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Die Entwirrung der Bündnisse

Leo von Caprivi, der zweite Kanzler des Kaiserreichs, hatte nicht den Glanz des Namens, nicht den Ruhm der Taten, die Fürst Bismarck umleuchteten. Er kam von der Armee, trotz ungewöhnlicher Laufbahn mit allerlei Verstimmungen, die an seine schnelle Empfindlichkeit oft gerührt hatten. Bei Mars la Tour hatte die Kaltblütigkeit des jungen Generalstabsoffiziers die Entwicklung der Schlacht erzwungen. Aber Feldmarschall von Moltke fragte bei Kriegsende den völlig Erschöpften, der um Urlaub nachsuchte:

»Was haben Sie denn im Kriege gemacht?«

Der Verletzte vergaß dem Generalissimus die Frage nie. Noch weniger eine andere, als dem zerstreuten Marschall vom Grafen Waldersee eine Angelegenheit Caprivis vorgetragen wurde:

»Caprivi, – wer ist denn das eigentlich?«

Dennoch war der junge Offizier den Weg zu militärischer Höhe in geradem Aufstieg gegangen. Schon stand er als Divisionär in Metz, als ihn völlig unvorbereitet die Ernennung zum Chef der Marine traf. Die Flotte war ihm fremd. Die Genugtuung in der Armee, in der sein Ansehen vieles galt, war größer als seine eigene Freude.

Caprivi gehorchte, denn er war preußischer Offizier. In Deutschlands Marine war damals kein Admiral, der die Arbeit des Marinechefs hätte ausfüllen können. Caprivis Vorgänger war Stosch gewesen, Armeegeneral wie er selbst: die Marine, nicht sehr begeistert von den allzu vielen »Stoschleuten«, die die Neffenwirtschaft des Vorgängers üppig befördert hatte, begrüßte Caprivi um der Achtung willen warm, die er überall genoß. Er selbst ging ohne Überschwang an das ihm befohlene Werk, nicht ohne heitere Zwischenfälle in der Anfangszeit für die Landratte in Generalsuniform.

Wenn er seine Schreibstube verließ, spielte seine Bewegung sich zwischen Torpedobooten und vielerlei ungewohntem Fahrzeug ab, auf denen er sich nur unbehaglich zurechtfand. Wenn er an Bord kam und in vorschriftsmäßiger Meldung die Ordonnanz vor ihm stramm stand: »8 Glas« – oder »4 Glas«, – so wußte er zunächst wenig, eigentlich gar nichts mit solcher Technik anzufangen. Aber er gestattete nicht einmal sich selbst, die Anfangszwischenfälle zu belächeln: Caprivi arbeitete ohne Selbstschonung in der Schreibstube. Als er die Marine verließ, hatte er selbst erst ihre große technische Organisation geschaffen. Er hatte der Flotte, deren Grundgedanke bis dahin etwa gewesen war, daß man im Kriegsfalle auszufahren und herumzuschießen hätte, den Aufbau der Offensivkräfte geschenkt. Mit dem Kapitänleutnant von Tirpitz hatte er die Torpedowaffe ausgebildet. Endlich besaß die Flotte durch ihn auch einen Plan der Mobilmachung. Soviel hatte er als Chef der Marine gezeigt, daß er die Umrisse ihm selbst fernliegender Dinge in klarer, großer Abzeichnung sah, daß er ein Organisator mit weiten Zielen, starken Kräften und eigenem, harten Willen war, den er nicht durchkreuzen ließ. Seinen Pflichten war er stets so restlos und bis zu völliger persönlicher Aufopferung so selbstverständlich hingegeben, wie er herrisch, oft bis zum Eigensinn die ihm verbrieften Rechte wahrte. Über seinen Kopf hinweg hatte Kaiser Wilhelm nur ein einziges Mal unmittelbaren Befehl an die Marine gegeben. Caprivi erbat sofortige Ablösung. Als kommandierender General ging er nach Hannover.

Er war ein Mann ohne Mittel, der nur seinen Offiziersrock besaß. Sein Wesen war liebenswürdig, wenn er mit Untergebenen sprach: voll Zurückhaltung, von unsichtbarem, dennoch spürbarem Stolze überall sonst. Er lebte ohne Geselligkeit. Er studierte viel. Seine freie Zeit füllten englische und französische Bücher. Er war in Rußland und Frankreich gewesen. Er galt als Mann der unbedingten Königstreue. Als gehorsamster General, der jeden Befehl ausführte. Seine Widerstandsbereitschaft, wo es um Unrecht ging in irgendeiner Form, verschloß er fast düster: den Widerstand setzte er unverzüglich ein, sowie Unrecht oder Übergriff da waren. Wenige Monate vor seinem Rücktritt hatte ihn Fürst Bismarck dem Kaiser empfohlen, wenn »nur eine militärische Spitze im Notfalle die zivilistischen Schäden decken« könne. Der Fürst hatte damals an die Umbesetzung der Stellung des Ministerpräsidenten für Preußen gedacht, an einen eisernen Schreckgeneral, der unter Umständen gegen »die sozialistischen Schwächen« auch feuern ließ, keineswegs aber an Caprivis Nachfolgerschaft im Reichskanzlerhaus. Der Fürst und nachschwatzende Umwelt unterschätzten den Soldaten: auch der Königstreue starb nur für des Königs Recht. Der Kaiser sah, als er sich für Caprivis Kanzlerschaft entschied, doch auch noch andere Dinge, als Fürst Bismarck an dem General. Er kannte Caprivis Empfindlichkeit. Er wußte, daß er störrisch, »bockig bis zur Unhöflichkeit« sein konnte. Aber auch, daß seine Anständigkeit außer jedem Zweifel war. Daß er sich ein Weltbild aus vielem Studieren geformt hatte. Daß er es wesentlich erweiterte, als der Ausbau der Marine ihn zwang, über den Zusammenhang der Meere und der Völker nachzudenken, die an ihren Küsten wohnten. Von England hatte er einen deutlichen Eindruck im Gegensatz zu den meisten seiner deutschen Zeitgenossen. Dem Kaiser hatte ihn zwar Fürst Bismarck als »fremd in der Politik« bezeichnet. Aber der Kaiser hatte das Werk des Organisators gesehen, der unvertraut mit allen Dingen nach Kiel gegangen war. Er wußte keinen anderen General, keinen anderen Staatsmann, der in Fürst Bismarcks Haus einziehen sollte. Vielleicht war es nur ein Übergang. Aber wer immer dort einzog, mußte der Umwelt klein erscheinen, da sie noch an den Titanen dachte. Caprivi war arm und ein Mann des Mitleids für Deutschland und Europa, ein Mann des Hasses für den Grollenden, der nach Friedrichsruh fuhr, und für seinen ganzen, großen Anhang.

Im Reichskanzlerhaus hatte der General ein einziges Zimmer bezogen, indes Fürst Bismarck mit viel Gelassenheit, was die Zeit anging, Koffer und Akten packen ließ. Fürst und General hatten sich ein einziges Mal in den Märztagen von Bismarcks Abschied gesprochen:

»Wenn ich in der Schlacht«, hatte Caprivi erklärt, »an der Spitze meines zehnten Korps einen Befehl erhalte, von dem ich befürchte, daß bei Ausführung desselben das Korps, die Schlacht und ich selbst verlorengehen, und wenn die Vorstellung meiner sachlichen Bedenken keinen Erfolg hat, so bleibt mir doch nichts übrig, als den Befehl auszuführen und unterzugehen. Was ist nachher weiter? Ein Mann über Bord.«

Fürst Bismarck war verletzt, daß der neue Kanzler nichts weiter zu sagen und sonst nichts zu fragen wußte: »daß eine Pachtübergabe nicht eine gewisse Verständigung zwischen dem abziehenden und anziehenden Pächter erfordert hätte.« Aber der General hatte in diesem heiklen Augenblick nicht mehr als seine schwermütig angewehte Soldatenphilosophie. Er streifte sie freilich unverzüglich ab, als die Feldrufe ihn auf seinen neuen Posten riefen. Dort hatte er klare, nicht melancholische Entscheidungen zu treffen.

Jäh war durch den Abgang des Fürsten Bismarck der dichte Schleier durchgerissen, der über Deutschlands wahrer Lage selbst für den Träger der Krone lag. Die Tatsache eines Geheimvertrages mit Rußland, dem Kaiser erst seit wenigen Tagen bekannt, die Not der Entscheidung über seine Erneuerung oder Nichterneuerung brachten schnelle, aber furchtbare Klarheit. Der Staatssekretär Graf Herbert Bismarck hatte noch kurz vor seinem eigenen Abschied diesen Geheimvertrag und seine Verlängerung zu einem harten Druckmittel auf den Kaiser verwandt, um sein und seines Vaters Verbleiben im Amte zu erzwingen. Dem Kaiser hatte Graf Bismarck schriftlich gemeldet, daß der Befehl des Zaren an seinen Berliner Botschafter, Grafen Schuwalow, auf ausschließliche Verhandlung und Besiegelung der Vertragserweiterung durch den Fürsten Bismarck laute. Ferner verzichte der Zar überhaupt auf die Erneuerung des Abkommens, da der Fürst einmal entlassen sei. Aber noch am selben Tage überwies der russische Botschafter in einer Meldung an den russischen Außenminister von Giers den Staatssekretär unrichtiger Angaben. Graf Lambsdorff, der Gehilfe des Ministers verzeichnete »dieses Manöver« des Grafen Bismarck, »die Verhandlungen als ein Mittel zu benutzen, um sich an der Macht zu erhalten«, in seinem Tagebuch durch wörtliche Niederschrift der Schuwalowschen Meldung: »Ich habe wirklich dem Grafen Bismarck gesagt, daß ich mich in Anbetracht der letzten Ereignisse entschlossen habe, die vor einigen Tagen mit seinem Vater begonnenen Unterhandlungen zu unterbrechen. Angesichts der grundlegenden Änderung in der Lage der Dinge und des Personenwechsels war mein Wunsch, mich vorher zu orientieren, vollständig natürlich. Deshalb hauptsächlich habe ich mich entschlossen, um neue Instruktionen zu bitten, ehe ich die durch die Ereignisse so plötzlich unterbrochenen Verhandlungen fortsetze.« Auf Graf Bismarcks Alarmnachricht, daß der Zar sich von den Verhandlungen zurückziehe, hatte der Kaiser, der in dem Geheimvertrage eine Angelegenheit des Reiches, nicht des Fürsten Bismarck sah, ein erstauntes: »Warum?« gesetzt. Er hatte sogleich den russischen Botschafter zu sich bitten lassen. Jetzt hörte er, daß er falsch berichtet war. Aber Graf Bismarcks Endkampf für seinen Vater um die Macht im Kanzlerstuhl schien dem Kaiser nicht das Wesentliche. Dem russischen Botschafter erklärte er, daß er den Geheimvertrag unverzüglich erneuern wolle, sogar ohne seinen ihm bisher unbekannten Inhalt zu studieren: wenn der Zar ihm sage, daß er die kaiserliche Unterschrift als ausdrückliches und persönliches Bürgschaftspfand dauernder Freundschaft verlange. Tat dies der Zar, so verpflichtete er sich als Monarch und Gentleman mit seiner persönlichen Ehre, daß er die Bundesgenossenschaft in Aufrichtigkeit und Treue halten wolle ohne Hintergedanken. Zögerte er, so war zum mindesten Zeit gewonnen, mit der dann von selbst die Klarheit kam. Zwischen den Mächten sah Kaiser Wilhelm die deutsche Situation grell erhellt durch das Bestehen des plötzlich hervorgeholten, ihm vollständig neuen Abkommens. Er sah die deutsche Verstrickung in allen nur erdenklichen Schlingen, die in Europa aufzutreiben waren. An die enge persönliche Bindung des Zaren glaubte er nicht. Aber das Wesentliche lag jetzt doch nur zwischen zweierlei Forderungen: den Zaren selbst zu verpflichten oder aus den Schlingen zu entkommen.

Nur Fürst Bismarck hatte geglaubt, die Sicherheit des deutschen Reiches durch einen Geheimvertrag festigen zu können, den er im Rücken seiner Verbündeten gegen die wichtigsten Lebensinteressen des Bundesgenossen schloß. Er übersah oder wollte es übersehen, daß die österreichisch-ungarische Monarchie weder in Bulgarien, noch an der Grenze des orthodoxen Königreichs Serbien russische Kanonen, russisches Geld, russische Popen auch nur einen Augenblick ertragen konnte. Nach Fürst Bismarcks Ansicht sollten sie alle mit verbrieftem Recht durch Rumänien heranmarschieren und täglich ohne Begrenzung sich vermehren dürfen. Ihn kümmerte die atemdrosselnde, tödliche Umklammerung der Monarchie nicht, die dann von Polen und Galizien über Bulgarien und Serbien bis nach Montenegro und an die Adria griff. Dort konnten obendrein täglich die russischen Schiffe erscheinen, wenn »der Schlüssel der Meerengen«, wie es in dem Geheimvertrage vorgesehen war, in die Hand des Zaren kam. Offenbar dachte Fürst Bismarck auch keineswegs an Italiens Verstimmung, wenn es von seinem ermunternden Zuruf an den Zaren für den Marsch nach Konstantinopel erfuhr, der den Weg ins Mittelmeer bedeutete. Das Mittelmeerabkommen, das England mit Italien und Österreich-Ungarn verband, war gegen einen russischen Vormarsch auf dem Balkan abgeschlossen. Vor allem Fürst Bismarck hatte sein Zustandekommen zwischen den drei Mächten begünstigt und gefördert. Deutschlands Bundesgenossen waren ihm in dem Augenblick verloren, da sie von so merkwürdiger Vertragstreue des Fürsten erfuhren. Die europäische Gruppierung im Krimkriege war damit neu geschaffen, noch um Italien auf der Westseite vermehrt. In solcher Lage war der mächtige Zar schon einmal unterlegen. Trat Deutschland zu ihm, so war auch sein Schicksal ungewiß. Denn England führte seinen Lebenskampf dann mit allen Bundesgenossen und allen Vasallen, die es aufzubringen, mitzulocken oder mitzuzwingen imstande war. Der Weltkrieg entbrannte so im Endjahrzehnt des 19. Jahrhunderts.

 

Bisweilen hatte der Fürst geseufzt, daß der Geheimvertrag mit Rußland – wie der Zar es gefordert hatte – nicht veröffentlicht werden durfte. Vielleicht wußte er wirklich nicht, daß die öffentliche Preisgabe – was den Dreibund betraf – die Katastrophe bedeutete. Zweifellos wußte er nicht ganz, warum Zar Alexander III. strengste Geheimhaltung befahl.

Über die Aufrichtigkeit zaristischer Gefühle gab sich bisweilen Kaiser Wilhelm II., in den meisten Fällen aber Fürst Bismarck Täuschungen hin. Alexander III. vermochte in der Stimmung von Augenblicken viel freundschaftliche Worte, selbst Wärme und ernst gemeinte Herzlichkeit zu finden. Nach der großen Aussprache zwischen dem Zaren und dem Fürsten über die bulgarischen Fälschungen glaubte der Reichskanzler überzeugt an Alexanders III. wiedergewonnenes Vertrauen. Den jungen Kaiser versicherte der Zar seiner ehrlichen und mitfühlenden Zustimmung, als Wilhelm II. ihm von Bismarcks Sturz erzählte. Aber die Stimmungen des Zaren verflogen. Selbst seine nächste Umgebung zitterte vor unerwartet tückischem Aufflammen seines Willens. »Unbedingte Ehrlichkeit und Glauben an sein Recht und seine Macht« schrieb man nach Graf Lambsdorffs Tagebuchnotizen dem Zaren nur »fälschlicherweise« zu. Alexander III. ist rauh, rücksichtslos, höhnisch. Als Aufmerksamkeit sendet ihm Wilhelm II. das Bild eines Parademarsches vor der Berliner russischen Botschaft. Der Zar schneidet dazu eine Grimasse. Fürst Bismarck gibt über eine englische Reise des Grafen Herbert Bismark beruhigende Auskünfte. Die Reise sei mehr von galanter, als politischer Art. Höchstens wolle man Englands Hilfe gegen Amerika in der Frage der Kolonie Samoa. Der Zar setzte an den Rand:

»Wieder führt dieses Obervieh etwas im Schilde und will uns die Augen mit der Geschichte mit den Amerikanern und Samoa auswischen. Das ist naiv.«

Von Dauer war nur das dunkle, nie verlöschende Mißtrauen des Zaren gegen den Fürsten Bismarck, den er haßte und als gefährlichen Netzspinner von dem Augenblick an fürchtete, da der Fürst die Russen auf den Berliner Kongreß gebracht hatte, um als Freund und Mittler der russischen Sache beizustehen. Die Russen hatte der Fürst damals nicht nur im Stich lassen müssen, als er Disraelis und Andrássys Triumph über Rußland nicht verhindern konnte. Der Kanzler hatte überdies die große Unbedachtsamkeit begangen, das Ultimatum Disraelis an Rußland dem Fürsten Gortschakow selbst zu überbringen und ihm die russische Unterwerfung zu empfehlen. In seinen »Letters on two sisters« jubelte damals Disraeli auf: »My victory!« Aber nie verzieh Zar Alexander solche Mittlerschaft dem Fürsten Bismarck. Wenn der Rückversicherungsvertrag im Juni 1887 doch noch unterzeichnet wurde, so war der Zar der Letzte, den das Abkommen erfreute.

Tief verwurzelt war der Zar bloß in Rußlands Volk, in den slavischen Gefühlen ungezählter Millionen, als deren unumschränkter Gebieter er sich sah, auf deren Gefühle er dabei sein eigenes Empfinden abzustimmen hatte, wenn er sein Gebietertum unbedroht, getragen von der Breite des russischen Volkes, auf dem Throne halten wollte. Fast niemand in diesem russischen Volke neigte Deutschland und den Deutschen zu. Es war nicht Gleichgültigkeit gegen das Nachbarreich, sondern Abneigung oder Haß in allen Schichten und Gruppen. Alexander III. gab sich darüber klare Rechenschaft. Sein Einfall war es nicht gewesen, mit dem Fürsten Bismarck, als das Dreikaiserbündnis im Jahre 1887 ablief, einen neuen Geheimvertrag zu schließen. Er schätzte schon das alte Abkommen nicht. Einen neuen Vertrag sah er ungern. Peter Graf Schuwalow, der Bruder des russischen Botschafters in Berlin, hatte ganz und gar aus eigenem Antrieb vor dem Fürsten Bismarck die Idee eines frischen Abkommens zwischen Rußland und Deutschland aufgeworfen. Es sollte Österreich-Ungarn ausschließen. Zugleich umklammern. Konstantinopel sollte erobert werden. An allem sollten und wollten die Deutschen mithelfen. Die Gegengabe war gering: Rußland sollte neutral bleiben, wenn Frankreich die Deutschen angriff. Aber der Zar stand den Vorschlägen und dem ersten Entwurf des Botschafters mit kühler Ablehnung gegenüber. Der russische Außenminister von Giers wich also aus. Er wußte genau so gut, wie sein Gehilfe Graf Lambsdorff, daß der Zar mit größerer Freundlichkeit nach Frankreich, als nach Deutschland sah. Bisweilen trafen den Gegensatz zwischen Zar und Minister in diesem Kapitel so deutliche Zeichen kaiserlicher Ungnade, daß der Außenminister sich vor täglicher Verabschiedung sah. Er war nicht ganz »der arme, alte Herr«, als der er dem Grafen Kálnoky in Wien erschien. Er war zäh trotz Kränklichkeit. Er war listig trotz des Eindrucks großer Bescheidenheit, den er auf seine Besucher oft machte. Von seiner eigenen Haltung gegenüber dem gleichen Problem vermochte er geschickt in zwei Tagen zweierlei Meinung aufkommen zu lassen. Seine Sprache war meist erfüllt von Resignation. Sie hinderte die Beharrlichkeit nicht, von seinem Gegenspieler wenigstens so viel vom Großen noch zu retten, wie überhaupt an kleinen Zugeständnissen von ihm zu erreichen war. Dann begann er sofort, in das erreichte Kleine das angestrebte Große wieder zu verstecken. An dem Geheimvertrag mit Deutschland sah er sofort die Mine unter dem Dreibund. Er sprach traurig von der Vereinsamung Rußlands. Aber er sah und meinte die Vereinsamung der Deutschen. Um den Geheimvertrag mit Deutschland kämpfte er darum: leise – verbissen – bis der Tag käme, an dem der Zar zustimmte.

Die Abwesenheit des bei Alexander III. einflußreichen Panslavistenführers Katkow von Petersburg, überdies die deutschfreundliche Fürsprache des Großfürsten Wladimir machten es endlich dem Außenminister möglich, den Zaren zu überreden. Auch Alexander III. konnte den Wert der Schlinge nicht verkennen, in der er Österreich-Ungarn erdrosseln konnte. Auf alle Fälle war die russische Bewegung fortan auf dem Balkan leichter. Konstantinopel schimmerte näher auf. All dies war eines Tages mit Deutschlands Hilfe leichter einzulösen, als gegen ein feindliches Deutschland, – und ohne daß der Preis gegen Frankreich wirklich bezahlt würde. Der Zar begann Vorteile zu sehen, die er annehmen konnte, wenn er nur das Abkommen vor der Stimmung des Volkes verbergen konnte. Überdies sah er dann auch den Fürsten Bismarck in Dinge verstrickt, in Abmachungen und Abreden, zwischen denen kein Genie der Erde, wenn der Brand aufflog, unversehrt sich halten konnte. Selbst Fürst Bismarck nicht. Alexander III. nahm an, verlangte aber Schonung der russischen Gefühle durch Geheimhaltung. Allerdings hatte er noch einen anderen Grund, die neue Bindung zu verschweigen. Denn er wußte mehr, als Fürst Bismarck wußte.

 

Fast glich Rußlands Verhältnis zu Frankreich schon damals einem Bunde. Seit im Januar 1887 drei bulgarische Abgesandte bei dem französischen Außenminister Flourens erschienen waren, um ihm die russischen Sorgen des Fürstentums vorzutragen, seit der Außenminister ihnen erklärt und öffentlich den Rat erteilt hatte, besser auf die Gefühle der Russen zu achten und ihnen Zugeständnisse zu machen, seither spannen geheime, aber immer festere Fäden zwischen Frankreich und Rußland. Noch im gleichen Januar, da der erste Entwurf des Rückversicherungsvertrages in Berlin niedergeschrieben wurde, erhielt Graf Schuwalow, der ihn angenommen hatte, vom Zaren Befehl, wegen Graf Herbert Bismarcks unfreundlicher Haltung gegen Frankreich im deutschen Außenamt eigentlich französische Anfragen zu stellen. Es war die Zeit General Boulangers, der zu neuen Rüstungen schritt und Baracken entlang der Grenze gegen Deutschland aufführte. Der russische Botschafter, der an dem Abkommen zwischen Rußland und Deutschland arbeitete, mußte die russische Fürsprache überdies noch selbst nach Frankreich melden. Als sich Fürst Bismarck über General Boulangers Kriegsvorbereitungen nicht beruhigen wollte, als er den General von Schweinitz wenige Tage nach Graf Schuwalows Vermittlungsschritten zum Zaren sandte, als der Kanzler offen die russische Neutralität im Falle eines deutsch-französischen Krieges verlangte, mußten ihm eigentlich die wirklichen Gefühle des Zaren deutlich werden. Der Kaiser von Rußland verwies auf drei glückliche Kriege, die Preußen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich geführt hätte, indes er seine Truppen Gewehr bei Fuß, ohne die eigenen Interessen zu bedenken, hätte stehen lassen. Keineswegs verspreche er nunmehr Neutralität gegen Frankreich. Rußland werde seinen eigenen Vorteil befragen. Fürst Bismarck erwartete mit Ungeduld in den nächsten Monaten das Fortschreiten der Verhandlungen über den neuen Geheimvertrag, der endlich Besserung in die Beziehungen zu Rußland bringen sollte. Aber man konnte nicht sagen, daß Rußland sich beeilte. Nur die Innigkeit der Beziehungen Rußlands und Frankreichs festigte sich mehr und mehr: trotz des endlichen Abschlusses des neuen Geheimvertrages und vor allem während seiner Dauer.

Nicht nur sichtbar aller Welt, wenn Frankreichs Goldregen in jenen gern gewährten Anleihen über Rußland niederging, die Fürst Bismarck von Deutschland ausgeschlossen hatte. Wenn ein französisches Kabinett stürzte, drohte der russische Botschafter Baron Mohrenheim, schon immer heiß bemüht um enge Freundschaft Frankreichs mit dem Zaren, gelegentlich so lange mit seiner Abreise, bis ein Kabinettschef zur Macht kam, dem Rußland zustimmte. In München hatte Baron Mohrenheim in freien Urlaubsstunden im Juli 1886 eine Denkschrift ausgearbeitet, in der er Notwendigkeit und Vorteil eines französisch-russischen Vorgehens auseinandersetzte. Graf Osten-Sacken, damals Gesandter in der bayerischen Hauptstadt, war von Baron Mohrenheims Plänen ganz und gar nicht bezaubert. Er riet ihm davon ab, die Denkschrift an den Außenminister von Giers zu senden:

»Sie riskieren Ungnade oder Entlassung« – –

Baron Mohrenheim riskierte nichts. Die Denkschrift wurde an den Zaren weitergegeben. Alexander III. ließ den Botschafter holen. Der Innenminister Graf Dmitri Tolstoi drückte schon damals die Stimmung des Zaren richtig aus. Auch er hatte die Denkschrift gelesen und rief voll Genugtuung den Botschafter an, als er ihm im Vorzimmer des Kaisers begegnete:

»Endlich eine patriotische Stimme, die in unserem diplomatischen Korps so selten ist!«

Der Zar überhäufte Baron Mohrenheim mit Gunstbeweisen. Der Botschafter arbeitete weiter in Paris. Dort kamen und gingen im Ausklang der achtziger Jahre die Minister ohne Unterlaß, obgleich sie bisweilen nur die Sessel tauschten. Das Kabinett Goblet wurde durch das Ministerium Rouvier ersetzt. Die Ministerpräsidentschaft Rouviers löst der radikale Kammerpräsident Floquet ab, dem russischen Botschafter einst bitter verhaßt wegen seines Zwischenrufes von 1867: »Vive la Pologne, Monsieur!« Doch nunmehr geben sich Botschafter und Kammerpräsident, ehe Floquet im Ministerstuhl Platz nimmt, ein Versöhnungsdiner. Freycinet wird Kriegsminister. Der russenfreundliche Flourens behält die Leitung der auswärtigen Politik. Wie immer aber die neuen Männer heißen, woher sie auch kommen: mit allen schmiedet Baron Mohrenheim, seit seiner Petersburger Audienz des Einverständnisses des Zaren gewiß, das russisch-französische Band. Jules Hansen, dem Vertrauten des russischen Botschafters, hat der Präsident der französischen Republik fünf Wochen vor der Unterzeichnung des russisch-deutschen Geheimvertrages erklärt:

»Es liegt auf der Hand, daß Frankreich und Rußland ein gemeinsames Interesse daran haben, daß die deutsche Macht sich nicht weiter entwickle …«

Zu den Goldmillionen französischer Anleihen kommt rasch eine halbe Million Gewehre, die von den Franzosen den Russen geliefert werden. Der französische Kriegsminister leitet überhaupt mit Entschlossenheit die technische Annäherung der Waffen Rußlands und Frankreichs ein. Russische Generalstabsoffiziere kommen, damit sie im Verpflegswesen und im Apparat moderner Truppenbeförderung in Frankreich sich ausbilden sollen. Rußland hat in offenem Zwiespalt mit Bulgarien dort keinen Geschäftsträger. Der sofioter Gesandte der Republik wird der heimliche Botschafter des Zaren; Flourens fordert genaue Berichte aus Bulgarien, die Baron Mohrenheim sogleich empfängt, damit er sie nach Petersburg weitergebe – –

Zar Alexander III. weiß also genau, warum der neue Geheimvertrag mit Deutschland unter allen Umständen geheim gehalten werden muß. Nicht bloß um der russischen Volksgefühle willen. Vor allem Frankreichs wegen. Dem Vertragsabschluß in Berlin stimmt er endlich zu. Dem Botschafter General Schweinitz hatte der Zar, als der General in Fürst Bismarcks Auftrag die russische Neutralität im Kriege mit Frankreich erbat, die Bitte recht ungnädig abgeschlagen:

»Heute hat Rußland die Pflicht, besonders seine eigenen Interessen zu wahren. Es kann Preußen nicht beständig helfen. Preußen wäre ja überdies der Verbündete des Kaisers Franz Joseph, was Rußland verhinderte, einen glücklichen Krieg gegen ihn zu versuchen« – –

Jetzt hatte Alexander III. den preußischen Verbündeten, Kaiser Franz Joseph, in der Schlinge. Um sie ganz unsichtbar zu machen, mochte Fürst Bismarck in Wien, als russische Truppen vor Galizien aufmarschierten, erneute Freundschaftsversicherungen in beruhigendster Form abgeben. Dem französischen Ministerialdirektor Valfrey teilte der österreichisch-ungarische Botschafter in vertraulicher Selbstsicherheit mit, »daß im Falle eines österreichisch-russischen Krieges Deutschland in Erfüllung der Verträge, die es an Österreich bindet, gezwungen sein wird, an der russisch-deutschen Grenze Korps aufzustellen, um das Prinzip der bewaffneten Neutralität zu erfüllen«. Der österreichisch-ungarische Botschafter war sich keineswegs darüber klar, daß er die Rolle des Clowns im Zirkus spielte. Zar Alexander III. und Fürst Bismarck saßen in der Zuschauerloge und beide lächelten. Der Fürst über Österreich. Der Zar über den Fürsten Bismarck – –

Beide waren durch »Geheimhaltung« geschützt. Aber auch darüber hatten der Zar oder die Russen noch eine besondere Auffassung.

 

Nur ganz wenige Menschen sollten, wie der russische Kaiser ausdrücklich verlangt hatte, von dem Bestehen des Geheimabkommens unterrichtet sein. Vorgesehen war, daß eigentlich überhaupt nur die Unterzeichner eingeweiht bleiben sollten. Zwar ging Fürst Bismarck so weit, daß er selbst Kaiser Wilhelm II. in völliger Unkenntnis über die neuen, engen Beziehungen des Reiches zu Rußland hielt. Aber in Petersburg erfuhr von ihnen der englische Botschafter Morier, keineswegs Deutschlands und Fürst Bismarcks Freund. In London gab der russische Botschafter Graf Ignatiew vertrauliche Andeutungen weiter. Unsicher war, ob er seine Kenntnisse vom Grafen Schuwalow oder vom russischen Außenminister hatte. Sicher ist, daß sehr rasch nach dem Austausch der Vertragsunterschriften Lord Salisbury davon erfuhr. Gleichgültig war auch, ob der Außenminister von Giers oder Graf Lambsdorff den Botschafter in Wien, den Fürsten Lobanow, über den Geheimvertrag aufklärte. Jedenfalls wußte auch der russische Fürst von dem Abkommen. Er war drei Jahre lang Botschafter in London gewesen und die Fäden waren dicht, die ihn – der keineswegs verschwiegen war – mit England verbanden. Beunruhigt sprach General Schweinitz eines Tages bei dem Außenminister von Giers vor: ob denn Fürst Lobanow tatsächlich in das Geheimnis einbezogen sei.

»In großen Umrissen«, gestand der Minister.

»Das genügt«, schrieb Fürst Bismarck an den Rand des Berichtes, den der General über die Petersburger Unterhaltung sandte.

Lord Salisbury tastete im Dunkel herum. Den Grafen Ignatiew hatte er als gewaltigen Lügner oft erkannt. Der englische Botschafter Morier haßte allerdings den Fürsten Bismarck unversöhnlich seit der Anschuldigung, für Frankreich im Kriege von 1870 Spionage getrieben zu haben. Auch dies wußte der Lord. Aber die Andeutungen kamen von vielen Stellen, nie mit der Kennzeichnung der Einzelheiten, aber immer mit dem Kern der Abmachung, daß Deutschland den Russen nunmehr verbündet war. Lord Salisbury wollte endlich Klarheit. Vielleicht gelang es überhaupt, Deutschland zu England herüberzuziehen. Das Mittelmeerabkommen hatte solche Möglichkeit für den Dreibund günstig vorbereitet. Lord Salisbury begann mit Graf Hatzfeldt seine vielen Gespräche über die »Beruhigung«, die Deutschland ihm im Falle eines Krieges mit Rußland zu geben vermöchte. Wenn Fürst Bismarck annahm, so war mit der ersehnten »Beruhigung« zugleich ein zukunftsreicher Weg gebahnt. Aber Fürst Bismarck nahm nicht an. Der Kanzler konnte gar nicht annehmen. Der Geheimvertrag band ihn fest. Fürst Bismarck fand glänzende Worte für seine Ablehnung. Zum offenen europäischen Fenster hinaus sprach er viel über die sittlichen Forderungen, die allein die Deutschen zu einem Kriege bringen könnten. Aber Lord Salisbury wußte nunmehr genug: Fürst Bismarck wollte nicht zu England oder er konnte es nicht mehr. Er wußte, die Gerüchte stimmten.

Weder Fürst Lobanow, noch Graf Ignatiew, noch sonstwer sprach offen von den Einzelheiten des Abkommens. Sie alle hüteten sich, in London von der russischen Abmachung über Konstantinopel oder von der Wendung gegen Frankreich zu erzählen. Aber wenn sie auch nur »in großen Umrissen«, in allerlei Andeutungen sich geheimnisvoll ergingen, so war doch der Zweck erreicht, der hier im Vorteil Rußlands lag: der Weg nach London war dem Fürsten Bismarck gründlich versperrt. Der Zar hatte Deutschlands Unterstützung vor den Meerengen. Der Zar hielt Österreich-Ungarn umkettet. Mit Frankreich, gegen das der Fürst sich hatte schützen wollen, lebte Alexander III. in verständlicher, täglich herzlicherer Beziehung. Bisweilen zweifelte ja Fürst Bismarck selbst, daß Rußland neutral bleiben würde, wenn es für Deutschland zu einem Kriege mit Frankreich käme. Von England hatte der Zar den Kanzler abgetrennt.

Der Geheimvertrag war wertvoll für Rußland. Deutschland gab er nur die Möglichkeit ungeahnter, schwerer Verwicklungen und nie dagewesener Bloßstellung vor ganz Europa.

 

Über Wesen, Wert und Unwert des Geheimvertrages hatte der Unterstaatssekretär Graf Berchem ein Gutachten ausgearbeitet. Reichskanzler von Caprivi machte es zur Grundlage der Beratung, die er, von Geheimrat von Holstein zur Eile gedrängt, mit dem Unterstaatssekretär, dem vortragenden Rate Raschdau und Baron Holstein selbst abhielt, bevor Kaiser Wilhelm den endgültigen Entschluß aussprechen sollte. Graf Berchem hatte in der Denkschrift die Wirkungen des Vertrages auf ganz Europa abgetastet. Überall sah er nur Verwicklung und Gefahren. Deutschland mußte »nach der oft ausgesprochenen Meinung des früheren Reichskanzlers dennoch für Österreich-Ungarn fechten, wenn dasselbe in Bedrängnis gerät, wodurch wir den Russen die Treue verletzen«. Der Unterstaatssekretär war gegen die Erneuerung des Vertrages »schon wegen des nicht ganz unbegründeten Verdachtes unserer Felonie«. Das Abkommen vertrug sich für ihn mit den Bindungen nicht, die sich für Deutschland aus dem Dreibundvertrage ergaben. Alle kriegerischen Verwicklungen, die Graf Berchem aufzählte, brachten das Deutsche Reich sowohl Österreich-Ungarn, als auch Rumänien gegenüber in eine unmögliche Lage, wenn man eines Tages die Verpflichtungen des Geheimvertrages erfüllen sollte. Selbst gegenüber der Türkei standen die Deutschen doppelzüngig da, da sie ihr soeben noch zum Widerstande und zu Rüstungen gegen das gleiche Rußland geraten hatten, dem sie jetzt von neuem die Einnahme von Konstantinopel erleichtern sollten. Graf Berchem sah keinen einzigen, auch noch so bescheidenen Gewinn, der aus so verworrenen Umständen für das Reich erwuchs:

»Der Vertrag sichert uns nicht gegen einen französischen Angriff, gewährt hingegen Rußland das Recht der Offensive gegen Österreich an der unteren Donau und verhindert uns an der Offensive gegen Frankreich, ganz abgesehen davon, daß er in seiner Tendenz mit dem deutsch-österreichischen Bündnis schwer vereinbar ist.« – –

Dabei wußte der Unterstaatssekretär von den wahren Beziehungen, die Rußland mit Frankreich längst verbanden, offenbar gar nichts. Er täuschte sich völlig über die ungeheure Gefahr, die seit Jahren schon gegen Deutschland sich zusammenballte und nur durch ein Zusammengehen mit England zu beschwören war. Aber die Verworrenheit, in der Fürst Bismarcks Bündnisverträge lagen, genügte dem Grafen von Berchem zur Abwehr:

»Eine so komplizierte Politik, deren Gelingen ohnedies jederzeit fraglich gewesen ist, vermögen wir nicht weiter zu führen nach dem Ausscheiden eines Staatsmannes, der bei seiner Tätigkeit auf dreißigjährige Erfolge und einen geradezu magnetisierenden Einfluß im Auslande sich stützen konnte.«

Graf Berchem war Fürst Bismarcks Mitarbeiter gewesen. Er hatte täglich den großen Zauberer gesehen, der unaufhörlich nach allen Ecken und Enden Europas seine Lassi warf, Freund und Feind darin verstrickte und glaubte, daß an den Endschnüren in seiner Faust alle anderen tanzen würden. Dem Zauberer selbst war das Erwachen aus seinen Spielen erspart geblieben. Er trat vom Schauplatz ab, noch ehe die Verwicklung kam. Aber Graf Berchem wußte, daß er weder Schnüre werfen konnte, wie Fürst Bismarck, noch die Kraft zum Verrat hatte, die auch für den Fürsten ein Teil der Staatskunst und zum Schlusse in entfesselter Katastrophe für den Bündnisstifter selbst die einzige Rettung sein konnte. Halb bestürzt, halb entrüstet, mit höflicher Verneigung vor Fürst Bismarcks Strategie, die er dabei zerstückelte, kam Graf Berchem in seiner Denkschrift zu dem Ende: die Erneuerung des Geheimvertrages sei abzulehnen.

Baron von Holstein war dazu entschlossen, noch ehe er die Berchemsche Denkschrift las. Wenn das Abkommen erneuert wurde, blieb Fürst Bismarck immer noch tief im Reichsschicksal verankert. Täglich konnte er aus Friedrichsruh zurückgeholt werden. Wenn irgend etwas mit Rußland nicht stimmte, wenn in bedrohlicher Stunde eine Wirkung etwa auf Alexander III. nötig war, dann konnte wiederum das angebliche Vertrauen des Zaren »nur in den Fürsten« wichtig werden, auf das der frühere Reichskanzler so oft gepocht hatte. Das Register des Barons von Holstein reichte nicht bis in die Geheimnisse von Petersburg. Oder es überwachte dort nur die Angehörigen der eigenen Botschaft. Von den wirklichen Gefühlen und Gedanken Alexanders III. wußte er nichts, kannte das Mißtrauen nicht, das den Zaren von Bismarck abstieß. Auch Baron Holstein glaubte an das Vertrauen des Zaren zu Fürst Bismarck, den er selbst haßte, nicht bloß wegen jener berüchtigten Sendung, mit der ihn der Kanzler einst zu Graf Arnim nach Paris geschickt hatte. Solange Fürst Bismarck im Amte gewesen war, hatte jeder Holsteinsche Machtversuch unterirdisch bleiben müssen. Der Kanzler hatte stets alle Macht an sich gerissen. Er hatte sie nicht nur selbstherrlich geübt, sodaß jeder Widerspruch seit Jahrzehnten verstummt war. Er hatte sie nur für sich und die Seinen ausgebaut.

»Bismarck ist ein Wallenstein«, hatte Holstein dem Fürsten Radolin schon 1885 erklärt, als Graf Herbert zum Staatssekretär ernannt wurde, »er will die Dynastie Bismarck begründen!«

Endlich aber wollte Baron Holstein sein eigenes Machtreich ausbauen. Er malte sich das Schreckbild vor, daß der Fürst über die unversehrt gebliebene, noch untermauerte Freundschaftsbrücke zum Zaren eines Tages mit seinen schweren, furchteinflößenden Schritten wieder in das Reichskanzlerhaus zurückmarschieren könnte. Er beschloß, die Brücke abzureißen. Den General von Caprivi hatte er über den Rückversicherungsvertrag unterrichtet, kaum daß Caprivis Nachfolgerschaft nach dem Fürsten Bismarck feststand. Mit seiner Ansicht über den Vertrag hielt er dabei nicht zurück. Er wußte auch, daß dies der Weg zum Kaiser war, der von der ganzen Angelegenheit bisher keine Kenntnis hatte. Als die Entrüstung des Kaisers losbrach, beschleunigte er die Beschlußfassung. Noch war kein Nachfolger des Staatssekretärs Grafen Herbert Bismarck ernannt. Aber wer immer es dann später war: er sollte vor Tatsachen gestellt werden, denen er sich anschließen oder verweigern konnte, ohne sie aber mehr ändern zu können. Keine Eile war groß genug, um den Fürsten Bismarck in Friedrichsruh endgültig festzusetzen. Immerhin konnte Baron Holstein, auch abgesehen von seinen Gefühlen gegen den Altreichskanzler, zur Erklärung seiner Eile sagen, daß er sich auch sachlich mit voller Überzeugung gegen die Vertragserneuerung stelle.

Denn was Graf von Berchem sah, begriff vollständig auch er. Vielleicht war es sogar er selbst gewesen, der den Grafen aufgeklärt hatte. Der Dreibund war zweifellos durch das Abkommen unterminiert. Niemand wußte besser als Baron Holstein, was alles auf vertraulichen Wegen durch Ausplaudern zu erfahren war. Mächtig war Baron Holstein nur, wenn Deutschland mächtig war. Wenigstens auf solche Art war er ein großer Patriot, was ihm übrigens trotz seines Machthungers niemand absprechen konnte. In Wien, in Rom oder in London mußte nur einer den Inhalt des Geheimabkommens verraten, dann war der Dreibund zu Ende und England gesellte sich Deutschlands Feinden zu. Wenn er schon Österreich-Ungarn ganz beiseite ließ: das Geheimabkommen war auch ein offener Verrat an Italien, dem Deutschland jede Abmachung mit einer anderen Macht aus dem Vertrage des Reiches mit dem Königtum mitzuteilen ausdrücklich verpflichtet war. Fürst Bismarck hatte auch hier die Unterschrift des Reiches gebrochen. Alles schien Baron Holstein im weiten Umkreis dieses Abkommens gefährlich. Die Russen hatten die Mine unter Deutschlands feste Freundschaften sehr geschickt gelegt. Er wollte sie nicht auffliegen lassen. Auch sachlich stemmte sich Baron Holstein gegen die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages.

Er stimmte völlig dem Vortragenden Rate Raschdau zu, der das ganze Bismarcksche Vertragsinstrument mit Rußland so unglücklich und unhaltbar, wie nur möglich fand. Gleich Baron Holstein fürchtete Raschdau die Bloßstellung Deutschlands vor den Bundesgenossen, wenn irgendwer von den Russen aus der Schule schwatzte. Er nahm an, daß der Fürst Lobanow »von der Tatsache (nicht vom Inhalte) des Vertrages Kenntnis erhalten hätte«, worin er sich täuschte, denn Fürst Lobanow kannte die Abmachungen genau. Aber diese eine russische Mitwissenschaft über den engen Kreis hinaus, der von dem Geheimabkommen wissen sollte, genügte dem Vortragenden Rate, um der Frage russischer Verschwiegenheit besondere Beachtung zuzuwenden.

Über die ganze Frage dachte er um so skeptischer, als er es erlebt hatte, daß Fürst Bismarck selbst über all seine Vereinbarungen und ihre Wechselwirkungen an dem Tage stutzig geworden war, da der Botschafter Prinz Reuß ihm über ein Balkangespräch mit dem Außenminister Grafen Kálnoky berichtet hatte. Den Botschafter hatte der Minister ein wenig bitter darüber aufgeklärt, daß für Österreich-Ungarn seit 1866 nur der Balkan bliebe, auch wenn jetzt Fürst Bismarck vor jedem Ausblicken nach dem Südosten warne. Raschdau glaubte auch nicht an die Großzügigkeit der Russen, mit der Graf Peter Schuwalow sogar auf die Möglichkeit eines von Österreich beherrschten Serbien hinwies, wenn erst die Russen nach Bulgarien gekommen wären. Er war vom Gegenteil überzeugt: nie würden die Russen im orthodoxen Serbien österreichisch-ungarisches Übergewicht dulden. Auch konnte der Rat sich nicht zusammenreimen, wie man den Russen ein Durchmarschrecht durch Rumänien gewähren sollte, das Deutschland schützen mußte, wenn irgendwer sich erlaubte, gegen das Königreich zu marschieren. Überdies sah oder ahnte er mit ziemlicher Klarheit, was in den jüngsten Jahren zwischen Frankreich und Rußland heimlich vorgegangen war. Seit den Tagen Alexanders II., seit dem für Rußland demütigenden Ausgang des Berliner Kongresses, seit dem deutschen Bündnis mit Österreich von 1879 empfand er »das russisch-französische Verhältnis immer enger, so daß es für den damit beabsichtigten Zweck einer besonderen Verbriefung kaum mehr bedurfte«. Was aber die Hauptsache betraf, das wirkliche Eintreten Rußlands für Deutschland, so zweifelte er daran: denn es hatte »auch unser großer Staatsmann tatsächlich wiederholt seine ernsten Zweifel an der Erfüllung des Rückversicherungsvertrages geäußert« – –

Der Legationsrat Raschdau entschied darum, wie die Drei anderen, gegen die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages, – was die tatsächliche, nicht die formale Haltung betraf, die im Augenblick zu beobachten war. Über die Form der Ablösung hatte er andere Gedanken. Der Form nach wollte er der Erneuerung zustimmen: mit Abänderungen. Dem Reichskanzler und dem Unterstaatssekretär schlug er die Abänderungen selbst vor. Sie waren so gehalten, daß die Russen von Schritt zu Schritt, bei der Aussprache über die Abänderungen den Vertrag endlich selbst zerschlagen sollten. Aber der junge Legationsrat, der im Grunde auf das gleiche Ziel zusteuerte wie die anderen, nur mit anderer Methode, wurde überstimmt. Baron Holstein hatte sachliche und persönliche Eile. Er wollte keinerlei Änderung, keinerlei Entgegenkommen, keine offene Tür mehr. Er brannte darauf, dem in das Staatsgeheimnis rechtzeitig eingeweihten Grafen Philipp Eulenburg, dem ihm so wichtigen, so herzlich behandelten Freunde des Kaisers, das endgültige Ergebnis zu depeschieren:

»Russische Sache abgewimmelt« – –

Es sollte ganz und gar Schluß gemacht werden. Zumal der Reichskanzler von Caprivi selbst war gegen den Vertrag. Auch ihm schien die Abmachung unehrlich. War in Bismarcks Wesen irgend Wahlverwandtes, irgend Russisches, das den Fürsten zum Zaren, zur unbegrenzten Macht des Monarchen, zum Fahnenträger des Fürstenwillens über das Volk hinzog, war es Fürst Bismarcks unerschütterlicher Glaube, daß alles Geschehen und jede Entscheidung bei dem Monarchen zu ruhen habe, soweit nicht er selbst sich dieses Machtsymbols für eigenes Herrschen bediente, so neigte der General genau entgegengesetzten Anschauungen, entgegengesetzten Meinungen zu, wenn er den Soldaten auszog und den Staatsmann befragte. Der neue Kanzler war der Meinung, daß moderne Kriege nicht die Könige, sondern die Völker beschlossen und führten. Daß sie darum auch ihre Bündnisse zu wählen hätten und vor allem sie kennen müßten. Rußland betrachtete er so mißtrauisch, wie der Zar die Deutschen. Er zog den helleren Horizont um England vor. Ihn wollte er keineswegs sich für lange Zeit verdunkeln oder verdüstern lassen. Vor allem aber wollte er ehrliches Spiel, – nicht List und Verrat nach allen Seiten. Abgeschlossene Bündnisse mußte man dem Geiste nach behandeln, nicht mit den bisherigen Spitzfindigkeiten in den Verträgen, wer einen »Angriffskrieg« führte und wer nicht; ob dann der »casus foederis« gegeben sei oder nicht:

»Man kann einen Gegner so lange mit Nadelstichen reizen, bis er losschlägt; liegt dann der casus foederis vor?«

Caprivi entschied sich für eine Zukunft klarer Verträge. Er lehnte für seine kommenden Entschließungen die Angst ab, ob die Russen verschwiegen blieben oder nicht. Auch ihm schien der Rückversicherungsvertrag mehr Brandbombe als Bürgschaft und Freundschaft.

Noch ehe er mit seinen Auffassungen zum Kaiser ging, war Freiherr von Marschall, der badische Gesandte in Berlin, zum Nachfolger des Staatssekretärs Grafen Bismarck ernannt worden. Er war Jurist, war Staatsanwalt gewesen. Der Großherzog von Baden hatte den Freiherrn nach Berlin geschickt und ihn dem Kaiser, in der Krisenzeit vor Fürst Bismarcks Abgang oft um Rat befragt, nunmehr als Staatssekretär empfohlen. Mit Staatsgeschäften war der neue Staatssekretär bisher wenig vertraut. Er beugte sich jetzt dem Rate der Vier. Der Ansicht des Generals von Caprivi fügte sich auch der Botschafter General Schweinitz, der in jenen Tagen, um einem Ordensfeste beizuwohnen, nach Berlin gekommen war. Dem Kaiser hatte der Botschafter zunächst auf die Frage nach dem Geheimvertrage geantwortet:

»Schön wäre es schon, wenn wir es machen könnten. Aber es ist eine große Gefahr« – –

Zweifellos lebte in General Schweinitz der Wunsch aller Botschafter, Freundlichkeiten jenem Hofe und jener Regierung zu erweisen, bei denen er beglaubigt war. Sehr selbständig war der General weder in seinen Handlungen, noch in seinem Denken, auch wenn er in seinen Briefen und diplomatischen Berichten immer eine ausgezeichnete, überaus liebenswürdige Form fand, die jedes Wort in Watte bettete und das Unangenehme ganz zu verscheuchen schien. General von Caprivi festigte seine Zustimmung zur Abwehr einer neuen Unterschrift. Auch wollte der Botschafter keine neue Kanzlerkrise heraufbeschwören. Caprivi hatte ihm keine Unklarheit darüber gelassen, daß er aus dem Reichskanzlerhaus auszog, wenn die Unterschrift beschlossen würde.

Alle waren einig, daß der Geheimvertrag mit Rußland nicht erneuert werden durfte: Kanzler und Botschafter, Staatssekretäre und Räte.

 

Kaiser Wilhelm wartete auf Nachrichten vom Zaren. Was er Alexander III. durch dessen Botschafter hatte sagen lassen, mußte noch an dem Tage nach Petersburg weitergegeben worden sein, an dem Kaiser Wilhelm den Grafen Schuwalow hatte rufen lassen. Aber der Zar schwieg – –

Vor Kaiser Wilhelm stiegen die Erinnerungen an Brest-Litowsk auf. Zar Alexander führte ihm seine Kanonen vor. Er bot ihm das Schauspiel, wie russische Truppen stürmen konnten. Auf die Botschaft, die Prinz Wilhelm damals vom Fürsten Bismarck brachte, hatte der russische Kaiser hochfahrende, verletzende Antworten. Das russische Offizierscorps gab sich auch vor dem Gaste nicht die geringste Mühe, seine Feindlichkeit gegen Deutschland zu verstecken. Dann waren die jüngsten Alarmjahre da, in denen Rußland immerzu rüstete, unaufhörlich die Truppen an den Grenzen verdichtete. Fürst Bismarck mochte an die Freundschaft des Zaren glauben: der Kaiser war voll Zweifel. Auch täuschte er sich nicht. Als die Antwort des Zaren endlich kam, las er kühle, höfliche und oft wiederholte, abgelaufene Schlagworte dort, wo er den persönlichen Einsatz und persönliche Bürgschaft gefordert hatte – –

Graf Lambsdorff hatte die Botschaft des Zaren entworfen, nicht als unmittelbare Mitteilung Alexanders III. an Kaiser Wilhelm, vielmehr als Instruktion an den Grafen Schuwalow: »dem Kaiser den Dank des Zaren zu übermitteln und zu sagen, dieser habe niemals an der unveränderlichen Ergebenheit seines Freundes und Bundesgenossen gegenüber den Prinzipien und Traditionen einer großen Vergangenheit gezweifelt, die die beste Bürgschaft für den Frieden sei«. Der Zar wich aus. »Alexander III. lenkte die russische Politik mit Festigkeit in eine neue Richtung«, stellte genau in jenen Frühlingswochen von 1890 Baron Mohrenheims Vertrauter Hansen fest, »und bereitete ein Bündnis mit Frankreich vor«. Baron Mohrenheims Vertrauter gab zugleich auch die Erklärung: »Bismarck hatte insbesondere Rußlands Freundschaft verloren, das seine Undankbarkeit für die Dienste nicht verzieh, die Rußland der deutschen Politik geleistet hatte.« Alexanders III. Vorbereitungen entzogen sich den Blicken Kaiser Wilhelms. Aber die »Prinzipien und Traditionen einer großen Vergangenheit« und ihre Auslegung in der Gesinnung des Zaren ahnte er: er brauchte sich, wenn er schon nicht an Brest dachte, nur des Berliner Kongresses zu erinnern. Nie konnte, solange Alexander III. lebte, von wirklicher Aufrichtigkeit, wirklicher Freundschaft die Rede sein.

Der Kanzler verlangte das Fallenlassen des Vertrages. Er gab dem Kaiser ein Bild von allen Wirrnissen, allen Folgen, die aus dem Geheimvertrag kamen. Kaiser Wilhelm stimmte seinen Räten zu. Graf Philipp Eulenburg depeschierte ihm. Er hatte Baron Holsteins Telegramm erhalten. Noch befangen von Fürst Bismarcks staatsmännischer Autorität riet er von der Kündigung ab. Der Kaiser warf die Depesche fort.

Die Loslösung vom Vertrage begann. Wie immer sie geschah: die Russen mußten verletzt sein. Sie erfuhren erst, daß auf Anweisung noch Graf Herbert Bismarcks die Verhandlungen nicht von den neuen Männern in Berlin, sondern von dem von Anbeginn eingeweihten General Schweinitz in Petersburg geführt werden sollten. Der General brächte die Vollmachten mit. Der russische Außenminister zeigte sich sehr erfreut. Der Zar stimmte gleichmütig zu.

»Seine Majestät hat«, so meldete General Schweinitz kurz nach seiner Ankunft in Petersburg über ein Gespräch mit dem Minister, »dem Vertrage überhaupt nie viel Interesse zugewendet« – –

Nur Graf Lambsdorff stutzte, als der General mit der Fortführung der Verhandlungen betraut wurde. Die Klarheit für die Russen war dann endlich da, als der Botschafter im Gegensatz zu der Berliner Ansage ohne Vollmachten erschien. Aber der russische Außenminister und sein Gehilfe gaben den Kampf um den Vertrag noch nicht auf. Wenn der Zar ein Bündnis mit Frankreich wollte, so konnte dies trotz des Geheimvertrages mit Deutschland geschehen. Im Gegenteil: dann war Deutschland erst recht gefesselt. Obendrein der Dreibund lahm. Obendrein die Schließung der Meerengen von Deutschland verbürgt. Die Russen hatten selbst schon vorgeschlagen, auf das geheime Zusatzprotokoll des Vertrages zu verzichten, das so kraß und unzweideutig von der Eroberung Konstantinopels, von der Aufrichtung russischer Herrschaft auf dem Balkan gesprochen hatte. Nur die Grundlinien des Vertrages, die von russischen Wünschen etwas bescheidener redeten, wollten sie jetzt retten. Dreimal sprach der Außenminister den General Schweinitz an. Wenn die Erneuerung des Vertrages nicht erreicht würde, so genügte »ein Austausch von Noten – vielleicht ein Briefwechsel zwischen den Monarchen«. Der General ließ sich bereden. Er schwankte gegenüber seiner Haltung in Berlin. Dem Reichskanzler riet er, daß Deutschland doch nicht »die Hand des Zaren« zurückstoßen solle, die er vielleicht zum letzten Male ausstreckte – –

Die Stimmung des Zaren war ausgezeichnet in jenen Maitagen. Die französische Regierung hatte eine Reihe von russischen Anarchisten verhaftet, um sie den Russen auszuliefern, – in Ländern mit Begriffen von politischem Zufluchtsrecht wie Frankreich nur dann ein unbegreiflicher Vorgang, wenn man die russisch-französischen Zwischenspiele der jüngsten Jahre nicht kannte. Der russische Außenminister erstrebte noch im Juni 1890 wenigstens »das Festhalten an den Grundlagen der Verständigung« in irgendeiner »Formel«. Aber der Zar, der »so schwer sich entschließende Herr«, war jetzt endlich gewillt, mit seinen Gefühlen deutlicher hervorzutreten. Nicht mehr Rußland, sondern Deutschland sollte, wenn die Angelegenheit überhaupt noch einmal aufgenommen würde, die weiteren Anregungen geben. Dabei verbat er sich, daß fernerhin noch in seinem Namen gesprochen werden sollte.

Aber der Geheimvertrag oder auch nur Teile seines Inhaltes waren in keiner Form und keiner Formel mehr zu retten. Kaiser Wilhelm war, je länger die Zeit verstrich, um so verstimmter, daß ihm der Zar sein aufflammendes, romantisch angewehtes Bedürfnis nach Ritterlichkeit und Freundesbürgschaft im Hofkanzleistil frostig genug beantwortet hatte; aber zugleich war auch die andere Befriedigung groß, daß er die wirkliche Stellung des Zaren zu Deutschland richtig eingeschätzt hatte. Kaiser Wilhelm sah die Zukunft voll Sorgen. Aber wenigstens die Bedrücktheit wich, die er den eigenen Bundesgenossen gegenüber hatte. An Kaiser Franz Joseph schrieb er nach seiner ausführlichen Darstellung des Zerwürfnisses mit dem Fürsten Bismarck am 4. April 1890 noch einmal über die Verabschiedung des Kanzlers:

»Es ist besser so und besser auch für unser Verhältnis zu einander, da bei der Selbständigkeit und zugleich Heimlichkeit des Fürsten ich leider nicht in der Lage gewesen wäre, ganz unbedingt zu wissen, was für Wege er in unserer äußeren Politik ohne mein Wissen einschlug, und wie dieselben vor meinen Bundesgenossen zu rechtfertigen wären« …

Erleichtert war um die Julimitte, als sich endlich alles zerschlug, auch der Zar:

»Ich persönlich bin sehr froh«, schrieb er an den Rand eines schriftlichen Vortrages, den sein Außenminister ihm erstattet hatte, »daß Deutschland als erstes den Vertrag nicht erneuern will und bedaure es nicht sehr, daß es ihn nicht mehr geben wird.«

Auch der Zar mochte sich darin unbehaglich fühlen, daß er Deutschland gegen einen Angriff Frankreichs schützen sollte. Denn er selbst suchte ja mit Frankreich das Bündnis. Im August bemühte sich sein Außenminister, als Kaiser Wilhelm den Zaren besuchte, abermals um die Rettung der Mine unter dem Dreibund. Auch der letzte Versuch mißglückte. So sehr, daß schließlich der russische Botschaftsrat Graf Murawiew die Urheberschaft des Schrittes auf sich nehmen mußte. Der Reichskanzler von Caprivi, der den Kaiser begleitete, war zu keinerlei Zugeständnis mehr bereit.

Natürlich war trotz der Abkehr von einander die Zahl der beruhigenden Versicherungen groß, die sich die Sprecher beider Reiche während des Ablaufs der Verhandlungen und nach ihrem Abbruch gaben. Kaiser Wilhelm wollte in der Tat weder Krieg, noch Feindseligkeit. Seine Politik wollte er immer so führen, daß Rußland keinen Grund zur Klage oder Sorge hatte. Was der Zar in Zukunft wollte, mit Konstantinopel und dem Balkan, mit Frankreich und gegen den Dreibund, mit Krieg oder Frieden: all das lag im Dunkel. Der Kaiser sagte sich selbst, daß ein Stachel beim Zaren zurückbleiben mußte, obgleich er voll der Genugtuung über die Wendung der Dinge war. Aber anders war das Bismarck'sche Netz nicht zu entwirren gewesen. Der Vortragende Rat Raschdau hatte eben jenen Stachel gefürchtet, als er hinauszögerndes, stets offen bleibendes Vorgehen bei Auflösung des Vertrages empfahl, bis die Russen selbst endlich überdrüssig würden. Die Furcht des Kaisers mochte vielleicht übertrieben sein, daß seine Verbündeten schon in allernächster Zeit hinter den Vertrag kämen, wenn zu den drei Monaten des Zurückweichens noch drei weitere des Verhandelns und Schreibens hinzugefügt würden. Aber die Russen blieben auf alle Fälle verstimmt, wenn Deutschland immer neue Ausflüchte fand und endlich jeden Vorschlag verweigerte. Die Bitterkeit der Abweisung mußte aufkommen trotz der gepflegten, behutsamen Konversationskunst des Botschafters Schweinitz und bei noch zarterer Rücksicht für seine Gegner, obschon sie kaum mehr möglich schien. Eines aber war vor allem bei den Russen zu erwägen: ob sie nicht eines Tages gerade während der langwierigen Verhandlungen aus Erbitterung, solange es noch Zeit war, die Mine insgeheim auffliegen ließen. In Wien oder in Rom. Denn Deutschland verhandelte ja, wenn man Raschdaus Vorschlag annahm, immer noch weiter: wenigstens scheinbar bereit, das Abkommen hinter dem Rücken seiner Freunde von neuem zu schließen. Immer noch konnten dann die Russen zum Schlusse und zur Rache die Unterhändler verraten.

 

Zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung, erst im Frühsommer 1890, sah Kaiser Wilhelm die Freiheit, für Deutschland Wege endlich aufzutun, die er selbst mitbestimmen konnte. Seit Fürst Bismarcks Abgang hatte ihn die Angst gelähmt, daß ihm aus dem Bekanntwerden der Erbschaft des Geheimvertrages die eigenen Bündnisse zerschlagen würden und Deutschland eines Tages völlig einsam stand. Die russische Wunde durch die Aufsagung war schlimm. Aber auch das Vertrauen des Zaren konnte er, falls dies überhaupt eine mögliche Angelegenheit war, in Zukunft nur wiedergewinnen, wenn die Atmosphäre gereinigt war. Auch der Zar mußte wissen, daß Fürst Bismarck, gleich ihm selbst, drei Jahre lang nur Schleichwege zu nachbarlicher Staatsvernichtung gegangen war. Daß sie beide betrogen: – der Fürst, indem er seine Bundesgenossen verriet, der Zar, indem er den Fürsten mit einem scheinheiligen Vertrag betörte, der Deutschland vom Dreibunde absprengen, in hereinbrechender Vereinsamung unter sein Machtwort zwingen sollte. Verschwanden die Hinterhalte, hatten nicht alle vor allen jederzeit alles zu verbergen, spann nicht Jeder seine versteckten Ränke gegen Jeden, dann war vielleicht die Aufrichtung wirklicher Freundschaft, das Aufkommen begründeten Vertrauens gegeben: auch zu Rußland – –

Jetzt aber brachen Kaiser und Kanzler den Geheimvertrag mit sehr festem Willen entzwei. Den Besorgnissen und Ängsten des deutschen Botschafters in Petersburg, auch als der General Schweinitz durch den beim Zaren einflußreichen, von Alexander III. selbst erbetenen, von Kaiser Wilhelm darum immer genau angehörten General von Werder abgelöst wurde, setzte der Reichskanzler eine sehr klare, in der Kritik der Gegenstände unabhängige Sprache entgegen. Rußland sollte der deutschen Friedfertigkeit sicher sein. Aber die bedingungslosen Kniefälle vor jedem Stirnrunzeln des Zaren waren ebenso zu Ende, wie die Intrigantenkunststücke auf beiden Seiten. Wenn Rußland den Dreibund fürchtete, so bedeutete er erst recht wieder eine Macht, sowie die Drei vorerst wieder einmal vor sich selbst sicher waren. Italien war und blieb durch seine Küsten stets abhängig von England. Österreich-Ungarn hatte seit Menschengedenken mit England überhaupt nur in Freundschaft gelebt. Daß der natürliche Anschluß des Dreibundes nur England sein mußte, hatte auch Fürst Bismarck gewußt. Aber englisches Wesen war ihm so zuwider wie fremd. Seine eigene Art, in Deutschland und Preußen zu herrschen, zeigte deutlich den Abstand, der ihn von englischer Politikauffassung trennte. Die »Engländerin« Kaiserin Friedrich hatte er unversöhnlich gehaßt. Durch das Hintertreiben von Prinz Battenbergs Verheiratung mit der Schwester Kaiser Wilhelms, durch seine ganze Haltung dabei hatte er dem Zaren zuliebe die Königin Victoria, den Prinzen von Wales, den ganzen englischen Hof schwer verletzt. Für Lord Salisbury hatte der Fürst, als der Lord immer wieder beim Grafen Hatzfeldt in London anklopfte, keinerlei »Beruhigung« gehabt. Aber all das lag schon weit zurück: keine Bindung bestand mehr zu Rußland. Vielleicht war jetzt der Weg nach England zu finden. Wenn die Annäherung gelang und Freundschaft wurde, so war Ruhe für alle Zeit in der Welt. General von Caprivi neigte von sich aus eher England als Rußland zu. Mehr noch. Der General verstand vollkommen, was England war. Kaiser Wilhelm selbst war »ein halber Engländer«. Kaiser und Kanzler wollten es versuchen.

Denn Rußland war und blieb, selbst wenn im gereinigten Umkreis neue Freundschaft wieder erblühen sollte, in jedem Falle – dies spürte der Kaiser, wie der Kanzler – eine Zuflucht voll Gefährlichkeit.


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