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2. Kapitel.

Da ratterte nun der Zug dahin.

Malve und Auguste und Theodor standen auf dem Bahnsteig und winkten so lange mit ihren Tüchern, wie sich noch ein kleines Rauchwölkchen erblicken ließ. Dann wandten sie sich schweigend dem Ausgange zu.

Hart war's, den Jungen so in die Welt hinausziehen zu sehen, den sie von Kind auf an gepflegt und gehegt, an dessen Existenz sie so große Hoffnungen geknüpft – die sich ja leider bisher nicht verwirklicht hatten. Er war ein liebenswürdiger, wankelmütiger Bursche, ein Mensch ohne festes Rückgrat. Man hatte ihm eben die Wege zu sehr geebnet, hatte ihm immer zu verstehen gegeben, daß er dermaleinst ein Millionär sein werde. Man trug vielleicht selbst einen Teil der Schuld.

Solchen Gedanken gab sich vornehmlich der alte Herr auf dem Heimwege hin. Und sein Gesicht war in ernstlich besorgte Falten gezogen.

Malve zerfloß in Tränen. Es war ihr unmöglich, diese zurückzudrängen. Als er mit seinem lieben, sorglosen Lachen von ihr Abschied genommen, als die Kupeetür mit einem Krach hinter ihm zuschlug, und der Zug sich in Bewegung setzte, ach, da hätte Malve aufschreien mögen. Wie ein dunkles Ahnen stieg es plötzlich in ihr hoch. Schwarze Wolken sah sie an ihres Lieblings Lebenshimmel sich zusammenballen.

»Dieser Weg ist kein Glücksweg,« kam es aus ihrem bedrängten Herzen heraus.

Auguste erwiderte: »Malve, du siehst so schwarz, weil dich das Trennungsweh bedrückt. Wir kommen darüber.«

Als sie aber in das vereinsamte Haus zurückkehrten, glaubte auch Auguste kaum daran, daß sich die Lücke, die ihr Allerliebling hinterlassen, jemals schließen würde.

Sie stürzte sich jedoch mit großem Eifer in die Arbeit; etwas gab es immer zu tun. Und während Malve an ihrem Fensterplatz saß und grübelte, hantierte Auguste draußen mit dem Dienstmädchen herum.

Theodor Lamprecht aber ging in seine abendlichen Klubs und suchte bei Kegel und Karten der häuslichen Vereinsamung Herr zu werden.

* * *

Der Zug sauste dahin. Nach zweistündiger Fahrt langte Thiddi in Hamburg, seinem Bestimmungsort, an.

Trotzdem man seine Ankunft genau wußte, war niemand am Bahnhof, ihn zu empfangen. Der junge Mann empfand das nicht peinlich, es hätte jedenfalls seine Schwierigkeiten gehabt, da man sich nicht kannte. Und dann war er ja auch kein Kind mehr.

Er blickte sich also nach einer Fahrgelegenheit um, nahm einen Taxameter und fuhr, den immensen Schloßkorb vor sich auf dem Kutscherbock, dem Geschäftslokal des Herrn Westerfeldt zu.

Dieses lag auf dem Rödingsmarkt und befand sich im Parterre eines großen Gebäudes, die Etagen schienen anderen Geschäftszwecken zu dienen.

Thiddi befahl dem Kutscher, mit seinem Gepäck zu warten, er selbst begab sich in das Haus.

Ein geräumiger Flur nahm ihn auf, von welchem eine ausgetretene Treppe in die oberen Stockwerke führte.

Ein Schild linker Hand an der Tür zeigte ihm den Weg.

Nach kurzem Klopfen betrat er einen weiten Raum, der angefüllt war mit jungen Leuten, die, an hohen Pulten sitzend, eifrig mit ihren großen Folianten beschäftigt waren.

Vor der Barriere, dem ein Ladentisch angegliedert war, befanden sich verschiedene Leute, die geschäftlich mit einem Herrn verhandelten oder wartend dastanden.

Mehrere Türen führten rechter Hand in weitere Räumlichkeiten. Hinter einem vergitterten, abseits abgeteilten Raum sah er einen Mann in Münzen und Papiergeld wühlen. Wahrscheinlich der Kassierer.

Auf Thiddi, der an absolute Freiheit gewöhnt war, machte dieses ruhige und doch geschäftige Treiben einen etwas beklemmenden Eindruck. Wenn er so dachte, hier auf dem hohen Drehbock tagein, tagaus sitzen zu müssen, so ward er sich sofort klar, daß er das nicht lange aushalten würde. Schon das stundenlange Sitzen im Kolleg war ihm schwer geworden.

Er konnte indes nicht lange seinen Gedanken nachhängen, man fragte nach seinem Begehr.

»Kann ich den Chef sprechen?« fragte Thiddi.

»In welcher Angelegenheit?« lautete die Gegenfrage.

»Ich werde erwarte,« entgegnete Thiddi. »Mein Name ist Theodor Liebeknecht. Hier ist meine Karte.«

Ein Jüngling, scheinbar ein Lehrling, eilte mit der Karte in eines der Nebengemächer.

Gleich darauf erschien ein Herr mit weißem Haar und einem langen, sehr gepflegten weißen Vollbart. Er sah würdig, ja vornehm aus und war elegant gekleidet. Die ganze Persönlichkeit schien von einer wohltätigen, vornehmen Ruhe durchzogen, doch würde ein aufmerksamer Beobachter jene Ruhe in den Augen entbehrt haben. Diese hatten etwas Unstetes, Flackerndes, was unverkennbar auf große seelische Eindrücke zurückzuführen war.

Der Herr trat rasch auf die Barriere zu, bot Thiddi die Hand und hieß ihn willkommen.

»Alles Private besprechen wir später,« sagte er mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme. »Treten Sie vorläufig mal hier in mein Privatkontor ein. Ich bitte –«

Er öffnete eine in der Barriere befindliche kleine Pforte.

Es war ein elegantes Zimmer, welches Thiddi aufnahm. Bequeme, lederbezogene Herrensessel umstanden den Mitteltisch. Eine Chaiselongue mit einem prächtigen Tigerfell davor, befand sich in der einen Ecke. Ein großer Diplomatenschreibtisch, mit Zeitungen und Papieren bedeckt, gab Zeugnis von einer eifrigen Beschäftigung. Auch großmächtige Tresor fügte sich harmonisch dem Ganzen ein. An den Wänden waren gute Kupferstiche und eine ausgedehnte Landkarte angebracht, und ein immenser Bücherschrank vervollständigte das Bild, das Thiddi in sich aufnahm.

»Nehmen Sie Platz,« sagte der Herr, indem er sich vorstellte. »Wo haben Sie Ihr Gepäck?«

Thiddi erklärte, daß dieses sich draußen auf dem Wagen befände. »Nun, in diesem Falle,« erklärte der Herr, »wird es wohl das beste sein, wir begeben uns sofort nach der Privatwohnung. Ich werde Sie selbstverständlich begleiten und Sie in die Familie einführen.«

Sie fuhren davon.

In Herrn Westerfeldts Benehmen lag etwas ungemein Steifes, Abwesendes. Wohl fragte er nach Thiddis Heim, nach seinem Onkel usw., doch es war unschwer zu erkennen, daß ihm die Antworten gleichgültig, ja, daß sie ihm kaum zum Verständnis kamen.

Dennoch war er sehr korrekt, und da Thiddi in seiner liebenswürdigen Weise alles erzählte, was ihn selber interessierte, fiel ihm des Chefs Gedankenlosigkeit nicht auf, zumal er sein Interesse an seinem Berichte bei ihm voraussetzte.

Die Fahrt währte nicht allzu lange, aber es war eine hübsche Fahrt. Bei dem wonnevollen Wetter doppelt anziehend. Man hatte zur linken Hand die Alster, die mit ihren anziehenden, im jungen Maiengrün prangenden Ufern einen malerischen Eindruck machte. Durch das Grün blitzte hier und da eine prächtige Villa auf. Die Alster selber bot ein belebtes Bild. Kleine Dampfer kreuzten geschäftig hin und her, dazwischen Segelboote mit leicht geblähten Segeln, auch wurde dem Rudersport alle Ehre zuteil. Darüber lachte eine helle Frühlingssonne, und sie lachte Thiddi ins junge Herz, daß es ihm groß und weit wurde.

Vergessen war die düstere Schreiberstube auf dem Rödingsmarkt. Er hatte mit einem Male die gute Hoffnung, daß es ihm hier wohl gefallen würde.

Man hielt vor einer prunkvollen Villa, nachdem der Wagen in die große Einfahrt eingelaufen.

Die Herren waren von einem Diener in die geräumige Halle hineingelassen und ihnen Hut und Mantel abgenommen worden. Herr Westerfeldt befahl, das Gepäck des Herrn in das für ihn bestimmte Zimmer tragen zu lassen und den Kutscher zu entlohnen.

Der Bankier schritt die breite, teppichbelegte Marmortreppe hinan. Er führte seinen Gast in einen kleinen Salon, der, luxuriös ausgestattet, ganz in Rot gehalten war.

Auf ein zweimaliges Läuten erschien ein peinlich sauberes junges Dienstmädchen.

»Die gnädige Frau ist nicht daheim?«

»Nein, aber das Fräulein war da.«

»Nun gut, bitten Sie das Fräulein her.«

Und zu dem jungen Mann gewandt, sagte er höflich, während eine tiefe Unmutsfalte auf der Stirn deutlich zutage trat: »Bitte, Herr Liebeknecht, nehmen Sie Platz. Ich werde meine Nichte selber aufsuchen.«

Thiddi blieb in einiger Verwirrung zurück. Fürstlich war's hier. Nie zuvor hatte er solche Pracht gesehen. Bei ihm zu Hause war alles, wenn schon sie eine elegante Etage von sieben Zimmern bewohnten, fast spießbürgerlich im Vergleich zu dieser vornehmen Eleganz.

Mußten die Leute ein Geld haben!

Trotzdem er in Bewunderung fast erstarb, konnte er nicht sagen, daß dieser Luxus ihn anheimelte. Er hatte das Gefühl, als läge eine starre Kälte über diesen Prunkgemächern; und er war so sehr an eine huschelige Liebeswärme gewöhnt, die durch die ganze Wohnung bei ihnen daheim wehte.

Er mußte eine geraume Zeit warten, was ihm jedoch kaum zum Bewußtsein kam; hatte er doch eine Menge neuer Eindrücke in sich zu verarbeiten.

Plötzlich schlug leise die Portiere eines Nebenzimmers auseinander, so daß der junge Mann fast erschrak beim unerwarteten Anblick der hohen, schlanken, jungen Frauengestalt, die auf der Schwelle stand. Die dicken Teppiche hatten den Schritt der Ankommenden gedämpft.

Er erhob sich schnell aus seinem weichen Polstersitz, machte eine Verbeugung und wollte sich gerade vorstellen, als Herr Westerfeldt, der hinter der jungen Dame eingetreten war, ihm zuvorkam.

»Liebe Editha, hier habe ich unseren jungen Freund, Herrn Theodor Liebeknecht, gebracht. Meine Nichte.«

Abermals eine Verbeugung von seiten des jungen Mannes; Editha neigte kaum merklich den Kopf, und Thiddi blickte in ein Paar hochmütig und kalt auf ihn gerichteter grauer Augen.

Das Gesicht war nicht gerade schön zu nennen, aber es fesselte. Auf den sympathischen Zügen lag ein so hoher Ernst, der die Dame, die nach Ausspruch Tante Malves erst zwanzig Jahre zählen sollte, weit älter und gereifter erschienen ließ. Ueppiges blondes Haar war schmucklos gerafft und am Hinterkopfe in einem griechischen Knoten aufgesteckt. Ein einfaches, graues Kleid umfloß die schlanke Gestalt, schwellende Formen diskret verhüllend.

Mechanisch sprach der herbe, geschlossene Mund, der gewohnt war, Konversation zu machen: »Sie haben eine gute Reise gehabt?«

Thiddi mußte lachen. Die kaum zwei Stunden währende Eisenbahnfahrt war wahrlich nicht der Nachfrage wert. Und wie er lachte und alle seine weißen, gleichmäßigen Zähne zeigte, und sein hübsches Auge offen und klar, mit ein wenig Schelmerei auf der jungen Dame ruhte, glitt es auch über ihr ernstes Gesicht wie ein erlösendes Lächeln.

»Gnädiges Fräulein sind zu gütig,« sagte Thiddi. »Aber wie Sie sehen, habe ich keinen Schaden auf meiner großen Reise genommen. Sie ist gut, wenn auch ein wenig langweilig verlaufen.«

Man setzte sich und plauderte noch ein Weilchen.

Thiddi erzählte von zu Hause. Es war ihm ein Herzensbedürfnis, von seinen Lieben zu berichten. Sie traten ihm hier in der ungewohnten Umgebung dadurch so greifbar nahe.

Herr Westerfeldt unterdrückte ein leises Gähnen.

Editha aber lauschte mit ungeteiltem Interesse.

Was für ein guter Junge er war. Und schien so harmlos. Das gab ihr auch das Gleichgewicht zurück.

Den großen Jungen da sollte sie heiraten. Sie glaubte mit Bestimmtheit, daß, wenn ihr Herz noch frei gewesen, sie sich anstandlos dem Gebot ihres strengen Onkels würde gefügt haben. Selbst ohne jene tiefe Liebe, die doch wohl jedem gesitteten Mensch als Richtschnur fürs Eheleben dienen sollte, dem Muß gehorchend.

Ihre Steifheit verlor sich unter dem glücklichen, sorglosen Geplauder des jungen Mannes, so daß Thiddi, der im Umgang mit Frauen doch nicht ganz so harmlos war, wie es den Anschein hatte, sehr wohl den guten Eindruck bemerkte, den er auf die hoheitsvolle Dame ausübte.

Das freute ihn, schmeichelte seiner Eitelkeit, doch mußte er bei sich konstatieren, daß sie absolut nicht sein Genre war. Und daß, wenn sich die Welt nicht noch umkrempelte, er sicher nie um Editha Westerfeldt freien würde.

Man hörte lautes Sprechen von lustigen Knabenstimmen.

»Die Jungens,« sagte Herr Westerfeldt, sich erhebend.

Er atmete sichtlich erleichtert auf, auch schien er mit dem entgegenkommenden Benehmen seiner Nichte zufrieden. Sein Gesicht hatte sich geglättet.

»Liebe Editha,« sagte er, »ich überlasse also alles deiner Einsicht. Sorge, daß unser junger Mann sich den Reisestaub abschütteln kann, und seine Koffer auspacken, ich muß noch einmal fort. Auf Wiedersehen um sechs zu Tisch.«

»Onkel hat recht,« sagte Editha, »nun sollen Sie erst mal zur Ruhe kommen.«

Sie öffnete die Tür.

»Benno!« rief sie mit einer prachtvollen, dunkel getönten Altstimme über den Flur hin, »Benno, komm mal auf einen Augenblick her.«

Allsogleich erschien ein Jüngling von vielleicht siebzehn Jahren auf der Bildfläche. Sein lebhaftes, braunes Auge ruhte einen Augenblick prüfend auf Thiddi, halb argwöhnisch, mit wem man es da nun mit einem Male zu tun bekomme. Als Thiddi ihn aber freundlich anlachte, da war der Junge gewonnen.

»O Sie sind Theodor Liebeknecht. Scheinen ja 'n famoser Mensch zu sein. Ich hatte so ein bißchen Angst, mit wem ich mein trautes Junggesellenheim teilen sollte. Nun werde ich ruhiger in meinem Gemüt. Sie scheinen auch gerade kein Essigtrinker zu sein.«

»Kein Spielverderber, meinst du?« lachte Thiddi, angenehm durch die burschikose Begrüßung berührt. »Nee, da sollst du dich nicht geirrt haben. Steht Ihr Kopf, steh' ich auch Kopf.«

»Na, das kann ja nett werden,« sagte die ernste Editha mit einem frohen Lachen. Und sie setzte fast schelmisch hinzu: »Stolz lieb' ich den Spanier.«

Von Thiddi fiel die Kälte ab, die ihn in den Prunkgemächern angewandelt. Er schlug schlicht und herzlich vor, indem er dem Sohne des Hauses die Rechte entgegenstreckte: »Auf du und du. Keinerlei Gêne von vornherein. Ich heiße Thiddi.«

»Famoser Name,« erklärte Benno. »Also komm, Thiddi.«

Sie klommen noch zwei weitere Treppen hinan. Ganz oben waren die Jungens untergebracht, um keine Unruhe in das vornehme Haus zu bringen. Vielleicht war die gnädige Frau Mama nervös, dachte Thiddi. Nun, ihm war's schon recht. Hier, wo die Eleganz aufhörte, wo ein gut bürgerlicher Atem wehte, behagte es Thiddi besser.

Mit Hallo wurden sie von den beiden jüngeren Brüdern Bennos, Erich und Johannes, empfangen Die Drei führten ihren Kameraden nach zwei nebeneinander liegenden großen Zimmern, die einfach aber zweckentsprechend eingerichtet waren. Da ein Badezimmer nebenan gelegen war, und bis zur Tischzeit noch drei Stunden fehlten, nahm Thiddi zuerst ein Bad, dann begann er seine Koffer auszupacken, wobei ihm die Jungens zur Hand gingen.

»Schade,« sagte Thiddi bedauernd, »ich habe gar nichts von eurer Existenz gewußt, sonst hätte ich euch etwas mitgebracht. Aber wir bummeln wohl einmal. Dann hole ich das Versäumte nach. Und ihr könnt euch selber etwas wählen.«

»Wieviel kannst du denn so ungefähr springen lassen?« fragte vorsichtshalber Johannes, der Jüngste.

»Na, wollen mal nicht so knauserig sein. Pro Mann zehn Mark,« erklärte Thiddi in dem frohen Bewußtsein eines gefüllten Portemonnaies.


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