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Das Werben um England

Lord Salisbury und die englischen Staatsmänner, deren Führer er in »Ihrer Majestät Regierung« war, sahen naturgemäß in Fürst Bismarcks Abschied eine bedeutsame Wendung, deren Einfluß auch auf die Beziehungen Englands zu Deutschland groß sein konnte. Fürst Bismarcks Staatskunst hatte in England nur Verbitterung oder doch wenigstens schwere Verstimmung und Besorgnisse geschaffen. Ohne Zweifel hatte England, als der Fürst sich auf Deutschlands erste Kolonialversuche einließ, als er darüber irgend eine Aussprache mit dem mächtigsten Kolonialreich und der ersten Seemacht der Welt anregte und erwartete, einen schweren Fehler begangen. Ob es für Deutschland klug oder an der Zeit war, schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Kolonialfragen und damit Möglichkeiten der Reibung mit England überhaupt zu schaffen, war eine andere Sache. Da Fürst Bismarck aber den neuen Weg einmal beschritten, da er dies nicht tun wollte, ohne sich mit der alles beherrschenden Vormacht darüber zu besprechen, so hätte England die Besprechung gewähren müssen. Aber England war zwei Jahre lang stumm geblieben. Zum Schlusse hatte Fürst Bismarck in den Landstrichen, die er für Deutschland sichern wollte, Truppen landen lassen. Vielleicht hätten diese Empfindlichkeiten aus Deutschlands Kolonialanfängen sich bald völlig verwischt. Um so mehr, als Fürst Bismarck die deutschen Wünsche doch in die Tat umgesetzt, die Engländer zugestimmt hatten und die englischen Staatsmänner den Fehler selbst spürten, den ihre Haltung bedeutete.

Aber jetzt war es Fürst Bismarck selbst gewesen, der England – ob es auch Annäherung suchte und sogar zu der gleichen Zeit, da gerade er eine Art bündnisähnlichen Zustandes mit ihm erstrebte – auf Schritt und Tritt verletzte. Frankreich wollte der Fürst mit seiner Aufmerksamkeit vom Rheine ablenken. Er unterstützte die Pläne der französischen Kolonialpartei, wo er konnte: ausschließlich gegen englische Interessen. Graf Herbert Bismarck erteilte eines Tages in Stockholm dem französischen Botschaftsrate Barrère über die Art, wie man gegen England arbeiten müsse, die freundschaftlichsten Ratschläge, wobei er vergaß, daß diese Gespräche den Weg ebenso selbstverständlich wie nach Paris, so auch nach London fanden. Als Fürst Bismarck das System seiner Bündnisse hatte krönen wollen, als er bald nach der Abweisung von Lord Salisburys Annäherungsversuchen, deren Aufnahme ihm der Geheimvertrag mit Rußland nicht gestattete, den Engländern ein Verteidigungsbündnis gegen Frankreich antrug, schlug in Lord Salisbury das Gefühl von Fürst Bismarcks Feindseligkeit gegen England in den unangenehmen Eindruck um, daß der deutsche Kanzler sich zu allen Verstimmungen über ihn auch noch lustig mache. Zweifellos war es möglich, daß Frankreich eines Tages Deutschland angriff, um sich die ihm 1870 abgenommenen Provinzen wiederzuholen. Daß die Franzosen aber je auf den Einfall kommen sollten, Truppen auf einer Insel zu landen, die von der stärksten Flotte der Welt behütet war, glaubte im Ernste weder der Lord, noch der Fürst. Der Kanzler hatte Wertloses für hohen Entgelt geboten.

»Bismarck bietet uns zehn Prozent«, erklärte Lord Salisbury, als das Angebot beraten wurde, »und verlangt von uns hundert Prozente« – –

Der britische Premierminister war an sich mißtrauisch veranlagt. Der Vorschlag des Fürsten hätte viel weniger durchsichtig sein müssen, um ihn dennoch zu schärfster Vorsicht zu veranlassen. Zu all diesen Dingen kam die peinliche Erinnerung an Fürst Bismarcks Haltung gegenüber dem Prinzen Battenberg, also eigentlich gegen Königin Victoria und ihren ganzen Hof. Daß Deutschland den Russen irgendwie verbündet war, stand für Lord Salisbury fest. Fürst Bismarck hatte den englischen Fehler gegenüber Deutschlands Überseewünschen auf alle Fälle überreich vergolten.

Lord Salisbury atmete auf, als die Nachricht vom Sturze des Kanzlers kam. Für England und Deutschland brach vielleicht nunmehr eine bessere Zeit an. Wenigstens sah man sogleich dafür eine Reihe von Anzeichen.

 

Kaiser Wilhelm behandelte den Prinzen von Wales, der sich gerade in den Tagen von Fürst Bismarcks Rücktritt in Berlin als Gast aufhielt, mit ganz ungewöhnlicher Auszeichnung. Königin Victorias Sohn, der britische Thronerbe, stellte selbst mit Befriedigung fest, daß die Haltung seines Neffen über die ihm erwiesenen Auszeichnungen hinaus diesmal beinahe von Herzlichkeit bestimmt war. Obgleich schroffere Gegensätze, als zwischen Kaiser und Prinz, weder nach dem Innern, noch äußerlich kaum zu denken waren – –

Alle Romantik lag Königin Victorias nüchternem Erben fern. Heiß brannte in ihm der Ehrgeiz nach Taten, von denen er nur wenige oder eigentlich keine bisher hatte ausführen können. Prinz Eduard war um zwanzig Jahre älter als Kaiser Wilhelm. Er war das Vorbild des gepflegten Lebemanns der achtziger Jahre, mit bewußter Abstimmung gekleidet vom breiten Mantel, von der selbstkomponierten Weste, vom Schlips und dem matten Halbzylinderhut bis hinab zu dem Schnitt, zu den Streifen oder den Karreaus des Beinkleides und den Schuhen, die alle den Herren Englands zu befehlen, er sich allmählich gewöhnt hatte. Kaiser Wilhelm zog die Adlerhelme seiner Kürassiere vor. Prinz Eduards Gesicht war wie aus einem Bilde der Königin Victoria geschnitten, die mandelförmigen Augen schienen den Blick ein wenig schläfrig ins Weite zu tragen, sie hatten dabei im Gegensatz zu seiner Mutter ein ruhiges, in Selbstverständlichkeit abwartendes Genießertum, das der runde Bart der Zeit noch mild betonte. Alles schon in seinem Äußeren schien mit Abneigung der Welt von Formen und Gedanken abgekehrt, in der sein Neffe lebte. Prinz Eduard beherrschte in glänzender Aussprache das Deutsche, das ihn von Kindheit an umgeben hatte. Er sprach sein Englisch, an dessen schwierigem R er wie ein Ausländer vorbeikam, nie mit der Vollendung seines Neffen, der Prinz Eduards Muttersprache schon mit der Ammenmilch eingesogen. Den Prinzen hatten alle Stürme des Lebens angeweht: er hatte sich viel, indes Prinz Wilhelms kleinste Reisen von der bescheidenen Gönnerhaftigkeit und Soldatenstrenge des Großvaters abhingen, in aller Welt herumgetrieben. Prinz Wilhelm blieb zuhause. Prinz Eduard lieh sich das Geld zu seinen Reisen, wenn die Apanage nicht reichte. Das Erlebnis der Frauen fehlte in Prinz Wilhelms Leben. Die Erlebnisse mit Frauen füllten Tagebuchbände von Victorias Sohn. Oft hatte die Langeweile eines Themas oder Professor Hinzpeters Erziehungsmethoden seinen Zögling dazu gebracht, das Thema aufzugeben. Der Prinz von Wales lernte alles zu Ende: die Liebe, das Genießen, das Leben und die Politik. Das Schicksal hatte den Neffen früh auf den Thron gebracht. Der Onkel näherte sich der Lebensmitte und blieb von jedem Geschehnis ausgeschaltet, das einem Thronerben nahe gehen mochte. Der Neffe befahl und herrschte bereits. Dem Onkel schrieb, wenn er nur seine Ansichten über einen in der Öffentlichkeit wirkenden Lord kundtat, herrisch und kurz die Mutter:

»Laß das jetzt fallen« – –

Die Königin hielt ihn knapp. Im Einfluß auf die Staatsgeschäfte und mit dem Gelde. Aber dem reifen Mann konnte sie wenigstens die persönlichen Wege nicht wehren. Prinz Wilhelm hatte ein einziges Mal einige Tage in Paris verbracht. Vom Balkon des »Hotel Mirabeau« hatte er in der Rue de la Paix zu den Geheimnissen des Ateliers Worth hinübergestaunt, das ihm gegenüber lag. Prinz Eduard pflegte nicht auf so große Entfernung zu staunen. Er kannte alle Toilettengeheimnisse von Paris. Er kannte auch seine schönsten Kokotten. Er hatte eine bestrickende Art, mit ihnen allen zu verkehren: sie alle umschwärmten, verwöhnten, vergötterten ihn. Wenn er in England über die vornehmsten und abgeschlossensten Klubs, über die Schlösser, Jagden und Yachten nicht hinauskam, so speiste er in Paris im nächstbesten Restaurant. Er ging in jedes Kaffee. Die Nächte spielte er mit Leuten, die die Karten verstanden, die Geld hatten und gegen die nichts weiter einzuwenden war.

»Die Leute glauben immer«, entschuldigte ihn einer seiner Freunde, »der Prinz of Wales ist das, als was man ihn bezeichnet, so etwas wie ein eleganter Lump« – –

Aber für Prinz Eduard war auch dies Leben ein wahrhaftes Studium. Er hörte, was die Menschen an den Nebentischen in den Kaffees, was sie in der Spielhitze mit ihm sprachen. Er schrieb alles auf. Die Gespräche mit seinen Kokotten notierte er mit der gleichen Genauigkeit, mit der er daheim seine politischen Verstimmungen aufzeichnete. Was er von seinen vielen Freunden, was er von den Diplomaten nicht erfuhr, vertrauten ihm die Freundinnen an. Das meiste wußte er viel früher, viel genauer, als der britische Botschafter. Manches erfuhr er, was der Botschafter überhaupt nie hörte.

Niemals hatte der Thronerbe Geld. Er lernte es schätzen, wenn er zwei Tage lang in ganz Paris herumfuhr, um sich tausend Francs zu leihen. Er liebte die Rennen edler Pferde, die heiteren Abende mit leichter Musik, schöne Amerikanerinnen und kluge Juden. Immer war er für jeden möglichen Kompromiß, den ihm der von der Königin-Mutter ererbte, gute Hausverstand empfahl. Angriff oder Bruch waren kaum in seiner Art. Viele nannten ihn geschäftstüchtig, obgleich er den Nachweis für solche Begabung vor allem den klugen Juden überließ, die mit Kunst eine gewisse Ordnung in der ungeheuren Schuldenlast aufrecht hielten, die der Prinz schon in den ersten Jahren der Thronanwärterschaft angetürmt hatte.

Nach Deutschland kam er oft. Alljährlich nach Bad Homburg. Dort lebte er wie überall: ein stiller, vornehmer Grandseigneur, unauffällig in seiner Haltung, kaum mehr als ein Badegast gleich den anderen. Seine Mahlzeiten nahm er im Hotel, bei gepflegten kleinen Diners und Frühstücken, zu denen er sich meist ein Dutzend Herren einlud, durchreisende Fremde von Ansehen, Leute aus Südafrika, Großindustrielle und Brauer, die die Ehre der Einladung mit 1000 Guinees zu bezahlen hatten. Die Frühstücke hatten auch die nicht exotischen Gäste selbst zu begleichen: der Maître d'Hôtel stand, wenn die Herren aufbrachen, mit der Rechnung an der Tür. Niemand nahm Anstoß: die Angelegenheit blieb taktvoll, wie merkwürdig sie auch war.

In allen Dingen war Prinz Eduard ein Lebenskünstler. In keiner Form hatte Kaiser Wilhelm je von solchen Künsten des Lebens gehört. So groß war ihr Gegensatz in jeder Art, daß sie einander abstießen, wenn sie nur nebeneinander standen. Dem Prinzen war der Kaiser zu sittlich. Dem Kaiser war der Prinz zu unsittlich. Nie fiel ein böses, gar feindliches Wort zwischen beiden. Über Staatsdinge hatten sie keine Silbe bisher miteinander gesprochen. Sie überhäuften sich mit Freundlichkeiten, wo immer sie sich trafen. Aber überall spürten sie, daß sie einander nur schwer ertragen konnten. Wenn sie sich getrennt hatten, strömten beider Lippen von harten Urteilen über. Die Umgebung des Kaisers berichtete, was Prinz Eduard seiner eigenen Umgebung erklärt hatte. Auf dem gleichen Wege kamen Worte des Kaisers zu dem Prinzen. Ohne daß Kaiser und Prinz sich jemals gegeneinander stellten, waren sie zwei feindliche Lager, zum wenigsten zwei andere Welten.

Zu allem Überfluß hatte es am Ende der achtziger Jahre einen besonderen Zwischenfall gegeben, der Onkel und Neffe noch mehr entfremden mußte. Kaiser Wilhelm waren angeblich wiederholte Äußerungen des Prinzen berichtet worden: daß Kaiser Friedrich, wenn er statt seines Sohnes auf dem Thron säße, den Franzosen Elsaß-Lothringen zurückzugeben und den Dänen in Schleswig Zugeständnisse zu machen bereit gewesen wäre. Freundliche Briefe des Onkels beantwortete der Neffe daraufhin nicht. Als Kaiser Wilhelm nach Wien reiste, um Kaiser Franz Joseph zu besuchen, verständigte dort der deutsche Botschafter Prinz Reuß sowohl den Außenminister Grafen Kálnoky wie den Botschafter Englands, daß der Kaiser den Prinzen, der gleichfalls nach Wien gereist war, nicht sehen wollte. Ähnliches hatte es bisher in den Beziehungen zwischen Höfen und ihren Vertretern nicht gegeben. Lord Salisbury schrieb über den Zwischenfall ein Memorandum für die Königin und die Minister nieder. Zum ersten Male stellte sich der Prinz entschlossen gegen den Kaiser. An seinen Schwager Christian von Schleswig-Holstein teilte er mit, daß er Aufklärung verlange. Daß er den Kaiser, wenn die Aufklärung unterbleibe, nicht aufsuchen und nicht kennen werde, falls er nach England zu kommen gedächte. Allerlei stellte sich nunmehr heraus: daß der Prinz in bezug auf Kaiser Friedrich während einer Unterhaltung den Staatssekretär Grafen Herbert Bismarck ganz etwas anderes gefragt hatte, – nämlich: ob ein solches Gerücht über die angeblichen Absichten des verstorbenen Kaisers in Deutschland wirklich bestehe. Nach der Angabe des englischen Thronfolgers war die Frage anders weitergegeben worden. Kaiser Wilhelm erklärte seinen Wunsch, dem Prinzen in Wien nicht begegnen zu wollen, für eine vollständige Erfindung. Tatsächlich hatte Prinz Reuß die peinliche Eröffnung dem britischen Botschafter aus eigenem Antrieb im Anschluß an einen Erlaß des Grafen Berchem gemacht, der den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen auf Prinz Eduards angebliche Neigung zum Weitertragen vertraulicher Gespräche und seine gefährliche Neugier für militärische Dinge aufmerksam machen sollte. Wenigstens hätte Kaiser Wilhelm – wie das Schriftstück des Grafen Berchem ausführte – reichlich Anlaß zum Ärger über allerlei Gepflogenheiten seines Oheims. Selbst dem Kaiser Franz Joseph versicherte der deutsche Botschafter, »daß die Gegenwart des Prinzen von Wales störend auf die Stimmung Kaiser Wilhelms einwirken würde«. Ungewiß ist, ob Prinz Reuß lediglich aus Graf Berchems Erlaß die Aufforderung zu seinem Schritte herauslas, also völlig aus eigenem Antriebe handelte oder ob ihn die Kenntnis davon bestimmte, daß Fürst Bismarck selbst den Erlaß des Grafen Berchem veranlaßt hatte. Gewiß ist, daß er in grober Ungeschicklichkeit eine unzweifelhafte Beleidigung des britischen Thronerben in aller Form dem britischen Botschafter übermittelte, ohne die wahrscheinlichen, sogar unvermeidlichen Folgen zu bedenken – –

Die kaiserliche Erklärung schnitt sie ab, da Prinz Eduard sich mit ihr begnügte. Vertieft wurde die Zuneigung des Onkels durch den Zwischenfall nicht, freundlichere Stimmung erfüllte ihn erst, als sich in Berlin unmittelbar in den Tagen von Fürst Bismarcks Rücktritt Kaiser Wilhelm alle Mühe gab, durch die ganze Aufnahme des Prinzen die Erinnerung und Verstimmung völlig zu verwischen. Er feierte den Onkel, wo und wie er konnte. Den Verwandten mochte er auch jetzt nicht leiden.

Aber darauf kam es im Augenblick gar nicht an.

 

Kaiser Wilhelm erhob mit tönenden Worten sein Glas auf die Königin Victoria. Ihren Thronerben ließ er leben. Der Kaiser trank auf die alte Waffenbrüderschaft, die England mit Preußen verband. Die Tage von Waterloo standen in seinen Worten wieder auf, die in England eine so selbstverständliche Überlieferung waren, wie in seinem eigenen Land und Haus. Kaiser Wilhelm beschloß, die ein wenig verrostete Freundschaft mit England fortan zu pflegen, wo er es vermochte. Englische Seeoffiziere sollten nach Deutschland kommen. Voll Bewunderung sprach er von Englands stolzer Flotte. Deutsche Seeoffiziere hatten einst auf ihren Schiffen die ersten Studien getrieben. Alles Englische lebte in ihm auf. Auch trug er den blauen Frack des Admirals. Mit dem Zaren gedachte er gewiß Ruhe zu halten. Aber der Dreibund sollte stärker werden. Auch wenn der Zar unruhig wurde. Auch wenn er zu dem General von Werder in Petersburg mit der Zeit allerlei Dinge über die neue deutsche Politik sprach, die ihm gar nicht zukamen. Gerade die Abhängigkeit von Rußland hörte auf, wenn die Freundschaft mit England unverbrüchlich wurde – –

Der Reichskanzler von Caprivi sah die gleichen Zukunftslinien. Er sah sie nur nüchterner: vor allem als Militär, der überdies die Kenntnis der Meere erworben hatte. Rußland war für ihn die einzige wirkliche Gefahr, die dem Reiche drohte. Kriegerische Auseinandersetzungen, in die Deutschland verwickelt würde, bedeuteten ihm den Zweifrontenkrieg im leichtesten Falle. Die Armee mußte so stark wie möglich gemacht werden. So merkwürdig dies für Preußen war: sie war seit langer Zeit vernachlässigt worden. Viele Schäden hatten sich eingenistet.

Der Kanzler wollte sie tilgen, sobald es anging. Mit den Heeren der Bundesgenossen fühlte er sich dann auch dem Zweifrontenkriege gewachsen. Aber der Kanzler sah noch weiter: die Rolle der Blockade im Kriege der Zukunft. Der Zusammenstoß der beiden Mächtegruppen in Europa konnte ohne Sieg und Niederlage ausgehen. Kam aber für Deutschland zu den Gegnern die Blockade, dann gab es nur Niederlage. Von England hing die Zukunft Deutschlands ab. Von England allein. Sein Hauptmotiv für Deutschlands Haltung in der auswärtigen Politik war die Verständigung mit England.

Keine Kolonie war dem Reichskanzler von Caprivi ein Zerwürfnis mit England wert. Es fügte sich in die Richtung neu gewonnener Erkenntnisse und angestrebter Ziele, daß in dem ersten Abkommen, das der Kanzler mit England traf, der deutsche Gewinn geringer schien als Englands Anteil. Der Kanzler gab für den Besitz der Insel Helgoland, für die Küstenplätze Deutschostafrikas und für einen Landzipfel in Südwestafrika weite Gebiete an England: Witu und Uganda und Sansibar. Sogleich setzte scharfe Kritik am Kanzler ein: »Eine Badewanne für die zwei Königreiche Witu und Uganda!« Herbes Urteil kam auch aus Fürst Bismarcks Mund aus Friedrichsruh. Sansibar sah der Altreichskanzler als achtlos verschleudertes Kleinod an, unbezahlbar als Umschlagshafen für den Handel mit Afrika. Zweifellos hatte der Altreichskanzler dabei die Karte nur flüchtig oder gar nicht studiert: natürlich war es vorteilhafter, kommende und abgehende Waren unmittelbar in den Küstenhäfen nach dem Innern und aus dem Innern des Kontinents zu verladen, statt sie erst – wie der Fürst meinte – von den Schiffen auf die Insel zu bringen, um sie dann abermals nach ihrem Bestimmungsorte umzuschaffen.

Der Kanzler hielt den Angriffen ruhig stand:

»Der Gedanke, um eines kolonialen Zwistes willen in letzter Instanz zu einem Zerwürfnis mit England gedrängt werden zu können, durfte keinen Raum gewinnen. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß unser kolonialer Besitz materiell bei weitem nicht wertvoll genug ist, um etwa gar die Nachteile eines den beiderseitigen Wohlstand aufs tiefste erschütternden Krieges aufzuwägen. Aber nicht bloß der Krieg mit den Waffen in der Hand mußte vermieden werden, auch die Verfeindung der Nationen, die Verbitterung der Stimmung in weiten Interessentenkreisen, die diplomatische Fehde durfte in unserem kolonialen Besitz keinen Boden finden. Wir wünschen dringend, die alten guten Beziehungen zu England auch auf die Zukunft zu übertragen.«

Der Kaiser, wie Caprivi sahen den Besitz von Helgoland anders, als die Gegner des Abkommens: die Insel war, wenn man sie ausbaute, der einzige sichere Schutz der Hansastädte in jedem Seekriege der Zukunft. Vielleicht war sich nur der Prinz von Wales über die in die Ferne zielende Wirkung des Austausches klar. Königin Victoria hatte nach dem Abschluß des Vertrages den deutschen Botschafter Grafen Hatzfeldt zu sich kommen lassen. Prinz Eduard rief den Botschafter an, als er ihm im Fortgehen von der Königin begegnete:

»Ich gratuliere Ihnen. Sie haben Ihren Auftrag sehr geschickt ausgeführt. Aber eins will ich Ihnen sagen: wenn ich darüber orientiert gewesen wäre, hätte ich das Abkommen verhindert!«

Noch wichtiger, als der Besitz der Insel, war im Augenblick die atmosphärische Ausstrahlung, die sichtlich die Beziehungen der beiden Reiche mit Freundlichkeit überhellte. Die alten Verstimmungen schienen begraben. Königin Victoria hatte der Überlassung Helgolands, die sie dem Fürsten Bismarck verweigerte, nunmehr um Kaiser Wilhelms willen zugestimmt, da er sich England stark zu nähern schien und die Erwerbung Helgolands als die Erfüllung eines Lieblingswunsches ihr bezeichnet hatte. Die kluge, vielerfahrene Königin stand dem Enkel mit besonderen Gefühlen gegenüber. Sie verkannte die Schwächen des Kaisers nicht. Gelegentlich fand sie auch ungeschminkte Worte über ihn: wenn die kaiserlichen Reden einander jagten, wenn er die Hoftrauer um den Vater beiseite ließ, zu Banketten ging oder mit viel Lärm seine Garnisonen alarmierte. Oder wenn er gar den britischen Thronerben zu beleidigen schien. Dennoch war sie in bestimmter Art – niemand konnte es anders ausdrücken – stolz auf ihn. Seine Jugend, sein Anstürmen gegen alle Hindernisse bestrickte sie. Wenn er ebenso kraftvoll und sicher die Freundschaft Englands erstürmte, um so besser. Verstimmung und Verbitterndes kam aus Deutschland nur von der Kaiserin Friedrich. Sie ließ kein gutes Haar an ihrem Sohn. Sie wußte mit jedem Briefe Neues. Die alte Königin antwortete mit keiner Silbe, was den Enkel anging. Sie hatte ihm Helgoland gern gegeben. Auch war ihre Freude groß und aufrichtig, daß er schon wenige Wochen darauf zu ihr nach England kam.

 

Immer freundlicher wurde der Horizont über Deutschland und England. Fast machte es den Eindruck, als wären die Sorgen um Deutschlands befriedete Stellung größer bei den englischen Staatsmännern als in Deutschland. Der Dreibund sollte erneuert werden. Der italienische Ministerpräsident Rudini schwankte. Es zog ihn mehr zu Frankreich. England stimmte ihn um: Italien erneuerte den Dreibund. Auch Rumänien war nicht ganz sicher. England erbot sich, auch Rumänien bei dem Dreibunde zu halten. Keineswegs tat all dies England, weil Königin Victoria stolz auf ihren Enkel war oder weil Lord Salisbury die Deutschen plötzlich als bezaubernde Menschen empfand.

Das Abkommen über Helgoland, bei dem es für seinen Teil gewiß nicht schlecht davongekommen war, bedeutete Englands geringste Sorge. Aber Sorgen schuf Rußland. Sorgen bereitete Frankreich. Konstantinopel und die Dardanellen, Syrien und Ägypten waren Wolken an Englands Himmel. Die russische Sehnsucht seit dem Testamente Peters des Großen, die Sehnsucht nach Konstantinopel, schlief in Petersburg nie. Die Franzosen arbeiteten daran, die Banque Ottomane in die Hände zu bekommen. Sie taten ferner in Konstantinopel alles, um die jungen Paschas in französische Lebensrichtung zu bringen, um bei den jungen Paschas den letzten Einfluß Englands zu töten, das die alten Paschas noch geliebt hatten. Die Franzosen verbargen nicht, daß ihnen die Gründlichkeit mißfiel, mit der die Engländer in Ägypten die Interessen der Mächte nach Ismail Paschas Mißwirtschaft schützten, um derenwillen sie dort einmarschiert waren. Die Franzosen hetzten in Konstantinopel.

Auch bereitete Admiral Gervais sich vor, mit der französischen Flotte den Zaren in Kronstadt zu besuchen. Die Geheimgeschichte der Abschwenkung Deutschlands von den Russen kannten die Engländer nicht. Aber daß die Beziehungen sich geändert hatten, sah jeder. Was zwischen den Franzosen und Rußland vorging, war im Augenblick gleichfalls nicht zu enträtseln. Aber daß mancherlei geschah oder schon geschehen sein mußte, war auch den Engländern klar. Niemand wußte, wie lange es dauern konnte, daß eines Tages der Blitz aus den Wolken fuhr. Die junge Freundschaft mit Deutschland begann wichtig zu werden. Caprivi war nicht Bismarck. Er schien ein Mann, der Mißtrauen nicht von vornherein verdiente. Lord Salisbury vergaß den deutschen Korb aus den achtziger Jahren. Die Luft schien reiner. Er versuchte es noch einmal. Wiederum in seiner behutsamen Form, wiederum mit seinem Tasten.

Deutschland hatte Englands Nachgiebigkeit vor Helgoland erkannt. England hatte den Bestand des Dreibundes gefördert. Lord Salisbury breitete vor dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall alle seine Sorgen aus. Er tat es in verdeckter Sprache. Wenn er aber dem deutschen Staatsmanne seine Besorgnisse schon darlegte, so erhoffte er für sein Vertrauen eine Antwort, die über die bloße Unterhaltung hinausging. Es war dann darüber zu reden, was England zu tun hatte, wenn Deutschland um Englands Interessen sich bemühte. Die Antwort des Staatssekretärs war schnell und klar. Erst setzte er dem Lord auseinander, was Deutschland brauchte. Dann wünschte er Englands Einsatz für Italien. Dann erbat er Englands Fürsprache für Deutschlands Interessen bei Rumänien. Endlich klärte er den Lord über Englands notwendige Stellung zu den britischen Problemen auf. Er bestätigte ihm, daß Englands Stellung in Konstantinopel elend sei. Außerdem gab er ihm noch einige Ratschläge darüber, wie England am besten in Ägypten verfahren müsse. Auf das kaum fühlbare Tasten des Lords nach der Möglichkeit eines Zusammengehens – denn seit der Absage des Fürsten Bismarck war Lord Salisburys leises, zurückhaltendes Fragen noch gemessener geworden – hatte dann endlich der Staatssekretär die rasche und klare Antwort, die ihm offenbar auch von mannhafter Aufrichtigkeit schien: Deutschland könne sich nicht »festlegen« – –

Immer waren die Antworten des Freiherrn von Marschall schnell, klar und mannhaft. Breit und wichtig war dieser Badenser Staatsanwalt, der sich etwas darauf zugute hielt, daß er die Dinge rücksichtslos beim Namen nannte. Gerade heraus sagte er seine Ansichten, auch vor fremden Staatsmännern, denen nach seiner Meinung eben jene Entschlossenheit der Worte einen Eindruck machen mußte, die sie an sich als Grobheit und Überhebung empfanden. Dem Juristen und Staatsanwalt bedeutete nur die geschriebene Verpflichtung einen wahren Wert. Für Zwischendinge hatte er wenig entdeckerisches Gefühl. Die greifbare Materie war diesem massigen Körper, ohne daß er es selbst wußte, weit mehr als der Geist. Er aß viel, rauchte ohne Unterlaß seine schweren Zigarren, auch verschmähte er schwere Weine in tiefen Bechern nicht. Zwischen Zigarren und Wein, zwischen Amt und Staatsgeschäften, in denen er vom Urteil des Geheimrats von Holstein abhing, wußte er Vorträge über die verschiedensten Dinge, über Reisen und Völker, über Probleme und Wissenschaften mit tatsächlichem Gewinn für den Hörer zu halten, denn immer war er fleißig gewesen, hatte immer alles mit jener Gründlichkeit studiert, die an sich noch nicht für alle das Wesen der Welt ausmacht. Seine breite Art milderte der Humor nicht, den er sich selbst ein wenig eitel bestätigte. Er war nicht von der durchschlagenden Art, durch die der Schwabe Kiderlen-Wächter seine natürliche Ruppigkeit, zugleich seine Würde und Bedeutung als Vortragender Rat im Auswärtigen Amte, zugeteilt dem Kaiser selbst, so oft in ein befreiendes Lachen zu wenden verstand.

Keineswegs sprach auch Freiherr von Marschall mit den fremden Staatsmännern etwa in der daheim so gern gepflegten Kraftsprache, die seit Graf Herbert Bismarcks Tagen aufgekommen war. Sie verwandte gesellschaftsfremde Ausdrücke bei jedem Anlaß voll starkem Saft und schätzte Rüdigkeit auch ohne Wein. Aber es genügte, wenn der Staatssekretär Lord Salisbury die Ablehnung kurz und bündig mitteilte. Die Annäherungswünsche des Kaisers und Kanzlers glaubte er gar nicht besser vertreten zu können. Leider überprüfte der Kanzler die Einzelheiten nicht. Die meisten erfuhr er auch gar nicht. Das diplomatische Handwerk besorgten Staatssekretär und Geheimrat. In London sprach der Staatssekretär in freier Entfaltung seines diplomatischen Könnens. Die Tastversuche Lord Salisburys erfroren jedenfalls auf Marschalls unerbetenen Ratschlägen. Der persönliche Eindruck des Freiherrn auf den Lord entbehrte der Bedeutung. Vielleicht begriff er wirklich nicht, wie sehr die ganze Lage England zu Deutschland drängte und was bei vorsichtiger Entwicklung daraus zu machen war. »Die Diplomatie wird ihm immer fremd bleiben«, schrieb General von Schweinitz über den Staatssekretär, »denn er kennt weder die Länder, noch die Menschen, mit welchen man bei diesem Geschäft zu rechnen hat.« Soviel mußte Lord Salisbury sich eingestehen: die Tür zum Hause der deutsch-englischen Freundschaft stand noch lange nicht wirklich offen. Er hatte sie abermals aufzutun versucht. Doch sie hatte nur wieder einmal in einem frostigen Windstoß geknarrt – – –

 

Dann stürzte Lord Salisbury mit den Konservativen im Frühsommer 1892. Der alte, längst gebrechliche Gladstone, dem der Lord die Kraft zum Regieren nicht mehr zugetraut hatte, löste ihn als Haupt eines neuen, liberalen Ministeriums ab, dessen auswärtige Geschäfte Lord Rosebery lenkte. Gladstone machte niemand ein Geheimnis daraus, daß seine Neigungen mit verschiedenen Mitgliedern des Kabinetts nach Frankreich gingen. Lord Rosebery hielt sich von Gladstones Vormundschaft fast unabhängig. Die Deutschen standen ihm näher, als die Franzosen. Dennoch mußte er um der verschiedenen Widerstände willen, auf die im Kabinett eine betont deutschfreundliche Politik treffen mußte, Zurückhaltung in seinen Handlungen oder gar in der Vorbereitung von Bindungen üben.

Die Entwicklung der Zeit näherte ihn ganz von selbst Deutschland. Lord Salisburys Enttäuschungen kümmerten ihn nicht. Er hatte sie nicht durchlebt. Wenn er mit dem deutschen Botschafter Grafen Hatzfeldt sprach, so begegnete er den Auffassungen eines vornehmen, großen Herrn, der ihm gewiß keine Schwierigkeiten verursachen wollte. Der Abkömmling aus altem hessischen Hause, Graf Paul Hatzfeldt, hatte ein eindrucksvolles Auftreten. Er hatte mehr: einen durch bewegte Vergangenheit getragenen, durch vielerlei Erlebnis geschärften und an sich überlegenen Geist. Ferdinand Lassalle, der seiner Mutter die Trümmer eines durch väterliche Verschwendung recht verbrauchten Vermögens rettete, war neun Jahre lang sein Lehrer. Die flammenden Postulate des Volksapostels hörte der junge Aristokrat an, ohne seinen Hochmut, seine eigene Weltanschauung, seine Karriere darin verstricken zu lassen. Mit Lassalle durchstreifte er kurze Wochen, von der jakobinischen Ausstrahlung angeregt, die längst das Haus der alten Gräfin beherrschte, in der Revolution von 1848 das Rheinland. Einige Jahre darauf entschied er sich für die diplomatische Laufbahn, vom Fürsten Bismarck sogleich beobachtet und schnell gefördert. Graf Hatzfeldt war in den Tagen von Versailles in seiner Nähe, der Fürst beschäftigte den Vielgewandten in einer Art Präfektenstellung in besetzten Städten, mit deren feindlichen Menschen er durch seine brillierende Kenntnis der Sprache und sein kluges Wesen ohne jeden Zwischenfall auskam. Er arbeitete nicht gern allzu viel: »Paulchen ist faulchen«, stellte Fürst Bismarck fest, ohne ihm zu grollen. Der Graf wurde im Auslande vom Fürsten zu besonderen Missionen gern verwendet, dann zog er in das Auswärtige Amt mit seinem Wissen, seiner großen Geschicklichkeit, seinem Hochmut und seinen vielen Schulden als Staatssekretär ein. Anders als bei allen Kameraden in diesem Hause und Beruf, war seine persönliche Umwelt stets voll Verwirrung und Besonderheit. Die Amerikanerin, die er zur Frau genommen, lebte von ihm getrennt. Der Kampf mit seinen Gläubigern schwieg nie. Dem Hofzeremoniell und der Hofetiquette war er unbequem: ein Staatssekretär, der lebte wie ein Bohémien, um den immerzu Geldgeschichten liefen, konnte bei Hofe nicht gezeigt werden. Fürst Bismarck schickte ihn als Botschafter nach London.

Er führte dort das Leben des Sonderlings weiter. Königin Victoria schätzte seinen Geist, seine Welterfahrenheit und die Umgangsformen des eleganten, schlanken, fast mageren Grandseigneurs. Weniger schätzte sie die Tatsache, daß an ihrem Hof ein Botschafter beglaubigt war, der von seiner Gattin getrennt lebte. Andeutungen darüber überhörte der Graf, wie er in seiner kühl oben schwebenden Art alles zu überhören entschlossen war, was Welt und Menschen über ihn sprachen. Auch bei dem englischen Thronerben, bei allen Ministern und Diplomaten stand er in Ansehen. Sie wußten alle, daß sein Wort und seine Auffassung sowohl bei Kaiser Wilhelm, wie im deutschen Auswärtigen Amt viel galten. Daß ein Leiden ihn in eigentlich frühen Jahren quälte, daß er die meisten Tage im Bett verbrachte, oft in die lindere Luft von Brighton flüchtete, daß er vom Bette nur aufstand, wenn er zur Königin oder zu den Ministern mußte, machte den Verkehr, den Gang der Geschäfte nicht leicht mit ihm. Unter den deutschen Staatsmännern hatte er neben dem Geheimrat von Holstein die größte Übersicht über die Zusammenhänge der Welt.

Indes der Geheimrat sie in Haß oder Spielerleidenschaft, in Machthunger oder Dämonie nach seinem Willen zwingen wollte, schwankte Graf Hatzfeldt oft unter empfindlich sprechenden Nerven. Der Botschafter hatte in der Anlage seines staatsmännischen Wesens etwas aus Fürst Bismarcks Schule. Nicht seinen Ton und seine ohne Hemmung aus dem Dunkel zielende Art, die jede Moral ablehnte, aber doch den Willen zur staatsmännischen Elastizität, der er im Gegensatz zu dem Fürsten doch Grenzen setzte. Englisches Wesen kannte Graf Hatzfeldt fast so genau wie Frankreich aus seinen jüngeren Jahren. Vor allem hatte er, was angenehm in London auffiel, nie abgleitenden Takt. Lord Roseberys schwierige Stellung im Kabinette übersah er richtig. Auch hatte er gelernt, daß es in England das Beste war, nie selbst von einer Sache anzufangen, die man erreichen wollte. Er drängte sich Lord Rosebery nicht auf. Der Lord kam voll Dankbarkeit zu ihm aus eigenem Antrieb.

Denn Gladstones Neigung zu Frankreich schützte England nicht vor unangenehmen Erlebnissen mit den Franzosen. Die Reibungen der jüngsten Jahre hörten nicht auf, neue Konflikte kamen hinzu. Es war deutlich, daß Frankreich sich vom Kriege nunmehr erholt hatte. Überall erprobte es seine wiedergefundene Kraft. Im afrikanischen Königreich Uganda stießen die Franzosen schon 1891 mit der Britisch-Ostafrikanischen Kompanie zusammen. Dort hatte Kardinal Lavigerie den Orden der Weißen Brüder zur Heidenbekehrung gegründet. Dazu hatte sich England nicht mit Deutschland über Uganda geeinigt. Die Weißen Brüder gerieten mit den englischen Kolonisten in Streit. Kapitän Luggard schoß mit seinen Kanonen dazwischen. Die Franzosen waren davongegangen, der Stachel in Paris und London war geblieben. In Madagaskar bedrängten die Franzosen die eingeborene Königin. Zwar hatten sie alle Rechte, aber sie vervollständigten sie durch neue, unerschwingliche Zölle so mächtig, daß der englische Handel dort zusammenbrach, gegen den die Zölle gerichtet waren. Es kamen unablässige Streitereien über Fischereirechte hinzu, einmal in Neufundland, ein andermal im Gebiet der Neuhebriden. Je unbequemer den Engländern die Frage nach der Räumung Ägyptens wurde, desto häufiger wiederholten sie die Franzosen. In Konstantinopel überboten sie die Engländer kapitalistisch, wenn es um Eisenbahnkonzessionen ging. Frankreich hatte tatsächlich ein ganzes Bündel von Fragen zusammengeschichtet, eine für England unbequemer als die andere. Aus Afrika gab es Tag um Tag Neuigkeiten. Nicht nur Uganda und Madagaskar. Die Franzosen besetzten Dahome. Sie marschierten auf Timbuktu los. Die Russen luden sie zu einer Fahrt ihrer Kriegsschiffe in das Mittelmeer ein, wo sie sich für die Dauer einrichten sollten. Plötzlich verschärfte sich überdies noch die Lage in Siam – –

Über Nacht hatten die Franzosen das linke Ufer des Mekong besetzt. Siam war eingekeilt gewesen zwischen englischem und französischem Besitz, ein vollkommener Pufferstaat, der die Interessengebiete der beiden Europäer nicht verwischen und gefährden ließ. Jetzt lagen die Franzosen den Engländern unmittelbar gegenüber: sie hatten den dazu nötigen Fetzen siamesischen Landes durch ihre Soldaten einfach an sich gerissen. Die unbequeme, gar nicht zu duldende Nachbarschaft strömte sogleich staunenswerte Wirkungen aus. Vor Bangkok lagen englische Kanonenboote. Die Franzosen verhängten die Blockade über Bangkok. In die tiefe Stille eines englischen Wochenendes schlug die abenteuerliche Nachricht, daß der Kommandant der englischen Kanonenboote von den Franzosen die klare Aufforderung erhalten hatte, von Bangkok abzudampfen.

Lord Rosebery war innerlich mit seiner Geduld längst zu Ende. Der Krieg mit Frankreich hing an einem Seidenfaden. Den Botschafter Grafen Hatzfeldt hatte der Lord schon Tage zuvor in bedrückter Stimmung empfangen. Frankreich verdarb England das Leben. Der Lord »deutete an«, daß Deutschlands »Interesse an der Frage im Fall eines englisch-französischen Krieges doch wohl zunehmen würde, da eine solche Eventualität Gelegenheit bieten würde, die Quadrupelallianz zustande zu bringen«. Von Berlin meldete sich unverzüglich der Geheimrat von Holstein. Er sah die Zeit des Handelns angebrochen. Er nahm nicht erst den ihm meist formalen Umweg über den Staatssekretär. Er antwortete selbst. Lord Rosebery bereitete die Möglichkeit einer »Quadrupelallianz« nach seiner Ansicht auf eigene Art vor: in den drohenden Konflikt Englands mit Frankreich wollte er zunächst Italien hineinziehen. So griff Italiens Krieg von selbst auf den ganzen Dreibund über – –

»Deutschlands eventuelle Rolle ist klar vorgezeichnet«, folgerte der Geheimrat von Holstein. »Wir haben Italien im Kriege gegen Frankreich beizustehen. Nach dem Vertrage genügt die Tatsache des Krieges, die Ursache ist gleichgültig. Nur muß die Kriegserklärung oder der erste Kriegsakt von Frankreich ausgehen.

Wir haben deshalb ein direktes Interesse daran, daß Italien seine Beziehungen zu Frankreich nicht verschärft, ohne der Unterstützung Englands tatsächlich oder vertragsmäßig sicher zu sein« – –

England sollte die ganze »Quadrupelallianz« sicherstellen. Weder Italien, noch eine andere Macht des Dreibundes sollte vorher einen Schritt tun. Erst sollte England mit der Unterschrift für Italien zugleich die Unterschrift für die wahre »Quadrupelallianz« geben. Half etwa Italien den Engländern im Mittelmeer ohne vorangehende Sicherung, so war Italien der Blitzableiter, an dem sich später, wenn die Engländer sich zurückzogen, Frankreich rächte. Der Geheimrat mißtraute England: festgebunden wollte er es wissen. Sein Schriftstück zeigte Schärfe, Ausdrucksklarheit und Kombinationskraft, die nicht zu überbieten waren. Auf Lord Roseberys »Andeutung« einer »Eventualität« antwortete der Geheimrat über den Botschafter Grafen Hatzfeldt mit drohender Sicherheitsforderung und Vorschrift. Nur kam der Lord nicht mehr dazu, Kenntnis von diesem Diktat einer neuen Ordnung zu nehmen, auf deren Möglichkeit »im Falle eines englisch-französischen Krieges« er unter der Last seiner Sorgen hingewiesen.

Die unglückliche Depesche aus Bangkok war an einem Sonntagsmorgen eingetroffen. Im Auswärtigen Amte in der Downingstreet traf der Lord nur »ein altes Weib« an, das die Räume bewachte. Die Kabinettsmitglieder waren auf dem Lande. Dem Premierminister Gladstone sandte er einen Boten. Dem Kommandanten der Kanonenboote befahl er auf eigene Verantwortung, die Forderung der Franzosen natürlich abzulehnen. Er depeschierte den unheilschweren Zwischenfall noch an die Königin und ging zu Bett. Königin Victoria wandte sich an Kaiser Wilhelm, ihren Gast in Cowes.

Sie erbat Aufschluß über Kaiser Wilhelms und Deutschlands Haltung, wenn der Krieg mit Frankreich ausbräche. Auch bat sie den Kaiser, Lord Rosebery in der Angelegenheit zu empfangen. Sogleich war Kaiser Wilhelm sich darüber klar, daß England einen Dienst von großer Tragweite erwiesen werden konnte, ob es Neutralität war oder Vermittlung. An die sofortige Besiegelung des Vierbundes, an sein Zustandekommen vor wirklichem Kriegsausbruch glaubte er nicht. Übrigens glaubte er auch nicht an den Kriegsausbruch.

Er ließ den Vortragenden Rat von Kiderlen-Wächter kommen, der ihn als Vertreter des Auswärtigen Amtes auf seinen Reisen begleitete. Dem Rate empfahl er Entgegenkommen und Beruhigung Englands. Lord Rosebery wollte er empfangen. Die Königin sei davon verständigt. Über seine Hilfsbereitschaft wolle er sie nicht im Zweifel lassen. Aber der Vortragende Rat war anderer Meinung. Er nahm sogleich den halb vermahnenden, halb drohenden Ton an, der dem Kaiser gegenüber immer wiederkehrte, wenn das Auswärtige Amt durch irgendeinen Sprecher staatsmännische Richtlinien gab. Der Vortragende Rat warnte. Der Kaiser dürfe den Engländern um keinen Preis Entgegenkommen beweisen. Sie hätten es jetzt eben nur »mit der Angst bekommen« und erstrebten die deutsche Hilfe auf billige Art. Natürlich gingen sie darum den »englischen Enkel« an. Der britische Admiralsrock halte zu solchen Zwecken ausgezeichnet her. In Wahrheit müsse der Kaiser »zwischen Paris und London lavieren«. Dann diktierte er beiden – –

»Solchen Unsinn«, meinte der Kaiser, »brauchen Sie mir nicht als Berliner Weisheit vorzutragen. Erst will ich Rosebery hören. Dann Hatzfeldt. Der kennt England besser, als die Wilhelmstraße.«

Lord Rosebery kam: ernst und ein wenig besorgt, dabei merkwürdig zerstreut. Er war nach seinem Sonntagserlebnis etwas erstaunt erwacht, von dem kommenden, unvermeidlichen Kriege nichts zu hören, von dem nur er am Sonntag in London gewußt hatte. Die Meldung des Kommandanten der Kanonenboote war angeblich ein Irrtum gewesen. Auch überlegten sich die Franzosen den ganzen Krieg. Oder sie vertagten ihn. Keinesfalls war der Bruch eine Frage von Stunden oder Tagen. Der Lord konnte aufatmen, um so mehr, als der Kaiser bei seinen freundlichen Versicherungen blieb, die auch die Königin dem Enkel dankte. In den Beziehungen zwischen den beiden Reichen waren sie nur ein freundliches Ferment. Mit der Kriegsgefahr vertagte Lord Rosebery die Frage des Vierbundes, die das Auswärtige Amt in Berlin jetzt nicht mehr fallen lassen wollte. Italien hatte gewisse moralische Verpflichtungen, für England im Mittelmeer einzutreten. Deutschland hatte nach Baron Holsteins Meinung die automatisch einsetzende Pflicht, mit Italien zu gehen, wenn es in einen Krieg verwickelt wurde – gleichgültig, aus welcher Ursache. Über die italienische Teilnahme an einem französisch-englischen Zusammenstoß konnte der Geheimrat vielleicht den Vierbund ertrotzen. Aber die entscheidende Frage, ob »Quadrupelallianz« oder nicht, war Lord Rosebery noch nicht einmal gestellt worden. Die Droh-Beteuerungen der deutschen Freundschaft waren aus Baron Holsteins Schreibstube nur bis zum Grafen Hatzfeldt gedrungen. Jetzt riet der Botschafter, sich mit der Frage nach dem Vierbunde doch einmal klar und unverblümt an Lord Rosebery zu wenden.

»Tatsächlich kam es zu einer solchen Anfrage nicht«, berichtet Professor Erich Brandenburg. »Frankreich gab im letzten Augenblick nach und der Konflikt wurde vermieden. Marschall zog aus diesen Erfahrungen den Schluß, daß man sich auf England nicht verlassen könne« – –

Freiherrn von Marschalls Logik blieb auf alle Fälle kühn. Der Kaiser sprach über die ganze Staatskunst des Auswärtigen Amtes etwas von »Bierphilisterpolitik«. Lord Roseberys Haltung blieb noch eine Weile freundschaftlich. Von Lord Salisburys Bemühungen um »Beruhigung« in Fürst Bismarcks Tagen war er bis zum Aussprechen des Wortes »Quadrupelallianz« gekommen. Schon vor ihrer Möglichkeit war Frankreich vorläufig sichtbar zurückgewichen. Zu dem niedergeschriebenen Abkommen konnte man, wenn Englands unabweislicher Vorteil oder seine Not die Allianz auch dem Buchstaben nach forderte, noch immer gelangen. Lord Rosebery wußte nicht, wohin noch Frankreich wollte. Der erste Kanonenschuß, ob von Frankreich, ob von England, mußte die Allianz bringen, auch wenn sich das Kabinett zweifellos noch gegen sie stellte – –

»Für uns ist der wünschenswerte Beginn des nächsten großen Krieges«, lautete eine Randbemerkung des Reichskanzlers von Caprivi zu den Rückfragen des Grafen Hatzfeldt aus London, »wenn der erste Schuß von Bord eines englischen Schiffes fällt. Wir haben dann die Sicherheit, die Triple- zu einer Quadrupelallianz erweitern zu können« – –

Der Reichskanzler hatte kaum mehr als dieses eine Hatzfeldtsche Schriftstück zu Gesicht bekommen. Alles andere ging zufolge der Unterschriften zwischen dem Grafen Hatzfeldt und dem Geheimrat von Holstein hin und her, der auch jede Silbe der Texte genau feststellte, die der Freiherr von Marschall ohne Änderung unterzeichnete. Die Tage des Reichskanzlers begannen von Sorgen deutscher Innenentwicklung umdüstert zu werden. Die englische Hauptlinie, seine ganze Außenpolitik kannten Staatssekretariat und Amt. Im angegebenen Sinne war zu handeln. Auch hielt er Zwischenfälle mit England nur für Hemmungen von zeitlicher Art. Die allgemeine Entwicklung drängte in Caprivis Übersicht beide zu einander: wenn ruhigere Tage kamen, spann man die Fäden weiter.

Aber der Geheimrat von Holstein erboste sich über Lord Rosebery. Er konnte nicht warten. Er wollte auch nicht warten. Alle Macht hatte er längst an sich gerissen. Er spielte sie aus, gleichviel was der Kanzler dachte: durch die Technik des Apparates, der fest in seinen Händen war. Seine Schreibstube bedeutete Deutschland, somit einen Teil der Welt, die seinen Willen zu achten hatte. Daß England solche Tatsachen nicht begriff, daß England sich nicht beugte, daß er es zu aufrichtiger Freundschaft nicht mit brutalem Griff niederzwingen konnte: dies begriff der Geheimrat nicht.

Er beschloß, sich dafür zu rächen, daß auch sein Diktat das englische Bündnis nicht erzwungen hatte.

 

Schon einmal war das Entgegenkommen, sogar die augenblickliche Willfährigkeit der Engländer von ihm ertrotzt worden: kurz vor dem Zerflattern der »Quadrupelallianz«. Abdul Hamid hatte im Februar 1893 der deutschen »Anatolischen Gesellschaft« durch den Kaulla-Vertrag die Bauerlaubnis für die Bahn nach Bagdad gewährt. Von Sir Arthur Nicolson, damals Geschäftsträger der Britischen Botschaft in Konstantinopel, war alles aufgeboten worden, »daß die Konzession durch britische Intervention blockiert werde«. Aber der Geheimrat hatte kurzen Prozeß gemacht. Das Auswärtige Amt in London empfing die lakonische Mitteilung, daß Deutschland den englischen Verwaltungsreformen in Ägypten nicht zustimmen werde, wenn Deutschland nicht unverzüglich sein Recht in Konstantinopel erhalte. Im nächsten Augenblick hatte Lord Rosebery der unverhüllten Drohung nachgegeben – –

Vielleicht war dies der richtige Ton, um mit den Engländern zu sprechen. Jedenfalls wich der Geheimrat seit der Enttäuschung durch die verschwundene siamesische Kriegsgefahr energischeren Aussprachen nicht mehr aus. Eine Reihe von Konflikten setzte sehr schnell ein. Soeben ist ein Zwischenfall erledigt, den die Durchfuhr deutscher Kanonen in der Walfischbai hervorgerufen hat. Deutschland hat sie gegen den südwestafrikanischen Aufstand geschickt: England machte Schwierigkeiten. England versucht die deutsche Anwerbung von Kulis zu hintertreiben, die von den deutschen Kolonisten in Neuguinea gebraucht werden. Deutschland wünscht, auf Samoa festen Fuß zu fassen. Nach einem älteren Vertrage gebieten mit den Deutschen und Amerikanern die Engländer über die Insel. Deutschland sucht Englands Unterstützung, England rührt sich nicht. Deutschland kündigt kühl in London die Zurückhaltung an, die es in Zukunft allen englischen Interessen beweisen wolle. Deutschland muß ja nicht immer mit England gehen: auch den Bau der Eisenbahn, deren Strang die Engländer von Prätoria nach Laurenzo Marques ziehen wollten, um die unmittelbare Ausfahrt aus der Delagoabai zu gewinnen, verhinderten die Deutschen mit den Amerikanern. Ein Jahr später wiederholen sie den Engländern das Spiel von der Walfischbai: sie schicken Kanonenboote nach der Delagoabai, indes dort die Engländer Kanonen und Truppen landen und durch portugiesisches Gebiet führen wollen, um im Innern des Landes einen Aufstand niederzuschlagen.

Ein einziger Lichtstrahl flog noch über die neuen, nach der nicht erreichten »Quadrupelallianz« so schnell sich mehrenden Verstimmungen. Das deutsch-englische Kolonialabkommen vom 15. Oktober 1893 sicherte Deutschland die beliebige Ausdehnung seines Kamerungebietes nach dem Innern Afrikas zu. Gleichzeitig nahmen sich die Engländer das Nilgebiet am Wadelai. Aber Deutschlands Haltung blieb gleichwohl frostig und verdrossen, in seinen Taten und Aussprüchen wenig friedsam. Wenn Lord Rosebery jetzt noch einmal Andeutungen darüber machte, welche Unterstützung ihm die Deutschen gewähren könnten, wenn Russen oder Franzosen die Engländer doch in einen Krieg stießen, so warnte Deutschland vor allem Österreich und Italien, sich auf keinerlei englische Freundschaftsabenteuer einzulassen. Deutschland begann England sogar zu beweisen, daß man selbst mit Frankreich marschieren könne, dem gleichen 1870 besiegten Frankreich, das England so sehr fürchtete. Im Frühjahr 1894 kam zwischen Franzosen und Deutschen ein Vertrag über Kamerun zustande. Der Tschadsee wurde Kameruns Ostgrenze; knapp acht Wochen später ging England daran, die Gegenrechnung zu überreichen: dem Kongostaate überwies es das weite Gebiet des Bahr-el-Ghasal, eigentlich ägyptisches, aber nicht englisches Land, um selbst dafür einen ganz bescheidenen Landstreifen einzutauschen. Er sollte durch den belgischen Kongo laufen und die Verbindung zwischen Nordafrika und den englischen Südkolonien herstellen, ohne daß die Engländer, wenn sie Telegrafenlinien oder eine Bahn von Nord nach Süd bauten, dabei deutsches Kolonialgebiet berühren mußten. Der Landstreifen hatte im ganzen 25 km Breite. Aber er schaltete Deutsch-Ostafrika vom Wege einfach aus – –

Jetzt gab es Sturm. Alle Gespräche über »Quadrupelallianz« waren vergessen. Alle Freundschaftsgefühle, die ganze unausgesprochene, dennoch spürbare Entente war verweht.

Dem englischen Botschafter zeigte Kaiser Wilhelm seine volle Entrüstung. Dem erschrockenen Lord Rosebery teilte der Botschafter Graf Hatzfeldt, der selbst zu solcher Eröffnung geraten hatte, mit unverblümten Worten mit, daß Deutschland sich in Zukunft lieber mit Englands Gegnern vertragen wolle. Die Ankündigung wurde sofort auch in die Tat umgesetzt: Deutschland erhob gleichzeitig mit Frankreich Einspruch gegen den englischen Erwerb im Kongo. Außerdem erlebte Deutschland, daß die Worte seines Botschafters in Rom stärker als der Eindruck der englischen Macht auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi schienen. Crispi versprach seine Einwirkung in London, um in Nordafrika »das Recht wiederherzustellen«. Unter solchen Umständen hielt es Lord Rosebery doch für gut, in Afrika den Rückzug anzutreten. Auch seine Freundlichkeit hatte sich unter den Erlebnissen des abgelaufenen Jahres gegen Deutschland ein wenig gewendet. Seine letzten Gespräche über Rückendeckung hatten mit der ungeschminkten deutschen Erklärung geendet, »daß ohne Gegenleistung englischerseits nichts zu erlangen sei«. Der Lord war daraufhin sogar in eine andere Kurslinie gefallen: auch er versuchte es mit Drohungen. England werde seine Politik gegenüber Deutschland ändern. Aber Deutschland schien nicht eingeschüchtert. Frankreich ging jetzt mit ihm und seinem Recht. Deutschland – der Dreibund – Frankreich: sie alle zusammen waren stärker als Lord Rosebery. So stolz fühlten sich der Staatssekretär Freiherr von Marschall und der Geheimrat von Holstein in ihrer Überlegenheit, daß sie sogar das in dieser ganzen Frage ihnen zum ersten Male näher gekommene Frankreich deutlich vor den Kopf stießen. Die deutschen Wünsche setzten sie mit Frankreichs Unterstützung durch. Dann vertraten sie die Auffassung, daß Frankreich, als es auch die deutsche Hilfe für seine Wünsche erbat, sich allein weiterhelfen solle. Mit Frankreich wäre man gemeinsam eigentlich nur um des »Pressionsmittels« wegen gegangen, das man damit gegen England hatte.

Allerdings half Frankreich sich allein weiter. Mit dem Kongostaate schloß es im August 1894 ein Abkommen, das ihm vom Kongo den Weg zum oberen Nil und in den Sudan frei machte. Aber die deutsche Staatskunst hatte Frankreich schon wieder vergessen und sah nur den Erfolg und die Demütigung Englands. Lord Rosebery hatte in Verstimmung den Kongostreifen zurückgeben müssen. Er konnte dabei über die Zweckmäßigkeit englischer Politik nachdenken: immer von Anderen etwas zu wollen, nie etwas zu geben, immer nur die Anderen anzulocken, für seine Interessen auszuspielen, um sie dann, nach Deutschlands fester Überzeugung, so gründlich im Stiche zu lassen, wie Deutschland dies eben mit Frankreich getan – solcherlei Staatskunst war unsittlich. Vielleicht hatte England mit der Rücknahme des Vertrages über den Kongostreifen überhaupt zum ersten Male dem Drucke von außen weichen müssen. Es war gut so. Es sollte seine Erfahrungen machen. Von der Schreibstube des Geheimrats von Holstein hatte man ihm gezeigt, daß auch der Glaube an die Gewalt, Druck und »Pressionsmittel« richtige Waffen einer Politik waren, die weder die Geduld, noch psychologische Vorbereitungen schätzte. England übernahm sich überhaupt: die Freundschaft mit England war zu Ende.

 

Die gemeinsamen Erlebnisse in einer Zeitspanne von fast vier Jahren ergaben, daß beide aneinander vorbeigeredet und gedacht hatten, Deutsche und Engländer. Keiner von beiden hatte sein Wesen, das immer der andere nicht begriff, zu ändern oder auch nur anzupassen vermocht. Den Engländern nahmen die Deutschen übel, daß sie in die formal bestätigte, mit sicheren Buchstaben niedergeschriebene Bündnisbindung nicht einwilligen wollten. Sie sahen den Grund nicht ein, weshalb England nicht auch einmal eine Ausnahme machen sollte, selbst wenn es sonst überhaupt keine Allianzen schloß. Sie trauten ihm jeden Hinterhalt zu, den sie selbst zu legen bereit waren, – eine Bereitschaft, die Fürst Bismarcks Zeitalter erwiesen und jetzt ihr Verhalten gegenüber Frankreich aufs neue bestätigt hatte. Sie verbesserten solche Bereitschaft durch die Herausforderung nicht, die in der Regel ihre Sprache zeigte, sie schlossen von den Möglichkeiten, die sie unter Umständen selber übten, auf gleichen Hinterhalt bei den ersehnten Freunden, die sie im Innern dennoch mißtrauisch als Feinde betrachteten. Der Sinn für Abstufung ging ihnen völlig ab, der in Lord Roseberys Gefühl die kühle Fremdheit und Gleichgültigkeit der beiden Nationen dennoch bis zu Beziehungen gebracht hatte, die in Wahrheit bereits eine »Entente« darstellten. Zweifellos waren Lage und Gleichgewichtsinteressen in den ersten neunziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts so, daß der Dreibund in jeder Verwicklung England an seiner Seite gefunden hätte: mit dem geschriebenen Vertrag und ohne ihn, – Englands eigener Vorteil war dann von selbst, was Lord Salisbury als Ergebnis seiner »psychologischen Verständigung« ansah. Der Fehler der deutschen Staatskunst war es, daß sie, die selbst nur Schlagworten nachlief, psychologische Einstellungen und selbst gefühlsmäßige Bindungen für Trug, ihre tatsächlichen Versprechungen und Auswirkungen für wertloses, heuchlerisches Geschwätz hielt. Von dem englischen Bundesgenossen forderte sie, daß er empfinde wie der Deutsche. Die britischen Staatsmänner begingen nicht nur den gleichen, umgekehrt angewandten Fehler: sie wollten die »psychologische Verständigung« und das damit gegebene, selbstverständliche und sogar unzweifelhafte Eintreten für den Freund in Europas Gleichgewichtsinteressen. Daß es darüber hinaus noch Dinge gab, die an Deutschlands Leben oder Zukunft rührten, vergaßen und übersahen sie. Seit Jahrhunderten gewohnt, auf allen Meeren, in allen Ländern herumzufahren, große Abenteurer und Kompanien in alle Erdteile zu entsenden, um ihre Gebiete englisch zu machen, waren sie des Erstaunens voll, wenn irgendwo ein Schiff mit einer neuen Flagge fuhr. Wenn irgendwo eine fremde, neue Kompanie sich festzusiedeln dachte. Mit den Gleichgewichtsinteressen unter den Mächten in Europa hatte ihr Kolonialegoismus nichts zu tun. Daß die Zusammenhänge nicht mehr zu trennen waren, konnten oder wollten sie nicht einsehen, obgleich sie Rückendeckung und Gleichgewicht gerade dann erstrebten, wenn sie an Flottenfahrten nach Konstantinopel oder Ägypten oder Siam dachten – –

An den unmittelbaren Anlässen zu Zusammenstößen weit draußen in den Kolonien waren die englischen Staatsmänner vielleicht nicht einmal schuld. Nie hatten die englischen Generalkapitäne, die Abenteurer und die Kompanien anders gehandelt, als selbständig, rücksichtslos und mit brutaler Faust. Nie hatten sie in London angefragt: stets hatten sie selbständig Königreiche für England erworben. Gegen ihren Eroberergeist, gegen ihren harten Zugriff, unbekümmert gegen wen und wo, erbitterte sich das deutsche Gefühl. Die englischen Staatsmänner versuchten die Reibungen auch zu schlichten, die am Rande der Welt immer wieder kamen. Aber daß auch deutsche Generalkapitäne mit deutschen Kompanien ausfahren sollten, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Sie sahen nur, was sie den Deutschen boten und auch wirklich gaben in freundschaftlich bestehendem Einvernehmen: die Gleichgewichtsbürgschaft und Sicherheit in Europa. Die Deutschen sahen nur das andere: daß England auf der weiten Erde nahm, was irgend ging, und keinem gab, was England früher nehmen konnte – –

Die Zeit mußte die etwas rauhe Art der Deutschen mildern. Vielleicht kam unter ihnen doch eine Art von Staatsmännern auf, die nicht Überzeugungskraft mit plumper Gewalt, Zurückhaltung und Vorsicht anderer mit Falle und List, Vorschläge und Anregung mit Druckmitteln, Diplomatie endlich mit bieder gefärbten, allzu deutschen Umgangsformen verwechselten. Wenn auch die englischen Staatsmänner inzwischen begriffen, daß von zwei Freunden nicht immer nur der eine stark und arm, der andere aber stark und reich sein mußte, wenn sie begriffen, daß Gleichgewichtsinteressen nicht ausschließlich im Schutz vor Angriffen sich ausdrückten, sondern auf alles sich bezogen, was die Notwendigkeiten des Lebens auch bei dem Freunde ausmachte, dann war noch einmal der Weg zur »Entente« da, vielleicht sogar zu mehr – –

Vorläufig schieden die Freunde.


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