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III

Professor Karfreiter stapfte, mit dem Stock derb aufstoßend, wie immer ohne Gruß in das Klassenzimmer der Sechsten, hing seinen Hut an den Nagel und stellte den Stock mit der blankgeschliffenen Silberkrücke in die Ecke. Die Schüler, die sich erhoben hatten, setzten sich nieder. Selbst der Primus Hugl, der neben dem Zweitbesten, neben Isidor Geduldig in der ersten Bank saß, empfand ein Gefühl des Unbehagens, als der Klassenvorstand das Konferenzbuch aus der Lade des Katheders nahm.

Gemächlich blätterte Karfreiter in dem dicken Heft, fuhr mit dem gelben Zeigefinger suchend über eine Seite, schob die Brille auf die Stirn, schmatzte vorkostend mit den Lippen und rief dann: »Vitus Venloo! – Pius Altböck! Stehen Sie auf!« Die beiden gehorchten. Ein Gemurmel der Neugierde erhob sich.

»Pst! Pst! Stille! Ganz stille!« rief der Krax mit krähender Stimme und fingerte an den Knöpfen seines abgeschabten Gehrockes herum.

»Ruhe! Baron Hochschreck, Spadini, Plöchhammer und Sie besonders, Malzey! Keinen Ton! Pst! Die Lehrerkonferenz spricht durch mich – verstanden? Spricht durch mich folgendes aus: Sie, Vitus Venloo, erhalten wegen wiederholten Schwänzens der Schule und wegen ihres ro–hen, jawohl, roo–hen Überfalles auf einen Mitschüler vier Stunden Karzer! Pst! keinen Laut! Niedersetzen! Und Sie, Altböck, wegen Raufhandels auf offener Straße in den Wiltener Feldern zwei Stunden Karzer. Abzusitzen ist die Strafe am heutigen schulfreien Nachmittag. Venloo begibt sich um zwei Uhr in den Karzer der Anstalt, Altböck ins Klassenzimmer, das versperrt wird, als der – jawohl – Minderschuldige. Ruhe! Niedersetzen!«

»Gemeinheit!« quackte froschartig und aus der Tiefe kommend eine Stimme. Es war Spadini, der Spaßmacher der Klasse, der über bauchrednerische Künste verfügte. Karfreiter kannte solche Scherze. Er tat als hörte er nichts und lächelte hämisch über Venloos sichtlichen Schrecken.

»Die Herren Eltern sind gleichzeitig verständigt!« fügte er hinzu. Vitus brütete vor sich hin. Die Strafe hatte ihn ganz unerwartet getroffen und es war zum erstenmal, daß er in den Karzer kam. Er dachte mit Angst im Herzen an das, was sein Vater wohl sagen würde und an die Vorwürfe der Mutter, die zudem mit Frau Altböck gut bekannt war und mit ihr sprach so oft sie sie auf der Straße traf. Altböck machte ein gleichgültiges Gesicht und wehrte die Beileidskundgebungen Petrsils ab. Geduldig aber rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und hielt plötzlich die Hand in die Höhe.

»Was wollen Sie?«

»Ich bitte sehr, Herr Klassenvorstand,« stotterte Geduldig erregt und angstvoll, »Sie sagen Überfall. Wieso Überfall? Überfällt der eine, wenn der andere zuerst stößt?«

Karfreiter wurde noch gelber als sonst und schoß auf den Schüler los.

»Schweigen Sie!« schrie er. »Wer hat Sie gefragt? Wer wünscht Ihre unreife und parteiische Meinung zu hören? Die Lehrerkonferenz hat gesprochen gewissermaßen ex cathedra – und da wollen Sie – wagen Sie zu reden. Ein Augenzeuge, jawohl – ein Herr Oberlandesgerichtsrat, der am Hange des Gebirges wandelte – ich wette, daß niemand diesen Satz ins Lateinische zu übersetzen imstande ist – dieser hochachtbare Zuschauer des sträflichen Beginnens hat pflichtgemäß die Anzeige bei der Schulbehörde erstattet. Was ist das? Wer war das?«

Der Pfiff, der beim Worte Oberlandesgerichtsrat als ein unwillkürliches Zeichen jähen Verstehens von Malzeys Lippen gekommen war, versetzte ihn in rasende Wut. Er lief im Zimmer herum und bedrohte die ganze Klasse. »Alle sperr ich ein. Sie, Hochschreck, und Sie, Spadini, und den Gschwandtner und den Montanus. Sie, Malzey, nun mit Ihnen wird es über kurz oder lang ein böses Ende nehmen. Ich bedaure vom Herzen Ihren hochgeachteten Herrn Vater. Hm. Ja, Ruhe jetzt. – Alle den Sallust zur Hand! Schlagen Sie auf. Dörnle, Sie beginnen zu übersetzen, wo wir stehen geblieben sind. › Magus cuur exercitu.‹« Und mit dem Einsetzen der stockenden und mühsamen Übertragung begannen die Minuten langsam, endlos langsam zur Stunde zu reifen. Die Schulglocke machte der verhaßten Qual ein Ende und Karfreiter, der stets im Zimmer blieb, bis sein Nachfolger im Unterricht eintrat, stapfte endlich mit brummigem Nicken an Dietlieb vorbei. Der ewige Supplent hatte einen Stoß blauer Hefte unter dem Arm.

»Also die letzte Ex-tempore-Arbeit ist kläglich ausgefallen, meine Verehrtesten. Als gelungen kommen eigentlich nur zwei Aufsätze in Betracht, und zwar die vom Herucker und vom Venloo. Sie, Hügl, hätten als Primus etwas Besseres leisten können, als ein Gedicht von Kopisch in Prosa wiederzugeben. Sie scheinen wenig Phantasie zu haben, wie? Und Sie, Wilsiak, wie ist das mit dem Roß, das auf einmal den Wagen stehen läßt und davonfliegt? Wie? Mit was fliegt es denn, Ihr Wunderpferd?«

»Die Flügel hab ich vergessen, Herr Professor,« stotterte Wilsiak in der vorletzten Bank. »Ich meinte den Pegasus.«

»Aha! Da kennen Sie wahrscheinlich auch das Gedicht. Auf einem Markt, vielleicht zu Haymarket – Wie? Dasselbe wie Hügl, nur noch schlechter. Na, Noten gibt es zu Ihrem Glück diesmal nicht. Herucker, lesen Sie Ihre Arbeit vor.«

Herucker begann zu lesen. Seine Mitschüler fühlten, daß da ein Ungewöhnlicher zu ihnen sprach und hörten andächtig zu.

»Und alle Menschen lauschten dem Liede des kleinen Vogels und wurden froh und traurig zugleich. Sie wußten ja nicht, daß es ihre eigene Sehnsucht war, die da als Lied erklang.« Unter bewunderndem Schweigen erklang der letzte Satz.

»Lassen Sie es bei diesem Versuch nicht bewenden, Herucker!« sagte Dietlieb mit einem sehr warmen Ton in der Stimme. »Wer weiß, welchen Weg Sie noch gehen werden! Sie haben mir mit Ihrer schönen Arbeit eine große Freude gemacht. – – Ihren Beifall, Malzey, brauche ich durchaus nicht. Das Blatt aus Ihrem Heft lassen Sie wohl am besten verschwinden. Sie hätten Talent genug, wenn Sie nur wollten. Sie werden mit dem Leben nicht fertig, Sie Wirrkopf! Venloo, lesen nun Sie!« Vitus, in dem noch die Erregung über die ungerecht bemessene Strafe nachwirkte, las schlecht und hastig. Als er den Schluß sprach: »Und das Herz war ein deutsches Herz«, gab Petrsil einen rülpsenden Ton von sich und Altböck lachte laut auf. Mit einem Sprung war Dietlieb auf dem erhöhten Kathederplatz und blickte mit funkelnden Augen über die Klasse.

»Petrsil, was haben Sie zu lachen?«

Der Tscheche zog ein klägliches Gesicht und sagte weinerlich: »Bitt scheen, Herr Professor, ich hab nit g'lacht – hat mir aufg'stuß'n.«

»Merkwürdig. Aber schon gut! Bin weiter nicht neugierig,« rief Dietlieb und winkte ihm ab. »Und Sie, Altböck? Was haben Sie für eine Ausrede?«

»Ich hab gar keine Ausrede«, sagte der Angerufene laut und deutlich und stand in seiner ganzen Breite auf. »Ich hab gelacht.«

»Weshalb?«

»Weil mir das blöd vorkommt, das mit dem deutschen Herzen.«

»So, blöd kommt Ihnen das vor? Sind Sie denn kein Deutscher?«

»Ich bin ein Tiroler,« sagte Altböck langsam und mit gut erkennbarem, süßlichem Lächeln.

»Schön, schön, gut,« erwiderte Dietlieb und zupfte erregt an seinem Ohrläppchen. »Aber nebenbei sind Sie doch ein Deutscher, wie?«

»Hauptsächlich bin ich ein Österreicher,« antwortete Altböck störrisch und langsam »und nebenbei ein Tiroler, Herr Supplent.«

»Gut, gut, schon gut.« Dietlieb schluckte den »Supplenten« hinunter. Er merkte die Falle dieses wohlgeölten Burschen. »Setzen Sie sich!« Wie in trübe Erinnerungen versunken strich er sich über das borstige Haar, der ewige Supplent.

»Ein Österreicher und katholisch!« sagte Altböck halblaut, aber vernehmlich, als die Bank unter seinem Gewicht krachte. Dem hatte er's gegeben. Der Fuchs sollte nur merken, daß den alten Zähnen, die ihn gezwackt hatten, junge nachgewachsen waren. Es verschlug ihm nichts, daß ihn viele verächtlich ansahen. Er war stolz auf seine Leistung.

»Fahren wir also fort,« sagte Dietlieb und klopfte mit dem Bleistift. »Kluibenschild, lesen Sie, Seite dreißig. Die Makamen des Havri. Wieder einmal das Lesebuch vergessen? Wie? Plöchhammer, borgen Sie ihm das Ihre.« Als Vitus nach der Mathematikstunde das Schulgebäude verließ und die Entrüstungskundgebungen seiner Freunde hinter sich hatte, kam ihm Hochschreck nachgelaufen, ganz verstört und aufgeregt. Er hatte einen Versuch gemacht, am letzten Sonntag nachmittag Mali beim Ankleiden zu überraschen. Und da sei ein Soldat bei ihr gewesen. Er habe alles durchs Schlüsselloch gesehen, habe sie dann zur Rede gestellt und ihr gedroht. Und da habe sie ihm versprochen, sie würde einmal zu ihm kommen. Aber er dürfe keinem Menschen etwas sagen. Und er glaube, daß sie heute nacht kommen werde. Vitus sollte ihm auf alle Fälle einen Gulden leihen. Irgend etwas müsse er doch kaufen. Es seien jetzt drei Gulden im ganzen – am Ersten würde er alles zahlen. Vitus nickte nur und versprach dem anderen das Geld. Ihm war seltsam traumhaft zu Mute und er war wie erlöst, als Fritz sich von ihm trennte. Sehr langsam und zögernd ging er den Weg nach Hause, blieb vor dem Fenster einer Waffenhandlung stehen und betrachtete mit dem Schauder aufkeimender Selbstmordgedanken die nickelblanken und dunklen Revolver.

Im Garten sangen die Vögel und ein leichter, frischer Wind raschelte in der großen Linde. Die schwarze Gordon-Setter-Hündin »Miß« lief dem Haussohn entgegen, tollte um ihn herum und sprang an ihm empor, mit den schönen braunglänzenden Augen um eine Liebkosung bettelnd. Vitus wehrte den Hund barsch ab, der nun betrübt hinter ihm herschlich, und betrat das Haus scheu wie ein Verbrecher, klinkte die Tür seines Zimmers auf und warf die Bücher achtlos auf den Tisch, in einer dumpfen und unruhigen Angst befangen. Er glaubte, daß niemand seinen leisen Schritt auf der Treppe gehört haben könne und die Stimme seines Vaters, die seinen Namen rief, ließ ihn bis in das Innerste erschrecken. Und gleich darauf stand er in dem kühlen, durch die Bäume vor dem Fenster gründämmerigen Licht des väterlichen Studierzimmers.

Professor Venloo erwartete seinen Sohn an der Tür, schloß sie heftig hinter dem Eingetretenen und hielt ihm mit bebender Hand einen Zettel hin.

»Kennst du das?«

»Der Konferenzzettel,« sagte Vitus leise, »der Karzer.«

»Jawohl, der Karzer!« rief der Vater. »Du gehst also nicht mehr in die Schulmesse? Raufst du dich mit anderen Burschen herum? Was soll das noch mit dir werden? Und du lügst, Vitus!«

»Ich lüge nicht – –«

»Ich habe dich an dem Tage, an dem die Rauferei stattfand, wie immer gefragt, ob etwas Besonderes vorgefallen sei. Du hast es verneint und hast mich also belogen.«

Vitus senkte den Kopf.

»Ich habe mich sehr in dir getäuscht, mein Sohn. Geh jetzt! Ich will dich vorläufig nicht sehen.«

Vitus ging die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer saß die Mutter und weinte. »Papa hat sich so aufgeregt deinetwegen – und daß du so schlecht geworden bist, Vitusche – Ach, mein Jung, wie ist das nur gekommen – du warst doch so fromm –« Und unter einem neuen Strom von Tränen begann die in ihrem Seelenfrieden erschütterte Mutter Vitus vorzuhalten, wie schmerzlich seine Eltern von der plötzlichen Wandlung berührt seien. »Das kommt alles nur von den abscheulichen Jungs, mit denen du dich in letzter Zeit herumtreibst. Aber von denen kommt mir keiner mehr ins Haus, das sag ich dir,« rief sie in ausbrechendem Zorn. »Von denen lernst du all die Gottlosigkeiten.«

Vitus ergriff die Flucht und ging in einen Teil des Gartens, in dem dichte Geisblattbüsche, Quittensträucher und Flieder die schmalen Wege einfaßten und verbargen. Sein Kopf war heiß und wirr. Die Verstimmung des Vaters und namentlich die Tränen der Mutter taten ihm unsagbar weh. Er setzte sich bedrückt auf eine kleine Bank und starrte auf den Kies des Weges, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Ein goldglänzender Laufkäfer wandelte über die Steinchen und strebte dem schützenden Dickicht zu. Gedankenlos stieß Vitus mit dem Fuß nach ihm und als das zappelnde Tierchen wieder auf die Beine kam, zerquetschte er es unter der Sohle. Gelbliche kleine Eingeweide traten aus dem Käferleib und die Beinchen zogen sich krampfhaft zusammen. Da brach Vitus in Weinen aus.

Trübselig ging er am Nachmittag über den Eisensteg, der sich über den grauen rauschenden Inn spannte, verlor sich in den übelriechenden Gassen der Vorstadt, die im Volksmund die »Kotlacke« genannt wurde und verschwand im dunklen gewölbten Eingang des Gasthauses »Zur grünen Eiche«, in dessen verborgenstem Hinterzimmer die Hercynenkneipe war. Über der Tür, die in dieses Allerheiligste führte, war wohl nicht ohne Absicht jenes einfache Bilderrätsel angebracht, das man in kleinen Wirtschaften öfters findet: eine Pumpe mit den beigefügten Worten »– wird nicht!« Im düsteren, durch zwei sausende Schmetterlingsbrenner mäßig erhellten Kneipzimmer mit dem bemalten Wappen aus Pappendeckel und den verstaubten rot-gelb-blauen Baumwollfahnen saß nur Malzey vor einem halbleeren Bierglas und klimperte auf einer Gitarre.

Auf einem Teller von verdächtiger Reinlichkeit lagen Kopf und Rückgrat eines verzehrten Herings.

»Hallo!« schrie Malzey und sprang auf, »wenigstens einer von der Bank! Dabei ist es schon fünf Uhr und die Kneipe soll beginnen. Aber wie schaust denn du aus, Vitus?«

»Verdruß mit meinem Alten,« sagte Vitus kurz.

»Ach so! Ich habe den meinen schon ein paar Tage nicht gesehen. Ich vermeide unliebsame Begegnungen mit Landesgerichtsräten und habe zu viel Pietät, meine Frau Mutter in ihrer Andacht zu stören. Unsere wackere Köchin sorgt für mich – in jeder Weise. Sie ist dick und warm, wenngleich nicht schön. Aber sie ist dankbar und umarmt in mir nächtlicherweile den schöngelockten Friseur Vogelsang, der auch auf die gefühlvollsten Liebesbriefe keine Antwort gibt. Er heißt Eduard. Ich muß es mir gefallen lassen, in gewissen Augenblicken mit diesem Namen beflüstert zu werden.«

»Aber das ist ja ekelhaft,« erwiderte Vitus übellaunig. Der Wirt trat ein, ein Riese mit einem Andreas-Hofer-Bart und roter Knollennase. Er stellte ein Glas Bier vor Vitus und fragte ihn, ob er etwas essen wolle. Vitus bestellte sich einen »Russen«.

»Ekelhaft, meinst du?« lachte Malzey und begrüßte den krummbeinigen Spadini, der eben eintrat. »Es ist eine nicht unangenehme Leistung, die mir manches einträgt. Warum soll ich nicht in dunkler Nacht der verliebten Einbildungskraft einer Kunigunde Vorschub leisten, die ihren Eduard nicht erreichen kann?«

»Alter Saumagen!« schrie der Eingetretene und schlug den Malzey auf die magere Schulter. »Venloo, laß dich mit dem Kerl nicht ein. Der verdirbt dich in Grund und Boden. Helft mir jetzt, die Bibeln und die Mützen aus der Kiste zu nehmen. Ah, da kommt ohnehin ein Fuchs?« Der kleine Dörnle war eingetreten und mit ihm Herucker und Hochschreck. Nach und nach füllte sich das Zimmer, die feuerroten Mützen bedeckten junge Köpfe und die Jula, ein freches sechzehnjähriges Mädchen mit aufgestülpter Nase und wippenden Brüsten schleppte Biergläser herbei, ziemlich schamlos zu den derben Scherzen und Handgreiflichkeiten lachend, die ihr reichlich zuteil wurden. Der Wirt mit dem Patriarchenbart sah wohlgefällig zu, wenn er ab und zu ins Zimmer trat.

Die junge Dirne zog ihm viele Gäste in seine Spelunke, und die Wut seiner unbeholfenen, an Atemnot leidenden Frau, die Jula verfolgte, mochte wohl bessere Gründe haben.

Unter genauer Beobachtung studentischen Komments wurde die Kneipe vom Senior Montanus eröffnet und bald füllte brausender Gesang aus begeisterten jungen Kehlen das enge qualmende Zimmer. Vitus saß neben Herucker, der mit dem ihm eigenen Feingefühl wohl bemerkte, daß den anderen ein tiefes Leid bedrücke. Vitus, der wenig vertrug und stets sehr mäßig blieb, trank heute hastig das schwere Bier und bekam einen roten Kopf. Er lachte unbändig zu Spadinis Witzen und zu einem »Fuchsenulk«, der darin bestand, daß zwei der jüngsten Hercynen unter einem ausgezogenen Rock niederkauern mußten und durch die vom Fuchsmajor Obermayr emporgehaltenen Ärmel, die ein Telephon zwischen Innsbruck und Trient vorstellten, sprachen. Der in Innsbruck fragte durch die Vermittlung Obermayers, ob es in Trient heiß sei, was der Ahnungslose unter dem hochgehobenen Ärmel bejahte, worauf sogleich der Inhalt eines Wasserglases »zur Abkühlung« hernieder kam und ihn fluchend und pustend aufspringen machte. Besorgt sah Herucker, daß sich allmählich in Vitus eine gereizte Stimmung entwickelte und vernahm zum erstenmal mit Mißbehagen, daß der Sohn des von ihm, Herucker, wirklich verehrten Kunsthistorikers, des Vertreters eines Faches, dem er sich zu widmen gedachte, von seinem Vater in einer Weise zu sprechen begann, die allmählich an Malzeys Art erinnerte. Vitus wurde immer erregter unter dem Einfluß des zu reichlich genossenen Bieres und bei einer Liedstrophe, die mit den Worten schloß:

Und schlüg ich auch mein Glas
Zu hunderttausend Trümmern,
So hat sich doch kein Mensch
Kein Mensch darum zu kümmern –

knallte er sein Bierglas so heftig auf den Tisch, daß es in Scherben zersprang und das Blut aus einer Schnittwunde an seiner Hand rann. Im Einverständnis mit dem Senior Montanus, der mißbilligend zugesehen hatte, brachte Herucker den Freund aus dem Zimmer, auf die ernüchternde Wirkung der frischen Luft hoffend. Aber draußen wurde der Rausch noch schlimmer und Herucker hatte Mühe, sich des Farbenbandes zu bemächtigen, das Vitus noch auf der Brust trug. Allmählich, nach einem längeren Aufenthalt in den Anlagen um den eisernen Walter von der Vogelweide, verflog die Betrunkenheit und so brachte er Vitus nach Hause, als es von den Türmen acht Uhr schlug. Ein Gewitter zog ferne herauf und die Luft war schwül und beklemmend.

Vitus fand die Eltern schon bei Tische und wurde mit vorwurfsvollen Blicken empfangen. Der Vater blieb wortkarg während des Essens; die Mutter machte ihn durch Augenwinken mehrmals auf das gerötete Gesicht des Sohnes, auf die verschobene Krawatte und das wirre Haar aufmerksam. Als das Essen vorüber war, trommelte Professor Venloo nervös mit den Fingern und richtete dann ganz unvermittelt eine Frage an Vitus.

»Wo kommst du her?«

»Ich war spazieren,« antwortete der Gymnasiast in verstocktem Ton. Es war ihm, als käme seine eigene Stimme von wo anders her, als wäre es nicht er selbst, der da sprach.

»Du siehst aus, als ob du getrunken hättest,« fuhr der Vater fort und an seiner Schläfe schwoll ein geschlängeltes Blutgefäß. »Du warst im Wirtshaus?«

Vitus schwieg. Eine schreckliche Neugierde, qualvoll und lockend zugleich, befiel ihn, wie dieser Auftritt endigen würde.

»Antwort doch, Vitusche!« rief die Mutter. »Was ist der Jung doch verändert seit ein paar Tagen!«

»Spazieren,« sagte Vitus noch einmal. Aber seine Stimme klang unsicher.

»Du lügst wieder!« rief jetzt Professor Venloo und seine Hände zitterten. Besorgt sah ihn seine Frau an. Seine Lippen sahen im Lampenlicht eigentümlich violblaß aus.

»Laß doch – Papa –« wollte sie begütigend sagen, aber in diesem Augenblick stotterte Vitus trotzig, er sei kein kleines Kind mehr und könne auch wie andere einmal Bier trinken gehen. Im nächsten Augenblick starrte er fassungslos, totenbleich den Vater an, dessen Hand klatschend auf seine Wange gefallen war – zum erstenmal.

Nie war Vitus geschlagen worden. Es war ihm dunkel vor den Augen und ohne daß er etwas dagegen zu tun vermochte rannen heiße Tränen über seine Wangen. Irgend etwas versank – unrettbar in bodenlose Abgründe für immer. Die Mutter schrie auf und ein Teller klirrte auf die Diele. Susanne, die eben mit einer Obstschüssel eingetreten war, hatte ihn fallen lassen.

»Stellen Sie das Obst daher,« sagte die Hausfrau, mühsam ihre Fassung bewahrend. »Es ist gut –«

Das Mädchen ging.

»Vitusche, Vitusche – bitt den Papa rasch um Verzeihung,« sagte die Mutter, nun selbst weinend. »Junge, was ist in dich gefahren? Komm, geh zum Papa – –«

Aber der Junge sah noch immer entsetzt und keines Wortes mächtig auf den Vater. Seine linke Wange war hochrot und begann aufzuschwellen. Er fühlte es nicht. Ein wütender Schmerz in seinem Innern eine namenlose Trauer, ein zerschmetterndes Gefühl der eigenen Schuld vereinten sich mit der Schmach der Züchtigung und betäubte ihn völlig. Die Mutter flüsterte dem Vater ins Ohr.

»Ach was!« erwiderte der Professor. »Ich hab's satt. Und du geh in dein Bett, Vitus, vorwärts!«

Wortlos stand Vitus auf und ging aus dem Zimmer – ohne Gutenachtgruß. Er hörte noch wie sein Vater im heftigen Ton sagte: »Da siehst du, was aus dem Burschen geworden ist –.« Tappend stieg er im Dunklen über die Stiegen und öffnete die Tür zum Klosett. Ein stoßendes Erbrechen würgte ihn. In seinem kleinen Zimmer war es dunkel und heiß. Ferne murrte der Donner des nahenden Gewitters. Ein tränenloses Weinen schüttelte Vitus. Nun war alles aus. Die Reue fraß in ihm und ein entsetzliches Mitleid mit den Eltern überkam ihn. Er wußte, daß sie mehr litten als er. In einem Wutanfall verfluchte er die Hercynia und seine Freunde. Eine rasende Hilflosigkeit befiel ihn. Was tun? Was tun? Sollte er noch einmal hinuntergehen und den Vater um Verzeihung bitten? Aber da fühlte er unwillkürlich mit der Hand an die brennende Wange und sein Knabentrotz bäumte sich auf. Sein Vater hatte ihn geschlagen, so wie Malzey geschlagen wurde! Er dachte an den alten Schmied, der lieber gestorben wäre, als daß er seinen Vinzenz strafend berührt hätte. Nein, er konnte nicht vergessen, konnte nicht um Verzeihung bitten – Um Verzeihung? Für die Ohrfeige etwa? Für die Ohrfeige, die ihn geschändet hatte. Er lachte auf. Und dann tat er wieder ein paar Schritte zu der Tür. – Nein, er konnte nicht hinunter. Das Herz tat ihm so weh, etwas tobte in ihm und wollte heraus. Geschrien hätte er am liebsten sinnlos, ohne Aufhören. Er war schuld an allem – der Vater war schuld – die Hercynia – die Lehrer – –. Eine schwere Angst senkte sich über ihn. Das Schicksal war gegen ihn –. Er sprach zusammenhanglose Worte vor sich hin, lallte Unsinn, stieß mit den Füßen wild nach dem Stuhl, der ihm im Wege stand, knüllte ein Heft zusammen, das ihm in die Hand geriet und schleuderte es auf den Boden. Alles war verloren – alles. Schluchzend warf er sich auf das Bett. Endlich zog er sich aus und kroch zwischen die Laken. Ein heller Blitz tauchte das Zimmer in gleißendes Blau. Ein krachender Schlag folgte und rauschend fiel der Regen durch Blätter und Äste, trommelte auf den blechernen Sims vor dem Fenster und gurgelte in der Dachrinne. Da knarrte die Tür und Vitus fuhr auf. Etwas Weißes war im Zimmer. Wieder blitzte es auf und er erkannte Susanne. Sie stand da, mit Hemd und Unterrock bekleidet und rührte sich nicht. »Susanne!« rief er halblaut.

Da kam das Mädchen lautlos näher und setzte sich auf den Bettrand. Eine kleine rauhe Hand glitt mit zarter Liebkosung über die geschwollene Wange. Ein brennender Mund drückte unzählige rasche Küsse auf des Knaben Stirn. Und triebhaft griffen seine Hände nach dem warmen schlanken Leib unter dem groben Linnen des Hemdes, tastend nach Brust und Hüften. Die junge Magd zitterte und weinte und drückte sich noch fester an Vitus. Im Schein des Blitzes sah er ihr blasses liebliches Gesicht, die starren, weit geöffneten Augen. Und nun griff er mit Kraft zu – –

»O nicht, Herr Vitus, – nicht – –«

Sie stieß einen wehen Schrei aus und ergab sich ihm.

Als Vitus wieder allein war, lauschte er lange dem leisen Rauschen des abziehenden Regens und dem eigentümlich klagenden Ruf eines Nachtvogels, wunschlos und müde.

Erst am Morgen kamen die Gedanken und flatterten grau und wild um sein Bett. Die Erinnerung an das, was abends und in der Nacht geschehen, war wie das mühsame Wiederheraufbeschwören eines Traumbildes und es dauerte lang, bis Vitus begriff, was mit ihm vorgegangen war. Er stand auf und begoß sich mit kaltem Wasser. Sein Kopf wurde allmählich klar, und doppelte, schwere Reue quälte ihn mit nie empfundener Heftigkeit. Der Geruch des Mädchens peinigte ihn. Dieser seltsame starke Duft schien das Zimmer zu füllen, hing an der Wäsche und in seinem Haar, an Haut und Lippen und keine Waschung konnte von ihm befreien. Langsam und befangen stieg Vitus die Treppe hinunter. Er kam sich verworfen und elend vor und erst vor der Tür des Frühstückzimmers dachte er an den bösen Auftritt des vergangenen Abends. Wie eine Glutwelle schoß das Leid in sein Herz und die rasende Sehnsucht nach der Liebe dieser zwei Menschen, die sich seinetwegen grämten – –. Er öffnete die Tür und trat rasch auf seinen Vater zu, der gerade von der Zeitung aufblickte. Er sah schlecht aus, bleich und faltig –.

»Nun?«

»Verzeih mir, lieber Papa – verzeih mir –« rief Vitus in einem heftigen Gefühlsausbruch. »Ihr sollt mich lieb haben.«

Der Vater lächelte matt und zog ihn an sich heran.

»Ein bißchen spät, Vitus – – aber wir wollen die Sache vergessen. Und nicht mehr – und es mit der Wahrheit genau nehmen, Junge.«

Die Mutter war überglücklich und küßte den reuigen Sohn, streichelte ihn und nannte ihn ihren guten braven Jungen, fing dann an zu beweisen, daß ihn die anderen »abscheulichen Jungs« verführt hätten und war voll Mitleid über seine Blässe und matten Augen. Dann mußte Vitus die Geschichte der Rauferei mit Altböck erzählen und erhielt sogar teilweise recht. Aber während dieser ganzen Zeit bohrte und peinigte ihn der Gedanke an die Ahnungslosigkeit der Eltern und an die eigene Niedrigkeit, er war befleckt und verworfen, unwürdig der reinen Zärtlichkeiten seiner Mutter, schwarz von Lügen und klebrig vor unsauberen Heimlichkeiten. Und ihm ward noch elender, als die Mutter dem Vater mit Bezug auf sein Aussehen wiederholt sagte, wie sehr der arme Junge sich die Sache zu Herzen genommen habe.

Gleich nach dem Frühstück ging er in die Schule und wartete im Gang auf den Senior Montanus, dem er, als er seiner im gewölbten Gang des uralten, baufälligen Gebäudes ansichtig wurde, in fliegenden Worten seinen sofortigen Austritt aus der »Hercynia« mitteilte. Sein Vater sei ihm darauf gekommen und er habe versprechen müssen, auszutreten. Nur seinem Freunde Herucker sagte er in der Zwischenstunde die Wahrheit, daß er nicht mehr länger seinem Vater gegenüber ein Geheimnis haben könne. Herucker billigte sein Verhalten und versprach, im Konvent sein Gesuch zu befürworten.

Der krampfhafte Anlauf zur Besserung, den Vitus nahm, äußerte sich auch in der bei ihm unnatürlichen Aufmerksamkeit, mit der er dem Unterricht folgte. Selbst der langweiligen Vortragsweise des »Krax«, der jeden übersetzten Satz erst zergliederte und wiederkaute. In der nächsten Stunde, in der Professor Summerfeld überaus nachsichtig Geschichte prüfte und mit traurigem Lächeln über die Fälschungen hinwegglitt, die in dem vorgeschriebenen Lehrbuch enthalten waren, tauchte lieblich und leidend das Gesicht der jungen Magd vor Vitus auf. Mit aller Gewalt mühte sich Vitus den Spuk zu bannen und es gelang ihm. Nach der letzten Stunde, die der Religionslehrer Professor Dr. Zeindl gab, winkte der Geistliche Vitus, der nach Hut und Büchern griff. Als die anderen draußen waren stellte er sich in seiner ganzen Breite vor den Schüler, zog eine mit Karlsbader Sprudelsteinen verzierte Dose aus der Tasche, schnupfte, wischte mit einem riesigen blauen Taschentuch die Nase und sprach dann langsam und bedächtig mit seiner tiefen Baßstimme:

»Warum gehen wir denn nicht mehr in die heilige Messe, Venloo?« Vitus senkte den Blick und murmelte etwas von Kopfweh und Unwohlsein.

»Mein lieber junger Freund,« sagte Zeindl und legte Vitus die fleischige Hand auf die Schulter. »Wer war denn das, der mit einem gewissen Baron Hochschreck abscheuliche und lächerliche Reden im Löwenbräu geführt hat? Ha? Die selbigen Reden hat nämlich ein Vetter von mir gehört und Ärgernis daran genommen. Wißt's, ös Lausbuam, daß ös alle beide g'spritzt werdet's, wenn i das anzeigen tua? Wißt's das? Ha? Aber ich will nicht solches, Vitus Venloo, und zwar Ihrer Mutter zulieb. Also, warum gehen wir nicht zur heiligen Messe? Und warum führen wir solche Reden?«

Er schnaubte umständlich in sein blaues Tuch und sah Vitus durch die dicken Brillengläser scharf an.

Vitus schwieg.

»Zeichen der Zeit, Zeichen der Zeit. Auch der Glaube in den jungen Herzen ist erschüttert. Vielleicht hat da ein Ungeschickter etwas zerstört,« sprach er mehr zu sich selbst, fuhr aber gleich mit erhobener Stimme fort: »Alles eins! Der Besuch der Schulmesse ischt Pflicht. Merken Sie sich das, ganz einfach Pflicht. Geben Sie wenigstens kein schlechtes Beispiel. Ich hoffe zu Gott und zu der heiligen Jungfrau, daß Ihr Herz erleuchtet und wieder befestigt werde im Glauben. Aber wehe Ihnen, wenn Sie wieder öffentliche Läschterungen ausstoßen. Pfui, Vitus Venloo! Schämen Sie sich. Nun, ich will manches als Jugendeselei nehmen und Erbarmnis mit Ihnen haben. Verloren sind Sie, wenn ich nur ein Wort red?« donnerte er plötzlich, »und sagen Sie's nur gleich auch dem Hochschreck, dem Haderlumpen, daß er in Zukunft seine ungewaschene Goschen hält! Sonst wehe, dreimal wehe! Und jetzt – Schulmesse gehn, verstanden? Die heilige Beicht und Kommunion nicht vernachlässigen, Vitus!« setzte er sanfter hinzu, »wer auf Gott vergißt, den vergißt auch Gott. Seid's froh, daß nur ich um eure bübischen Dummheiten und frechen Reden weiß! Seien Sie froh! Machen Sie sich nicht des schönen Aufsatzes unwürdig, von dem mir der Kollege Dietlieb erzählt hat. Und jetzt – adjes – cum Deo, Vitule!«

Vitus verbeugte sich und eilte so rasch als möglich aus dem Zimmer. Unten warteten Herucker und Malzey seit geraumer Zeit auf ihn. In fliegender Hast erzählte er ihnen, was er soeben erlebt und wie er und Hochschreck beim Löwenbräu belauscht worden seien.

»Schade, daß das feiste Pfäfflein nicht an den ergebens Unterzeichneten geraten ist,« rief Malzey und blies nervös durch die lange Nase. »Ich hätte ihm besser geantwortet als du!«

»Ja freilich!« entgegnete Vitus geärgert, »du hättest das Kraut fett gemacht – –«

»Mein lieber Malzey,« sagte Herucker sehr ruhig, »wenn du kein Gefühl dafür hast, daß der Zeindl sich hochanständig benommen hat, bedaure ich dich! Mir scheint, du denkst gar nicht daran, welche Güte dazu gehört, bei seinen Anschauungen diese Sache so zu behandeln.«

»Pfaff ist Pfaff,« knurrte Malzey, der sich seiner Prahlerei schämte. »Wer weiß – der Baron Hochschreck, der alte nämlich, kann mancherlei Künste.« – »Lächerlich!« Herucker wurde erregt, »als ob sich der Zeindl um solche Dinge scheren würde! Kennst du ihn? Ich kenn ihn genau – von Hall her, wo ich war. Der Zeindl ist der beste Mensch und nebenbei ein Tausendkünstler, ein Obstkenner wie kein zweiter, ein berühmter Numismatiker, ein Mineraloge von Fach. Den Kindergarten für kleine Krüppel hat er ins Leben gerufen, eine Bahn in sein Heimatstal ist nach seinem Entwurf von den Technikern praktisch begutachtet und gebaut worden. Sein Buch über Landwirtschaft hat fünfundzwanzig Auflagen gehabt, sein Tiroler Kräutertee wird in alle Welt versendet und der Gewinn fließt – na wem? – einer sehr armen evangelischen Gemeinde in Kärnten zu, weil seine Mutter von dort war. Und da kommst du mit deinem ›Pfaff‹! Nein, auf den laß ich nichts kommen. Und der glaubt wirklich an das, was er predigt!«

»Er ist ein guter Kerl, wenn er auch grob ist manchmal.«

»Grob ist er, wenn er sein gutes Herz überschreien will,« nickte Herucker. »Er ist halt ein katholischer Priester, aber ein guter Deutscher dabei.«

»Lieber Johann,« sagte Malzey und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an, obwohl das Rauchen auf der Straße strengstens verboten war. »Wenn ich einen Stiefel geredet habe, bin ich ganz von selbst zerknirscht. Übrigens hab ich das alles selbst erlebt. Wie ich voriges Jahr etwas im Karzer an die Wand geschrieben habe – na, eine Sauerei halt und eine ›Lästerung‹ dazu. Da ist er gekommen, hat es gelesen, mit dem Kopf geschüttelt und hat dann gebrüllt: ›Kratzen's das aus, Rotzlöffel Sie, wenn das wer liest, fliegen Sie aus allen Gymnasien der Welt hinaus.‹ Und ist gegangen.«

»Na, war das nicht sehr anständig?« sagte Vitus.

Malzey verabschiedete sich noch immer etwas verlegen. Er gab sich nicht gern Blößen.

»Manchmal ist mir der Kerl zuwider,« brummte Herucker, »er meint's freilich nicht so, aber sein Maul ist eine Dreckschleuder.« Sie gingen beim Rudolfsbrunnen mit seinen bescheidenen Wasserkünsten vorbei.

Herucker sollte in einigen Wochen, nach Schulschluß, in's obere Inntal reisen, wo Verwandte von ihm in einem sehr hoch gelegenen Örtchen bei Ried ein Anwesen hatten. Er war schon voll Freude und Sehnsucht nach den Bergen, nach den Nadelwäldern und Almen.

»Komm mit, Vitus,« sagte er plötzlich, »komm mit nach Vernauts! Red mit deinen Eltern – es würde dir gut tun. Und ich wär froh, wenn du mit wärst? Es ist herrlich dort!«

Vitus war gleich begeistert und versprach mit dem Vater zu reden. »Gewehre haben wir auch dort!«

»Davon erzähl ich nichts,« sagte Vitus, »die Mama hat sonst Angst. Schön wär es!«

Herucker lachte glücklich und bekam einen jähen Hustenanfall. Er führte schnell das Taschentuch zum Mund. Rote Flecke zeichneten sich ab.

»Was hast du?«

»Das ist öfters,« lachte der magere Gymnasiast, »ich glaube, das ist vom Zahnfleisch.«

»Ah so!« Vitus sah auf einmal wieder das besteckte Leintuch seines Bettes vor sich und fühlte noch einmal stark den Ekel des Erwachens. Zugleich stieg eine besondere Angst vor der Begegnung mit Susanne in ihm auf. Es war unvermeidlich, daß er sie nun zu Hause traf. Als Herucker, der ihn bis zum Gartengitter begleitet hatte, sich verabschiedet hatte, glitt Vitus rasch ins Haus und ging ins Zimmer seines Vaters, um ihm von der so gut verlaufenen Auseinandersetzung mit dem Religionsprofessor zu erzählen. Aber der Vater war noch nicht da. Ein alter, mit großen Messingschließen versehener Schweinslederband lag auf dem grünen Tuch des Mitteltisches und Vitus öffnete neugierig das Buch. Es war eine Bibel, wie er sofort sah und die zufällig aufgeschlagene Stelle, auf der seine Blicke hafteten, lautete:

»Aber er wollte ihr nicht gehorchen und überwältigte sie und schwächte sie und schlief bei ihr.

Und Ammon ward ihr überaus gram, daß der Haß größer war denn vorhin die Liebe. Und Ammon sprach zu ihr:

Mache dich auf und hebe dich!

Sie aber sprach zu ihm: Das Übel ist größer denn das andere, das du an mir getan hast, daß du mich ausstößest.«

Und Vitus sah zum zweitenmal an diesem Tage qualvoll deutlich die arme Magd vor sich, die nachts in seinem Zimmer gewesen war und diesmal hieß sie Thamar und war eines Königs Tochter.

 

Der Vater und nach einigem Zaudern auch die Mutter hatten ihre Einwilligung zu einem längeren Sommeraufenthalt in Vernauts gegeben, umsomehr, als Professor Venloo für einige Wochen nach Nauheim sollte. Am Herzen schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Die Ärzte wollten nicht recht mit der Sprache heraus, nur der alte Doktor Hundertpfund sagte, daß es sich um eine ernste Sache handle und eine baldige Kur notwendig sei.

Vitus war nicht sehr beunruhigt, da der Vater guter Laune war und die Beklemmungen, an denen er von Zeit zu Zeit litt, sich durch ein Pulver, das der Arzt ihm verschrieben hatte, ohne weiteres beheben ließen.

An Susanne war er nun durch lange Zeit vorübergegangen, hatte sein Zimmer versperrt, obschon sie in keiner Weise eine neuerliche Annäherung versuchte. Am Anfang war eine fliegende Röte über ihr weißes Gesicht gegangen, wenn er sie zufällig ansah, aber im übrigen schien sie auch jedes Alleinsein mit ihm zu vermeiden. So schwand allmählich das leise Grauen, das der erste Sündenfall in ihm erweckt hatte. Hochschrecks beschreibende Mitteilungen, der mittlerweile bei seiner dicken Mali ans Ziel gekommen war, wirkten doch nicht aufregend genug, um in Vitus die Lust nach einer Fortsetzung seines Abenteuers zu erwecken. Einmal war er zufällig mit Susanne im engen Raum der Bügelkammer zusammengetroffen. Verlegen und täppisch, mehr um nach dem Geschehenen nicht durch Gleichgültigkeit zu beleidigen als aus Begierde, wollte er streichelnd ihre Brust berühren; aber sie schlug ihn wortlos und hart auf die Hand und in ihren Augen glimmte ein Licht auf, vor dem Vitus erschrak. Später hörte er sie mit hoher jammernder Stimme singen und es klang fast, als ob ein Tier heulen würde. Es war ihm unheimlich zu Mute. Die alte Köchin fragte ihn eines Tages, was er mit der Susanne gehabt habe, sie habe einen solchen Zorn auf ihn, daß sie mit den Zähnen knirsche, wenn sein Name genannt wurde. Aus dem Gefühl seiner Schuld kaufte er von seinem Taschengeld eine silberne Edelweißbrosche und legte sie feierlich auf Susannes Nachttisch. Aber am nächsten Tage fand er die Brosche in seinem Zimmer, in einen bekritzelten Zettel gewickelt, den er kaum entziffern konnte.

»Oh mein Gott, diese Schand iß schlimmer als das andre.«

»Sie hieß Thamar und war eines Königs Tochter,« sagte er vor sich hin. Dann verbrannte er das Papier und warf das blanke Ding in ein Maisfeld hinter dem Garten.

Eines Tages lud ihn sein Mitschüler Kluibenschild mit Plöchhammer zusammen ein. Sie sollten ihm helfen, seine Käfersammlung ordnen. Vitus betrachtete anfangs mit Interesse die aufgespießten Mondhorn-, Lauf- und Hirschkäfer, die kleinen und die großen Sechsbeiner, die da tot, dunkel und metallschimmernd auf Nadeln staken. Dann aber begann ihn die sorgsame und genaue Art, mit der Plöchhammer die Sammlung nach Merkmalen einzuordnen begann, heftig zu langweilen und er ging über die offene Veranda vor dem ebenerdigen Zimmer in den verwilderten Garten hinaus, der das uralte Häuschen am Fuß der Nordwand umgab. Er schritt die gewundenen Taxusgänge entlang und blieb plötzlich erschrocken stehen. In einem kleinen gedeckten Sommerhäuschen saß Grete, Kluibenschilds Schwester, in einem weißen blaugetupften Kleide mit Sonnenflecken im goldenen Haar und las. Sie sah auf und die Lichtkringel tanzten vom Haar in ihr süßes Gesicht, auf die Stumpfnase und den vollen, lächelnden Mund.

»Je, der Vitus Venloo!« rief sie. »Setzen Sie sich und helfen Sie mir das Rätsel lösen.«

»Bitte sehr,« verlegen setzte sich Vitus neben sie und sah in das »Mädchenbuch«, das sie vor sich hatte.

»Aus The Irene Te ist ein Mädchenname zu bilden.« Sie seufzte. »Ich bring das nicht heraus und nachschauen will ich nicht.«

»Henriette,« sagte Vitus rasch.

Grete klatschte in die Hände und schüttelte sich vor Vergnügen, so daß das buschige Ende ihres Zopfes Vitus ins Gesicht schlug. Das Blut stieg ihm zu Kopf und ohne zu wissen, was er tat, zog er sie an sich und küßte sie schnell auf den Mund. Dann fuhr ihm der Schreck über den Rücken.

Aber das rothaarige Mädchen lächelte und sagte sehr ernst:

»Also du bist jetzt mein Geliebter, Vitus! Aber du mußt mir ewig treu sein!«

»Gerne – für immer – –« stammelte er verwirrt und überrascht. »Aber ich glaube der Herucker – –«

Grete lachte schrill auf. »Geh, der fade Esel! Und so unelegant, wie er ist. Du gefällst mir, du bist immer so schön angezogen. Der Herucker schaut aus – no, wie eine Fledermaus!« Sie lachte wieder und Vitus lachte mit.

»Du darfst mich noch küssen,« plapperte sie weiter und hielt ihm die Lippen hin.

Er küßte sie, fühlte ihren festen jugendlichen Körper eng an seinen gepreßt und spähte dabei ängstlich den Gartenweg entlang, ob nicht jemand käme. Aber nur eine getigerte Katze schlich über den Sand und sprang spielend nach Kohlweißlingen.

Grete sagte ihm, er solle einmal abends über die Mauer steigen, sie könnten sich in der Laube treffen. Aber das wollte er nicht. Wieder befiel ihn die heftige Angst des Verbotenen und sie stieg noch, als ihn seine Aufregung zu Zärtlichkeiten anderer Art trieb. Hinter dem gleichmütig lachenden, holden Antlitz dieses trotz seiner Kindlichkeit erfahrenen Mädels tauchte auf dunkler Taxuswand das schmale Gesicht des Dichters auf, des armen und kranken Johann Herucker, des Freundes, den er, Vitus, in dieser Laube schnöde verraten hatte. – – Aber es war nur eine weiße schwankende Blütendolde.

Vitus sprang auf.

»Ich muß hinein, sonst suchen sie mich!« entschuldigte er sich. »Aber geh!« flüsterte Grete und sah wohlgefällig auf ihre blanken kleinen Schuhe. »Du kommst aber bald –?«

»Ich komme morgen, vielleicht!« sagte Vitus und wußte, daß es Lüge sei. »Noch ein Busserl!«

Er küßte sie flüchtig und ging hastig den Weg zurück. Als er sich wandte, sah er, wie sie ihm Kußhändchen zuwarf.

Die beiden im Zimmer waren so in das Ordnen der Sammlung vertieft, daß sie sein Kommen gar nicht bemerkten.

»Schau, Vitus, einen Bombardierkäfer hat er auch,« sagte Plöchhammer eifrig.

Und Vitus beugte sich mit geheuchelter Aufmerksamkeit über das Insekt.


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