeit, um seine rauhe Mundart zu verstehen.

»So und jetzt abrasten einmal,« sagte der Riese und führte sie in die zirbenholzgetäfelte Wirtsstube. »Der Bruder wird gleich kommen. Die Marie hat euch schon über den Berg kriechen gesehen und der Kaiserschmarrn ist gleich fertig. Ein Kaffee auch.«

Sie setzten sich an einen klobigen Eßtisch unter dem Herrgott, den rote und gelbe Maiskolben aus dem Tale unten schmückten und machten Pläne für die nächsten Tage. Der Leo Prutzer, der Wirt und Vetter Heruckers, war ein großer Jäger und gewann Vitus sogleich für sich. Aber mitten im Gespräch wurde seine Miene ernst und er wendete sich mit einer halblauten aber wohl hörbaren Frage an Herucker:

»Aber gut katholisch ist er wohl, derselbige?« und zeigte mit der Pfeifenspitze auf Vitus.

»Ja freilich.«

»Nachher ist's schon recht.« Sein starr gewordenes Gesicht taute auf und er begann von Gemsen, Rehböcken und »Urmenteln« zu erzählen. Ein Mädchen, das ihm ähnlich sah, trat ein, stellte eine Riesenschüssel mit Schmarrn auf den Tisch, wischte sich die Hände an der Schürze ab und begrüßte die Ankömmlinge auf das freundlichste.

»So – das ischt die Moide – meine Schwester!« sagte Leo. Vitus sah staunend dieses gewaltige Weib an, dessen übermächtige Glieder gleichwohl äußerst ebenmäßig gebaut waren.

Unter dem golden schimmernden reichen Haar lächelte ein rosig weißes Gesicht, hübsch und ausdruckslos.

Die Schüssel mit dem reichlich gezuckerten Schmarrn wurde zusehends leer, der leichte Rotwein füllte zum zweitenmal die große Glasflasche. Vor den Fenstern war es dunkel. Zwei oder drei ältere Bauern kamen mit gemurmeltem Gruß, setzten sich in dämmerige Winkel, tranken schweigend ihren Schnaps, legten etwas Kupfergeld hin und verschwanden, wie sie gekommen waren. Gerade als die Lampe angezündet ward und gelbbrennend schaukelte und Schattenringe warf, ging die Tür auf und ein junger Mensch, halb städtisch, halb bäurisch, trat ein.

»Der Christian –« rief die Moidl. Der Ankömmling trat in den Lichtkreis und gab allen die Hand. Vitus konnte den Blick nicht von ihm wenden. Wie gebannt starrte er in dieses milde, unendlich gütige Antlitz, in die strahlenden blauen Augen. Wo hatte er dieses edelgeschnittene Gesicht mit dem blonden Vollbart, mit den natürlich gewellten Locken des Hauptes gesehen? Herucker war aufgesprungen, um den Bruder des Wirtes zu umarmen. Er küßte ihn zweimal auf den Mund und sagte dann: »Das ist mein lieber Freund Vitus und ich möchte, daß er auch dein Freund wird, Christian!« Dieser lächelte, sah Vitus lange an und reichte ihm dann mit einer seltsam großen Bewegung die Hand: »Ich glaube schon, daß es so sein wird.«

Dann setzte er sich an den Tisch, lehnte das Angebot der Schwester, ihm schnell eine Speise zu bereiten, ab und packte den kleinen Zwerchsack aus, den er über der Schulter getragen hatte. Allerlei Dinge kamen zum Vorschein, graue und rötliche Flechten, schimmernde und dunkle Gesteinsbrocken und eine sorgsam in Baumbast gewickelte versteinerte Muschel in völlig erhaltener Form. Der riesige Bruder paffte mächtige Rauchwolken aus seiner Pfeife und sah aus den Augenwinkeln nach der bunten Beute, die Christian mitgebracht hatte. Moidl, die nahe bei Vitus saß, so daß er die Wärme ihres Körpers fühlte, gähnte mit halbgeschlossenen Augen. »Zeit ischt's,« sagte Leo und stand polternd auf. Und das war unverkennbar das Zeichen zum Schlafengehen. Irgendein leiser Hauch von Verstimmung, den Vitus zu empfinden glaubte, lag über dem Gutenachtwünschen.

Als sie eben in der geräumigen Kammer unter den schweren gewürfelten Oberbetten lagen, begann Herucker zu sprechen.

Der Christian sei in der Fremde gewesen als Pflasterergehilfe, wie andere Burschen aus dem armen Dorfe. Vor einiger Zeit sei er zurückgekehrt, habe dem Bruder erklärt, daß er nun von dem ihm zukommenden Drittel des Ertrages, den das Wirtsgeschäft abwerfe, in Vernauts leben wolle. Dem Bruder war es anfangs recht, um so mehr, als der Christian wacker zugriff. Aber dann habe es Verdruß gegeben wegen der Reden, die Christian mit den Gästen führte.

Was für Reden das gewesen seien, fragte Vitus sich schläfrig streckend.

»Du wirst noch genug Gelegenheit haben, mit Christian selbst zu sprechen,« sagte Herucker. »Ich will, daß du selbst urteilst. Ich stelle ihn hoch über die meisten Menschen die ich kenne.« Er hüstelte ein wenig und wünschte dem Freunde gute Nacht.

Der Schlaf kam rasch und das Toben des Baches ward zu Orgelklang. Im letzten Augenblick, eh noch das Denken sich in Traumbilder auflöste, erkannte Vitus in dem Bruder des Wirtes, unter dessen Dach er ruhte, jene Erscheinung wieder, die ihn damals in der Hofkirche so mahnend angesehen hatte, indes weinende Stimmen um Jerusalems Untergang klagten. Aus verschwimmenden Bildern wurde ein Traum und aus den Weihrauchwolken wuchs ein Kreuz, an dem ein bräunlicher schlanker Leib zuckte, ein Frauenleib mit kindlichen Brüsten, über die dunkle Haarflechten rannen. Das Lendentuch war blutbefleckt. Vitus wollte rufen »Susanne!« – aber da streckte hinter dem Kreuzesstamm jener Roman Aslaz sein grinsendes Gesicht hervor, und plötzlich wuchsen noch immer Gesichter aus dem Holz wie häßliche wächserne Früchte, unbekannte Fratzen. – Vitus fuhr auf und stieß mit dem Kopf hart an die hölzerne Rückwand des Bettes. Lange hielt er sich wach, von Grauen gefaßt.

Das Geräusch plätschernden Wassers weckte ihn. Frisch und harzduftend wehte die Luft durchs offene Fenster und Herucker, der vor dem Waschbecken stand, stieß einen munteren Ruf aus, als er den Freund erwachen sah. Im goldenen Sonnenschein, im Brausen der Wälder, und in hundert wundervollen neuen Eindrücken begann dieser erste Tag einer unendlichen glückseligen Stundenreihe.

Sie holten die alten Stutzen und Vogelflinten aus dem bemalten Schrank in Leos Zimmer und schossen zur Probe nach schönen geschweiften Franzosentschakos mit kupfernen Adlern, die vor fast hundert Jahren als Beutestücke ins Dorf gekommen waren. Sie nahmen das Pulver aus [dem] Kästchen, die mit einem gekrönten N bezeichnet waren, ohne jedes Gefühl für die zerstörten Seltenheiten. Vitus half den Bauern beim Einsammeln der isländischen Flechte, die hier in Massen wuchs und faßweise in die Welt verkauft wurde. Fern, ganz fern lag eine Stadt und ein Gymnasium, war ein Elternhaus und Menschen, die in des Knaben Leben erschienen waren und Rechte geltend machten. Hoch oben in den Steinkaren schwanden Murmeltiere mit gellendem Pfiff Schatten gleich in Felslöcher, rauschten graue Schneehühner auf. Rotschnabelige Alpendohlen überschlugen sich in blauer Luft, weißseidene Apollofalter gaukelten über Speikmatten und Arnikablüten, ein Adler flog schwarz und golden den Wolken zu. Die Tage stiegen auf und gingen. Aber mit Christian kam Vitus fast nie zusammen und nur manchmal im abendlichen Zimmer sprach er mit ihm, wie mit den anderen, über die kleinen Ereignisse, die zwischen Morgen- und Abendrot geschehen waren, über Pflanzen und Tiere.

Beim alten Pfarrer, der hier in der Einöd saß und vergessen blieb, hatte Vitus mit Herucker Besuch gemacht. Der Kaplan war auf Urlaub. Der unendlich gütige aber sterbensmüde Greis hatte die beiden mit Rotwein und weißem Brot bewirtet, mit gutmütigem Spott nach den Zeugnissen gefragt und ein paar lateinische Scherze zum besten gegeben. Mitten im Gespräch war er zu einem Versehgang geholt worden, weit ins Gebirge hinein und die beiden hörten noch lang das Glöcklein klingen, das der Mesnerbub vor den zitternden Händen hertrug, die die geweihte Speise für den Sterbenden trugen.

Von Herucker war aller Haß und alles Fahrige abgefallen. Er war ernst und still und auf seinem schmalen Gesicht lag immer ein Lächeln. Einmal stiegen sie durch den steilen Gschwendwald hinauf. Vitus sah im moosigen Geäst einer kleinen Lärche einen grauen Kauz, der ihn mit großen bernsteingelben Augen anblinzelte. Hastig hob er die leichte Flinte und schoß. Die graue Eule sah ihn wie erstaunt an, knappte mit dem Schnabel und fiel dann plötzlich, ein hilfloser Federball, ins grüne Waldmoos. Wie zur Abwehr öffnete und schloß sie die zartbefiederten Fänge und zog langsam, wie betrübt die bleiche Netzhaut über die Augen. Dann lief ein Zittern durch den Federnleib, die scharfbewehrten Zehen krampften sich zusammen, das runde Köpflein fiel zur Seite. – – In diesem Augenblick knackte es im Holz und Christian stand bei dem toten Vogel. Er kniete sogleich bei ihm nieder, fuhr mit der Hand streichelnd über den weichen Federflaum und schüttelte leise den Kopf.

»Mußte es sein, Vitus?« fragte er sanft und eindringlich und in seinen schönen blauen Augen leuchtete Trauer.

»Es war – er saß grad so schön da – « stotterte Vitus und eine Scham, deren Grund er sich nicht erklären konnte, befiel ihn.

Christian strich noch einmal über das Eulchen und stand dann auf.

»Es ist deine Sache, Vitus,« sagte er leise, »das Tierlein klagt dich nicht an, es wollte nur ein Leben erfüllen, das ihm gegeben war wie dir. Aber es war auch sein Schicksal, daß es heute beendigt werden mußte, und du warst das Werkzeug.«

Sie gingen schweigend ein Stück weiter. An einer Stelle, da ein Fußpfad zur Alm abbog, blieb Christian abschiednehmend stehen und sprach, mehr zu sich vielleicht, aber verständlich genug:

»Gott hat nicht Unterschied
Es ist ihm alles ein,
Er machet sich so viel
Der flieg als dir gemein.«

Er nickte freundlich und bog ab.

»Ich hab mirs gedacht, daß er etwas aus seinem geliebten Angelus Silesius sagen wird,« flüsterte Herucker. »Wenn ich gewußt hätte, daß er in der Nähe ist, hätt ich dir vom Schießen abgeredet. Er leidet mit der Kreatur – sein Herz ist – – er hat das Herz des Heilands in sich.« »Es tut mir selbst leid, daß ich den armen Vogel erschossen habe. Aber ich war so viel mit dem Vater auf der Jagd –. Wenn man da jedesmal – – Jetzt ist er wohl bös auf mich, der Christian?«

»O nein, Vitus, nein, er trauert nur, daß du es getan hast. Aber er wird nie mehr davon sprechen. Sprich auch du nicht mehr davon.«

»Warum ist der Kaplan sein Feind?« fragte Vitus, »der Karner hat gestern zu mir gesagt, ich soll schauen, daß mich der Kaplan nicht mit dem Christian sieht.«

»Der Kaplan mag ihn nicht, weil er den Leuten im Wirtshaus ›so Sprüchlein‹ wie sie sagen, vorgelesen hat. Und aufgeschrieben hat er ihnen auch manches, damit sie's nachlesen können. Da sind halt einige zum Kaplan und haben ihn gefragt, ob das auch recht sei, was der Prutzersohn ihnen da erzählt. Und der Karner, der hat so ein Sprüchel mitgehabt aus dem Angelus Silesius und hat gemeint, es sei schon ein Sinn dabei. Das aber hat geheißen:

»Ich weiß, daß ohne mich
Gott nicht ein Nu kann leben,
Werd ich zu nicht – er muß
Von Not den Geist aufgeben.«

Du kannst dir denken, wie das auf den jungen Kaplan gewirkt hat. Und gar weil der Pfarrer gemeint hat, es seien doch tiefe Wahrheiten darin. Ich war zufällig dabei damals. Der Kaplan ist ganz blaß geworden und hat gesagt, da sei ihm der verrückte Geigei noch lieber, der Flechtensammler, der auf die Stadeltüren die wüstesten Gotteslästerungen schreibt, trotz aller Prügel und Arreststrafen, die er schon bekommen hat. Der Pfarrer wieder: › Vanitas, vanitatum vanitas! Ist das alles wirklich so wichtig, Herr Kaplan?‹ Darauf hat sich der Kaplan verbeugt und ist hinaus. Der Kaplan ist dann auf Urlaub gegangen, verstehst du?«

»Es ist hier auch manches traurig,« sagte Vitus. »Und es ist überall das gleiche. Aber ich wollte, ich hätte den Schuß auf die Eule nicht getan.« Und er fühlte eine große Sehnsucht, dem Christian näher zu kommen als bisher.

Vom Hause kamen Briefe und Karten mit Fragen und Mitteilungen und Vitus antwortete kurz und mit Worten, aus denen feine glücklichen Tage leuchteten. Immer mehr versank alles, was talaufwärts lag. Dieses Leben hier schien ohne Ende. – –

Der Zufall wollte es, daß er ein paar Tage nach dem Schuß den Geigei traf, jenen Verrückten, von dem Herucker gesprochen hatte. Es war ein Morgen mit jagenden Wolken und kühlem Wind. Vitus trug ein neu entstandenes Gedicht Heruckers bei sich, das der Freund ihm mit der Bitte mitgegeben hatte, es in der Einsamkeit zu lesen. Er stieg in das wilde Bachbett, setzte sich auf einen schwarzen weißgeaderten Block und las:

»Und führt dein Weg dich über mein Grab,
Vergiß nicht, daß ich geliebt dich hab.
Und daß ich dich einst in Tagen der Lust
Um die Rose gebeten an deiner Brust.
Und hast du ein rotes Röslein bei dir,
Herzliebste, ich bitt dich, schenk es mir – –«

Das Gedicht tat ihm weh. Er wußte wohl, die unendlich zarte Liebe des Freundes galt. Zornig faltete er das Blatt und dachte mit Selbstverachtung an die Stunden im Kluibenschildgarten und an seine Erlebnisse mit dem rothaarigen Mädchen, die ihm hier in der reinen Bergluft widerlich und unzüchtig erschienen. Die Karte fiel ihm ein, mit der ihn Grete berufen hatte und wider Willen mußte er auflachen. Trotz des Wasserrauschens hörte er deutlich ein kicherndes Echo in nächster Nähe. Er sah in die Richtung des Schalles. Da wuchs auf einem graubraunen Erd- oder Felsklumpen ein seltsam rötlicher Grasschopf und bewegte sich hin und her. Aber unter dem Schopf waren zwei flackernde Augen und ein Gesicht. Ein Mensch kauerte da, regungslos.

Vitus sprang auf und in demselben Augenblick tat der andere das gleiche. Das war der Geigei; anzusehen wie ein dürrer Baum mit grauer Rinde. Wilder rotgelber Bart- und Haarwuchs überwucherte fast das graue Gesicht. Die nackten Füße waren mit einer Erd- und Pechkruste überdeckt und in einer der beiden riesigen behaarten Hände glänzte ein Beil.

Vitus fürchtete sich nicht, aber die Nähe des Narren war ihm doch unheimlich. Er stieg die Böschung hinauf und ging langsam den Weg zurück. Der andere folgte ihm wiederholt auflachend, blieb aber dann zurück. Als Vitus sich vorsichtig umblickte, sah er den Geigei auf einem Felsblock stehen und mit wildbewegten Armen fuchteln. Er schlich sich näher. Der Irre predigte. »Ihr Bäume, ihr Vögel des Waldes, ihr Käfer! Gott ist nichts. Gott ist ein Betrug. Ihr alle zusammen seid Gott. Da schau her, du Schwindler dort oben! Wirf herunter deinen Blitz, wenn du kannst. Ich pfeif dir auf deinen Donner und auf deine Gewalt. – Ha? Wo ist er jetzt der große Gott? Ja, wo denn? Verschlossen hat er sich. In der Kirchen hat er sich mäuserlstad verschlossen und der Gendarm muß mich halt wieder holen, damit es wieder ein Ansehen bekommt, das arme Göttle, das Gottmännle, das Kreuzkraxerle. Hehehe!«

Mit einer wilden Lache sprang er vom Stein und rannte in den Wald. Tief fuhr die Axt in den nächsten Baum. »Da – da – da hast es jetzt?« kreischte der Geigei. Vitus schlich von Baum zu Baum davon. Als ihn Herucker schüchtern, mit der schönen Scham, die in seiner Seele war, nach dem Gedicht frug, lobte er es über die Maßen. Aber er sah dem Freund nicht ins Auge. Den Vorsatz, ihn über Grete Kluibenschild aufzuklären, führte er nicht aus, wie er sich's auch beim Abstieg vorgenommen hatte. Am anderen Tag, als er allein bei den sieben Wasserfällen des Berges saß, der den Namen »Alter Mann« führt, pfiff über ihm die Vorgeiß eines Gamsrudels. Dieser eigentümliche traurige Pfiff löste einen Tränensturz aus seinen Augen. Und gleichzeitig dachte er mit Schaudern an die Möglichkeit, daß Herucker sterben könnte.

Eines Tages übernahm es Vitus, da das ganze Haus die weitverstreute, auf kleinen und entlegenen Grasmahden einzubringende Heuernte zu besorgen hatte, dem Leo und der Moidl die Märende hinaufzutragen, einen Korb mit Ribiselwein, Ziegenkäse und Gerstenbrot. Als er nach einstündigem Weg den ersten Heustadl, die Rille, wie sie es hier nannten, erreichte, fand er die Moidl allein. Der Leo war auf die Alm gegangen, um nach dem Jungvieh zu schauen. Die blonde Riesin lachte mit weißen Zähnen, der kurze Rock flatterte um ihre nackten Waden und bei den Bewegungen der Arme und des Oberkörpers, den nur das große Hemd notdürftig verhüllte, sah Vitus den wirren Goldflaum ihrer Achselhöhlen. Sie setzten sich in den Schatten aufs Heu und aßen mit Lust. Der Wein prickelte am Gaumen und das Heu duftete. Und als sie mit dem Essen fertig waren, lachte Moidl mit ihrem runden arglosen Kindergesicht und schlang den starken Arm um Vitus Nacken. Ganz von selbst geschah, was in der Sommerszeit mit den Waldtieren zweierlei Geschlechtes geschieht. Es war weder Sünde noch sonst Verbotenes. Als der Bruder von der Alm kam, zwinkerte er mit den Augen und da lachten sie alle drei verständnisinnig und ohne jeden Zwang zur Scham.

Die Angst, die Vitus um Herucker befallen hatte, war nicht grundlos. Am Tage da Herucker den »Alten Mann«, der als unbesteigbar galt, bezwang und nach mühseliger gefährlicher Kletterei, die Vitus nicht bis zum Ende aushielt, seinen Fuß auf den Felsgipfel setzte, kam wieder einer der Boten des Todes zu ihm. Sie saßen unten im Geschröf, betrachteten stolz die winzige Steinpyramide, die Herucker auf dem Gipfel errichtet hatte und besprachen die Absendung eines Berichtes an den Alpenverein. Herucker atmete schwer nach der Anstrengung, die besonders in einem nach oben sich erweiternden Kamin übermenschlich gewesen war. An dieser Stelle war Vitus ausgeschieden, weniger geübt als der Freund und vielleicht auch ängstlicher. Gerade als sie eine grünrostige Spange aus Erz besahen, die Herucker etwas unterhalb des Gipfels gefunden hatte, überkam ihn ein Hustenanfall und rote Tropfen sprangen über seine Lippen. Totenbleich lehnte er sich zurück und lag lange mit geschlossenen Augen. Vitus erschrak bis ins tiefste Herz und tat alles mögliche, um dem Freunde beizustehen. Aber er erholte sich rasch und trat den Abstieg an, als sei nichts geschehen. Nur mitten in der Nacht, als sie lange schon in ihren Betten lagen, erwachte Vitus durch ein Stöhnen. Er setzte sich auf. Da klangen Worte des Schlafenden:

»Der Mund, der dich besungen
Ist mit Erde gefüllt,
Die Arme, die dich umschlungen
Sind in Laken gehüllt.
Nur in verschollenen Liedern – –«

»Weißt du es jetzt?« sagte Herucker laut, die Verse unterbrechend, aber als Vitus ihn anrief, zeigte es sich, daß er in tiefstem Schlaf lag. Drüben auf den Fichten am Hang schrie ein Kauz: »Komm mit – komm mit –« Und Vitus, von allerlei Aberglauben umsponnen deckte das Kissen über sein Gesicht und sah im Dunkeln die armen gelben Augen der erschossenen Eule.

Am anderen Tage traf er Christian plötzlich; ohne daß er es recht gewollt hätte, ward die Sorge um den Freund zu Worten. Christian hörte ihm ruhig und unbewegten Gesichtes zu und nickte.

»Ja, Vitus,« sagte er dann, »der Johann ist sehr krank. Ich glaub selber, daß wir werden müssen Abschied nehmen von ihm.«

»Das ist schrecklich!« schrie Vitus auf.

»Es ist nicht schrecklich. Es ist nur eine Verwandlung,« antwortete Christian mit seiner sanften Stimme. »Allerlei Wege sind es, die wir noch gehen müssen.« Zärtlich betrachtete er einen schönen veilchenblauen Quarzkristall, den er aus einem Stein des Bachbettes gelöst hatte.

»Aber diese Verwandlung – das ist es. Was wird aus uns?« Eindringlich und bang klang die Frage.

»Was aus uns wird?« Christian lächelte. »Vielleicht ein paar grüngoldene Fliegen, rote Blumen, Wasserwölkchen, Staub, Luft – was immer. Ein Teil des Ganzen. Ein Teil Gottes, also Gott.« Vitus zuckte die Achseln.

»Das tröstet niemanden.«

»Es muß aber trösten, Vitus. Denn einen anderen Trost gibt es nicht. Sei still – er kommt!«

Herucker trat ein, erhitzt und lachend.

»Der Geigei hält unten eine Rede an die Hühner. ›Eierlegende Götter‹ hat er gesagt. Ist das nicht großartig? Leider hat ihn der Höllriegel davongejagt, wie er im besten Predigen war. Aber ein Narr ist er, der Kerl!«

»Die Türken sagen von solchen Menschen, daß ihr Verstand bei Gott sei,« erwiderte Christian, »das ist gut gesagt und es klingt milde. Wollt ihr meine jungen Falken sehen?« Sie gingen voll froher Neugier mit ihm und versäumten fast das Mittagessen über drei junge Turmfalken, denen Christian mit einem Stäbchen rohes Fleisch in die aufgesperrten Schnäbel steckte. Er hatte den zerstörten Horst in der Krone eines gefällten Baumes gefunden. Drei von den fünf Jungen lebten. Nun hielt er sie auf dem offenen Söller des Hauses, hoffend, daß die Mutter durch das Geschrei der Gelbschnäbel angelockt würde und sich ihrer annehmen könne. Bis dahin betreute er die ewig hungrige Brut.

Vielfach aber war Vitus mit sich allein und erlebte manche Wandlungen feines Inneren, ohne es zu wissen. Die Natur selbst hielt ihn in ihren Armen und drückte ihn an ihr dampfendes Herz. Die Wasserstaubwolken, die aus dem zischenden Sturz der Wasserfälle oben in den Winden aufstiegen, die blauen Glocken des Enzians, der Silberglimmer, aus dem dunkelgrüne Kristalle blickten, die kletternden und kullernden Eichhörnchen und das brüllende Almvieh, das alles brachte ihn auf eine unerklärliche freudige Art in Gottnähe, und die Reinheit alles Lebens um ihn säuberte seine Seele von Unreinem aller Art. Bloßen Hauptes ging er unter Thors Blitzfeuern und rollenden Hammerwürfen im Sturzregen der Berggewitter, sah brüllende lehmbraune Muren mit hausgroßen Steinblöcken Fangball spielen und begegnete feurigen Männern im nächtlichen Wald. Furchtlos ging er auf die bläulich glimmenden Gespenster los und atmete den Schwammgeruch verwesenden Holzes ein, ohne Ekel legte er sich, dem Beispiel des Geißbuben folgend, unter zottelhaarige Ziegen und trank aus ihren warmen scharfriechenden Eutern.

Aber oft trat ein seltsames Grauen vor der Zukunft in sein Herz, eine namenlose Angst vor dem bevorstehenden Eingang in das alte Leben. Beklemmend und ungeheuerlich, unwahrscheinlich naturwidrig und unberechtigt traten bildhaft Vorstellungen des Gewesenen auf, erschien das gelbe Gesicht des Professors Karfreiter, der Ringellöckchenschädel Altböcks, die staubigen muffelnden Schulzimmer und der Tintengeruch der Bänke. Vitus war es, als könne er das nicht mehr, nie mehr ertragen, und mit Gewalt suchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß Baldur ja sterben müsse, schneller noch im Hochgebirge als im breiten Inntal unten, und daß es dann gut sei bei den Bratäpfeln am Ofen. Uralte Kindheitserinnerungen quollen auf und das Bild der Mutter, von frühreifen Erfahrungen mit anderen Frauen verdrängt und verzerrt, schien in aller Süße zu lächeln und der liebe Mund, der in den Tagen der Unschuld des Knaben ein sprudelnder Quell von Märchen und holden Liedern gewesen war, sprach leise, dicht am Ohr. »Vitus!« Ach, der seligen Tage, in denen Feuerkobolde im winterlichen Ofen pfiffen und mit roten und gelben Spitzmützen hinter dem Gitter tanzten, der stillen Dämmerstunden beim Flockenfall, in denen klein und bunt der tapfere Zinnsoldat, der eiserne Heinrich, die Gänsehirtin am Brunnen, Königstochter und Jägersmann im hellen Lampenkreis sich zeigten. Da ward es Vitus, als habe sein Herz Flügel bekommen und wolle flatternd der Brust entfliehen zur Reise ins Land Vergangenheit, in die seligen Gärten der Reinheit – zur Mutter nach Hause.

Aber dies waren einzelne Stunden von vielen und Märchen gab es hier auch und Geheimnisvolles genug. Einmal gingen die Freunde abends am letzten Hause des Dorfes vorbei und da stand ein altes Weiblein und goß Milch auf die schwarze Erde. »Frag sie!« raunte Herucker und Vitus tat es. »Eine hohe Frau kommt in dieser Nacht im goldnen Wagen und zwei weiße Katzen ziehen ihn. Für die ist die Milch!« sagte die Alte feierlich. »Man darf ihrer nicht vergessen!« In der Spinnstube, in der noch ein Kienspan im eisernen Halter leuchtete, erzählten sie bei den schnurrenden Rädern und hielten Heimgarten. Vom »Höllbrand und Haderbrand« gab es einen Sang, die unwissend, daß Vater und Sohn sich gegenüber stünden, grimmen Kampf anhuben. Die Schauer der uralten Zeiten, die hierher geflüchtet waren und noch immer in Lied und Wort lebten, regten Vitus auf. Als sie einst einen Opferkessel aus Stein entdeckten, in den Runen gehauen waren, bemerkten sie deutlich an Blicken und unfreundlichen Worten befragter Bauern, daß hier noch nicht alles vom Weihwasser versengt worden war, sondern heimlich weiterglomm und verborgen bleiben wollte. War es Zufall, daß auf des Geigei elender Hütte ein bleicher Pferdeschädel den Giebel schmückte? Oder nur Eigensinn, daß die Bauern seit einem Jahrhundert sich weigerten, ein seltsames menschenähnliches Steingebilde, das in die innere Kirchenwand gemauert war, entfernen zu lassen? Der alte Pfarrer hatte den Kampf darum längst aufgegeben, aber die beiden Werkleute, die der Kaplan auf eigene Faust aus dem Tal hatte kommen lassen, die Gestalt aus der Mauer zu brechen, mußten vor dem Beil des schäumenden Geigei und vor anderen Männern, die herbeieilten und sich drohend gegen sie stellten, entfliehen. Es sang der Wind, der vom Joch kam, allerlei in der Jünglinge Ohr. In ihren Seelen war eine große Sehnsucht, etwas von den Schätzen der Vorzeit zu heben, die hier verschüttet waren und nur manchmal wie ein vergrabener Schatz glimmerten. Aber so gern man die beiden »Studenteln« auch hatte, bei allen Fragen nach solchen Dingen entstand restloses und eisiges Schweigen um sie. Vitus' Haut wurde braun und seine Muskeln härteten sich. Manchmal verbrachte er Nächte mit Leo im Walde an lodernden Feuern, um die Frühpirsch auf Gemsen nicht zu versäumen. Sie sahen sie oft hoch oben auf Grasbändern und im unzugänglichen »Gamsgarten« des Alten Mannes, aber der Schuß wollte nicht glücken. Viel Wild gab es nicht in Vernauts. Einmal trafen sie auf die starke Fährte eines Bären, der über den Gletscherschnee ins nahe Graubünden gewechselt war.

An einem Morgen sah Vitus durch den Spalt der offenen Tür die Moidl in ihrer Kammer. Die Riesin stand mit starrenden Brüsten nackt vor einem Schaff' mit Wasser und ihr goldfarbenes Haar wehte wie eine schwere Fahne im scharfen Luftzug des offenen Fensters. Sie zog langsam, Stück für Stück, ihren steifen Kirchenstaat an, denn es war Sonntag, legte ein sauberes Taschentuch aufs Gebetbuch, netzte die Stirn mit Weihwasser und ging breithüftig und stattlich der Kirche zu, aus der die hohlen Töne der kleinen Orgel riefen. Vitus folgte eine Weile später hinterdrein, hörte dem pfeifenden Wispern des alten zahnlosen Pfarrers zu und sah, wie andächtig sie betete, unter dem abgearbeiteten und armseligen Weibervolk die Schönste und Kräftigste, und wie ihre Blicke immer wieder auf das lockige, segnende Jesuskind fielen, das den Altar schmückte. Am Nachmittag, als er mit der Flinte im Bergwald herumstieg und nach dem Habicht fahndete, der die Hühner aus den Höfen griff, war es ihm, als sei das Erlebnis mit ihr ein Traum gewesen und gar nicht wirklich. Kein Flecken war auf ihn gefallen, kein Brennen oder Bereuen zurückgeblieben. Er griff mit beiden Händen ins feuchte Waldmoos und lächelte vor sich hin. Frei und froh fühlte er sich – alles war hier anders und selbst der Geruch des Weibes, das ihn oben im Walde umarmt hatte, unterschied sich nicht von dem der Erde, des Heues oder der Ziegeneuter. Dies war alles eins und dasselbe, wie Berg, Wolken und Bäume. Ein Atemzug der Natur, ein Schritt, eine Bewegung, ein Trunk – Sein ohne Denken, Leben ohne Last.

Herucker erholte sich rasch von dem Anfall, den die Überanstrengung des Kletterns ausgelöst hatte. Manchmal gingen sie jetzt zu dritt, als Schüler fast, mit Christian, der ihnen aus seinem Leben erzählte. Vitus verstand wenig von den Fragen, über die Christian eindringlich sprach, wenngleich es auch ihm einleuchtete, daß viel Unrecht in der Welt sei und daß die Güter dieser Erde mit großer Ungerechtigkeit verteilt seien. Dennoch konnte er in solchen Stunden ein leises Gefühl der Feindseligkeit gegen den weit gewanderten Pflasterergehilfen Christian Prutzer kaum unterdrücken. Aus einem alten Patrizierhause stammen, das seine Überlieferungen hatte, erschien ihm berechtigten Stolzes wert. Daß im Hafen von Stambul Lastträger gegen ein Entgelt, das ihnen das dürftigste Leben von Tag zu Tag sicherte, Sklavenarbeit taten, daß Kesselschmiede taub wurden und Setzer an Bleivergiftung starben, deuchte ihm ebenso unabänderlich zu sein, wie die Kiefernekrose der jungen Mädchen, deren Schicksal es war, Zündhölzer mit Phosphorköpfchen zu versehen oder wie die Möglichkeit, daß Kreissägen und Zahnräder Menschenglieder zerreißen. Irgend jemand mußte in stinkende Kanäle steigen, irgendwer Ziegel auf den Bau tragen oder in schwarzer stickiger Tiefe Kohle hauen. Vitus fand es von Herucker lächerlich, daß er halbe Nächte lang mit tiefer Trauer von den Dingen sprach, die Christians Herz bewegten. Ja, es deuchte ihm fast ungehörig, daß ein Pflasterergehilfe aus eigener Kraft sich soviel Wissen aneigne, wie dies Christian zu tun vermocht hatte. Alle Triebe ererbten Blutes und überkommenen Stolzes bäumten sich in ihm gegen den Gedanken auf, schmutzige und übelriechende Menschen von rohen Gebärden und derbem Benehmen als Brüder anzuerkennen, wie dies Christian zu verlangen schien. Aber dennoch konnte er einem ahnenden Grauen, einem unheimlichen Gefühl nicht entrinnen, als Christian nach einem hitzigen Wortgefecht still und sanft zu ihm sagte: »Du mußt noch einen langen Weg machen, Vitus, und du wirst viel lernen müssen, bist du deinen Stolz überwunden hast. Und es tut mir leid, daß dir das noch bevorsteht.« Dann aber tröstete und stärkte ihn die Erinnerung an die schneeweiße Halsbinde und das unnahbare Gesicht seines mütterlichen Großvaters Marlemont und an die stolzen strengen Züge des Bildes, das den Alderman Veit Pieter Venloo aus Brügge darstellte, jenes Venloo, der nur auf Silber aß und dem auch damals, als der Herzog von Oranien sein Gast war, zuerst die Schüssel gereicht wurde als dem uneingeschränkten Gebieter des Hauses. Und an einem Tage, einem der letzten seines Urlaubes, hob sich aus den Nebeln, mit denen dieser glückliche Bergsommer alles vorher Gewesene überzogen hatte, scharf, deutlich und unvermittelt das Bild der Eltern und des Heimatshauses. Über die offenherzige Miene Vitus' zog ein leichter hochmütiger Schatten und seine Sprechweise wurde kühl und höflich. Herucker sah ihn befremdet an und in Christians Auge dunkelte stilles Leid. Am selben Abend, in der nachdenklichen Einsamkeit des Bettes, nahm die Verhärtung in des jungen Venloo Gemüt zu. Es war ihm, als hätte er leichtfertig Verrat an seiner Sippe verübt und seines stolzen Geschlechtswappens mit der rot und weiß geteilten Rose unter dem turbangeschmückten Helm vergessen. Christian hatte viel verloren in seinen Augen und das Wort »Sozialdemokrat«, eine in Vitus' Kreisen nur mit Widerwillen und verächtlicher Feindseligkeit gebrauchte Bezeichnung für eine aufrührerische, neidische und unverschämte, dabei von Natur aus tiefstehende Menschenklasse, stand wie ein schreiend rotes Siegel auf jenes Stirn gedrückt, wie ein warnendes Mal. Auch Heruckers Liebe zur rothaarigen Gretl, die sich ihm, Vitus, dem Abkömmling einer Herrenkaste, freiwillig an den Hals geworfen hatte, ward ihm zum Schandzeichen unedler und knechtischer Abkunft. Wie ein schmerzliches Erwachen waren diese Gefühle und die plötzliche Erkenntnis, daß er sich ahnungslos und freimütig einer wenn nicht gar feindseligen, so doch völlig wesensfremden Gemeinschaft hingegeben hatte. Aus diesen Gedanken, gegen die ein unbewußtes, empordrängendes Gerechtigkeitsgefühl nicht aufkam, fiel ein häßliches und entstellendes Licht auf alle Erlebnisse dieses eben noch so schönen, jetzt anders erscheinenden Sommers.

Die Liebkosungen der Bauernmagd, die Geistergeschichten der Spinnstube, das irrsinnige Gehaben des Geigei, der alte Pfarrer, der nach schlechtem Tabak riechende und den Fußboden bespuckende Leo, das alles wurde widrig und unausstehlich. Onkel Marlemont stand zu Häupten des Bettes, wedelte mit seinem wohlriechenden Taschentuch und zündete eine Zigarette aus Kairo an. »Was ist dir denn eingefallen? Wie kann man sich denn mit solchen Leuten einlassen?« Und die Stimme der Mutter sprach sanft und eindringlich, daß dies kein Umgang für Vitusche wäre. Die bösen Mächte, die immer auf dem Grund des Bechers bitteren Geschmack zu mischen verstanden, fanden Vitus auch hier wieder. Immer kamen diese Stimmen, immer lachte und höhnte es ihm nachträglich in die Ohren und alles, was köstlich schien, ward zur Bitterquelle. Mit einem schweren Seufzer und mit dem trübseligen Entschluß, in zwei Tagen abzureisen, schlief er ein.

Am anderen Morgen mußte er an den kleinen Kay in Andersens Märchen denken, dem winzige Splitter des Teufelsspiegels ins Auge und ins Herz gefallen waren. Das Auge sah nur mehr Fehler, das Herz war zu einem Eisklumpen erstarrt. So meinte er nun, in Christian einen halbgebildeten Wichtigtuer erkannt zu haben, der sich in einer Erlösermaske gefiel, dessen ganze Kunst im Auswendiglernen von Bibelworten und Sprüchlein des alten Schlesiers bestand. Und doch sprach eine leise Stimme in ihm dagegen.

Die letzten zwei Tage vergingen bei solcher Meinung freudlos und ein rauschender Landregen, der in geraden Schnüren auf neblige Wälder und steinbeschwerte Schindeldächer rann, machte auch den Abschied von der gütigen und großen Bergnatur leicht. Die Herzenshöflichkeit, die Vitus eigen war, ließ ihn aber doch gute und glatte Worte finden und sein Dank an Herucker, Leo und Moidl klang so echt und innig, daß den dreien die hellen Tränen in den Augen standen. Nur Christian blickte ernst, wenn auch mit unverminderter Güte. Er, sein Bruder und Herucker begleiteten den Scheidenden ins Tal zu der Haltestelle der Eisenbahn. Der riesige Bauer umarmte und küßte Vitus, der nicht ohne Rührung sah, wie lieb ihn der gewonnen hatte. Herucker sollte in drei Tagen auch wieder zurück, und so gab's keinen großen Abschied. Als Christian die Hand des Einsteigenden ergriff, sagte er: »Leb wohl, Vitus, wir sehen uns wohl einmal wieder und dann werden wir uns besser verstehen!« Diese Worte verrieten allzugut, daß Leos Bruder wohl gefühlt hatte, was in Vitus vorgegangen.

Und dann glitten die Gesichter vorbei, die winkenden Hände und allmählich auch die bekannten Umrisse der bekannten Berge. Als Vitus den Hut ins Gepäcknetz legte, sah er, daß dieser ohne sein Wissen mit zwei scharlachroten Nelken geschmückt worden war, mit Nelken, deren Stiele zierlich mit Schleifen aus blitzendem Silbergeflitter umwunden waren. Zwischen Blumen und Hutband stak ein Zettelchen. Er bog es auf und las. »Schön war der Traum der Sommerszeit –«

Das war nun ein Bauernmädchen – – –


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