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Deutschlands innere Ordnung

Deutschlands innere Ordnung war, als General von Caprivi die Reichskanzlerschaft übernahm, von wenig befriedeter Art. So fest stand trotz Fürst Bismarcks Staatsarbeit von zwei Jahrzehnten das deutsche Reich noch nicht, daß nicht Sonderströmungen im deutschen Süden und Südwesten unter Umständen auch noch für ein Staatsdasein außerhalb der Reichseinheit zu haben gewesen wären. Philipp Graf Eulenburg, damals schon preußischer Gesandter in München, stellte die Tatsache fest, »daß das partikularistische Treiben von unten und oben in Bayern fortbestand« und daß auch in Württemberg »der reichsdeutsche Gedanke Risse bekommen hätte«. Die Lage im Königreich Preußen, dessen Ministerpräsident zugleich der Reichskanzler war, bedeutete den Bundesstaaten kein Muster.

Die Bismarcksche Erbschaft mußte – dies war General von Caprivis Äußerung zu dem österreichisch-ungarischen Botschafter Grafen Szögyény um die Mitte seiner Kanzlerschaft – erst völlig bereinigt werden. Früher konnte seine eigene Arbeit nicht restlose Wirkung üben. Vielleicht konnte er auf sie erst von dem Augenblick an rechnen, »wenn Bismarck aus dem Leben scheidet. Er – Caprivi – sei aber bedeutend jünger und somit in der vorteilhaften Lage, mit seinem Amtsvorgänger in dieser Beziehung erfolgreich konkurrieren zu können« – –

Was der Reichskanzler von Caprivi vom Fürsten Bismarck übernahm, war als Belastung auch dann gewaltig, wenn man von der Wirrnis in der Außenpolitik ganz absah. Noch bestand das Sozialistengesetz von 1878, das über dem öffentlichen Leben mit beunruhigendem Drucke lastete. Noch wählte der Staatsbürger in Preußen nach dem Dreiklassenwahlrecht. Die Gesetze der Besteuerung waren vollständig veraltet. Die Unabhängigkeit der Schule war nicht gesichert. So merkwürdig dies für Preußen auch war: selbst die Zustände im Heer waren verrostet, ohne Einklang mit den äußeren Zeichen der Macht, die dem Reiche und Preußen seit den Tagen von Versailles zukamen.

Mit kühlem Abwarten, in ihrer Mehrzahl unfreundlich, standen die Parteien im Reichstag, wie im preußischen Abgeordnetenhaus gegen den neuen Kanzler. Da seine erste Erkenntnis bei der Kanzlerschaftsübernahme die schwere Gefahr war, in der das Reich mit seinen weiten Grenzen zwischen Ost und West schwebte, da er die ihm verdächtige Freundschaft mit dem Osten aufgegeben hatte, mußte sein erstes Streben die stärkere Wappnung des Dreibundes sein. Indes die Richtlinien seiner Außenpolitik nach England zielten, versuchte er gleichzeitig, die Glieder des Dreibundes zu einem ganz festen, einheitlichen Körper zu fügen. Gab es Krieg für den Dreibund, so mußten nicht nur die Waffen, sondern auch die Wirtschaft der einzelnen Mächte für einander einstehen. Der Kanzler trat für günstige Handelsverträge mit Österreich-Ungarn und Italien ein, denen sich später Rumänien und, wenn sie wollten, noch andere Staaten angliedern konnten. Die Bundesgenossen wurden mächtiger, kräftiger durch den neuen Handel. In Deutschland wurde das Leben der unteren Schichten leichter. Die Industrie nahm davon ihre Vorteile: der Aufschwung mußte schnell und sichtbar kommen. Tatsächlich wurde die wirtschaftliche Bewegung im Reiche gewaltig unmittelbar nach dem Abschlusse der Handelsverträge: Einfuhr und Ausfuhr steigerten sich zu ungeahnter Höhe. Der Reichstag hatte die Verträge unverzüglich, schon bei der ersten Vorlage angenommen. Allerdings hatte der Kanzler seinen Sieg mit schwerer Einbuße bezahlen müssen: die Konservativen im Königreich, empfindlich getroffen durch das unwillkommene Hereinströmen von Getreide, dessen Preise die Großgrundbesitzer nicht mehr befehlen konnten, standen von da ab gegen den Kanzler.

Er hatte das Sozialistengesetz außer Kraft gesetzt. Auch dieser von unabhängigem Freisinn eingegebene Entschluß hatte die Konservativen von ihm fortgebracht. Aber trotz der Abschaffung des drakonischen, alten Gesetzes wußte der Kanzler, daß die nächsten Jahre erfüllt sein mußten von Auseinandersetzungen mit der Arbeiterschaft, die als eine neue, noch unruhig brodelnde Welt in seinem Zeitalter geboren war. Vielleicht wurde er allein mit ihr fertig. Vielleicht hielt sie das soziale Gesetzeswerk, dessen Ausführung dem jungen Kaiser vorschwebte, in der Tat in Ruhe. Keinesfalls aber durfte er allein stehen, wenn die Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft und ihren Sprechern unter Umständen scharf wurde. Auf die Konservativen konnte er, wenn er gegen die Sozialdemokraten aufstehen mußte, fast in jedem Fall rechnen. Sie rächten sich für seine Handelspolitik nur auf anderen Kampfplätzen. Aber der Kanzler wollte stärker sein, als bloß solch vereinzelte Kampfgemeinschaft ergab. Er suchte für alle Gedanken seiner Politik jene großen, in ihrer Einheitlichkeit unter klarer, selbstbewußter Führung gewichtigen Kräfte, deren Macht schon Fürst Bismarck seit den Tagen des Kulturkampfes oft genug verspürt hatte: die Kräfte des starken deutschen Zentrums. Beinahe wäre der Kanzler darüber gestürzt.

Seine Erfolge in den ersten beiden Jahren seiner Arbeit sah nicht jedermann. Oder die Neigung war gering, sie anzuerkennen. Er hatte Handelsverträge abgeschlossen. Er hatte die Beziehungen zu England gebessert. Aber soviel erkannte jeder, daß von ihm auch die Beziehungen zu Rußland abgerissen waren. Der Kaiser hatte ihn zum Grafen ernannt. Solche Auszeichnung bewies nur, daß Wilhelm II. mit dem Kanzler zufrieden war, daß der General von Caprivi offenbar alles tat, allem zustimmte und nichts verhinderte, was der junge, eigenwillige Herrscher wollte. So still der Kanzler seine Wege zu gehen schien, so laut und vernehmlich wußte Kaiser Wilhelm II. sich überall Gehör zu verschaffen. Der Kaiser blieb ein Fürst der Überraschungen. Er war ein konstitutioneller Herrscher. Aber offenbar sehr selbstherrlich schrieb er – die Öffentlichkeit kannte die Zusammenhänge nicht – in das Gedenkbuch der Stadt München den Satz:

»Regis voluntas suprema lex« – –

In Klarschrift depeschierte er jede Auffassung, jede Staatsabsicht, wenn es ihm gerade so gefiel, dem Grafen Philipp Eulenburg, obgleich der Graf ihn beschwor, Vorsicht zu üben, weil auch vorlaute Beamte die Amtsverschwiegenheit oft vergaßen. Aber der Kaiser hatte nichts zu verstecken. Immer wollte er für Deutschland das Beste: kindlich war sein Glaube, daß jedermann in Deutschland davon überzeugt war. Daß sein Erzieher Hinzpeter, in seinen Briefen stets von unauslöschlicher Ergebenheit, zwischen den Briefen so viel von Kaiser Wilhelms »Größenwahn« sprach, daß die Botschafter davon an ihre Höfe berichteten, wußte er ebenso wenig, wie er die überall herumgetragenen Aussprüche kannte, die in freier Ausschmückung seine Hofgesellschaft über ihn, »diesen Narren«, vertraulich in die Welt setzte.

Vom Größenwahn des Kaisers sprach nicht nur Professor Hinzpeter, wenn er nicht gerade dem Kaiser schmeichelte. Über des Kaisers Irrsinn machte sich auch General Waldersee scheinheilig besorgte Notizen.

 

Von der Freude am Glanz an Kaiser Wilhelms Hof wurden selbst die fremden Würdenträger angesteckt. Amerikas Botschafter geriet öfters darüber in Trauer, daß ihm allein von seinem Staate kein Prunkkleid mitgegeben war. Nach der Legende der Hofgesellschaft zeichnete ihm der Kaiser selbst in angeregter Laune eine besondere Tracht mit Degen und Federhut. Der Botschafter sei in vollem Glück darin bei nächster Hofansage erschienen. Vor dem Kaiser und dem Botschafter war die Hofgesellschaft vom kaiserlichen Farbensinn in Ehrfurcht stumm entzückt, aber mit ausmalendem Spott gab sie die erfundene Episode weiter.

Kaiser Wilhelm liebte die leuchtenden Farben und kaiserliches Auftreten. Er suchte dabei die Wirkung auf das Volk, von dem er wußte, wie wichtig ihm Schauspiele waren, wie sehr ihm sie Eindruck machten. Aber dem Glanze ging er keineswegs so sehr nach, daß ihm die Stunde verloren war, in der er nicht neue Prunkzeichen im Stile Ludwig's XIV. ersann. Auch liebte er die militärischen Schauspiele, die Manöver seiner Schiffe, indes war nur die Vorstellung kindlich, die seine Gäste davon verbreiteten. Die Absonderlichkeiten und Exzesse des Kaisers erfand sein eigener Hof, der in seiner Gegenwart die Aufrichtigkeit selbst und voll der oft gerühmten deutschen Treue dem Monarchen gegenüber war: schon im Fortgehen aus dem Schloß dichteten gerade die Ausgezeichnetsten dieser Hofgesellschaft dem Kaiser Ungeheuerlichkeiten an und trugen sie immer vergrößert herum, bis selbst das Ausland davon voll war.

In Frankreich sprach so über »den Wahnsinnigen auf dem Thron« endlich offen alle Welt. Breit schilderte die Mehrzahl der Pariser Blätter die klaren Krankheitssymptome des Kaisers: »daß er in England neue Moden ersänne, – graue Redingote mit breiten, ausgestopften Schultern, grauer Hut, Stiefel mit hohen Absätzen; der Kaiser trüge gern Schmuck, hätte an jeder Hand sieben Ringe, dann Armbänder und Ketten mit Anhängseln, sogar goldene, mit Brillanten besetzte Strumpfbänder« – –

An einem einzigen Tage hatte nach der Meinung der Pariser die Bordgesellschaft der »Hohenzollern« den Kaiser in der Uniform eines deutschen, englischen, italienischen Admirals zu begrüßen. Die Kanonen ließ Wilhelm II. um sich donnern, um sich selbst zu ehren. Keine Minute verging, in der er nicht dreimal gegebene Befehle widerrief. Was er sich wirklich dachte, enträtselte kein Schwätzer und kein Höfling. Niemand im Volk. Er blieb jeden Tag der Fürst der Überraschungen – –

Seine Ansichten sprach er öffentlich und an jedem Orte, wohin sein Herrscherberuf ihn führte, mit einer Bestimmtheit aus, die an Kaisern und Königen bisher nicht erlebt war. Er hielt seine Thronreden und Ansprachen im Manöver. Er sprach vor Provinziallandtagen und bei der Vereidigung von Rekruten, wenn er ein Schiff taufte oder ein Denkmal weihte. Es war schon in den Maitagen von 1892, daß er seit Graf Caprivis Amtsantritt seine sechsundzwanzigste große Rede hielt. Immer gab es darin gewaltige Entladung. Der Kaiser hatte eine besonders scharfe, schmetternde Art des Sprechens, deren Klangfarbe die Hörer ebenso reizte, wie die vielen, von ihm nicht kontrollierten Formlosigkeiten in seinem Tun. Der Inhalt der Reden stand nie ganz fest bei dem Beginne. Mit seinem Kabinettschef von Lucanus pflegte er seine Ansprachen auf Spaziergängen oder bei Ausfahrten in ganz großen Zügen festzulegen. Eine Weile hatte er dann versucht, die Reden nach der Besprechung mit dem Kabinettschef zu Papier zu bringen. Er entdeckte, daß die schriftliche Fassung nie dem verabredeten Plane entsprach und daß er beim Ablesen außerdem immer wieder stockte. So gewöhnte er sich an das freie Halten seiner Ansprachen. Vor den Zuhörern, unter der Einwirkung des Schauplatzes, riß ihn schließlich seine wirkliche Sprachkraft weit über das selbstgesteckte Ziel fort. Die Einfälle von Sekunden beschäftigten unmittelbar darauf Deutschland und die Welt. In den beiden Jahren seit Fürst Bismarcks Abgang waren die Einfälle fast so häufig gewesen wie die Reden.

Allmählich zeichnete sich die öffentliche Meinung das Bild des Kaisers nur so, wie sie ihn sah, wie sie ihn hörte oder wie sie von ihm hörte. Der Fehler des Kaisers war groß, daß er die Unmöglichkeit für die öffentliche Meinung nicht bedachte, neben seinem Auftreten auch sein inneres Wesen zu erkennen. Daß er nicht genau erwog, wie jedes Wort und jede Geste wirken mußte. Daß er die Unkenntnis und Plattheit der Massen nicht bedachte. Von den Vorgängen, die zum Sturze des Fürsten Bismarck geführt hatten, wußte die Welt nichts. Daß die Einzeichnung in das Münchener Stadtbuch eine in den Folgen gar nicht betrachtete, harmlose Geste war, wußte die Öffentlichkeit ebenso wenig. Der Prinzregent hatte sich als Hausherr vor dem Kaiser so lange geweigert, als erster seinen Namen einzuschreiben, bis der Kaiser das Bonmot aufgriff, daß er dem Wollen des Landesherren sich beuge, und das Unglückswort eintrug. Zwar kannten Zivilkabinett und Hofstaat die Entstehungsgeschichte der scherzhaft gedachten, ernsthaft weiterfliegenden Phrase. Auch fand es der Botschafter Graf Széchényi sinnlos, den wirklichen Hergang nicht einfach öffentlich festzustellen. Aber soweit wurzelte die Absonderlichkeit des Kaisers, die er haben mußte, selbst wenn sein Temperament schon stillhielt, in Volk und Gesellschaft, daß keiner vom Hofe oder Zivilkabinett den Mut zur Berichtigung hatte. Niemand ahnte von Kaiser Wilhelm, daß er trotz hastiger Alarme die Dinge selbst fast immer richtig abwog. Daß er zuletzt vor das Handeln noch einmal das eigene wirkliche Nachdenken setzte. Beruhigt war nur der Reichskanzler von Caprivi, der allein wußte, daß der Kaiser jeden Widerspruch ertrug, wenn er ihm allein Vortrag hielt, wenn jeder Versuch persönlicher Beeinflussung ausgeschaltet war und nur das Sachliche sprach, dem allein sich der Kaiser ohne Ausnahme unterwarf.

Weder der wirkliche Kaiser, noch der wirkliche Kanzler lebte im Volk. Parteien und Gesellschaft, die Stimmen und Gerüchte der öffentlichen Meinung, die eigenen Merkmale und Schwächen – beim Kaiser der betonte Hang zum Lauten und Außerordentlichen, beim Kanzler die trotzige Zurückhaltung, die niemand eine Aufklärung gab – verwischten ihr wahres Bild. Wenn irgendwer noch nach besonderen Farben und Linien und Strichen suchte, damit beide für möglichst lange Dauer in der Vorstellung von Deutschland und der Welt als schlimme Zeitfiguren lebten, so war es in seinem Groll der alte Fürst Bismarck in Friedrichsruh. Das Schauspiel war freilich neu, wie damit ein verabschiedeter Staatsmann den Kampf gegen seine eigene Hinterlassenschaft führte.

 

Zuweilen sprach der Gewaltige von Friedrichsruh, wenn vertrautere Gäste da waren, wenn Fürstin Johanna ihrer Verbitterung gegen Wilhelm II. auch vor dem auftragenden Kammerdiener voll die Zügel schießen ließ, in dunkel gefärbter Trauer über den Tisch hinweg:

»Klage ihn nicht zu hart an: denn ich fürchte für ihn, wie für einen Sohn« – –

Aber die milderen Regungen waren vergessen, wenn Fürst Bismarck den Kaiser, der ihn entlassen, sein System, seine Räte angriff. Der frühere Reichskanzler sprach öffentlich nahezu so häufig wie der Monarch. Studenten, die ihm in Kissingen einen Ehrenhumpen überreichten, die Dresdner Liedertafel, die zu ihm in den Sachsenwald gekommen war, Abgesandte aus seinem Wahlkreis, Abgesandte aus Siegen hörten seine andächtig aufgenommenen und durch ganz Deutschland fortgetragenen Worte. Der achtzigjährige Fürst war für Kampf in Wort und Schrift. Noch immer tobten ungeheure Kräfte in ihm, die er nicht fesseln lassen wollte. Es machte ihm nichts aus, Männer der Zeitung zu empfangen, von denen er wußte, daß sie Deutschland feindlich waren. Die Friedrichsruh so nahen »Hamburger Nachrichten« versah er so gründlich mit Meinungen und Mitteilungen, daß bald jedermann wußte, daß dort nur der Form nach der Schriftleiter, in Wahrheit aber Fürst Bismarck sprach. Er drückte sein Mißfallen darüber aus, daß der Kaiser zu häufig die englischen Verwandten aufsuchte. Den näheren Anschluß an England hielt er überhaupt für verfehlt. Die Handelsverträge des Reichskanzlers von Caprivi verdammte er. Die »Hamburger Nachrichten« erklärten, wie die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn besser zu führen wären, etwa wie in den früheren Jahren, da man sie nie und nimmer ernst genommen hätte und »die bezüglichen Vorschläge der genannten Macht zwar stets mit großer Höflichkeit und im Tone des Einverständnisses behandelt, aber eben doch abgelehnt worden seien«. Vor Jahresfrist noch hatte Fürst Bismarck selbst den Staatssekretär Grafen Herbert nach London geschickt, um durch Vorsprachen bei der und jener Stelle den Erwerb von Helgoland zu erwirken. Aber der alte Fürst schien gerade diese Episode völlig vergessen zu haben, da er eben wegen des Erwerbs von Helgoland um allzu hohen Preis den neuen Kanzler angriff.

Noch war die Ruhe des Alters längst nicht bei Fürst Bismarck eingekehrt: im kostbaren Gefühle kalt berechneter Rache schrieb er an »Gedanken und Erinnerungen«, deren Erscheinen er so spät ansetzte, daß Kaiser Wilhelm kaum mehr die Angriffe erleben sollte, die dann ohne Erwiderung blieben. Ohne Erwiderung mußten sie nach der Rechnung des Fürsten in jedem Falle bleiben: lebte Kaiser Wilhelm noch, so durften sie überhaupt kaum erscheinen. Erschienen sie dennoch, so konnte der deutsche Kaiser selbst kaum antworten. So führte der erste Kanzler, wie es auch kam, das Wort allein. Was den Kaiser betraf, so traute er ihm Schlimmstes zu. Nach seiner Meinung stand der junge Herrscher hinter einer Schmähschrift: »Die Wahrheit über Bismarck«. Tatsächlich wußte der Kaiser überhaupt nichts von dem Bestehen der Schrift. Der Fürst besorgte anbefohlene Einbrüche in sein Haus, die ihn seiner Papiere berauben sollten. »Wie er sich zu benehmen habe«, fragte er den ihn beratenden Justizrat Ferdinand Philipp, »ob er mit der Pistole in der Hand sein Hausrecht« wahren könne. Niemand dachte an solchen Einbruch. Der Kaiser schon gar nicht. Legenden und düstere Hirngespinste nahmen von Friedrichsruh ihren Weg. Viele Besucher trugen sie ins Land. Auch der Fürst reiste häufig.

Er sprach in München. Auf dem Marktplatz von Jena. Er sprach über auswärtige Politik, über die Nichterneuerung des Sozialistengesetzes. Der ganze »neue Kurs« wanderte mit den Glossen des Staatsmannes, der gestern noch der Kanzler war, überallhin unter die Menge, der er Heros und Heiligen, vor allem aber den berufensten Richter bedeutete. Natürlich war der Reichskanzler von Caprivi die Unfähigkeit selbst. Der Fürst hatte ihn als den General bezeichnet, der jeden kaiserlichen Befehl ausführte. Seine Erbitterung gegen den Kanzler wurde Haß, als der General sich endlich entschlossen gegen den Feind stellte. Dem Kaiser hatte Graf Caprivi, als Fürst Bismarck zur Hochzeitsfeier seines Sohnes im Juni 1892 nach Wien reiste, die Haltung des deutschen Botschafters in Wien vorgeschlagen:

»In Anbetracht der Handlungen des Fürsten Bismarck Euerer Majestät gegenüber, kann der Botschafter bei solcher Gelegenheit selbstverständlich nicht hervortreten« – –

»Ja, selbstverständlich«, hatte der Kaiser erwidert, »der Botschafter muß sehr taktvoll und zurückhaltend sein. Ich kann ihm doch nicht sagen, wie er sich dem Fürsten Bismarck gegenüber verhalten soll. Das muß er selbst wissen!«

Graf Caprivi hatte während der Besprechung der Lage gar nicht an einen Empfang des früheren Kanzlers durch Kaiser Franz Joseph von Österreich gedacht. Er gab die Weisung nach Wien, daß der Botschafter und die Mitglieder der Wiener Botschaft den Fürsten mit aller Höflichkeit behandeln, aber den Feierlichkeiten sich fernhalten sollten. Der Kaiser nahm an, daß der Fürst wohl ohne Zweifel alles aufbieten werde, um von Franz Joseph empfangen zu werden: eine Auszeichnung, die ebenso zweifellos von dem Anhange des Gestürzten richtig unterstrichen und ausgespielt würde. Der Kaiser setzte sich hin und schrieb dem Bundesgenossen. Tatsächlich erbat Fürst Bismarck eine Audienz bei Kaiser Franz Joseph. Sie wurde verweigert. Eine Bombe flog damit auf – –

Was Fürst Bismarck vor Kaiser Franz Joseph nicht erzählen durfte, sprach er sich jetzt in dem größten, damals in ganz Europa viel beachteten Wiener Blatt vom Herzen. Er prägte das Wort vom »abgerissenen Draht nach Rußland«. Alles zeigte er auf an einem System, das hohl und brüchig, voll Unkenntnis, Undankbarkeit und einer Verwegenheit war, die nur in schwarze Zukunft führte. So vorsichtig der kluge und in seiner politischen Übersicht bedeutende Herausgeber des Wiener Blattes das Schlimmste von dem fürstlichen Bekenntnis auch abgelöst hatte: der Geist der Erklärung war nicht zu tilgen. Das Wort vom »Uriasbrief« wurde geboren, den der Reichskanzler von Caprivi – selbst nichts weiter als ein General und Nachfolger – gegen einen der Größten in der Geschichte gewagt hatte. Niemand dachte daran, wie der Größte sich seit Jahr und Tag benahm. Wie kein Nadelstich zu klein, keine Schwierigkeit zu unbequem, keine öffentliche Verurteilung zu scharf war, wenn sie von Friedrichsruh gegen das System geschickt wurde, das ihn hatte fallen lassen. Niemand dachte auch daran, was es an Demütigung für Kaiser Wilhelm, an Verlegenheit und Peinlichkeit gerade für den so vorbildlich korrekten Kaiser Franz Joseph bedeutete, daß Fürst Bismarck, der das Berliner Schloß auf der Reise mied, den Empfang in der Hofburg erbat. Aber alle wußten, daß der Reichskanzler von Caprivi sich durch seinen »Uriasbrief« selbst verfemt hatte. Wer in irgend einer Art zum Fürsten Bismarck hielt, stand nunmehr gegen den General.

Über ein Schulgesetz des Grafen Zedlitz, des preußischen Kultusministers, das der Reichstag nicht annahm, wäre im Frühjahr 1892 der Reichskanzler fast gestürzt. Der Kaiser verweigerte den Abschied. Nur Wilhelm II. hielt den General. Weder im Volke, noch bei den politischen Parteien wußte Graf Caprivi einen Rückhalt. Von Friedrichsruh aus hatte der Unversöhnliche im Altenteil ganze Arbeit gegen seinen Nachfolger geleistet. Er tat es jetzt auf seinen Reisen noch. Daß Graf Caprivi abermals fallen konnte, weil niemand ihn hielt, daß er in den großen Schatten des Fürsten Bismarck so weit zurückgedrückt wurde, daß ihn überhaupt niemand mehr sah und wiederfand: dies konnte jeden Augenblick wieder geschehen.

Kein Reichsführer hatte je sein Amt durch größere Feindschaft, durch kleinlicheren Haß tragen müssen, als Graf Caprivi. Daß er es lautlos tat, machte den Lärm nur vernehmlicher, mit dem alles um ihn durcheinander, alles gegen seine Staatskunst schrie.

 

Seinem freiheitlichen, modernen Denken entsprach es im Grunde nicht, daß er jene Vorlage über ein neues Schulgesetz stützte, durch das der Kultusminister Graf Zedlitz der Kirche neuen Einfluß auf die Volkserziehung gewähren wollte. Die Kirche sollte Einspruch gegen die Ausübung des Lehramts bei Mißliebigen erheben können, die den Religionsunterricht nicht ganz nach ihren Wünschen übten. Der Kanzler gewann das Zentrum für sich, seine Freundlichkeit für ihn blieb, obgleich das Gesetz fiel. Alle Freisinnigen erhoben Einspruch. Die Erregung griff weit über die Abwehr der Mittelparteien in der Volksvertretung hinaus, Gelehrte und Künstler, alle Geistigen in Deutschland stellten sich so heftig gegen die Absicht des neuen Gesetzes, daß der Kaiser selbst bedenklich wurde. Überflüssig war, daß der Reichskanzler, seiner nicht sehr befestigten Stellung in der Volksmeinung sich durchaus bewußt, dem Kaiser seinen Abschied unterbreitete, als mit der Ablehnung der Gesetzesvorlage der Kultusminister zurücktrat. Der Denkart des Reichskanzlers entsprach es, daß er die Folgen auch eines Fehlschlages auf sich nehmen wollte, für den er nur mittelbar die Verantwortung trug. Aber er beging, als der Kaiser den Rücktritt ablehnte, einen wirklichen Fehler: er hob die Einheit der Reichskanzlerschaft und der Ministerpräsidentenschaft in Preußen auf. Er wollte in Zukunft nur das Reichskanzleramt versehen: der Einfluß in Preußen entglitt ihm. Den Widerständen, die aus Preußen gegen seine Politik aufstehen konnten und die er bisher hatte niederzwingen können, da er selbst der höchste Sprecher in Preußen gewesen war, schuf er selbst jetzt Raum und Möglichkeit der Entfaltung. Botho Graf Eulenburg, der ihm die Ministerpräsidentenschaft abnahm, kam mit Bismarckschem Geist in seine neue Stellung. Schon Fürst Bismarck hatte allerlei an ihm auszusetzen gehabt, nicht zuletzt seine Lust an der Intrige. Caprivi ging seinen Weg weiter. Indes begann der neue Ministerpräsident sich seinen eigenen Weg zur Macht zu ebnen.

Es war weniger das Schicksal, als des Kanzlers eigene, fest begründete Staatsanschauung, daß er ständig mehr in Gegensatz zu der immer noch einflußreichsten Partei geriet, zu den Konservativen. So konservativ der Kanzler selbst denken mochte, er sah doch klar die Notwendigkeit, ohne Rücksicht auf die Sonderinteressen einzelner Gruppen endlich einen Staat nach den Forderungen der Zeit auszubauen, den er rückständig, von den westlichen Nachbarn weit überholt, mit ganzen Bündeln von Problemen und Krisen übernommen hatte. Die Konservativen, die er schon durch die Handelsverträge mit den Bundesgenossen verletzt hatte, verstimmte er noch mehr durch eine neue Landgemeindeordnung, für die der Innenminister von Herfurth sich einsetzte. Im Osten von Preußen hatten Rittergutsbesitzer und Dorfgemeinden bisher in völliger Trennung nebeneinander bestanden. Dem Staate bot die Verwaltung insofern Schwierigkeiten, als die Rittergutsbesitzer zu den Gemeindelasten in keiner Weise herangezogen werden konnten. Der Innenminister verlangte die Verschmelzung von Adelsgut und Landgemeinde in einheitlicher Behandlung gegenüber Staat und Fiskus. Er kam mit seinem Gesetze auch durch, stürzte aber unmittelbar nach seinem Siege über den Sieg. Alles, was durch agrarische Vorteile und Sonderforderungen sich verbunden fühlte, hielt nunmehr die Zeit für gekommen, gegen eine Regierungswillkür aufzustehen, die sich erlaubte, an uralte Vorrechte nicht nur zu rühren, sondern sie auch noch einzuschnüren.

Zu Beginn des Jahres 1893 sah sich der Kanzler der geschlossenen, erbitterten Front eines »Bundes der Landwirte« gegenüber. Alle Versuche, die der begabte Finanzminister Miquel unternahm, um die konservativen Parteien zu versöhnen und zu gewinnen, halfen nur dem Finanzminister, nicht dem Kanzler. Der Finanzminister ging endlich an Aufbau und Ordnung des Steuerwesens. Preußen kannte bis dahin den Begriff der Einkommensteuer nicht. Ebenso wenig eine Vermögenssteuer. Es gab keine Pflicht der Selbsteinschätzung des Steuerzahlers. Die gesetzgeberische Lösung aller drei Probleme, die der Finanzminister erzwang, hätte mit dem Grundgedanken, daß das Reich von den indirekten Steuern, die Bundesstaaten von den direkten Abgaben, die Gemeinden von den Steuern aus Grundbesitz und Erträgnissen leben und wirtschaften sollten, allmählich vielleicht zu einer Gesundung der Staatsfinanzen in jedem Sinne führen können. Namentlich, wenn es im weiteren Ausbau jener Probleme gelang, das durch die Zuwendung nur der indirekten Steuern stark geschädigte Reich noch auf andere Art schadlos zu halten. Doch zeigte auch die Miquelsche Steuergesetzgebung nur eine einseitige Wendung zu den Konservativen. Den Gutsbesitzern wurden, um ihre Lage zu erleichtern, die Steuern aus Grundbesitz und Erträgnissen als Geschenk überwiesen. Sie hatten nur ihre Gemeindelasten zu tragen. Überdies durften sie das Geschenk in ihrer Selbsteinschätzung wie einen bezahlten Betrag anrechnen. So gewannen sie auch in ihren Wahlrechten: sie erreichten in jedem Bezirke, da das Dreiklassenwahlrecht die Gliederung der Wähler nach ihren Steuerleistungen bestimmte, mühelos die erste Wahlklasse, in der sie wieder allein oder nur mit wenigen Standesgenossen herrschten. Die neue Ordnung der Landgemeinden, die der Innenminister von Herfurth eingeführt hatte, sollte dieser merkwürdigen Entwicklung bis zu einem gewissen Grade vorbeugen oder sie ganz verhindern. Aber es bewies die Macht der Rittergutsbesitzer und Großlandwirte, daß die Eingemeindung ihrer Besitze zum größten Teil unterblieb, obgleich sie Gesetz geworden war. Ihr Unmut gegen den Innenminister hatte sich auch gegen den Kanzler gekehrt. Ihre Befriedigung über den Finanzminister verbesserte für den Kanzler nichts.

Daß er sich bisher hielt, schien überhaupt ein Wunder. Noch merkwürdiger war, daß er den Mut nicht sinken ließ, Probleme auch gegen die Ungunst der Parteien anzupacken. Im Ganzen schätzte er Probleme und Parteien richtig ein. Er wußte, daß die Konservativen mit ihm gehen mußten, wenn er an die neue Militärvorlage schritt, auch wenn sie lieber alles getan hätten, um die Stellung des Kanzlers zu untergraben. Er wußte auch, daß sich mit den Sozialdemokraten das gleiche Zentrum, das er durch das verunglückte Schulgesetz hatte gewinnen wollen, gegen die gleiche Vorlage stellen würde. Daß die Einrichtungen des Heeres verbessert, von Grund auf umgeformt werden mußten gegen jeden Widerstand, war ihm klar. Zentrum, Freisinnige und Sozialdemokraten würden die Mittel verweigern, um die es bei der Vorlage vor allem ging. Kaiser Wilhelm selbst leistete Widerstand gegen die Reformgedanken des Kanzlers, da er die dreijährige Dienstzeit, die der General auf zwei Jahre herabzusetzen gedachte, zunächst nicht preisgeben wollte. Der Kaiser ließ sich überzeugen. In Wahrheit bestand, da die Soldaten im dritten Dienstjahr in der Regel als »Königsurlauber« zur Ernte heimgeschickt wurden, die zweijährige Dienstzeit längst. Der große Übelstand im Heere war, daß in den Spätsommermonaten die Zahl des verfügbaren Militärs auf solche Art stark geschwächt war, daß die jungen Rekruten erst im Spätherbst zur Fahne kamen, daß ihre Ausbildung erst im Frühjahr beendet war, daß sie bei plötzlich ausbrechenden kriegerischen Verwicklungen gar nicht verwendet werden konnten, daher die Reserven sogleich herangezogen werden mußten: daß ein Krieg also nicht mit jenen militärischen Kräften begonnen werden konnte, die das Heer aus sich selbst sogleich ausspielen sollte, und daß obendrein die Mobilmachung wirr und umständlich war. General Caprivi forderte im Reichstag statt der dreijährigen Dienstzeit mehr Soldaten. Er verlangte, daß sie nicht erst im Spätherbst, sondern schon zum Beginn des Herbstes einrücken sollten. Die Forderung zielte auf Erhöhung des Soldatenstandes und auf die Bewilligung der Mittel, die Soldaten rechtzeitig auszubilden. Was der Kaiser gegen seine ursprüngliche Ansicht einsah, sah freilich der Reichstag nicht ein. Der im Grunde liberale Kanzler, der die gesetzgeberischen Kräfte in jedem Fall hielt, solange er es verantworten konnte, gab in der Militärvorlage nicht nach. Er nahm nicht den Abschied, als der Reichstag die Vorlage ablehnte, sondern schickte den Reichstag nach Hause. Ihm konnte es, was die Vorlage betraf, völlig gleich sein, daß eine wunderliche Gesellschaft – Polen und Antisemiten – den Ausschlag zur Annahme des Gesetzes gab, als wenige Wochen nach der Reichtagsauflösung die neuen Volksvertreter abstimmten. Die Militärvorlage sah der Kanzler unter Dach und Fach. Allerdings sah General Caprivi an dem neuen Reichstag auch noch etwas anderes: daß die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen sich gegenüber dem aufgelösten Reichstag um ein Bedeutendes vermehrt hatte.

 

Kaiser und Kanzler standen gegen die Sozialdemokratie in gemeinsamer Abwehr. Nur daß ihre Temperamente und die Kampfmittel, die ihnen die Erfahrung und der Erfolgglaube aus verschiedenen Lebensaltern anriet, das gleiche Ziel keineswegs von Anfang an harmonisch anstrebten. Der Kaiser sah die Arbeiterfrage in romantischem Patriarchentum, so jung er war, als eine Staatsfrage wie andere auch, deren Ordnung das Recht und die Pflicht des eingesetzten Monarchen war. Dem Kanzler bedeutete sie Machtfrage und Entwicklungsproblem. Der Kaiser erhoffte alles von der Regelung der Bedürfnisse der Arbeiterschaft: von der Festsetzung täglicher Arbeitsbemessung, von der Einführung einer Sonntagsruhe, vom Schutz der Frauen in ihrer Mutterschaftszeit, vom Schutz und der Förderung der Arbeiter im jugendlichen Alter, die sich sollten weiterbilden können. Er wollte die Gesundheit der Arbeiter geschützt wissen und ihre Sicherheit in gefährdeten Betrieben. Die Sittlichkeit unter der Arbeiterschaft sollte gepflegt werden. Die Fabriken sollten ihre Arbeitsordnung nicht willkürlich aufstellen dürfen. Arbeitsverträge sollte weder der Arbeitnehmer, noch der Arbeitgeber brechen dürfen. All dies entwuchs den Gedankengängen der großen Arbeiterschutzgesetzgebung, die den ersten Plänen des Kaisers beim Antritt seiner Herrschaft angehört hatte und an der alle Staaten sich beteiligen sollten. Da die fremden Staaten zögerten und schwiegen, sollte wenigstens Deutschland selbst das Beispiel geben: sogleich nach Fürst Bismarcks Rücktritt kam das Gesetzeswerk in den Reichstag, der die »Abänderung der Gewerbeordnung« nicht bloß annahm, sondern auch den Ergänzungen zustimmte, die die Vielfältigkeit der Industrie ebenso wie die Vielfalt der Arbeiterschutzprobleme bei einbrechendem Alter, bei Unfällen, bei vielen anderen Anlässen bald nötig machten. Kaiser Wilhelm hielt das beabsichtigte Humanitätswerk in großen Umrissen damit für geschaffen, zum wenigstens die Grundlinien und Anfänge, die dem ferneren Ausbau die Richtung wiesen. Der Widerstand der Arbeiterschaft gegen das Gesamtwerk der Schutzgesetzgebung und gegen ihren Geist, wiewohl sie die Neuerungen und Erleichterungen selbstverständlich annahm, mußte den Kaiser um so mehr überraschen, als seine Reformpläne aus wirklich edlem, menschlichem Gefühl und dem an sich richtigen Gedanken geboren waren, daß die Arbeiterschaft um so mehr dem deutschen Heimathause sich anschließen und verbinden werde, je wohler sie sich darin fühle. Aber Arbeiterschaft und Sozialdemokratie waren nicht mehr zwei scharf gesonderte Begriffe und Heerlager, wie der Kaiser beide betrachtete. Die Zugeständnisse, Erleichterungen und gesunde Lebensbedingungen wollte er den Arbeitern schaffen, die seine Untertanen waren und im möglichsten Wohlstand lebende Untertanen bleiben sollten. Sozialdemokraten waren ganz etwas anderes für den Herrscher: eine neu aufgekommene Gemeinschaft, die seit zehn oder fünfzehn Jahren immer stärker, immer zahlreicher in ihrem Anhang wurde, eine neue, immer anmaßendere Gruppe, die alle Überlieferungen umwarf. Die gegen die Gesellschaft sich erhob. Den Herrscher und den Staat vernichten wollte. Er sah den Feind, der nur politisch dachte, politisch in einer Art, die das Bestehende gefährdete. Kein Wort, keine Kampfansage war dem Kaiser scharf genug, wenn er die neuen Reichsverräter und Reichsverderber warnen wollte:

»Für mich ist jeder Sozialdemokrat«, hatte er noch zu Fürst Bismarcks Zeit einer Abgesandtschaft von Bergleuten zugerufen, »gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind« – –

Der Kaiser förderte die Schutzgesetzgebung für die Arbeiterschaft, wo er konnte. Mit leidenschaftlichem Eifer. Dennoch sprach er schon in den beiden ersten Jahren nach Fürst Bismarcks Abgang, unmittelbar zu der Zeit, da das Sozialwerk durch ihn vorwärts getrieben wurde, bewußt den Satz gegen die Sozialdemokratie: »Mein Vertrauen beruht auf der Armee!« Den Potsdamer Rekruten erklärte er bei Leistung des Soldateneids, daß sie selbst auf Brüder feuern müßten, wenn der Ruf von Kaiser und Vaterland es forderte. Kaum zwei Monate später wies er auf dem Brandenburgischen Provinziallandtag alle Nörgler in Deutschland an, »den deutschen Staub von ihren Pantoffeln zu schütteln«. Unversöhnlich sprach er, unversöhnlich trafen seine Worte. Er wußte, daß das Aufsehen ungeheuer sein mußte, das solche Rede, solche Tonart in der Welt erregen mußten. Aber er blieb bei seiner Entschlossenheit, den Strich sichtbar zu ziehen zwischen der Arbeiterschaft, für die er sich absorgte, und der Sozialdemokratie, der er kein Zerstörungswerk zuließ. Gewiß war auch ihm, daß alle seine Gegner verkünden würden, wie er kaum drei Jahre nach Fürst Bismarcks Sturz genau die Bahnen des alten Kanzlers ging. Aber für den Kaiser gab es dennoch darin einen großen Unterschied: der Fürst hatte Reformen mit Straßenschlachten üben wollen, ohne vorher anderes zu versuchen. Der Kaiser hatte alles versucht, um die soziale Lage der Arbeiterschaft zu heben und die Ungerechtigkeiten auszugleichen, unter denen sie litt. An Straßenschlachten dachte er jetzt so wenig wie vordem. Für die Arbeiterschaft sollte die soziale Gesetzgebung immer weiter ausgebaut werden. Von der Arbeiterschaft glaubte er noch immer, daß sie die soziale Gesetzgebung ihm dankte. Aber die Sozialdemokratie wollte er zwingen, Ruhe im Staate zu halten und den Staat unangetastet zu lassen. Der kaiserliche Irrtum war, daß der Strich zwischen Arbeiterschaft und Sozialdemokratie kaum mehr zu ziehen war, daß sie beinahe eine Einheit in der Entwicklung bedeuteten oder daß die Sozialdemokratie bereits das politische Gesicht, die politische Ausdrucksform und Zusammenfassung des Daseins und der Daseinsforderung der Arbeiter geworden war.

Die kaiserliche Fürsorge, die Verbesserungen am Lose der Arbeiter nahm die Sozialdemokratie entgegen: kühl und kritisch als späte, selbstverständliche Zugeständnisse. Sie betonte im Reichstag und ihren Blättern natürlich den Vorsprung nicht, den der junge Kaiser vor anderen Staaten aus eigenem Antrieb genommen. Niemand sprach von dem unzweifelhaften großen Wert der Neuerungen, die gerecht die Schäden und Vernachlässigungen früherer Zeitalter und fast aller Staaten gutzumachen und die Zukunft der Menschen zu ebnen dachten. Natürlich sah die Sozialdemokratie die kaiserlichen Taten durch politische Programme. Daß in den Zugeständnissen an die Arbeiterschaft die politischen Zugeständnisse an die Sozialdemokratie fehlten, erbitterte Organisation und Partei. So bedeutete die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung in ihrem Sinne so gut wie nichts. Kaiser und Sozialdemokratie redeten und kämpften keineswegs aneinander vorbei. Sie wußten beide, daß sie auf Leben und Tod einander gegenüber stehen wollten. Entweder es gab eine Arbeiterschaft ohne Sozialdemokratie; dies war der Schlachtruf des Kaisers. Oder es gab eine Sozialdemokratie, die die ganze Arbeiterschaft zwang und führte: dies war der Kampfruf des Gegners. Der Reichskanzler von Caprivi ließ sich in seiner Haltung weder von der Ethik und dem Feuerwillen des Kaisers, noch von dem Willen zur Macht bestimmen, der die neue Bewegung antrieb. Unzweifelhaft sah er auch hier das Problem in ruhiger Überlegenheit. Denn er wollte nur das Mögliche in unaufhaltsamer Entwicklung.

 

Auch Graf Caprivi verkannte die Gefahr nicht, die der bestehenden Ordnung durch die Sozialdemokratie drohte. Aber er teilte den Glauben an die Gewalt nicht, mit der gegen eine Bewegung nicht aufzukommen war, die Millionen Menschen umfaßte. Was ihre Führer und Sprecher auch sagten und schrieben, ihr Wille und Streben ging nach der Macht im Staate, wie dies jeder Stand, jede Gruppe und jede Klasse bisher gewollt hatte. Am Ende ihres Traumes stand die Herrschaft ihrer Genossen oder doch ihre volle Emanzipation, die nach den großen, revolutionären Umstürzen das Bürgertum für sich erzwungen hatte. Die Frage war nicht mehr, ob man die Arbeiterschaft und Sozialdemokratie, da sie einmal da war, noch zerbrechen konnte. Die Frage war nur mehr, ob sie sich mit ihren gewaltigen Kräften noch einordnen ließ in die Staatsordnung und ob sie an ihr mitarbeiten wollte als Glied unter den Gliedern. Der preußische Ministerpräsident Botho Graf Eulenburg war für harte Entscheidung in dem neuen Kampf der Klassen. Er billigte einen Erlaß des Innenministers, der sich um die Mitte von 1893 gegen die Propaganda und die Ausbreitung der sozialdemokratischen Organisation wandte. Ihr Vereinswesen und ihre Versammlungsrechte sollten schärfer überwacht, Ruhestörungen sollten, wenn die Polizei nicht ausreichte, sogleich durch Gendarmerie unterdrückt werden. Viel versprachen sich Ministerpräsident und Innenminister von der Aufklärung der Landbevölkerung, von einer moralischen Propaganda aller Staatsfreunde unter den Arbeitern selbst. Es waren kindliche Mittel von Staatsmännern, die den Urgrund und das Ausmaß elementarer historischer Entwicklungen nicht kannten. Die Mittel versagten.

Aber das ganze Problem, in welcher Kampfart der so übermächtig gewordenen Bewegung entgegen zu treten war, erhielt unerwartet schnellen Antrieb von außen. Gleich Brandfackeln schlug in die bürgerliche Ordnung der Welt eine Reihe von Attentaten. Anarchisten ließen die Zeit erzittern. Sie warfen Brand und Mord als »Kollektive Insurrektionen« in die erschreckten Städte. Sie traten einzeln auf und meldeten Umsturz und Vernichtung alles Bestehenden auf eigene Faust an. Dynamit flog in das Theater von Barcelona. Vaillant warf es in die Kammer von Paris. Bomben splitterten unter ahnungslose Bourgeois bald in einem Pariser Café, gleich darauf unter die Austernschlürfer eines Restaurants. Ein französisches Polizeiamt brach unter Dynamit in Trümmer zusammen. Léauthier bereitete seine Sprengpatronen gegen den serbischen Minister Georgevic vor. Er wußte nicht, ob er gleich den Richtigen zur Strecke bringen würde.

»Ich werde keinen Unschuldigen treffen«, schrieb er kurz vor der Ausführung des Attentats, »wenn ich den erstbesten Bourgeois niedermache« – –

Die Zahl der Attentate wurde plötzlich Legion. Der Schreck über sie ergriff die Gesellschaft nicht allein: erschreckt im Innersten war auch die Sozialdemokratie. Sie hatte mit Anarchismus nichts zu tun. Sie wollte die neue Welt, vielleicht die Herrschaft der Arbeiter aufbauen. Das Nichts, die Zerstörung des Ganzen, die Sinnlosigkeit des Unterganges aller lehnte sie ab. Aber in den Kampfrufen der Attentäter war immer wieder der Haßruf gegen den »Bourgeois« gefallen. Gegen den »Bourgeois« kämpfte auch die Sozialdemokratie: es konnte Verwechslungen geben, sehr willkommene Verwechslungen, wenn die alte Ordnung zu ihrer Verteidigung schritt.

»Diese verdammten Anarchisten«, schrieb der Sozialistenführer August Bebel ins Ausland an seinen Freund und Gesinnungsgenossen Engels, »spucken uns arg in die Suppe. In Frankreich waren die Dinge so nett im Zuge, als man sich's nur wünschen konnte. Da kommen diese Verrückten und verderben mit einer Eselei und Niederträchtigkeit mehr, als Jahre gutmachen können. Ein gut Teil dieser Anarchisten sind komplette Narren, die ins Irrenhaus gehören. Der Bourgeoisie kann man schließlich nicht mal übelnehmen, wenn sie sich gegen solche Narren in ihrer Art zu schützen sucht« – –

Was August Bebel insgeheim als seine Auffassung von den Anarchisten schrieb, hielt die Ereignisse nicht auf. Ein Verrückter schoß im Juni 1894 auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi. Ein Narr ermordete acht Tage später den französischen Ministerpräsidenten Carnot. Narren oder Verrückte: sie warfen Brand und Tod gegen Staat und Gesellschaft. Die Sozialdemokratie mochte sie abschütteln, Tatsache blieb, daß die Anarchisten auf die gleichen Gegner einhieben, wie mit vielen Worten, neuen Doktrinen und zahllosen Forderungen sie selbst. Ungeheuer war die Aufregung, die alle aus Alltag, Erwerb und Genuß jäh Aufgeschreckten in aller Welt ergriff. Der französische Staat schützte sich. Er erließ das Anarchistengesetz vom 28. Juli 1894. Die ganze Überlegenheit französischer Rechtsauffassung war darin. Anarchistische Taten waren Verbrechen einzelner Anarchisten. Das neue Gesetz zog die Bestimmung heran, die der französische Strafkodex für Mord und Brand und Totschlag hatte, und verschärfte sie. Er bezog die Aufwiegelung ein, die fortan gegen die Organe des Staates, gegen Armee, gegen Polizei und jeden Vertreter des Staates versucht würde. Das Gesetz traf keine Unterscheidungen durch den Zwang des Beweismaterials, das ein Urteil über Anarchisten herbeiführen konnte. Die Anklage eines Einzelnen, die Beschuldigung eines Einzelnen genügte nicht. Durch die Tat selbst oder durch lückenlose Belastung des Verdächtigten, nur so wurde eine Verurteilung möglich. Bewußt wich das Gesetz der Möglichkeit aus, Parteien zu verdächtigen oder Mittel zu verschaffen, um Parteien zu bekämpfen. Es schützte sich lediglich durch unbeugsame Härte, die das Verbrechen oder seine Vorbereitung traf. Recht und Sicherheit wurden geschaffen, kein neues politisches Kampfmittel. Dem französischen Gesetz folgten rasch die Ausnahmebestimmungen gegen Anarchisten in Italien. In Deutschland tobte die Aufregung vorerst in der Presse.

Die Zeitungen der Mittelparteien begannen die Aussprache über die Attentate in schärfster Form. Sie riefen zum Vernichtungsfeldzug gegen die Anarchisten auf. Neue Gesetze gegen die Sozialdemokratie sollten geschaffen, das alte Sozialistengesetz wieder in Kraft gesetzt werden. Man empfahl die Fortschaffung anarchistischer Brandmörder nach fernen Inseln. Man wußte viele Ratschläge für die Polizei. In allen Ländern sollten die Polizisten gemeinsam vorgehen. England sollte endlich aufhören, Mordbanditen immer noch das politische Asylrecht zu gewähren. In Dresden und Hannover, in Hamburg und Leipzig schrien die Zeitungen der Mittelparteien nach Ausnahmeverfügungen. Die Klerikalen und die Freisinnigen wehrten sich. Ausnahmsverfügung gegen eine Partei: dies war ein Mittel, das bei Gelegenheit auch gegen sie selbst angewendet werden konnte. So sehr sahen sie sich noch nicht bedroht, daß sie nicht zuerst auch jetzt noch an die Wahrung ihres Vorteils denken sollten. Außerdem war es ihre Überzeugung, daß die Sozialdemokratie sich nur noch fester zur Einheit fügte, wenn man sie tödlich bedrohte. Viele Vorschläge von Zeitungen und Privatstaatsmännern wurden vorgetragen. Das Wahlrecht für den Reichstag sollte geändert werden. Kaiser Wilhelm wurde in fiebernder Flugschrift aufgefordert, die Diktatur des Bundesrates aufzurichten.

Kühl blieb der Reichskanzler von Caprivi. Seine Zeit sah der preußische Ministerpräsident Botho Graf Eulenburg gekommen. Der Kaiser befand sich in tiefer Erregung.

 

Der Augenblick schien Kaiser Wilhelm günstig, die Stimmung des aufgebrachten und in Wahrheit tief erschreckten Bürgertums zu einem Vorgehen gegen die umstürzlerischen Elemente im Staate zu benutzen. Er dachte an ein strenges Sicherungsgesetz, wie es Frankreich und Italien soeben geschaffen hatten. Die Zurückhaltung der amtlichen Presse, deren vorsichtigen und sogar skeptischen Ton gegenüber dem Schicksal einer Kampfansage im Reichstage der Reichskanzler bestimmt hatte, mißbilligte der Kaiser scharf. Eine Niederschrift seiner Gedankengänge, die der Vortragende Rat von Kiderlen-Wächter festzulegen und dem Kanzler zu übersenden hatte, sprach den Willen aus, daß nicht nur »Vorpostengefechte in Preußen« gegen die Sozialdemokratie geführt, sondern die Schlacht auch im Reiche geschlagen würde. Dem Staatsministerium seien die nächsten Erwägungen zu überlassen. Dem Kaiser war es gleich, ob man das Strafrecht in scharfer Anwendung und Erweiterung oder ein Ausnahmegesetz heranziehen wolle.

Je mehr sich der Kaiser mit dem Problem beschäftigte, desto entschlossener wurde er zur Abwehr der Gefahren durch die Sozialdemokratie, wobei er die Abwehr endlich im Angriff führen wollte. Gleichgültig war ihm die Zustimmung, die ihm sogar Fürst Bismarck zu der eigenen Haltung, soweit sie sichtbar wurde oder sich vermuten ließ, in seinem Blatte aussprach. Fürst Bismarck schien überhaupt, seit die Absichten aus Anlaß seines Wiener Besuches mißglückt waren, seit sein Groll darüber sich in voller Öffentlichkeit entladen hatte, seit er einsah, daß Fronde und aufreizende Kritik keinesfalls die Rückkehr zu irgendwelchem Einfluß bedeuteten, von größerer Versöhnlichkeitsbereitschaft als bisher. Immer zahlreicher wurden die Versuche seines Anhangs, neue Brücken zum Kaiser zu schlagen. Schließlich war Graf Douglas im Auftrag der Konservativen bei Kaiser Wilhelm mit der offenen Bitte erschienen, sich mit dem Fürsten doch auszusöhnen. Unzweifelhaft war, daß Kaiser Wilhelms Erbitterung gegen den Altreichskanzler sich tief verwurzelt hatte. Zu den schweren Konflikten in der Amtszeit des Fürsten kamen die haßerfüllten, bewußt in der Öffentlichkeit ausgespielten Schwierigkeiten, die der Fürst dem Kaiser bei jeder Gelegenheit bereitete. Immer kämpfte Fürst Bismarck so, daß der Kaiser sich nicht wehren konnte. Denn ein Kaiser hatte, so oft er auch zu sprechen liebte, zu solchen Dingen zu schweigen. Fürst Bismarck wußte es und nutzte es aus. Raffte sich Wilhelm II. dennoch zu einem Gegenhieb auf, so schlug er ins Leere. Seinen eigenen Offizieren, die ihm den Fahneneid geschworen hatten, konnte er im Lustgarten, als ihm die Worte wenigstens einmal vor Getreuen überliefen, etwas von Fürst Bismarcks hochverräterischen Eigenmächtigkeiten andeuten. Tatsächlich hatte Fürst Bismarck, wenn er die Einflußnahme fremder Kabinette bei seinem Rücktritt anzuregen suchte, wenn er seinen Zorn bei fremden Botschaften ablud, so und so viele Dinge getan, die jedem anderen Staatsdiener übel bekommen wären. Aber die Offiziere gingen verstimmt, verstört, nur erbittert gegen den neuen Kaiser von der Parade auseinander. Der Kaiser wußte, daß Fürst Bismarck eine Ausnahmeerscheinung auf seltenen Höhen, daß er kein Diener wie andere war. Aber gerade weil Fürst Bismarck seine ungeschriebenen Vorrechte nur zu Haß und kleinster Feindschaft anwandte, schlug in Kaiser Wilhelm die Anerkennung des Ungeschriebenen bewußt und betont in den Hinweis auf das Monarchentum um.

»Versöhnen, mein Lieber«, antwortete er dem Grafen Douglas, »kann ich mich mit einem der Bundesfürsten oder irgendeinem anderen Souverän. Aber auf jeden Fall ist der Fürst Bismarck mein Beamter gewesen. Von diesem Standpunkt aus kann ich, wenn er mich gekränkt hat, ihm vielleicht verzeihen. Ich bin sehr gern bereit, dem Fürsten wieder zu vergeben, wenn er den Wunsch hat. Er kann kommen, wann er will. Ich werde immer seinen Rat anhören. Aber mit Versöhnen hat das gar nichts zu tun« – –

Das Wort lief zweifellos in allerlei Fassungen um. Viele schüttelten den Kopf. Wer die Zwischenspiele zwischen Kaiser Wilhelm und dem Fürsten Bismarck kannte, mußte den Kaiser wenigstens dem Gefühl nach begreifen. Aber das der Menge bekannte Zwischenspiel war nur, daß Fürst Bismarck das Deutsche Reich aufgerichtet und Kaiser Wilhelm ihn davongejagt hatte. Die Notwendigkeit eines äußeren Ausgleichs sah der Kaiser schließlich ein. Jede Lage wurde ihm erschwert, wenn der Fürst unaufhörlich von Friedrichsruh her Schüsse abfeuerte. Die Anzeichen verdichteten sich endlich, daß auch Fürst Bismarck einlenken wollte. Kaiser Wilhelms Flügeladjutant Graf Moltke schlug vor, dem Altreichskanzler den ersten Schritt zu erleichtern und eine Gelegenheit wahrzunehmen, die dem Fürsten den Ausgleich möglich machte. Fürst Bismarck war krank. Der Arzt hatte ihm angeblich eine Flasche alten Steinberger Kabinetts verordnet, die in der fürstlichen Kellerei fehlte. Graf Moltke meldete den Zustand des Fürsten, und der Kaiser erinnerte sich, daß dem alten Feldmarschall Blumenthal einmal in ähnlichem Falle eine Flasche Steinberger Kabinett aus den kaiserlichen Kellern das Leben gerettet hatte. Er sandte den Flügeladjutanten mit dem Weine nach Friedrichsruh. Der Fürst antwortete fast wie in alten Tagen. Der Kaiser lud ihn ins Schloß nach Berlin. Dort fragte er nach Kaiser Wilhelms Kindern, der Kaiser nach des Fürsten Wäldern. Der Fürst war dabei sehr angeregt. Es wurde »nur von anodynen Sachen gesprochen«. Die Berliner jubelten Bismarck zu. Die Berliner jubelten noch lauter, als der Kaiser am Nachmittage des Besuchstages allein durch den Tiergarten ritt. Die kaiserliche Staatskarosse brachte den Fürsten zum Bahnhof.

»Il lui a donné«, schrieb der Pariser »Figaro« über den Empfang, »un enterrement de première classe« – –

Der Reichskanzler von Caprivi hatte im Schlosse seine Karte für den Fürsten abgegeben. Er tat dies unauffällig, lautlos und korrekt, wie alles, was er tat. Die Sendung der Flasche Steinberger, von der ihm der Kaiser erst nach dem Wiedereintreffen des Flügeladjutanten erzählte, war ihm ebenso recht, wie Fürst Bismarcks Aufenthalt im Schloß. Wenn der frühere Kanzler in die Politik nicht eingriff, wenn er sich in seinen Angriffen mäßigte, so waren die neuen persönlichen Beziehungen zwischen Kaiser und Altreichskanzler nur zu begrüßen. Der General stimmte auch zu, daß Kaiser Wilhelm bald darauf den Fürsten in Friedrichsruh aufsuchte. Der Kaiser sagte sich dort zu Tisch an. Fürst und Kaiser saßen und rauchten, der Hausherr zeigte große Aufgeräumtheit. Er sprach über innere Politik.

»Euerer Majestät Minister«, meinte er, »müßten etwas mehr Raketensatz bekommen. Sie sind mir nicht energisch genug. Ich bin selbst nämlich eine alte Rakete« – –

Nach des Kaisers Meinung war der Ausgleich, nach der Meinung der Zuschauer war die Versöhnung geschlossen. Tatsächlich änderte sich an Kaiser Wilhelms innerer Haltung nichts. Am schweren Erlebnis mit dem Fürsten Bismarck war nichts mehr gut und nichts mehr schlecht zu machen. Wie der Fürst die verschärfte Sprache gegen die Sozialdemokraten begrüßte, ließ ihn völlig unbewegt. Was die Minister anging, so betrachtete es Kaiser Wilhelm als seine eigene Angelegenheit, sich mit ihnen zu verständigen.

 

Botho Graf Eulenburg und der Finanzminister Miquel griffen Kaiser Wilhelms Gedanken über ein Maßregeln der Sozialdemokraten lebhaft auf. Es war dabei nicht so, daß der preußische Ministerpräsident den Kaiser voll Besorgtheit darauf hinwies, daß ein Ausnahmegesetz sehr rasch zur Notwendigkeit führen müßte, den Reichstag aufzulösen, sogar ihn mehrmals fortzuschicken, bis Diktatur und Staatsstreich dann Sicherheit und Ordnung aufrichteten. Der preußische Ministerpräsident wies auf solche Notwendigkeit mehr hin, um sich des kaiserlichen Einverständnisses zu versichern, wenn er auf sie zusteuerte. Er stand den Konservativen und konservativen Weltforderungen noch näher, als der Finanzminister Miquel, der sich durch seine Steuerreform mit allen ihren Ausstrahlungen, mit seiner gelegentlichen Verurteilung des Wahlrechts, durch allerlei Stellungnahme zu den Problemen der Zeit die Gunst der Konservativen erworben hatte. Im entscheidenden Augenblicke vermochte der Finanzminister auch zu schwenken, wie er dies bei der Schulvorlage des Grafen Zedlitz getan. Damals war er zunächst für das neue Schulgesetz, dann vor dem Kaiser gegen die Vorlage gewesen, so daß sie fiel. In der Frage eines Vorgehens gegen die Sozialdemokraten schien er von seinen freiheitlichen Anwandlungen ganz abgekommen. Er ging wiederum den konservativen Weg, der für ihn auch persönliche Lichtziele haben konnte, wenn er etwa an späteren, eigenen Aufstieg dachte. Der Finanzminister war eines Sinnes mit dem Ministerpräsidenten. Er sprach seinen Willen zum Mute auch dem Kaiser aus. Alles um den Kaiser war voll des Mutes zum Losschlagen, alles war voll des Eifers und des Ansporns.

Endlich rief Wilhelm II. seinen leidenschaftlichen Appell von Ostpreußen her ins Reich. Im Königsberger Schloß sprach er die Vertreter der Provinz Ostpreußen an:

»Nun, meine Herren, an Sie ergeht jetzt mein Ruf. Auf zum Kampfe für Religion und Sitte und Ordnung gegen die Parteien des Umsturzes!«

Obgleich die Könige Albert von Sachsen und Wilhelm von Württemberg, seine beiden Manövergäste in der Nähe von Königsberg, ihn zu jedem kriegerischen Vorgehen erhitzt, obgleich König Albert sein ruhiges Gewissen für eine Diktatur des Bundesrats, für die gewaltsame Schaffung eines neuen Wahlrechts immer wieder betont und den mühelosen Gewinn auch Bayerns für den Staatsstreichgedanken in Aussicht gestellt hatte, war Kaiser Wilhelm diesmal in der Fassung seiner Rede doch vorsichtiger gewesen, als der vielseitige Ansturm auf ihn und die Wirkung davon hätte erwarten lassen. Er sprach die allgemeinen Richtlinien für die Öffentlichkeit aus. Es sollte ein Sammelruf für die Parteien sein. Den Reichskanzler ließ er die Stellungnahme der beiden Könige und ihren Entschluß wissen, mit dem Kaiser eines Sinnes zu handeln. Aber so wenig der Kaiser bestimmte Forderungen in seiner Rede erhob, so wenig er bestimmte Maßnahmen ankündigte, so wenig legte er sich in seiner Mitteilung an den Kanzler fest. Er sprach davon, daß er »vor dem Äußersten nicht zurückschrecken werde«, daß er »ein ganz energisches Vorgehen verlange«, aber er nannte nicht, was im Einzelnen dabei ihm vorschwebte. Den Kanzler wollte er aufrütteln. Endlich sollte irgendetwas geschehen. Er ließ die Frage der Sozialdemokratie nicht mehr zu den Akten legen, wie die beiden Päckchen Pulver, die ein Wirrkopf, Anarchist oder Verbrecher ihm und dem Kanzler mit kindischem Attentatsplan aus Orleans zugeschickt hatte. Vom preußischen Ministerpräsidenten wußte er, daß er an Vorschlägen arbeitete. Auch der Reichskanzler sollte einen bestimmten Plan vorlegen.

Der Reichskanzler erschrak in Wahrheit tief. Ihn traf die Königsberger Rede und Depesche fern von den Ereignissen, fern von den Personen, die offenbar den Kaiser zu beeinflussen suchten, auf seinem Karlsbader Badeurlaub. Zunächst las er aus den kaiserlichen Kundgebungen nur schwere Verwicklung. Vom Staatsstreich als Forderung war nicht die Rede. Aber radikale Wendung war verlangt, schärfster Vormarsch gegen den Umsturz, dessen wirkliche Absicht für den Kanzler nicht so unbedingt gegeben war, wie die Königsberger Manövergespräche, die Kaiserrede und die Kaiserdepesche sie annahmen. Wenn der Kanzler dem erregten Herrscher zuletzt auch nicht mehr widersprochen hatte, daß die Anarchisten mit ihren ausgeführten Attentaten und die Sozialdemokraten mit ihren niedergeschriebenen Angriffen gegen Bürgertum, Kapitalismus und die Kriegsrechte eines bedrohten Staates, endlich mit ihren Aufrufen, das System dieses Staates zu stürzen, auf verschiedene Art doch fast das Gleiche wollten, nämlich andere Staatsordnung und die Bedrohung oder Absetzung der Gewalten des Augenblicks, so sah der Kanzler in der Ruhe und Überlegung seiner Badeeinsamkeit doch noch große Unterscheidungen. Oppositionsparteien gegen die Arbeit der Regierung gab es auch anderwärts. So mächtig sie in England waren, so selbstverständlich fügten sie sich in die Staatsordnung von selbst, schließlich von einer Verantwortung im Widerspruch gebändigt, die von der Regierung gar nicht entbehrt werden konnte. Alle Versuche mußten unternommen werden, auch die neue, so unbequeme Sozialdemokratie zur Tätigkeit in parlamentarischen Grenzen, zur Oppositionspartei in erlaubter Stellung zu erziehen. Noch kannte er den Satz und das Bekenntnis nicht, die der Sozialistenführer Bebel auf die Frage, wie er sich denn eigentlich den Zukunftsstaat denke, zur allgemeinen Überraschung in den Reichstag rief:

»Es gibt keinen Zukunftsstaat« – –

Ob sich nicht auch die Sozialdemokratie ruhig im alten Staate einrichten würde, konnte der Kanzler nicht ermessen. Er wußte nur, daß die Brücken zu solcher Einrichtung nicht abgebrochen werden durften. Millionen waren darum noch nicht Verbrecher, weil eine Anzahl von Desperados aus kopfloser, überhaupt nicht zu Ende gedachter politischer Forderung oder nur aus Haß gegen eine Gesellschaft, der sie nicht angehörten, mit Dynamit herumwarf. Wenn die Fürsten und ihre augenblicklichen Ratgeber in Königsberg das tatsächliche Blutopfer meinten, so wollte der General nicht mitgehen. Gerade der General nicht, den man immer gelehrt hatte, daß nur auf den Kriegsfeind zu schießen sei.

Er erwog in Karlsbad seinen Rücktritt. Er schrieb das Abschiedsgesuch auch nieder, ohne daß es freilich abgeschickt wurde. Sein Adjutant behielt es einen Tag lang zurück, dann beschloß der Kanzler, vor der Absendung doch lieber erst noch die Lage in Berlin zu klären. Sie war ganz klar: Botho Graf Eulenburg setzte sich im preußischen Ministerium für schärfste gesetzgeberische Maßnahmen ein, – selbst ohne den Reichstag, wenn es sein mußte, also auch mit Einsatz von Gewalt in jeder Form. Er dachte an die Wiederaufrichtung des begrabenen Sozialistengesetzes, an seine gründliche Erweiterung, an ein neues, großes Gesetzeswerk, das Kraft und Geltung erhalten sollte, ob das Parlament wollte oder nicht. Dem Kanzler aber schwebte eine Sicherung gegen Übergriffe in der Art vor, wie Frankreich und Italien sich gegen die Anarchisten geschützt hatten. Verbrechen sollten als Verbrechen geahndet werden. Unerlaubte politische Maßlosigkeiten sollten gezügelt werden. Aber auf dem von der Verfassung vorgeschriebenen, parlamentarischen Wege sollte das Sicherungsgesetz beschlossen werden. Wenn der Sozialdemokratie die Möglichkeit und Lust zu Gewalttat und Aufreizung durch die Anwartschaft auf schwere Ahndung benommen war, gewöhnte sie sich vielleicht freiwillig an vernünftigere Arbeit. Zur Gewalt war immer noch Zeit, wenn sie Gewalt versuchte. Doch der Kanzler spürte, daß er mit seinen Auffassungen einsam stand. Der Widerspruch zu der Meinung des preußischen Ministerpräsidenten war nicht zu verkennen. Seine eigene Überzeugung auch dem preußischen Staatsministerium näher zu bringen, diese Möglichkeit hatte der General von Caprivi an dem Tag verscherzt, da er mit dem Falle des Schulgesetzes die preußische Ministerpräsidentenschaft fortgegeben hatte. Jetzt schien der preußische Ministerpräsident, da er offenbar die Zustimmung des Kaisers zu seinen Plänen hatte, mächtiger als der Kanzler. Gegen einen Gesetzesentwurf des Grafen Eulenburg stand ein Konzept, das der Kanzler im Justizamt durch den Geheimrat Nieberding hatte bearbeiten lassen. In zwei Staatsratssitzungen des preußischen Ministeriums fiel keine endgültige Entscheidung. Auf die Seite des Kanzlers schlug sich – merkwürdig genug – ganz unerwartet der Finanzminister Miquel, erst für Schärfe und kriegerische Haltung, dann plötzlich für milderen Angriff auf die Staatsfeinde. Der Kanzler bestand in der zweiten Staatsratssitzung darauf, daß über die Fassung des neuen Gesetzes auch die Minister der Bundesstaaten gehört werden müßten. Wider Erwarten gestand der Ministerpräsident dies zu. Taktisch suchte er die Entscheidung hinauszuziehen. Des endgültigen Sieges war er doch nicht ganz sicher. Er hatte zwischen den beiden Sitzungen mit den Konservativen verhandelt. Die Konservativen berieten mit den Führern der Christlichsozialen Partei. Die Unterstützung des Ministerpräsidenten bei seinen Plänen schien durch die Mehrheit der Konservativen zwar sicher, aber ihre Beratung mit den Christlichsozialen ging in Hader aus. In den Besprechungen der Parteien schien auch die Frage wichtig, wer den Reichskanzler von Caprivi ablösen sollte, bevor man zu den großen politischen Umwälzungen schritt. Noch wichtiger schien diese Frage dem preußischen Ministerpräsidenten, der sich selbst als den natürlichen Nachfolger des Grafen ansah, aber die Enttäuschung hinnehmen mußte, daß man seinen Namen nicht nannte. In all diese Beratungen schlug der Lärm, den die aufgescheuchten Demokraten und Sozialdemokraten machten. Graf Eulenburg begann zu schwanken, wie weit er auf der Schärfe seines Programms bestehen sollte. Er war erstaunt wie alle Welt, daß ganz unerwartet der Reichskanzler von Caprivi seinen Abschied einreichte.

Der Kanzler fühlte sich seines Amtes müde. Er lebte immer noch einsam trotz seiner hohen Würde, die nur im Anfang viele ohne Erfolg angelockt hatte, weil sie den Nutzen aus naher Beziehung erhofft hatten. Als »ein alter Garçon«, wie der Kaiser dem Botschafter Grafen Szögyény sagte, ein zurückgezogener Junggeselle und Sonderling, der kaum in Gesellschaft kam. Er war mit seinen Verstimmungen allein, wenn Wilhelm II. in krisenhaft erhitzten Tagen zu Königsberg eben jenen »Bund der Landwirte« im kaiserlichen Hoflager empfing, der sich, verletzt in seinen Agrarinteressen, aufrührerisch in seinen Worten, wenn man den Stand bedachte, brüsk gegen die ganze Kanzlerpolitik stellte. Er trug seine Empfindlichkeit stumm in sein Junggesellenzimmer heim, wenn der Kaiser ihn offenbar absichtlich bei einer Parade übersah, bei der nur die bewilligten Halbbataillone aufmarschierten und neue Fahnen erhielten, statt der ganzen Bataillone, die der Kanzler nicht hatte durchsetzen können. Von der so eifrigen Wühlarbeit, die der preußische Ministerpräsident bei den Parteien unternahm, von anderer Wühlarbeit, die von der Polizei der Reichshauptstadt ausging, erfuhr er durch nächste Vertraute oder ergebene Adjutanten nur Einzelheiten oder Andeutung. Er spürte diese ganze sonderbare Atmosphäre, in der eine Staatsbehörde wie die Polizei eine beispiellose Kontrolle über höchste Würdenträger übte und Gerüchte über sie und ihren Sturz herumtrug, weil sie, allmächtig noch in der alten Bismarckzeit, ihre Macht am besten zu wahren glaubte, wenn sie die neuen Männer unmöglich machte, damit man die alten Männer zurückrufe. Aber den Andeutungen ging er nicht nach, den Widerwillen schluckte er still herunter. So sehr stieß er überall mit seinen Plänen auf Abwehr, mit Überzeugungen auf Vorteilssucht, daß der Kampf ihn zu zermürben begann. Vollständig vom Innenausbau des Reiches in Anspruch genommen, war ihm seit Jahresfrist auch noch die Linie seiner Außenpolitik entglitten. Was er in England angebahnt, war durch andere wieder verdorben. Von neuem mußte er aufbauen, ohne jede Sicherheit, daß nicht auch das Neue wieder von all den merkwürdigen Kräften im deutschen Volke, oben bei Hofe, draußen in Friedrichsruh, in seinem eigenen Amte, in den Ministerien von Preußen, zwischen den Parteien in der öffentlichen Meinung von allen Richtungen her mit Steinen beworfen und eingeschlagen würde. General von Caprivi war wirklich müde geworden. Jetzt wollte er nicht mehr – –

Der Kanzler bat ernsthaft nunmehr um den Abschied.

 

Aber Kaiser Wilhelm verweigerte ihn. So heiß der Kaiser sich an den Gedanken einer Kriegserklärung gegen die Sozialdemokratie entflammt hatte, der Widerstand des Kanzlers gegen seine Pläne machte ihn doch nachdenklich. Er fuhr selbst bei dem Grafen von Caprivi vor. Der Kanzler stimmte ihn völlig um mit seiner Überzeugung vom Zwang zur Mäßigung in einem Zeitalter, das gegen Ideen nicht mit Schießwaffen fechten, sondern sie lieber mit Vernunft bändigen und sie allmählich einfrieden sollte. Kaiser Wilhelm sagte sich von den Absichten des preußischen Ministerpräsidenten los. So sehr bekräftigte er dem Kanzler sein neues Vertrauen, daß er ihn aufforderte, dem Grafen Botho Eulenburg das von ihm abgelehnte Abschiedsgesuch zur Einsicht mit der Erklärung zu senden, daß für den Kaiser weder »die unüberbrückbare Kluft« zwischen Kanzler und Minister, noch die anderen in dem Abschiedsgesuch verzeichneten Dinge einen Grund bedeuteten, um sich von dem Kanzlergeneral zu trennen.

Selten überstürzten sich in einem geschichtlichen Ablauf die Ereignisse so schnell, wie von diesem Augenblicke an die Endpunkte der Kanzlerlaufbahn des Generals von Caprivi. Der Preußische Ministerpräsident las das abgelehnte Abschiedsgesuch. Von Kaiser Wilhelm am nächsten Tage zur Jagd auf Graf Philipp Eulenburgs Landschloß Liebenberg geladen, erbat er selbst den Abschied. Anhang. Noch wollte der Kaiser auch ihn halten: vielleicht brachte er doch noch einen Zusammenschluß der beiden Gegner zustande, die sich dann in der Frage des Vorgehens gegen die Sozialdemokratie auf einer mittleren Linie treffen konnten. Dem Ministerpräsidenten rang er das halbe Zugeständnis ab, daß er das Bleiben im Amte doch noch versuchen wolle, wenn der Kanzler trotz der »unüberbrückbaren Kluft« nur erkläre, daß er mit Graf Botho Eulenburg weiterarbeiten wolle. Aber ein Zwischenfall machte am Tage nach Kaiser Wilhelms Verständigungsversuchen der ganzen Krise ein jähes Ende: die Unterredung zwischen Kaiser und Graf Caprivi im Reichskanzlerhaus, die Stellungnahme des Kaisers gegen den Ministerpräsidenten, die Hauptzüge der vertraulichen Unterhaltung zwischen dem Herrscher und dem General wurden mit vielen Einzelheiten in der »Kölnischen Zeitung« veröffentlicht. Nichts hatte bisher Kaiser Wilhelm so schwer an General Caprivi verstimmt. Nicht seine Schroffheit, seine fast düstere Abwehr aller Gespräche, wenn er sich mit eigenen Gedanken beschäftigte, seine betonte Unhöflichkeit, die er bisweilen selbst die Kaiserin merken ließ. Nicht seine Hartnäckigkeit, mit der er nur Schritt für Schritt, aber gar nicht mit dem Eifer, den der Kaiser wünschte, für militärische Mehrforderungen über die große erledigte Reform hinaus sich im Reichstag einsetzte. Aber in dem unerwarteten Zwischenfall mit der Veröffentlichung sah der Kaiser schweren Vertrauensbruch. Wenn selbst der Kanzler sich hinsetzte und aller Welt sofort erzählte, was er eben erst im Geheimen mit dem Kaiser besprochen, wenn er ihm damit die Entscheidung über das Verbleiben des preußischen Ministerpräsidenten oder irgendeines Anderen im Amte aus der Hand riß, also das ausschließliche Entscheidungsrecht des Kaisers, dann war keinerlei Zusammenarbeit mit dem Kanzler möglich.

Er sandte seinen Kabinettschef von Lucanus zu Graf Caprivi mit der Anfrage, ob die Veröffentlichung in der »Kölnischen Zeitung« vom Kanzler angeregt oder geschrieben sei. Der Kanzler verneinte. Dem Artikel stünde er völlig fern. Im Auftrage des Kaisers verlangte der Kabinettschef, daß der Kanzler die für den Kaiser peinliche Lage dadurch aus der Welt schaffe, daß er gleichwohl die in dem Artikel »gegen Eulenburg gerichteten Pointen abschwäche«. General von Caprivi hatte in der Tat von dem Erscheinen des Aufsatzes nichts gewußt. Von seiner versteckten Schreibstube her hatte der Geheimrat von Holstein, nicht allein beschäftigt mit auswärtiger Politik, durch eigenen Einsatz die Verhältnisse klären wollen, die für ihn längst anfingen, bedrohlich auszusehen. All sein Einreden auf den Grafen Philipp Eulenburg, damit sein Einfluß den Reichskanzler von Caprivi halte, schien diesmal ungewiß. Wilhelms II. Freund hatte den Eindruck, daß der Kaiser leichter von dem Kanzler als von dem Ministerpräsidenten sich lossage. Drei Grafen Eulenburg standen in Liebenberg um den Kaiser. Der Geheimrat von Holstein hatte nicht abwarten wollen, ob die drei Grafen stärker waren oder die ruhige Sachlichkeit, die der Kaiser in den ganzen schwebenden Fragen zum Schlusse beim Reichskanzler doch bewiesen hatte. Botho Graf Eulenburg: das war Geist von Fürst Bismarcks Geist. Schon sah der Geheimrat entweder den Grafen oder gar den Fürsten Bismarck im Kanzlerstuhl. Jetzt holte er zum tödlichen Schlage aus: öffentlich wollte er den preußischen Ministerpräsidenten erledigen, so gründlich, daß er sich nicht mehr erheben konnte. Dann hatte der Kanzler den Sieg und er selbst die Ruhe der Weiterarbeit. Baron Holstein schlug zu, nur übersah er, daß er mit dem Ministerpräsidenten zugleich den Kanzler treffen mußte. Da er dem ihm nahestehenden Vertreter der »Kölnischen Zeitung« die notwendigen Mitteilungen oder den Artikel selbst gab, war der Ministerpräsident in seiner Politik, der Kanzler in seinem Vertrauensbruch festgenagelt. Der Kanzler hatte dem Kaiser die Wahrheit gesagt. Er stand dem Artikel fern. Aber die Berichtigung verweigerte er. Die Tatsachen, auch die innere Auffassung waren in der Veröffentlichung richtig wiedergegeben. Auch sollte die Entscheidung unwiderruflich fallen: zwischen den Personen und den Problemen. Entweder ging jetzt er oder Graf Botho Eulenburg. Der Kaiser entschied, erstaunt über die schnelle Wendung, die sein Wille zur Verständigung genommen, verstimmt über die Machtlosigkeit und Unsicherheit, mit der er zwischen seinen nächsten, in aller Öffentlichkeit Krieg führenden Ratgebern stand, daß er sich sowohl von dem Reichskanzler von Caprivi wie auch von dem preußischen Ministerpräsidenten trennen wolle.

 

Vier Jahre fast seit Fürst Bismarcks Rücktritt waren um. Der Reichskanzler von Caprivi trat von der öffentlichen Bühne ab: still und unauffällig, wie alles, was er tat. Fürst Bismarcks Anhang triumphierte. Trauer empfand über den Kanzlersturz niemand. Aber wer gerecht dachte, mußte vor dem scheidenden General doch zugeben, daß seine Kanzlerschaft erfüllt war von besonderen und sogar überlegen geführten Dingen. Auch wenn er abzuirren schien in Einzelheiten. Er hatte in allen Verwicklungen, bei allen Problemen immer nur die Sache, nie die Parteigunst zum Siege geführt. Er hatte die Handelsverträge durchgesetzt. Er hatte neue Wege nach England gesucht und gefunden. Sie waren vielleicht wieder freizulegen, wenn er Kanzler blieb: trotz der frischen Verschüttung durch den Staatssekretär von Marschall und den Geheimrat von Holstein. Durch den Handelsvertrag mit Rußland war sogar »der abgerissene Draht« wieder angeknüpft. Dem Grafen Zedlitz und seinem Schulgesetz hatte er nachgegeben, obgleich der Sinn der Vorlage seinem Gefühl widerstreben mußte: er hatte die staatserhaltenden Kräfte des deutschen Zentrums, ihre kommende Entwicklung, ihre Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit für die deutsche Zukunft mit großer, ruhiger Klarheit erkannt und sich für ihre Anwerbung und Sicherung trotz allen Gegensatzes zu Fürst Bismarck entschieden, den einst blitzartig, nur zu spät, ähnliche Erkenntnis im Gepolter seines Sturzes befallen hatte. Selbst in der Sozialdemokratie hatte er die große, breite Quader gesehen, auf die der gleiche Staat sich einmal stützen würde, der jetzt nach Waffen gegen die Verfemten rief. Der Kanzler hatte die Umrisse erkannt, in denen das Bild des Reiches sich zwischen den Mächten allmählich abzeichnen sollte, zugleich die Kräfte, die es im Innern nähren mußten. Über den Verstimmungen von Konservativen oder Freisinnigen, von Landwirten oder Radikalsozialisten standen ihm die unabweisbaren Notwendigkeiten des Reiches. Ihnen steuerte er mit einer Überlegenheit und Weitsicht zu, die allen fehlte, denen er ein belangloser General war. In seinem langen Schreiben über Fürst Bismarcks Entlassung hatte Kaiser Wilhelm ihn »den größten Deutschen« genannt. Das Wort fiel zweifellos im Überschwang der kaiserlichen Erregung. Doch ergibt der Überblick über die Zeit, daß tatsächlich General Graf Caprivi die bedeutendste Persönlichkeit in ihr darstellte. Kein Kanzler des Kaiserreichs versuchte ähnlichen Aufbau. Als er im schlichten Rock von seinem Amte ging, vergaß die Mitwelt ihn im nächsten Augenblick. Sie hatte den mittelmäßigen Soldaten, der er gar nicht war, völlig mit jener Anmaßung unterschätzt, die immer das Vorrecht der Lebenden scheint.

Nur die Laune der Geschichte wollte, daß er ein wirklicher Staatsmann war.


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