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Deutschland auf der Scheinhöhe der Macht

Kaum waren die Verhandlungen gescheitert, die zum letztenmal einem Bündnis zwischen England und Deutschland gegolten hatten, so wandte der Kolonialminister Chamberlain auch schon Englands Kurs um. Unverzüglich, schon im Januar 1902, setzten seine Versuche ein, die von ihm vorausgesagte Annäherung an Frankreich einzuleiten. Zug um Zug und Schlag auf Schlag wendet sich der enttäuschte, dreimal abgewiesene Staatsmann jetzt gegen Deutschland. Das Abkommen zwischen England und Japan wird geschlossen. Deutschland hat die Aufnahme versäumt. In London werden neue Unterhaltungen über das marokkanische Thema geführt. Nur laufen die Verhandlungen nicht mehr mit Deutschland, sondern mit Paul Cambon, dem Botschafter der französischen Republik. Das englische Kabinett tastet erst vorsichtig vorwärts. Keine überstürzte Lösung in Marokko sei möglich: sie wäre nur von Konflikten begleitet. Aber kein Wort fällt zu dem französischen Botschafter, daß England die Unterhaltung über das Thema mit Frankreich ablehne. Chamberlain verheimlicht seine Besprechungen mit Cambon auch nicht vor Sir Edward Grey und vor Herbert Henry Asquith, den beiden Führern der Opposition. Der französische Botschafter begriff sofort – –

Weder den Reichskanzler Grafen Bülow scheuchten die Gerüchte auf, die seit dem Frühjahr 1902 aus London drangen, noch seinen Berater Baron Holstein. Mißtrauisch wurde Rußland, der Verbündete der Franzosen. Unruhig wurde Kaiser Wilhelm. Rußland sah den Bundesgenossen Frankreich mit seinem Todfeind England Feste feiern. Der Todfeind in Tschili, vor Peking, in Persien verbrüderte sich mit Japan. Graf Lambsdorff schlug eilig in Berlin ein Bündnis zum Schutze der bestehenden Ordnung in Ostasien vor. Aber so ohne weiteres pflegten Kanzler und Geheimrat sich nicht in Freundschaften einzulassen. Daß Rußland kam, kaum daß man England abgewiesen hatte, war wiederum nur ein Zeichen von Deutschlands Macht und Wert. Ein Abkommen mit Rußland kostete nach Baron Holsteins Ansicht Deutschland nur den Geschäftsplatz Japan. Die Russen wurden abgewiesen. Der russische Außenminister erinnerte an Kaiser Wilhelms Zusagen aus den Tagen von Kiautschou. Die Unterstützung der russischen Asienpolitik war im allgemeinen angekündigt worden. Aber kaiserliche Zusagen waren keine Bindungen für Staatsmänner. Kaiser Wilhelm konnte den Zaren ja durch die Aussicht beruhigen, daß er ihm nützlicher in Europa, als in Asien sei. Beleidigt schwieg Graf Lambsdorff.

Kanzler und Geheimrat bestanden immer noch darauf, daß Deutschland sich nicht »festlegte«: weder nach Ost, noch nach West. Dies strahlende, handelschaffende, mit reichen Industrien gesegnete, von den besten Soldaten der Welt beschirmte, bald auch noch flottenbewehrte Deutschland blieb ihnen trotz allem, was rund um das Reich sich ereignete, der mächtige, die Gunst nach eigener Wahl verschenkende Herr der Mitte. Die Macht und den steigenden Glanz seines Reiches sah und hob auch der Kaiser. Aber er sah auch, daß die englische Freundschaft zerschlagen war. Obendrein hatte Italien merkwürdige Schwierigkeiten gemacht, als die Erneuerung des Dreibundes besprochen wurde. Österreich-Ungarn sollte zustimmen, wenn die Italiener einmal Tripolis besetzten, selbst aber nichts auf dem Balkan unternehmen. Albanien sollte ein autonomer Staat werden. Da das Wiener Kabinett den italienischen Wünschen entgegenkam, gab es darin für den Dreibund keine Gefahr. Aber die Italiener verlangten auch, daß keine Bestimmung in die neue Vertragsfassung aufgenommen werde, die für Frankreich irgendeine Gefahr bedeuten könnte. Den Franzosen wollten sie ausdrücklich davon sogar Mitteilung machen. Dem Kanzler gelang es, die Forderung abzuwehren. Aber im Zusammenhang mit den unausgesetzten Kämpfen, die schon seit einer Reihe von Jahren die Völker des alten, habsburgischen Kaiserreichs gegeneinanderhetzten, beleuchtete das italienische Verlangen grell einige Sekunden lang den Wert des Dreibundes. Die Überzeugung des Kaisers festigte sich, daß es nur mehr den Weg nach Rußland gab: auch wenn man den Grafen Lambsdorff eben erst abgewiesen hatte.

In Reval trug er seine Absichten Kaiser Nikolaus vor. Der Dreibund sollte sich mit Rußland und Frankreich zu einem einzigen, großen Block zusammentun, gegen den England trotz seiner neuen Freundschaft mit Japan machtlos wäre. Dem Zaren leuchtete der Gewinn und die Stärkung in Ostasien ein, indes der Kaiser die erhöhte Sicherheit Deutschlands anstrebte. Er wollte schon bei seinem nächsten Besuche in London andeuten, daß die Vorteile der fünf großen Mächte auf dem Festland eigentlich ganz von selbst für eine Zukunft gemeinsamen Handelns wären. Kaiser Wilhelm hatte das Gefühl, daß der Zar ihm zustimmte. Vielleicht gelang es, den russischen Kaiser zu gewinnen, wenn er ihm seinen wahren Nutzen eindringlich genug darstellte und der Einsatz Deutschlands bei nächster Gelegenheit wirklich groß und ehrlich war.

 

Unmittelbar nebeneinander laufen in diesem Zeitabschnitte die Bemühungen der europäischen Mächte um eine neue Gruppierung der Kräfte in der Welt. Frankreich hat die Erkaltung der deutsch-englischen Beziehungen richtig abgemessen. England scheint nicht mehr ganz abgeneigt, mit den Franzosen freundschaftliche Gespräche zu führen. Unverweilt verhandelt Frankreich – es ist die Vorarbeit für ein Abkommen mit England – über die marokkanischen Dinge mit Spanien. Die Einigung kommt zustande. Im März 1903 macht König Eduard den Franzosen einen Pariser Besuch. Ungeheurer Jubel empfängt ihn und grüßt die nahende Verbindung. Der Präsident der Republik erwidert den Besuch in London. Dort findet der französische Außenminister Delcassé endlich die Sprache, die alles klärt. Frankreichs Willen ist es, mit den Unruhen in Marokko aufzuräumen. Frankreich duldet dort keine andere Macht. Das Anrühren und Ordnen des ganzen Problems ist für Lord Lansdowne nicht mehr die Ansage von Konflikten. Frankreich wird sich nicht mehr um Ägypten kümmern. Ägypten wird ganz englisch sein, Frankreich dafür Marokko haben. Die Einzelheiten soll Cambon, der französische Botschafter, in London weiterverhandeln. Nicht nur der Sieg in Marokko, der Frontwechsel ist da: England von Deutschland fortgerissen – Frankreich mit ihm Seite an Seite. Den Frontwechsel signalisiert England ins offene Meer: die neue, britische »Heimatflotte« erhält Befehl, sich in der Nordsee aufzustellen – –

Im Auswärtigen Amte in Berlin hielt der Geheimrat von Holstein dem Reichskanzler in dieser Zeit Vorträge über das Phantom von Englands Verständigung mit Frankreich. Zwar war er der Meinung, daß selbst eine Vereinigung aller Mächte auf dem Festland gegen Großbritannien nichts zu unternehmen vermöchte. Daß es also gar nicht erst lohnte, den Versuch einer Vereinigung zu unternehmen. Aber er sah keinen Anlaß zu einer Beunruhigung:

»Die Zeit läuft für uns« – –

Der Kanzler gab dem Geheimrat recht. All den Entwicklungen, die man noch gar nicht durchschaute, konnte man »gar nicht pomadig genug« gegenüberstehen. Die Königin von Spanien, die den Kanzler in Wien empfing und bei dem Besuche etwas von den neuen, in den Grundlinien schon fertigen Verträgen über Marokko andeutete, erschreckte ihn freilich ein wenig. Er beschloß, sogleich bei Spanien anzufragen, ob Deutschland nicht vielleicht »Kompensationen« erhalten könnte. Daß längst die völlige Aufteilung Marokkos entschieden war, daß England, Frankreich und Spanien sich ganz und gar geeinigt, daß der Kanzler und der Geheimrat dabei Deutschland unter die Ausgeschlossenen gedrängt hatten, begriff er nicht ganz. Im Oktober 1903 erfuhr die Welt, das England und Frankreich abgemacht hatten, alle Meinungsverschiedenheiten, die nicht an ihren Lebensnerv rührten, in Zukunft vertrauensvoll dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten. Vier Wochen später erklärte Lord Lansdowne dem deutschen Botschafter Grafen Metternich, daß niemand Frankreich hindern könne, von seinen Vorrechten in Marokko Gebrauch zu machen. Über die Einzelheiten des marokkanischen Abkommens war von dem britischen Kabinett Sir Arthur Nicolson, der Gesandte in Tanger, als Sachverständiger befragt worden. England und Frankreich waren miteinander im Klaren. Aber noch beschäftigte die Tatsache den Reichskanzler nicht. Seine Aufmerksamkeit wurde durch die weltgeschichtlichen Vorgänge in Ostasien in Anspruch genommen. Für den Zaren und den König von Dänemark hatte ein holländischer Bankier große Geldsummen zur Wälderverwertung am Yalu angelegt. Die Japaner sahen nicht nur Geschäfte mit Wäldern: sie fürchteten, als der Zar zum Schutze seines Besitzes einen Truppenkordon vorschob, russische Besetzung. Die dauernde Spannung entlud sich. Der Krieg zwischen Rußland und Japan, von Nikolaus II. dem Kaiser, von dem Grafen Wedel dem Geheimrat von Holstein angesagt, vom Kaiser als große Entscheidung erwartet, von dem Geheimrat als unmöglich verlacht, war von den »Gelben« wirklich begonnen worden. Seinen Ausbruch bemerkte auch der Kanzler.

Überhaupt war Graf Bülow ein Staatsmann, der jeder Wendung im Augenblick gewachsen war. Selbst die Veröffentlichung des Abkommens, das England und Frankreich am 8. April 1904 zur Verständigung über alle Gegensätze und darüber hinaus zur Begründung einer »Entente cordiale« abschlossen, fand den Kanzler gewappnet. Ihm konnten solche Ereignisse keine Überraschung sein. Denn der Kolonialminister Chamberlain hatte ihm ihr Kommen wiederholt angemeldet. Er hatte nur nicht daran geglaubt. Für den ganzen Weltfrieden begrüßte er, als hätte er selbst nie anderes gewünscht, den neuen Bund als günstiges Zeichen. Sein Lächeln verlor er keine Minute. Gepflegte, vornehm sich selbst bescheidende Redensarten, die in vollem Widerspruch zu der drohenden Entwicklung standen, gab er nach allen Seiten. Er kannte Wert und Wirkung verbindlich stilisierter Unwahrheiten auf Reichstag, Öffentlichkeit und Masse. Wieder nur Kaiser Wilhelm sah die Vorgänge anders.

Drei Jahre lang hatte er dem Bund mit England das Wort geredet. Schon dem Staatssekretär von Bülow hatte er den Vorsprung unterstrichen, der ihm, dem Enkel der Königin Victoria, bei Verhandlungen in England gewährt war. Über ein Jahrzehnt war er alle möglichen Wege gegangen, um England zu gewinnen. Stets hatten seine Staatsmänner – Freiherr von Marschall, wie Graf Bülow – andere, von Weisheit stolz getragene Bedenken gehabt. Vor allem hatte ihm Graf Bülow immer die Feindschaft Rußlands ausgemalt, wenn Deutschland mit England ginge. Angeblich wollten die Engländer mit Deutschland überhaupt kein Abkommen. Ihr Anschluß an Frankreich war nach dem Grafen Bülow und nach Baron Holsteins Axiomen ein Märchen. Jetzt war Englands Bund mit Frankreich ein vollzogenes Ereignis. Aber Rußland fiel es nicht ein, Frankreich darum die Freundschaft zu kündigen. Der Aufbau der vielen, überklugen Reden, der unablässigen Beschwörungen des Kanzlers, nur keinerlei kaiserliches Entgegenkommen an England zu verschwenden: all das stürzte kläglich ein vor den neuen, niederschmetternden Tatsachen. Freilich blieb das Mißtrauen des Kaisers immer wach gegen England. Vielleicht hatte der Kanzler, wenn der Herrscher es überlegte, nur darin recht, daß England den Bund mit Deutschland in Wahrheit gar nicht suchte. Daß alles doch nur Spiegelfechterei gewesen war. So trat der Mißerfolg des Kanzlers nicht ganz scharf hervor. Nur die Erkenntnis, daß Rußland ruhig bei Frankreich blieb, obgleich die Franzosen sich mit England verbündeten, war für den Kaiser der offensichtliche und tiefe Irrtum des Kanzlers. Er allein bedeutete gewiß genug mit all seinen umstürzenden Folgen, mit dem bewiesenen Mangel besserer Voraussicht. Aber der Kaiser beging den großen Fehler: er behielt den Kanzler – –

Dem Grafen Bülow war in der augenblicklichen kaiserlichen Gedrücktheit der Krieg zwischen Rußland und Japan ein wahrer Trost. Er trug ihn Wilhelm II. immer wieder vor. England war mit Japan verbündet. Frankreich war mit England verbrüdert. Wenn es zu den Friedensverhandlungen kam, tat Frankreich entweder den Russen oder den Engländern weh. Dann lösten sich die vielen Freundschaften wie Seifenblasen auf. Immer wieder war es dann Deutschlands wahre Macht, daß es die Partei sich wählen konnte, mit der es das Übergewicht erhielt. So überzeugt war der Kanzler von der Unabwendbarkeit der von ihm ausgemalten Entwicklung, daß er Seelenruhe und Leichtigkeit bald wiedergewann. Wenn es den Engländern Freude machte, Bündnisse abzuschließen, so konnte man ihnen die Freude lassen. Auch wenn sie »Heimatflotten« in der Nordsee aufstellten, sollte man ihnen das Vergnügen nicht nehmen. Es war nach Graf Bülows Ansicht ganz gleichgültig, wohin ihre Kanonen zielten – –

 

Für Kaiser Wilhelm war der Krieg in Ostasien Alarm und Ansporn: Zar Nikolaus sollte sehen, wo seine wahren Freunde standen. Es ging ihm nicht mehr um den Schein, der auf England wirken sollte. Kaiser Wilhelm war der inhaltlosen Redensarten satt, vom »arbiter mundi«, von der »Gefahr, sich festzulegen«, von der »Wahrung der Freiheit«. Bisher hatten trotz der Redensarten nur alle anderen getan, was ihnen beliebte. Er aber wollte, daß Rußland sich band. Er war durchaus bereit, um diesen Preis sich selbst zu binden. Natürlich mußte Deutschland in dem Waffengange zwischen Rußland und Japan Unparteilichkeit halten. Doch war es möglich, die Neutralität mit solcher Ritterlichkeit und, wo es erlaubt war, mit solcher Hilfsbereitschaft zu üben, daß der Zar voll des Dankes sein mußte. Der Kaiser versprach, Rußland in Europa vor jedem Überfall den Rücken zu decken. Österreich-Ungarn sollte ruhig bleiben. Auf dem ganzen Balkan sollte Stille herrschen. Wenn die russische Flotte ausfuhr, so sollten deutsche Kohlenstationen, deutsche Schiffe der Flotte des Zaren auf ihrer endlosen Reise nach Ostasien von den eigenen Vorräten abgeben. Albert Ballin, der Schöpfer und Herr der »Hamburg-Amerika-Linie«, übernahm die Versorgung. Auch konnten die Zwischenfälle des Krieges noch manche andere Gelegenheit bieten, dem Zaren die Anteilnahme Deutschlands am Schicksal Rußlands zu bekunden.

 

Inzwischen arbeiteten die Werften in Kronstadt fieberhaft. Noch im Oktober 1904 sollte Admiral Rosdjestwenski mit der russischen Flotte den Heimathafen verlassen, um dem von den Japanern belagerten Port Arthur von der Seeseite her zu Hilfe zu kommen. Aber Rußlands Flotte war nicht fertig. Sie mußte zur Hälfte neu geschaffen, alte Schiffe mußten umgebaut und umbewaffnet werden: all dies schon mitten im Kriege in Hast und Druck und Angst, da Werften und Admiralität, Kriegsministerium und Schiffskommandanten, noch ehe die Flotte halbwegs fahrtbereit war, die genauesten Nachrichten über Anschläge hatten, die den russischen Schiffen auf der Reise drohten.

Schon in der Nordsee wollten die Japaner angeblich den ersten Angriff wagen. Sie hatten Torpedoboote aus dem fernen Osten geschickt, die den Russen auflauern sollten. Andere Meldungen sprachen von Torpedobooten, die in England lagen, von den Bundesgenossen mit Stillschweigen geduldet. Kurz vor der Ausfahrt des Admirals traf eine Anzeige über feindliche Fahrzeuge sogar in einer versteckten Bucht der Ostsee ein. Die Unruhe der russischen Admiralität wuchs. In Berlin sprach der russische Botschafter Graf Osten-Sacken bei Kaiser Wilhelm vor. Er bat um Überwachung der Japaner in Deutschland. Namentlich in den großen Hansastädten war dem Botschafter die Kontrolle wichtig. Die Absicht der Japaner, zu einem Schlage gegen die russische Flotte schon in der Ostsee oder Nordsee auszuholen, war nach den Angaben des Botschafters einwandfrei festgestellt.

Kaiser Wilhelm befahl, Rußlands Wünsche zu erfüllen. Deutschlands ganze Polizei jagte nach verdächtigen Japanern und nach Zeichen ihrer Verabredung. Die Marinestationen suchten täglich und nächtlich die Ostsee, die Nordsee, die Elbe, die Weser ab. Weder japanische Kriegsfahrzeuge, noch verdächtige Dampfer, von denen die Petersburger Meldungen und Anfragen gleichfalls gesprochen hatten, wurden von den deutschen Seepatrouillen gesichtet. Endlich war die russische Flotte fertig. Admiral Rosdjestwenski dampfte von Kronstadt ab: voll unbeherrschter Unruhe, von Schreckgesichten bereits bei der Ausfahrt geschüttelt, ein Admiral der aufgepeitschten Nerven, der verzweifelte Kriegsherr einer Flotte, die er verloren sah.

Vorsichtig fuhr der Admiral in zwei Kolonnen. Vor dem Kanal sollte die erste Kreuzergruppe halten und den Rest der Schiffe erwarten. Die Fahrtgeschwindigkeit war gering, die Ausguckposten hatten scharfen Dienst. Nachts glitten die Schiffe in ihren Scheinwerferkegeln. Die Matrosen hatten bewaffnet bei den Geschützen zu schlafen. Jede Stunde gab es neuen Aufsprung. Kommandanten, Offiziere, Mannschaften der ersten Kolonne waren vollständig übermüdet, noch ehe sie am Eingang des Kanals ankamen.

Vor dem Kanal geriet die Kolonne in Nebel. Die Sicht war unscharf, die überanstrengten, überwachen Ausguckposten witterten Gefahr. Die Lichter einer englischen Fischerflotte glänzten vereinzelt auf. Eine Sekunde lang glaubten die Ausguckposten den Nebel zu durchdringen: Torpedoboote verbargen sich zwischen den Fischern. Im nächsten Augenblick tauchte im Scheinwerferlicht die Riesensilhouette eines feindlichen Kriegsschiffes aus dem Grau, das sonst alles umgab. Das Kriegsschiff feuerte. Jetzt löste sich in einer einzigen Sekunde der ungeheure Druck, der durch Monate über allen gelegen und den die Bangigkeit der Fahrt noch verstärkt hatte: alle russischen Schiffe feuerten, – im Nebel tobte die erste Seeschlacht. Zur Verstärkung kam die zweite Kolonne offenbar gerade im rechten Augenblick. Sie selbst fuhr noch in freier Sicht, geradezu auf die Nebelbank los, aus der der Gefechtslärm drang. Die zweite Kolonne griff ein. Auch ihre Geschütze feuerten. Eine blinde Kanonade überrollte das Meer. Plötzlich zog sich der Feind zurück. Das Geschützfeuer verstummte. Das erste Seegefecht war zu Ende. Admiral Rosdjestwenski dampfte weiter – –

Ungeheuer war der Lärm, der von dem Geschützdonner an der Doggerbank bei Hull durch die Welt ging. England bestritt, daß japanische Torpedoboote sich unter den englischen Fischern befunden hätten. Schadenersatz wurde verlangt. Englands Öffentlichkeit griff den Zaren an. Dann schwenkte sie um: den ganzen Zwischenfall hatte Kaiser Wilhelm ausgesonnen und herbeigeführt. Zusammenstöße zwischen England und Rußland sollten herbeigeführt oder Rußland ins deutsche Fahrwasser gebracht werden. Keine Grenzen kannte die Empörung des Zaren. Er schrieb in sein Tagebuch:

»15. Oktober. Freitag. Um die Mittagszeit bei mir eine kurze Konferenz mit Onkel Alexis, Lambsdorff und Avelan, betreffend das freche Benehmen Englands und die dazu zu ergreifenden Maßregeln« – –

»16. Oktober. Sonnabend. Unser Vorschlag von gestern an England, die Angelegenheit der Schießerei in der Nordsee dem Tribunal (sic) im Haag vorzulegen, hat seine Wirkung getan. Unsere räudigen Feinde haben sofort in ihrem Trotz nachgelassen und zugestimmt« – –

Kaiser Wilhelm hatte die deutsche Admiralität beauftragt, eine Untersuchung über die Vorgänge in der Nordsee anzustellen, soweit es für die Admiralität aus eigenen Beobachtungen und aus allen Nachrichten über den Zwischenfall möglich war. Die zweite Kolonne der russischen Schlachtschiffe war allein gefahren. Da sie Geschützdonner aus dem Nebel hörte, hatte sie an einen Angriff glauben müssen. Das erste russische Geschwader sollte ja längst an dem verabredeten Punkte am Kanaleingang halten, der weit südlicher lag. Die zweite Kolonne hatte also gegen den Angreifer losgefeuert. Daß eine Flottille von Fischerbooten eine ausgezeichnete Deckung für Torpedoboote war, bestritt die Admiralität nicht. Auch hatte sie Nachrichten, die angeblich von englischen Werften durchgesickert waren, daß »Torpedoboote fremder Nationalität« in der Nacht vor dem Gefecht an der Doggerbank die Werften in England verlassen hatten. Sie waren zu den Werften nicht wiedergekehrt. Dazu kam der genaue Bericht, den Admiral Rosdjestwenski über die Vorgänge dem Zaren erstattet hatte. Kaiser Wilhelm konnte den Sachverhalt nicht ganz durchdringen. Ob die Engländer sich vor dem Haager Schiedsgerichtshof reinwuschen oder nicht, ob sie etwa gar mit ihren Ansprüchen auf Schadenersatz durchdrangen, mußte sich nach der Haager Konferenz zeigen. Den Engländern traute der Kaiser nach seinen Erfahrungen alles zu. Vor allem die Entrüstung aus voller Unschuld, die nicht mehr wußte, was sie vor der Entrüstung getan. Aber wichtig war für den Kaiser nur eins: daß der Zar für jedes Freundeswort, das er ihm gab, nach dem Zwischenfall an der Doggerbank doppelt empfänglich sein mußte.

Indes dampfte Admiral Rosdjestwenski dem fernen Osten zu. Er hatte seine Pflicht getan. Rußlands Flotte hatte sich des Augenblicks würdig erwiesen. Dem Zaren hatte der Admiral die Tapferkeit der Schiffe gemeldet. Die aufschlußreichen Logbücher seiner Linienschiffe und Kreuzer steuerten in ihren Behältnissen weiter südwärts mit der genauen Eintragung:

»1 Uhr 35 Minuten (nachts). Das Geschwader gelangt in ein Gebiet, in dem sich eine Menge Fischerboote befinden.

1 Uhr 40 Minuten. Vor dem Geschwader erscheinen an Backbord und Steuerbord zwei Kriegsschiffe.

1 Uhr 41 Minuten. Befehl des Admirals, auf die verdächtigen Schiffe zu feuern.

1 Uhr 43 Minuten. Die verdächtigen Schiffe antworten durch Signal: es sind unsere Kreuzer ›Dimitri Donskoj‹ und ›Aurora‹.

1 Uhr 44 Minuten. Befehl des Admirals, das Feuer einzustellen.«

Der Spuk der Nordseeschlacht zerfiel in diesen Eintragungen. Die Schiffe der ersten Flottenkolonne waren im Nebel durcheinander geraten. Sie beschossen sich selbst. Sie lieferten sich ihre eigene Schlacht. Ausguckposten und Signalmannschaften waren unmittelbar von der Kronstädter Werft auf die Schiffe gekommen. Sie waren ohne alle Übung. Sie verwechselten Linienschiffe und Kreuzer, sie verwechselten überhaupt alle Schiffe. Anrufe und Signale, die den Irrtum hinausschrieen, verstanden sie erst am Ende der Schlacht. Sie hatten gegen einen Feind gekämpft, der echt war, wie Potemkins Dörfer. Sie hatten die Schlacht geführt, wie Helden von Gogol.

Admiral Rosdjestwenski las die Logbücher seiner Schiffe nicht. Wenigstens nahm er ihre Darstellung bei seinen Berichten nicht zur Kenntnis. Dem Zaren hatte er seine Erlebnisse gemeldet. Ein Krieg dauerte lang: dann war die ganze Doggerbank vergessen. Unangenehm berührte es den Admiral, daß eines Tages, noch während der Fahrt an Afrika entlang, das Haager Schiedsgericht die Logbücher einforderte. Ein Seeoffizier brachte sie zurück nach Paris, wo die Haager Kommission zusammengetreten war. Verdrossen dampfte der Admiral weiter nach der Straße von Tsuschima.

 

Kaiser Wilhelm aber hielt den Zeitpunkt für gekommen, abermals mit dem Zaren über die Möglichkeiten eines Kontinentalbundes zu sprechen. In seiner Erbitterung über die Engländer lieh ihm Kaiser Nikolaus zunächst willig sein Ohr: sogar gegen die Darlegungen seiner Ratgeber, die sich nicht für die Absichten der beiden Monarchen aussprachen. Obgleich der Zar erst darauf bestand, daß das deutsche Kabinett einen Entwurf des Abkommens erarbeiten sollte, obgleich er mit Kaiser Wilhelm darin einig war, daß Frankreich in die fertigen Abmachungen eingeweiht und zum Beitritte in die Bundesgenossenschaft verpflichtet werden sollte, drangen zum Schluß doch die Räte des Zaren mit ihrer Abwehr durch. Plötzlich verlangte der umgestimmte Zar, daß Frankreich nicht vor eine fertige Tatsache gestellt, sondern vorher befragt werden sollte. Kaiser Wilhelm fürchtete das Scheitern bei solchem Wege. Gerade die fertige Tatsache mußte Frankreich beeinflussen. Er nahm seinen Vorschlag zurück. Der Kaiser hatte auf die Anschlußbereitschaft in einem unglücklichen Kriege gerechnet. Über Amerika hatte er Nachrichten aus Japan erhalten, die mit Gewißheit den Niederbruch der Russen voraussagten. Im Gegensatz zu seinem eigenen Generalstab rechnete er mit dem Sieg der Japaner. Aber auch der Zar erhoffte immer noch günstigen Kriegsausgang durch seine Waffen. Die deutsche Hilfsbereitschaft, die Kohlen für seine Kriegsschiffe nahm er dankbar an. Da England in den Kohlenabgaben nahezu einen Bruch der Neutralität sah, obgleich Deutschland erklärte, sie nur bis in die Höhe von Madagaskar gewähren zu wollen, da England zum Schlusse deutschen Schiffen nicht mehr die Ausfahrt aus seinen Häfen gestatten wollte, wenn sie mit Kohlenvorräten den Geschwadern des russischen Admirals entgegendampfen wollten, so ließ Kaiser Wilhelm in Petersburg anfragen, ob Rußland wenigstens dann zu Deutschland stehen wollte, wenn es eben der Kohlenlieferungen wegen zu Konflikten käme. Graf Lambsdorff hatte alle Ursache, die Anfrage zu bejahen. Noch einmal wiederholte Kaiser Wilhelm daraufhin sein großes Angebot. Aber wiederum bestand der Zar darauf, vor dem Abschlusse eines Kontinentalbündnisses erst Frankreich zu befragen. Abermals lehnte Kaiser Wilhelm ab.

Noch schien der Zar vom Schicksal nicht hart genug getroffen, um die deutsche Freundschaft ohne Bedingungen anzunehmen. Noch erkannte er offenbar nicht, daß der Zeitpunkt näher rückte, da die gewaltige Landmacht Deutschlands, seine aufstrebende Flotte ihm auf alle Fälle ein ebenso beruhigender Bundesgenosse sein mußte, wie das den Engländern verbündete Frankreich. Ganz abgesehen davon, daß Frankreich vor solch übermächtigem Aufgebot, wie es Rußland mit Deutschland, mit dem ganzen Dreibund darstellte, gar nicht anderes tun konnte, als sich anzuschließen. Besonders heiter sah Kaiser Wilhelm die Zukunft nicht, wenn seine Pläne mißlangen. Die »Entente cordiale« war nicht mehr wegzuleugnen. Der Zivillord der britischen Admiralität verlangte offen, daß England den Deutschen das Bauen von weiteren Kriegsschiffen verbieten sollte. Die Haltung Deutschlands aus Anlaß des Abenteuers an der Doggerbank hätte deutlich gezeigt, was England eines Tages von Deutschland erwarten könnte. Es war das erste Mal, daß England sich schroff gegen die deutsche Flotte stellte: ein halbes Jahr nach der Aufstellung seiner Schlachtschiffe in der Nordsee. Der Bund mit Rußland schien dem Kaiser die notwendigste Sicherung. Port Arthur war gefallen. Noch eine Weile: dann mußte der Zar weit nachgiebiger sein – –

 

Kaiser Wilhelm fuhr ins Mittelmeer. Erst wollte er dem König von Portugal auf der Südreise einen Besuch abstatten. Dann die Fahrt nur der Erholung widmen. Aber der Reichskanzler Graf Bülow hatte noch einen dringenden Wunsch. Allem Anschein nach legte er ihm besondere Bedeutung bei. Der Kaiser sollte gerade auf dieser Mittelmeerreise in der marokkanischen Stadt Tanger anlegen. Unwillig wehrte der Kaiser ab:

»Nein« – –

Nichts hätte er dort zu suchen. Er fand, die Zustände in Nordafrika waren überhitzt genug. Wenn er in Tanger landete, so war das Aufsehen ungeheuer. Die marokkanischen Angelegenheiten sollten Frankreich, England und Spanien austragen. Vor Jahresfrist hatte er bei seinem Besuche in Vigo dem König Alfons von Spanien ausdrücklich eröffnet, daß Deutschland an keinerlei Einmischung oder gar Eroberung in Marokko denke. Diese seine Erklärung bedeute schon deshalb ein abgeschlossenes Wort, da der Kanzler sich damals mit Händen und Füßen dagegen gesträubt hätte, daß er dem König Alfons einen Gegenbesuch mache und unter Umständen die Frage mit ihm nochmals durchspreche. Aber Graf Bülow ließ keinen Einwand gelten. Er kam auf den von ihm gewünschten Besuch in Tanger immer wieder zurück:

»Es ist absolut nötig« – –

»Aber ich tue das nicht gern«, beharrte der Kaiser. »Ich will nachher nach Gibraltar. Das ist dann nicht sehr angenehm« – –

»Aber Euere Majestät müssen das machen« – –

Bis zur Abreise wiederholte der Kanzler ohne Unterlaß sein Verlangen. Er kam bis zum Schiff:

»Um Gottes willen, fahren Euere Majestät nach Tanger« – –

Kaiser Wilhelm gab keine Zusage. Er reiste ab.

 

In Tanger trieb der junge, ehrgeizige Legationssekretär Richard von Kühlmann, ganz erfüllt von den weltbestimmenden Möglichkeiten einer bisher zwar verfehlten, aber nicht endgültig verlorenen Auseinandersetzung über Marokko, mit zäher Energie auf eigene Faust heimlich, aber verbissen große Politik. Er hatte die Geschichte des Landes studiert, darin die Engländer sich schon im 17. Jahrhundert hatten festsetzen wollen, um die Fahrstraßen über den Atlantik – damals der einzige Weg nach Indien – und die Schiffahrt des Mittelmeers zu beherrschen. Sie hatten nicht Ludwigs XIV. phantastische Pläne, sich selbst die Vormacht über das mittelländische Meer durch einen gewaltigen »Canal du midi« zu sichern, den er hinter den Pyrenäen erbauen wollte. Englands schnelle und gute Schiffe halfen auf einfachere Art. Britische Forts wurden in Tanger angelegt. Dann stellten die Engländer fest, daß die Felsen von Gibraltar noch bessere Aussichten boten als Marokko. Sie zogen von Tanger fort. Erst der Kolonialsekretär Chamberlain fand, daß die marokkanischen Küsten, wenn er an die Seestraße nach dem neu besetzten Ägypten dachte, doch noch wichtig waren. Entweder sicherten sie selbst die Mittelmeerenge oder Frankreich verbürgte die Freiheit des Fahrens, wenn man ihm Marokko gab. Der Legationssekretär von Kühlmann dachte nach, was aus solchem Stand der Dinge für Deutschland zu gewinnen wäre.

Über die freien Rechte und den freien Handel in Marokko war 1880 der »Madrider Vertrag« von den Mächten unterzeichnet worden. Was Frankreich und England nunmehr mit Marokko taten, überdies von Spanien gefolgt, widersprach ganz gewiß den Abmachungen von Madrid. Deutschland wurde in seinem Handel geschädigt. Der Legationssekretär kannte den Sinn von »Einflußsphären«: die Soldaten der herrschenden Macht hatten zum Schlusse das Wort. Mit dem Handel war der Einfluß ausgeschaltet, Frankreich und Spanien hatten neue Kolonien, Deutschland ging leer aus. Wenn aber England das Land Marokko, das ihm gar nicht gehörte, zum Austausch für die Anerkennung seiner Macht in Ägypten verwandte, so konnte auch Deutschland die bescheidenen Rechte aus der Madrider Übereinkunft zu politischem Geschäft ausnutzen. Es mußte sie nur steigern, mußte sie aufblähen, damit sie als wirklicher, großer Wert erschienen. Der Legationssekretär stellte Schädigung und Verlust deutscher, berechtigter Ansprüche in Marokko fest. Wenn die Mächte Marokko unter sich aufteilten, so sollten sie Deutschlands Rechte ablösen. Nicht nur er dachte an die Zuerkennung Casablancas an Deutschland. Selbst in der Öffentlichkeit tauchte der Gedanke auf. Aber vor allem dachte der Legationssekretär daran, daß der Weg von solchen Verhandlungen und Geschäften fast immer zu noch größeren Abkommen zwischen den Völkern und Kabinetten führte. Die Verteilung von Vorteilen brachte die großen, politischen Einverständnisse. Die Bestätigung davon hatte man soeben in London erlebt. Freiherr von Mentzingen, der deutsche Gesandte in Marokko, vermochte so weiten Gedankengängen nicht zu folgen. Er hatte diplomatische, nicht staatsmännische Aufgaben zu erfüllen. Wirtschaftsgeographie und ihre Austauschwerte waren noch nicht das Fach seiner Schule gewesen. Der Legationssekretär von Kühlmann beschloß, ohne den Freiherrn zu tun, was für Deutschland möglich war.

Deutschland sollte den Bruch des Madrider Vertrages nicht dulden. Es sollte Lärm schlagen, damit man es besänftige. Von seiner Zustimmung hing jede Veränderung ab. Die Zustimmung sollte ihm zu hohem Preise abgekauft werden. Sechs oder acht Menschen, Mitglieder großer Zeitungen und junge Diplomaten, bedachte der Legationssekretär mit seinem besonderen Vertrauen. Die Absichten seiner eigenen Marokkopolitik hatte er in aller Bescheidenheit, mit sehr großer Vorsicht in Briefen dem Geheimrat von Holstein angekündigt. Merkwürdig genug: der Geheimrat widersprach weder, noch schickte er den Einunddreißigjährigen zur Abkühlung in einen anderen Kontinent. Wenn der Legationssekretär mit einem der acht Menschen frühstückte, wenn er mit ihnen in den alten englischen Festungsanlagen spazierte, entschlüpfte ihm jedesmal eine vertrauliche Mitteilung. Deutschland könne die Behandlung nicht dulden, die sich der französische Außenminister ihm gegenüber erlaube. Deutschland werde früher oder später seinen Standpunkt mit überraschender Klarheit ansagen. Frankreichs Haltung sei länger nicht mehr hinzunehmen. In scharfer, unzweideutiger Weise werde Deutschland sprechen – –

Die Unvorsichtigkeit des Legationssekretärs war Absicht. Was er den Sechs oder Acht sagte, sollte an jene Persönlichkeiten in Paris und London weitergeleitet werden, die ihnen nahestanden. Der Legationssekretär schuf sich seine »Kanäle«. Widerspruchsvolle Angaben leitete er zu dem französischen Außenminister Delcassé – –

Eines Tages empfahl er dem Vertreter der »Kölnischen Zeitung« die Veröffentlichung einer Depesche, deren Text er selbst verfaßt hatte. Wenn Deutschlands Anteilnahme an Marokko ganz besonders betont werden sollte, so konnte dies durch nichts besser und eindrucksvoller geschehen, als durch einen Besuch Kaiser Wilhelms, der auf seiner angesagten Mittelmeerfahrt die marokkanische Küste bald passieren mußte. Dem Vertreter der »Kölnischen Zeitung« diktierte er etwa:

»Vom Standpunkt der marokkanischen Bevölkerung aus werde die Landung des Kaisers warm empfohlen« – –

Die Depesche wurde abgegeben. Aber sie erschien nicht. Dagegen traf bei dem Legationssekretär von Kühlmann ein Telegramm des Auswärtigen Amtes ein. Die Veröffentlichung werde nicht zugelassen: die Anregung aber nicht ohne Wirkung bleiben. Daß der Legationssekretär so geschickt gewesen war, seine Unternehmung auch durch die Vertreter der Londoner »Times« und der Pariser »Agence Havas« einzuleiten, – beide hatten die gleichen Meldungen über die angebliche Stimmung in Marokko und über die Sehnsucht der Marokkaner nach einem Besuche Kaiser Wilhelms an ihre Zeitungen gesandt –, von dieser Rückversicherung des Legationssekretärs gegen die Niederschlagskünste des Geheimrats von Holstein wußte man damals im Auswärtigen Amte nichts. Die Berichterstatter hatten ihre Depeschen natürlich nur als eigene Eindrücke, als selbständige Studienergebnisse fortgegeben. Kanzler und Geheimrat nahmen den überraschenden Gedanken mit Feuereifer auf.

Schon seit geraumer Weile hatten auch sie eine selbständige Marokkopolitik beschlossen. Seit sie die Vorschläge des englischen Kolonialministers Chamberlain hintertrieben hatten, der sich mit Deutschland über Marokko hatte einigen wollen, seit sie Tanger und den atlantischen Küstenstreif verspielt hatten, gewann der ohne Nachdenken preisgegebene Boden in Nordafrika selbstverständlich ganz besonderen Wert. Außerdem bedeuteten die frohen Begrüßungsworte, die der Kanzler der Begründung der englisch-französischen Verständigung gewidmet hatte, zwar einen glättenden Trost für Reichstag und Öffentlichkeit. Aber in Wahrheit wollten Kanzler und Geheimrat den neuen Bundesgenossen doch einmal zeigen, daß man sich nicht einschüchtern ließ. Daß auch Schwierigkeiten bereitet werden konnten. Daß über Deutschlands Kopf hinweg keine Abmachung möglich war in der Welt. Man konnte sich auch rächen, wenn Chamberlain in seiner Dreistigkeit Verhandlungen mit Frankreich wagte, nachdem Deutschland ihn abgewiesen hatte. Von Frankreich war es überhaupt eine Anmaßung ohnegleichen, daß es weitere Bündnisse schloß. Frankreich war in elender Lage. Sein russischer Freund tappte von Niederlage zu Niederlage. Der »Bär« konnte jetzt »Marianne« schon gar nicht helfen. Gerade an Marokko, das den beiden Staatsmännern entrissen war, wollten sie Frankreich zeigen, daß auch England kein Schutz war gegen Millionen von Bajonetten, über die das starke Deutschland verfügte. Auf alle Fälle war es gut, den Franzosen ihre Lage vorerst einmal gründlich klar zu machen. Zweimal hatten Kanzler und Geheimrat im abgelaufenen Jahre versucht, irgendwo in Marokko den Anlaß zu einer Tat zu finden. Freiherr von Mentzingen hatte wiederholt darüber berichtet, daß die Franzosen begannen, sich ganz regelrecht in Nordafrika einzurichten. Die beiden Staatsmänner hatten dem Sultan daraufhin den Konsul Vassel nach Fez geschickt, um ihn gegen Frankreich aufzustacheln. Schriftlich verlangten sie von ihm, daß er auf dem Madrider Abkommen von 1880 beharre. Der Sultan haßte die Franzosen. Er haßte auch die Engländer, von denen er sich verraten sah. Er begriff, daß Deutschland ihm das Rückgrat steifte. Dem Kanzler selbst war die kommende Entwicklung weniger klar:

»Unsere Haltung in dieser Beziehung gleiche vorläufig derjenigen der Sphinx, die, von neugierigen Touristen umlagert, auch nichts verrät!«

Nur so viel wußte der Kanzler, daß die Herausforderung Frankreichs, die er anstrebte, groß sein sollte. Überaus glücklich fand er die Anregung des Legationssekretärs von Kühlmann, die als Einleitung späterer Verständigungsgespräche gedacht war.

Zur Herausforderung der Franzosen mußte der Kaiser nach Tanger gehen.

 

Die Ruhe der Seefahrtstage nach Lissabon hatte den Kaiser in dem Entschluß bestärkt, daß er von der Landung in Tanger abstehen wollte. Er hatte die Angelegenheit noch auf dem Schiffe mit dem ihm zugeteilten Vertreter des Auswärtigen Amtes wiederholt durchgesprochen. Er fürchtete Verwicklungen.

Alles, was mit Marokko zusammenhing, widerstrebte ihm. Die Vorteile einzelner deutscher Geschäftsleute, die dem Kanzler mit allerlei Interessen in den Ohren lagen, waren kein Grund, zwei Völker zu veruneinigen. Vor Jahresfrist hatte es in Tanger völlig bedeutungslose Zwischenfälle mit ein paar Arabern oder Negern gegeben, die in einem deutschen Kontor angestellt waren. Der Kanzler hatte dazu irgendeine Vertragsverletzung ausgeklügelt und ein Kriegsschiff zur Wahrung des deutschen Ansehens nach Tanger schicken wollen. Der Kaiser hatte es verboten. Aus anderem Anlaß war von dem Kanzler später eine Flottendemonstration in Marokko geplant. Der Kaiser hatte auch dieses Abenteuer untersagt. Er witterte Kriegsmöglichkeiten. Dem Außenminister Delcassé traute er alles zu. Auch wußte er nicht, wie weit die englischen Zusagen an Frankreich vom 8. April 1904 gingen. Jedenfalls hatten sie mehr als nur die diplomatische Unterstützung den Franzosen gewährt. Der Kaiser wollte überhaupt nicht, daß Frankreich gereizt werde. Er hatte seine Pläne mit dem Zaren. Frankreich spielte darin eine wesentliche Rolle. Sinnlos war es, die Franzosen, wenn man sie brauchte, vorher zu verhetzen. Dem Kanzler ließ er depeschieren, daß die Landung in Tanger aufgegeben sei. Dann unterbrach er in Lissabon die Reise.

 

Besuch und Erholung hatte er sich ein wenig anders vorgestellt. Vom Hafen in Lissabon fuhr ihn der König in der vierspännigen, vergoldeten Glaskarosse aus dem 17. Jahrhundert vier Stunden lang auf furchtbaren Straßen, auf denen die Karosse mehr tanzte und splitterte als rollte, nach dem Prunkschlosse von Belem. Es war ein endloses Schaukeln auf knarrendem Brett, das seit den Tagen des Sonnenkönigs nicht mehr erneuert war. Gleichmütig rauchte der dicke König Carlos seine Havanna, bis die Staatskarosse endlich ein holpernder Nebelball hinter Glas war.

»Du mußt nicht glauben, daß dieser Aufzug Dir zu Ehren geschieht«, meinte nach zwei Schweigestunden der König. »Aber das Volk besteht darauf. Jeder Herrscher, der zum erstenmal zu uns kommt, muß so fahren« – –

Der Kaiser fügte sich höflich in die Sitten von Hof und Land. Er machte bei tropischer Hitze die Feste mit: von drei Uhr nachmittags im Paradeanzug seines portugiesischen Kavallerieregiments bis drei Uhr nachts. Er rauchte mit der Königin Zigaretten in der Galaoper, weil der König auch im Theater auf seine Zigarre nicht verzichten wollte und die Königin eine Szene fürchtete, wenn sie den kaiserlichen Gast nicht zum Rauchen brachte. Der Kaiser staunte über die Unordnung und Verworrenheit an allen Ecken und Enden. Noch war er nie an solchem Hof gewesen.

»In Portugal«, beruhigte ihn der Botschafter von Radowitz, »darf Euere Majestät das nicht verwundern. Ich staune hier über gar nichts mehr«.

Kaiser Wilhelm war froh, wenn auch völlig erschöpft, als er auf seinem Schiffe wieder eintraf.

 

Aber dort warteten die Depeschen des Reichskanzlers auf ihn. Der Kanzler war erregt. Sein Ton kategorisch. Der Meinung des eigenen Volkes müsse auch Seine Majestät Rechnung tragen. Die Meldungen der »Times« und der »Agence Havas« waren von den deutschen Blättern übernommen worden. Der Kanzler berief sich auf den Reichstag, der gleichfalls die Landung verlange. Die Volksmeinung hätte »sich für einen solchen Schritt nun einmal erwärmt.« Der Kaiser konnte die ganze Angelegenheit nur nach dem eigenen Gefühl beurteilen. Graf Bülow mußte sie mit dem Staatssekretär und mit dem Geheimrat von Holstein besprochen haben. Er berief sich auf den Reichstag, auf die Öffentlichkeit, auf das ganze deutsche Volk in aller Form. Einmal hatte Kaiser Wilhelm II. nach seiner Überzeugung gegen solch ein Aufgebot nach eigenem Urteil gehandelt. Er hatte England mit betonter Freundlichkeit im Burenkrieg besucht. Vieles zwischen England und Deutschland hatte er damals ausgeglichen. Aber das ganze deutsche Volk hatte sich in der Stimmung sofort gegen ihn gewendet. Seine Stellung hatte nur gelitten.

Er schwankte, was er tun sollte. Er fuhr weiter. Aber das gute Wetter hatte umgeschlagen. Er fuhr jetzt durch Regen und Sturm.

Der Legationssekretär von Kühlmann hatte inzwischen die Vorbereitungen zur Landung getroffen. Aus Lissabon hatte er von Bord der »Hamburg«, auf der der Kaiser als Albert Ballins Gast reiste, vertrauliche Meldungen erhalten. Scharfe Widerstände machten es zweifelhaft, ob Kaiser Wilhelm an Land gehen werde. Vom Reichskanzler Grafen Bülow kam gleichzeitig ein Telegramm. Der deutsche Geschäftsträger von Kühlmann würde, da die Landung in der Öffentlichkeit bereits bekannt sei, persönlich dafür verantwortlich gemacht, daß Kaiser Wilhelm den Besuch auch ausführe – –

Der Sturm hatte sich in der Nacht vor der Ankunft der »Hamburg« sehr verstärkt. Die See ging unter schwerem Himmel mit hohem Gang. Die Landung konnte schwierig sein. Die Wahrscheinlichkeit bestand, daß die Umgebung des Kaisers und auch der Kaiser selbst darin eine Ausflucht sah. Der Legationssekretär beschloß, alle Einwände wegen der Landungshindernisse von Anbeginn zu entkräften. Er holte die Galauniform der I. Ulanen hervor. In Lackstiefeln, mit Schärpe und Busch begab er sich auf einen offenen, kleinen Schlepper, um der »Hamburg« entgegenzufahren. Tanger hatte damals nur einen Landungspier. Man stieg auf offener Reede ans Land. Angenehm war das Landen unter solchen Umständen bei schlechter See gewiß nicht. Aber der Legationssekretär in Galauniform auf offenem Schlepper bewies, daß das Kommen von der Küste, das Gehen an die Küste immer noch eine durchführbare Handlung war.

Den Chef der Kriminalpolizei, der aus der Reichshauptstadt wegen der vielen, von Vertrauensleuten angesagten Anarchisten nach Tanger vorausgeschickt worden war, nahm der Legationssekretär mit. Seekrank wand sich der Kriminalist auf dem Schlepper. Das kleine Schiff selbst tanzte. Endlich kam die »Hamburg« in Sicht. Der Legationssekretär verlangte an Bord genommen zu werden. Aber beide Fahrzeuge schwankten so sehr, daß er die »Hamburg« nur über die ihm zugeworfene Lotsenstrickleiter erklimmen konnte. Er wirbelte mit ihr eine ganze Weile in der Luft herum. Sie klatschte und schlug ihn an die Bordwand. Endlich kam er oben an. Er hatte keinen trockenen Faden am Leibe.

Von der Kommandobrücke hatte der Kaiser den Kunststücken des Legationssekretärs zugesehen. Er empfing ihn mit großer Freundlichkeit, aber erklärte sogleich, daß die Landung aufgegeben sei. Der Legationssekretär kämpfte mit großer Kühnheit. Die ganze Welt sehe auf den marokkanischen Besuch des Kaisers. Überall sei er angekündigt, von nichts anderem sei die Rede. Groß die Vorbereitung in Tanger. Dort warte der Oheim des Sultans. Eine glänzende Sondergesandtschaft sei abgeordnet, um den Monarchen zu begrüßen. Wenn der Kaiser weiterfahre, ohne an Land zu gehen, so sei erstens die Unhöflichkeit gegen den Sultan heftig. Niemand könne sie entschuldigen. Natürlich hätte dies auch innere Auswirkungen auf den Sultan. Der Öffentlichkeit aber würde bloß Stoff zum Spott geliefert. Der persönliche Mut des Kaisers könne angezweifelt werden. Unter Umständen erwuchsen daraus erst recht Verwicklungen, die keiner absehen konnte.

Verdrossen hörte der Kaiser zu. Dennoch hatte der von Wasser triefende Legationssekretär den Eindruck, daß er sich seinen Gründen nicht ganz verschloß. Der Kommandant der französischen Kriegsschiffe, die vor Tanger lagen, kam in diesem Augenblick an Bord, um sich bei Kaiser Wilhelm zu melden. Der Herrscher befragte ihn über die Möglichkeiten einer Landung. Der französische Kommandant schilderte sie in den schwärzesten Farben. Vom kaiserlichen Gefolge sollte eine kleine Gruppe an Land gehen, um sich von den Schwierigkeiten oder ihrem Gegenteil, zugleich von den Vorbereitungen des Sultans zu überzeugen. Ein wenig hatte sich die See beruhigt. Die kleine Gruppe fuhr mit dem Legationssekretär fort, dann kam sie mit beruhigenden Versicherungen zurück. In der Tat wären die getroffenen Vorbereitungen zum Empfange ungeheuer. Auch die Reitpferde für den Einzug seien sorgsam ausgewählt worden. Die Verstimmung des Kaisers hatte nicht nachgelassen. Das Gefolge stand stumm, ohne den Wunsch, ihm allzu nahe zu kommen. Aber jetzt setzte der Kaiser mit rauher Bewegung den Helm auf:

»Wir gehen an Land« – –

In der Gardeuniform, mit den Abzeichen des Feldmarschalls, den Armeerevolver an der Seite, fuhr er hinüber.

Am Landungspier stand der Oheim des Sultans. Feierlich hatte die Sultansgesandtschaft aus Fez sich aufgestellt. Der Kaiser hielt die kurze Ansprache, die der Reichskanzler gefordert hatte: Deutschland werde unbedingt die Unabhängigkeit des Sultans stützen. Man stieg zu Pferde. Menschenmassen ohne Absehen, braun und schwarz, aber alle Eingeborenen in hellen, flatternden Burnussen, stauten sich in weitem Abstand. Der Einzug begann durch die Vorstädte.

Langsam ritt der Kaiser, Schritt für Schritt, durch steile, steinige, enge Gassen. Vor ihm in greller, roter Uniform ein marokkanischer General: Mac Lean, der englische Vertraute des Sultans, einst Unteroffizier in der britischen Heimat, ein ausgezeichneter Dudelsackpfeifer. Er war mit einem riesengroßen, tiefschwarzen Araber gekommen, seinem Adjutanten oder Sekretär. Neben dem Kaiser zu Fuße General von Scholl rechts, General von Plessen links. Sie wollten auf alle Fälle da sein. Dann zu beiden Seiten die arabischen Soldaten, die der Sultan zur Eskorte geschickt hatte. Sie marschierten in lebhafter Unterhaltung ihren Weg, wendeten sich immer wieder um und riefen Bekannte an. Ihre scharf geladenen Gewehre fuchtelten unablässig in der Luft, bald waren sie mit ihren Bajonetten unter der Nase des Kaisers, bald stachen die Bajonette in das Hinterteil des Schimmels, den der Kaiser ritt. Das Tier war gutmütig oder solche Dinge gewohnt: gerade dieses Tier – »die Taube des Friedens«, wie der Legationssekretär von Kühlmann meldete – hatte der Sultan als Symbol und aus Besorgnis für den Kaiser geschickt. Unbeschreiblicher Lärm umgab den Zug. Er kam an dem Marktplatz vorbei. Eine große Anzahl etwas verwahrloster Männer schwenkte mit lautem Geschrei spanische Fahnen. Sie warfen dabei ihre Mützen in die Luft. Der Kaiser hielt:

»Was sind das für Leute?«

Der Chef der Kriminalpolizei meldete:

»Das sind die spanischen Anarchisten, Majestät« – –

»Wie kommen denn die dazu,« fragte der Kaiser, »mich leben zu lassen?«

Die Soldaten des Sultans standen mit schußbereiten Gewehren da. Sie ließen nur einen alten Engländer durch. Es war der Älteste der englischen Kaufmannschaft von Tanger. Er trat nahe an den Kaiser heran:

»Ich bin ein Engländer und im Namen der englischen Kaufleute gekommen, um Euerer Majestät für die Landung zu danken. Sie hat alle Engländer hier davor bewahrt, von den Franzosen hinausgeschmissen zu werden. Wir hatten schon unsere Koffer gepackt« – –

Er überreichte dem Kaiser eine Reihe von Ansichtskarten zur Erinnerung. Der Kaiser dankte, der Engländer verabschiedete sich höflich und trat zurück. Es wurde niemand mehr in die Nähe des Gastes gelassen. Dem Chef der Kriminalpolizei war der Befehl des Sultans an die Soldaten bekannt gegeben worden: den Anarchisten insgesamt den Garaus zu machen, wenn das Geringste geschähe.

Endlich traf der Zug vor der deutschen Gesandtschaft ein. Der Kaiser bog in den Gesandtschaftsgarten und der Legationssekretär von Kühlmann, der die dazu nötigen Summen schon vorher bezahlt hatte, gab das Zeichen: »to make a powder play.« Die Gewehre von einigen tausend Arabern, auf dem Plan vor der Gesandtschaft aufgestellt, krachten in die Luft. Sofort stieg der Schimmel des Kaisers hoch, unmittelbar vor dem Pavillon der wartenden, fremden Diplomaten. Sie stoben von ihren Sitzen auf, der Kaiser riß den Gaul nieder, dann saß er von der »Taube des Friedens« ab. Der französische Geschäftsträger Graf Chérisey wurde empfangen. Das diplomatische Corps von Tanger machte seine Aufwartung. Es gab noch ein schnelles Frühstück. Dann nahm der Kaiser den Vorbeimarsch der marokkanischen Truppen ab. Der Engländer als marokkanischer General führte die erste Kolonne. Ein französischer Offizier befehligte die zweite Hälfte. Legationssekretär von Kühlmann regte an, dem französischen Kommandanten den Roten Adlerorden mit dem Grade seines Ranges zu verleihen. Die militärischen Begleiter des Kaisers sprachen sich gegen die Auszeichnung aus. Noch einmal meldete sich der Oheim des Sultans, ein achtzigjähriger Mann. Ihm war eingefallen, daß er sich noch entschuldigen müßte, weil er nicht gleich auf das Schiff des Kaisers gekommen wäre. Aber er hätte bisher nur im Innern des Landes gelebt. Das Meer hätte er zum erstenmal gesehen. Das Wasser sei ihm zu unruhig gewesen. Dann traten vor der Stadt eingeborene Reiter an, um eine »Fantasia« vorzuführen, Reitertänze und Gefechte. Aber der Kaiser sagte ab. Die Zeit gestatte das Schauspiel nicht mehr. In theatralisch mühsamem Aufzuge, wie man gekommen war, ging es zurück zu dem Schüfe. Der Kaiser ritt mit finsterem Gesicht, das die Lächerlichkeit des Aufzuges noch erhöhte, über die er sich erbitterte – –

Er steuerte nach Gibraltar hinüber. Bei der Einfahrt in den Felsenhafen rammte durch ein nicht ganz glückliches Manöver der Begleitkreuzer der »Hamburg« beinahe ein englisches Schiff. Das Mißgeschick drückte auf die Stimmung des Kaisers, wie der Engländer. Vor einem Jahr noch war er in Gibraltar mit all der Artigkeit und Herzlichkeit aufgenommen worden, die Engländer für willkommene Gäste haben. Kühl und steif standen diesmal in Gibraltar die englischen Admirale und Generale. Sie sprachen kein überflüssiges Wort: die erste Wirkung des Besuches von Tanger. Rasch fuhr der Kaiser weiter.

Voll Bewegung erwartete ihn daheim der Kanzler. Mit allen sichtbaren Zeichen der Anhänglichkeit, der Rührung und unterdrückter, endlich gelöster Sorge umgab er den Heimgekehrten:

»Ich habe gezittert!« bekannte er in offenem Freimut. »Als ich die Mitteilung bekam, daß Euere Majestät lebendig aus Tanger heraus sind, bin ich am Schreibtisch weinend auf meinem Stuhl zusammengebrochen, mit einem Dankgebet zum Himmel« – –

»Wozu haben Sie mich dann hingeschickt?« fragte der Kaiser. »Ich verstehe das Ganze nicht« – –

»Das war für meine Politik nötig«, antwortete der Kanzler. »Euere Majestät habe ich den Franzosen als Fehdehandschuh hingeworfen. Ich wollte sehen, ob die Franzosen mobilisieren werden.«

 

Dem Kaiser versagte erst die Antwort. Der Kanzler wollte also den Krieg. Oder spielte mit solcher Möglichkeit. Daraus wurde nichts. Der Kaiser hatte Gibraltar wiedergesehen. Ein Krieg, der England gegen Deutschland aufbieten konnte, bedeutete Wahnsinn. Er hielt dem Kanzler einen Vortrag, daß er selbst den Frieden wolle. Nichts als den Frieden. Keinerlei Verwicklungen. Mit Frankreich schon gar nicht. Daß die Franzosen Deutschland bei aller Friedensbemühung nicht so schnell wieder lieben würden, könne er sich denken. Aber wenigstens »auf einen anständigen Grüßfuß« wollte er mit ihnen kommen. Verschiedene Wege wußte er, um doch eine Verständigung mit ihnen herbeizuführen. Alle wollte der Kaiser gehen – –

Und zwar schleunigst.

Über den Kaiserbesuch in Tanger stürzte der Außenminister Delcassé. Deutschlands ganze Haltung in der marokkanischen Angelegenheit war ohne Frage eine schwere und bewußte Aufreizung. Dennoch hatte der Minister erst lange geschwankt, ob er die Herausforderung annehmen sollte. Die Vereinbarungen mit England hatten den Franzosen neue Kraft und neue Aussicht auf Widerstand gegen ihren deutschen Nachbarn gegeben. Aber Frankreich wollte, wenn man von den nationalistischen Kampfhähnen absah, die zu allen Zeiten von der Rache für 1870 träumten, keinen Krieg. Auch hielt der französische Ministerpräsident Rouvier einen neuen Zusammenstoß der beiden Völker für verbrecherischen Wahnsinn. Den Außenminister erfüllte die Sorge, wie er an der Macht bleiben könnte. Auf Umwegen ließ er darum Vermittlungsvorschlage an das deutsche Kabinett gelangen. Dem deutschen Botschafter in Rom, dem Grafen Monts, wurden vertraulich von italienischer Seite Anregungen des französischen Außenministers übermittelt, die Graf Monts weitergab. Delcasse bot Deutschland den Hafen von Casablanca an. Noch ein zweiter Hafen an der Atlantis sollte den Deutschen zufallen. Frankreich wollte Deutschland ferner in Kleinasien unterstützen. Den Bau der Bagdadbahn beabsichtigte Frankreich zu fördern. Außerdem blieb noch ein weiterer Wunsch den Deutschen frei. Sie sollten selbst nennen, was sie noch wollten. Wenn die Erfüllung im Bereiche der Möglichkeiten lag, hätte Deutschland dabei Frankreichs Unterstützung.

Reichskanzler Graf Bülow sah sich in großer Verlegenheit. Den Sultan von Marokko hatte er gegen Frankreich im Widerstand bestärkt. Er hatte ihm bestimmte Zusagen machen lassen. Von Tanger aus hatte ihm der Legationssekretär von Kühlmann den Gedanken einer Konferenz der Mächte eingeflößt, bevor noch irgendein anderer an solche Lösung der Marokkofrage dachte. Der Legationssekretär hatte den Sultan überzeugt, die beste Ablehnung aller französischen Forderungen, die ihm als eine Art Ultimatum bekannt gegeben waren, sei die öffentliche Erklärung, daß er das Ultimatum nur annehme, wenn alle Mächte seine Billigkeit anerkannten. Sofort hatte sich der Sultan an das deutsche Kabinett gewendet, ob es ihn in der angegebenen Haltung unterstütze. Ideenarm, wie der Kanzler war, ohne die Fähigkeit, aufgenommene, fremde Gedanken wenigstens bis zum Ende durchzudenken, hatte Graf Bülow den neuen Plan im Augenblick begeistert aufgegriffen. Den Sultan hatte er wissen lassen, daß Deutschland bei dem Plane einer Konferenz hinter ihm stehe. Jetzt meldete Graf Monts die französischen Anerbietungen. Der Kanzler konnte sie nicht annehmen, ohne den Sultan im Stiche zu lassen. Auch fiel ihm ein, daß Kaiser Wilhelm in Vigo dem Könige von Spanien alle Erwerbungsabsichten in Marokko bestritten hatte. Der Kanzler war damals mit der kaiserlichen Erklärung nicht zufrieden gewesen. Statt ihren Inhalt in einer zweiten Unterhaltung, die der Gegenbesuch des Kaisers bei König Alfons bringen mußte, nach seinen Wünschen abändern zu lassen, hatte er den Gegenbesuch vereitelt. Also bestand zu Recht, was der Kaiser damals gesagt hatte. Der Kanzler wußte selbst nicht, was er wollte: ob Ausgleich mit Frankreich, ob Neuerwerb von Kolonialland, ob Krieg. Nur der Gedanke an Frankreichs »Demütigung« kehrte immer wieder in seinen Erwägungen. Sein Ratgeber Baron Holstein aber kam allmählich zu kühneren Absichten. Der Chef des Generalstabes Graf Schlieffen beeinflußte ihn. Der General dachte noch weit mathematischer als der ewige Mathematiker Baron Holstein. Rußland konnte sich im Augenblick nicht rühren. In fünf oder zehn Jahren waren seine japanischen Erlebnisse verwunden. Dann stand vielleicht eine russische Armee an den deutschen Ostgrenzen. England konnte die 100 000 Mann, von denen Delcassé so viel und so vertraulich sprach, daß die deutschen Agenten die Meldung schließlich nach Berlin gaben, den Franzosen in einem Kriege wegen Marokko wirklich zu Hilfe schicken. Aber der Zuwachs hatte, wie die Dinge in der Gegenwart lagen, trotzdem nur wenig zu besagen. Der Generalstabschef war für die gründliche, rascheste Klärung des Verhältnisses zu Frankreich: mit den Waffen. Keinen Weltkrieg in zehn oder zwanzig Jahren, sondern so gründliche Ordnung sofort, daß es danach keinen Weltkrieg mehr gab. Frankreich sollte herausgefordert werden. Bis es zu den Waffen greifen mußte.

»Wenn die Franzosen nicht nachgeben wollen«, führte Graf Schlieffen dem Geheimrat aus, »so lassen Sie sie gegen uns anrennen! Sie laufen ja in unsere Gewehre« – –

Noch war Baron Holstein nicht so weit. Entschlüsse durften nie überstürzt werden. Vielleicht kapitulierten die Franzosen ohne Krieg. Vorläufig genügte es, sie zu demütigen. Daß man wegen Kaiser Wilhelms Worten zu König Alfons und des Sultans wegen die Angebote Frankreichs nicht gut annehmen konnte, war gewiß unangenehm. Um so mehr, als dann niemand begriff, wozu man die Franzosen reizte und was man eigentlich von ihnen wollte. Gleichwohl waren Kanzler und Geheimrat einig: zunächst sollten die Franzosen sich ängstigen. Graf Bülow lehnte Casablanca, den anderen Hafen, die Zugeständnisse in Kleinasien, den ihm freigestellten Wunsch ab. In Marokko sollte erst der »Status quo« bestehen bleiben. Dann war man bei der Konferenz. Später konnte sich alles wieder wenden.

Erstaunt war Graf Monts. Noch mehr, als die Franzosen geboten hatten, konnte man gar nicht verlangen. Ohnehin war dies fast alles: eine Verständigung, ähnlich dem Abkommen zwischen England und Frankreich, über die wichtigsten kolonialen Fragen. Die Gesamtregelung über alle afrikanischen Angelegenheiten konnte, soweit sie nicht englisch waren, den ersten großen Schritten folgen.

»Dies alles sah Bernhardus Magnus nicht« – –

Schon in den ersten Maitagen 1905 übte Graf Monts gegenüber dem Botschaftssekretär Freiherrn von der Lancken im Schloß Fossanova, wo sie beide die Gäste des Principe Borghese waren, harte Kritik an dem Kanzler. Vom Grafen Bülow wollte der Botschafter wenigstens die Gründe für die Abweisung Delcassés hören. Noch wagte der Kanzler das Einbekenntnis nicht: daß er »den Skalp Delcassés haben« wollte, daß dieser »Skalp« an seinem Sattel hängen sollte, damit der Eindruck auf Kaiser und Welt gewaltig sei. Noch war er bescheidener:

»Das Angebot könne man aus Gründen des monarchischen Prinzips nicht annehmen. Das monarchische Prinzip würde schwer geschädigt, wenn man auf diese Weise den Sultan zum Scheinfürsten erhebe« – –

Zweifelhaft ist, ob der Botschafter es wagte, die Absage in dieser Form dem italienischen Vermittler für den französischen Außenminister weiterzugeben. Graf Monts war immer geistreich, meist dabei bissig. Aber auf Komikerrollen erhob er keinen Anspruch.

 

Delcassé sah einen einzigen Ausweg, wenn er sich halten wollte: Frankreichs Ehrgefühl selbst zu reizen und Widerstand bis zum Äußersten zu leisten. Er wollte es nunmehr darauf ankommen lassen, ob die Marokkofrage zum Kriege trieb. Den Konferenzgedanken wollte er abweisen. Aber er hatte die Stimmung des Volkes doch unterschätzt, die gegen den Krieg und schon gar gegen einen Krieg mit zweifelhaften Aussichten war. Auch hatte er die Schwäche nicht erkannt, die seiner eigenen Stellung durch die vielfachen, von der deutschen Gesandtschaft in Tanger so geschickt ausgestreuten Warnungen der übrigen Minister anhaftete.

Im Kabinettsrat berief er sich auf Englands Freundschaft. Er schlug die Ablehnung einer Konferenz über Marokko vor. Den Krieg mit Deutschland war er bereit auf sich zu nehmen. Aber einstimmig fielen die Kabinettsmitglieder über ihn her. Der Kriegsminister stellte fest, daß Frankreich zu einem Waffengange nicht gerüstet sei. Der Außenminister verkenne die ganze Lage. Er hätte sie von Anfang an verkannt. Die kommenden Verwicklungen Marokkos wegen habe er überhaupt nicht gesehen. Alle Warnungen hätte er in den Wind geschlagen. Alle seine Kollegen hätten Nachrichten über den bevorstehenden Besuch Kaiser Wilhelms in Tanger gehabt. Nur er selbst hätte den Besuch für ein Hirngespinst angesehen. Dann war alles so gekommen, wie die Warnungen es angesagt hatten: der Besuch des Kaisers war Tatsache geworden, die Verwicklungen waren eingetreten. Niemand im ganzen Kabinett hatte noch fünf Minuten länger Vertrauen zu einem Außenminister von solchem Leichtsinn – –

Delcassé war im nächsten Augenblick gestürzt. Der Ministerpräsident Rouvier übernahm selbst seine Geschäfte.

 

Von Stolz erfüllt war der Reichskanzler Graf Bülow. Er hatte immer gewußt, wie mit den Franzosen umzugehen war. Dem Ministerpräsidenten Rouvier hatte er bloß angedeutet, daß für Frankreich in seinen Beziehungen zu Deutschland erst dann wieder bessere Tage kommen könnten, wenn Delcassé vom Schauplatz abtrat. Gleich darauf hatte Rouvier von selbst angeboten, Delcassé zu entfernen. In Wahrheit hatte dem an sich nachgiebigen, versöhnungsbereiten Ministerpräsidenten am eindringlichsten der Fürst Albert von Monaco zu dem Schritt geraten. Der Fürst stand mit Rouvier freundschaftlich. Während der Kieler Wochen und anderer Anlässen war er häufig Gast des deutschen Kaisers. Von seinen Beziehungen zu dem französischen Ministerpräsidenten hatte er Kaiser Wilhelm berichtet und sie in den Dienst eines Ausgleichs gestellt. Der Kaiser hatte dem Fürsten unzweideutig klargemacht, daß er weder Krieg, noch Konflikte, noch Schärfen mit Frankreich wünschte. Dann hatte der Fürst seinen Einfluß auf Rouvier ausgespielt. Wenn der Kaiser wirklich, wie der Fürst von Monaco immer wieder beteuerte, Frieden und anständige Nachbarschaft mit Frankreich wollte, so sollte Delcassé nicht im Wege stehen. Er fiel.

Um die gleiche Zeit sprach Kaiser Wilhelm mit dem Botschafter Fürsten Radolin. Er wies ihn auf die glücklichen Möglichkeiten hin, die durch die Freundschaft des Fürsten von Monaco mit Rouvier bestanden. Der Botschafter sollte sie verwerten. Der Kaiser verlangte die Verständigung. Dennoch führte Fürst Radolin, kaum nach Paris zurückgekehrt, gegenüber Rouvier eine heftige Sprache. Er versicherte dem französischen Ministerpräsidenten, der nach der Opferung Delcassés wenigstens ein gewisses Maß deutscher Freundlichkeit erwartete, daß Deutschland »mit seiner ganzen Macht« hinter dem Sultan von Marokko stehe. Er betonte sie vor Rouvier »mit drohenden Vorhaltungen«, die er schriftlich nach Berlin bestätigte.

»Was machen Sie denn für Unsinn?« fuhr ihn beim nächsten Wiedersehen der Kaiser an. »Ich gab doch ganz bestimmte Instruktionen. Sie machen gerade das Gegenteil!«

Der Botschafter erbleichte.

»Jawohl, Majestät! Aber die Gegeninstruktion, die ich erhalten habe« – –

»Ich bin doch immer ganz klar?« herrschte ihn der Kaiser an. »Was ist denn da los? Von wem haben Sie Gegeninstruktion erhalten?«

»Von Baron Holstein … Ich mußte annehmen, daß es Gegeninstruktionen Euerer Majestät sind« – –

Nicht nur der Geheimrat hatte den Befehl des Kaisers in seinen Briefen an Fürst Radolin umgestoßen. Auch der Kanzler hatte dem Botschafter die scharfe Tonart gegenüber dem französischen Botschafter aufgetragen. Sie hatten sich dabei beide ausdrücklich auf Willen und Auffassung des Kaisers berufen.

Gebieterisch und streng wollten Kanzler und Geheimrat bleiben, bis Frankreich in das Zustandekommen der Konferenz einwilligte, die der Sultan selbst eine Woche vor Delcassés Sturz beantragt hatte. Auch in die Konferenz wollte der französische Ministerpräsident willigen, wenn man sich vorher nur über die Zugeständnisse einigte, die Deutschland an Frankreich gewähren wollte. Aber der Reichskanzler lehnte ab. Erst sollte Frankreich sich beugen, bedingungslos und ohne alle Rechtstitel, – dann konnte man es vielleicht wieder gnädiger behandeln.

Der französische Ministerpräsident wurde wieder unsicher. Zu viel durfte er dem Ehrgefühl der Franzosen nicht zumuten. Gleichzeitig sprang Unruhe trotz ihres Machtrausches auf Kanzler und Geheimrat über. Die Angelegenheit wurde schlimm, wenn Rouvier ganz abbrach. Der Ministerpräsident versuchte es noch einmal. Frankreich hatte mit Marokko eine weite Grenze. Wenigstens vor Algier hatte es ein Recht auf Ruhe und Ordnung. Die Konferenz sollte nach Rouviers Vorschlag berechtigt sein, an Frankreich die Erlaubnis zu polizeilichen Schutzmaßnahmen zu geben. Kanzler und Geheimrat von Holstein studierten Rouviers Schriftstück. Sie wünschten Änderungen im Ausdruck. Der französische Ministerpräsident machte Gegenvorschläge. Ihren Kern sah weder Graf Bülow, noch Baron Holstein: daß Frankreich doch mit gewissen, von Deutschland schon anerkanntem Anspruch zur Konferenz kommen sollte. Was sich daraus auf der Konferenz selbst entwickelte, war in der Hoffnung Rouviers eine Sache von Frankreichs späterer Geschicklichkeit und der Unterstützung der Mächte, die es bis dahin suchen wollte. Die deutschen Staatsmänner stimmten Rouviers Forderung zu. Dann scheiterten auch seine letzten Bemühungen, Frankreich die Konferenz zu ersparen.

Der Gesandte Rosen als Deutschlands neuer Vertreter in Tanger auf dem Wege nach Marokko, verhandelte eine Weile noch in Graf Bülows Auftrag in Paris über die Gegenstände und den Schauplatz der Konferenz, über all die neuen Möglichkeiten, die ein Vertrauensmann des französischen Ministerpräsidenten noch einmal anbot. Aber wie weit der Vertrauensmann Revoil auch ging, trotz seiner Anerbietung über den Christenschutz, den die Deutschen im Orient haben sollten, über Vorteile in bezug auf die Bagdadbahn und auf Kamerun: der Gesandte Rosen lehnte ab. Alle Angebote schienen ihm gering gegenüber dem deutschen Opfer, auf die französische Demütigung zu verzichten.

»Durchlaucht, ich muß Karriere machen«, erklärte er dem deutschen Botschafter Fürst Radolin, »ich kann das nicht nach Berlin geben« – –

Da nahm der französische Ministerpräsident endgültig an. Durch die Abmachung über die polizeilichen Schutzmaßnahmen hatte zum Schlusse doch noch Frankreich, nicht Deutschland einen Vorteil errungen. Weder der Reichskanzler merkte den Schachzug. Noch Baron Holstein.

Aber Rührung befiel die beiden Staatsmänner. Viel mehr schien ihnen erreicht als der Triumph der Konferenz: die Morgenröte eines Bündnisses mit Frankreich war für sie angebrochen – –

»Du kannst also«, schrieb Baron Holstein am 2. Juli 1905 an den Botschafter Fürsten Radolin, »falls dieser Gedankengang Dir nicht sympathisch ist, denselben als Deine rein persönliche Ansicht, als »Traum einer Zukunft, wie sie sein sollte«, mal ganz unverbindlich und leicht mit D. besprechen« – –

Auch der Botschafter sah »den Traum der Zukunft« rosenrot. Es störte Kanzler, Geheimrat und selbst den Botschafter bei ihren Visionen nicht, daß Frankreich in schwerster Erbitterung, in mühsam niedergehaltenem Haß dabei mit den Zähnen knirschte.

 

Die Abmachungen über das Zustandekommen einer Marokkokonferenz wurden durch den Austausch zweier Briefe zwischen dem Ministerpräsidenten Rouvier und dem Botschafter Fürsten Radolin am 8. Juli 1905 besiegelt. Der Kanzler hatte zum Schluß auf die Unterzeichnung noch besonders gedrängt, denn Kaiser Wilhelm trat seine Nordlandreise an: das Werk sollte vorher vollendet sein.

Der Kaiser nahm mit Befriedigung zur Kenntnis, daß der Ausgleich aller Reibungen, den der Kanzler ihm meldete, schließlich doch geglückt war. Jetzt wollte er selbst weiterbauen. Er trug sich mit großen Plänen. Gerade für sie brauchte er ein ruhiges, durch Entgegenkommen ausgesöhntes Frankreich. Daß er gute Nachbarschaft mit ihm halten wollte, wußte sein Botschafter in Paris. Kaiser Wilhelm nahm an, daß Fürst Radolin wenigstens in Zukunft seine Weisungen befolgen wollte. Den Fürsten von Monaco hatte er auf der »Kieler Woche« wiedergesehen. So viel hatte Fürst Albert über Kaiser Wilhelms freundliche Gesinnung an den französischen Ministerpräsidenten depeschiert, daß Rouvier mit lauten Klagen unter der Last der endlosen Telegramme fast zusammengebrochen war. Für den Kaiser aber war das vollendete Verständigungswerk mit Frankreich nur Vorbereitung und Voraussetzung seiner neuen Gedanken. Der Zar hatte den Krieg mit Japan verloren. Er mußte um Frieden bitten. Der Zar war in schlimmer Lage – –

»Der Krieg muß aufhören«, hatte Großfürst Michael dem Kaiser bei seinem Berliner Besuche gestanden. »Die Stimmung in Rußland ist schlecht. Auch in der Armee. Mein Bruder muß Schluß machen mit dem Krieg!«

»Würdest du es für wichtig halten«, hatte damals der Kaiser gefragt, »wenn ich deinem Bruder schreibe?«

Großfürst Michael war eben zu dem Zwecke nach Berlin gekommen, daß er den Kaiser über Krieg und Ausweg hörte.

»Werden Euere Kaiserliche Hoheit das Gehörte nur als Sprachrohr Seiner Majestät wiederholen?« fragte ihn der Botschafter Graf Osten-Sacken, »oder es auch als Ihre feste Überzeugung mit dem dringenden Rate, sie zu befolgen, Ihrem Bruder kundtun?«

»Ja, das werde ich ganz bestimmt tun«, erwiderte der Großfürst, »als meine heiligste Überzeugung. Mein Bruder muß unbedingt den Vorschlag des Kaisers akzeptieren, denn er bedeutet die Rettung meines Vaterlands« – –

Graf Osten-Sacken erschöpfte sich in Danksagungen gegenüber dem Kaiser. Selbst Tränen hatte er in dem Augenblicke, da er Wilhelm II. die Hand küßte:

»Sire, vous êtes l'ange gardien de la Russie« – –

Der Großfürst nahm einen Brief des Kaisers an den Zaren mit. Der Zar entschloß sich, nach Kaiser Wilhelms Zuspruch die Vorschläge anzunehmen, die ihm über eine Friedensvermittlung von Theodore Roosevelt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, schon vor einiger Zeit zugekommen waren. In Portsmouth sollten sich die Unterhändler treffen.

Hilfsbereitschaft und Anteilnahme des Kaisers mußten im Unglück auf den Zaren doppelt wirken. Dem Besiegten wollte Wilhelm II. noch einmal ein Bündnis vorschlagen. Gerade dem Besiegten – –

In den norwegischen Gewässern erwog Kaiser Wilhelm die Grundlagen des neuen Abkommens.


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