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Fünfzehntes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung.)

Einen Augenblick lang erfaßte mich heißer Zorn; mir war, als hätte er Lucy bei Lebzeiten in das Gesicht geschlagen. Ich schlug heftig auf den Tisch und sagte aufspringend:

»Doktor Van Helsing, sind Sie von Sinnen?« Er erhob den Kopf und sah mich an; der gütige Ausdruck in seinem Gesicht wirkte sofort besänftigend auf mich ein. »Ich wollte, ich wäre es!« erwiderte er. »Wahnsinn wäre leicht zu ertragen im Verhältnis zu einer Wahrheit wie diese. Warum, mein Freund, glauben Sie, daß ich so weite Umwege machte, warum ich so lange wartete, um Ihnen eine so einfache Tatsache zu sagen? Vielleicht, weil ich Sie hasse und Sie gehaßt habe mein Leben lang? Oder weil ich Ihnen wehe tun wollte? Oder wollte ich mich, wenn auch spät, dafür revanchieren, daß Sie mich, mein Leben, vor einem furchtbaren Ende gerettet haben? Gewiß nicht.«

»Verzeihen Sie mir«, sagte ich. Er fuhr fort:

»Mein Freund, es geschah, weil ich Sie nicht so grausam mit dieser Eröffnung überraschen wollte, denn ich weiß ja, daß Sie das teure Mädchen geliebt haben. Aber auch jetzt sogar erwarte ich noch nicht, daß Sie mir Glauben schenken. Ist es schon schwer, eine abstrakte Tatsache auf einmal zu glauben, die wir bisher für unmöglich hielten, so ist es noch viel schwerer, eine konkrete Wahrheit hinzunehmen, besonders wenn es sich um eine solche handelt, wie ich Sie Ihnen heute von Lucy berichten mußte. Heute Abend werde ich Ihnen den Beweis liefern. Wollen Sie mit mir kommen?«

Das machte mich stutzig. Man beweist nicht gern eine solche Wahrheit. Er sah meine Unentschlossenheit und sprach:

»Die Logik ist in diesem Falle sehr einfach, sie ist nicht die eines Narren, der von Binsenbüschel zu Binsenbüschel springt in nebelbedecktem Sumpf. Wenn es nicht wahr ist, dann gewährt Ihnen diese Feststellung doch eine gewisse Erleichterung; jedenfalls kann sie nicht schaden. Wenn es aber wahr ist? Darin liegt das Schreckliche. Der Schrecken soll mir helfen, meine Sache zu vertreten, denn zum Schrecken gehört schon ein Teil Glaube. Kommen Sie, ich erzähle Ihnen, was ich vorhabe: Zuerst gehen wir in das Spital und besuchen das Kind. Dr. Vincent am Nordhospital, wo sich nach den Zeitungsnachrichten das Kind befindet, ist einer meiner Freunde, und ich denke auch einer der Ihren, seit Sie zusammen in Amsterdam studierten. Wenn er nicht zwei Freunden den Zutritt gewähren will, dann kommen wir eben als Wissenschaftler. Wir werden ihm nichts weiter sagen, als daß wir studienhalber da sind. Und dann …«

»Und dann?« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn mir hin. »Und dann werden wir, Sie und ich, die Nacht auf dem Friedhofe verbringen, wo Lucy schläft. Dies ist der Schlüssel zu ihrem Grabe. Der Friedhofwärter hat ihn mir für Arthur gegeben.« Ich erschrak bis in die tiefste Seele, denn ich fühlte, daß uns etwas Entsetzliches bevorstand. Ich konnte nichts einwenden, fasste mir ein Herz und sagte, wir müßten uns beeilen, da der Abend herankäme.

Wir fanden das Kind wachend vor. Es hatte ein Schläfchen gemacht und etwas Nahrung zu sich genommen; es ging ihm ziemlich gut. Dr. Vincent nahm das Tuch von der kleinen Kehle und zeigte uns die punktartigen Wunden. Es war unmöglich zu leugnen, daß sie mit denen an Lucys Hals große Ähnlichkeit hatten. Sie waren etwas kleiner und die Ränder sahen frischer aus; das war alles. Wir fragten Vincent, was er von diesen Wunden halte, und er erwiderte, daß es Bisse von irgend einem Tier, vielleicht einer Ratte, sein müßten; er für seinen Teil neige mehr der Anschauung zu, daß sie von einer der großen Fledermäuse herrührten, die auf den Höhen nördlich von London so häufig vorkommen. »Unter so vielen harmlosen Exemplaren«, sagte er, »ist es nicht ausgeschlossen, daß sich auch wilde Exemplare aus dem Süden befinden, die einer gefährlicheren Art angehören. Sie könnten wohl von Segelschiffen eingeschleppt worden sein und Gelegenheit gefunden haben zu entkommen; es ist auch nicht unmöglich, daß aus dem Zoologischen Garten ein Junges entflohen ist und sich da draußen fortgepflanzt hat. Sie wissen, solche Dinge können vorkommen. Erst vor zehn Tagen ist ein Wolf ausgebrochen und hat sich meines Wissens auch in dieser Gegend sehen lassen. Eine Woche später spielten die Kinder nichts anderes mehr als ›Red Riding Hood‹ auf der Haide und in jeder Allee, bis die ›blutige Dame‹ auftauchte, die nun in Schwung kam. Selbst dieses kleine Mädchen hier fragte, als es heute aufwachte, die Pflegerin, ob es nicht fortgehen dürfe. Als es gefragt wurde, warum es denn fort wolle, sagte es, es möchte gerne mit der ’blutigen Dame‹ spielen.«

»Hoffentlich«, sagte Van Helsing, »werden Sie, wenn Sie das Kleine aus der Pflege entlassen, den Eltern recht ans Herz legen, gut aufzupassen. Dieser Hang zum Herumstreifen ist höchst gefährlich, und wenn das Kind nochmals nur eine Nacht ausbliebe, so könnte das unabsehbare Folgen haben. Ich nehme aber an, daß Sie es in der allernächsten Zeit nicht entlassen werden?«

»Sicher nicht, jedenfalls nicht vor einer Woche, und auch länger, wenn bis dahin die Wunde nicht geheilt sein sollte.«

Unser Besuch im Spital nahm mehr Zeit in Anspruch, als wir gerechnet hatten, und die Sonne war schon untergegangen, als wir das Haus verließen. Als Van Helsing sah, wie dunkel es war, sage er:

»Es hat keine Eile. Es ist später geworden, als ich dachte. Kommen Sie, wir wollen irgendwo speisen gehen, dann werden wir unser Vorhaben ausführen.«

Wir aßen in »Jack Straws Castle« zusammen mit einer Anzahl Radfahrer und anderen, die sich ziemlich lärmend verhielten. Etwa um zehn Uhr verließen wir das Gasthaus. Es war sehr dunkel und die vereinzelten Laternen ließen die Dunkelheit nur umso schwärzer erscheinen, wenn man wieder aus ihrem Lichtkreise trat. Der Professor hatte sich offenbar den Weg, den wir zu gehen hatten, aufgezeichnet, denn wir gingen ohne Aufenthalt weiter. Ich war vollkommen im Unklaren, in welcher Gegend wir uns befanden. Je weiter wir hinauskamen, desto seltener wurden die Passanten, so daß wir schließlich überrascht waren, der reitenden Polizeipatrouille auf ihrem gewohnten Ritt um die Stadt zu begegnen. Endlich erreichten wir die Friedhofmauer, die wir überkletterten. Nicht ohne Schwierigkeiten – es war sehr finster und der ganze Platz kam uns so fremd vor – fanden wir die Gruft der Westenraa. Der Professor nahm den Schlüssel, öffnete die knirschende Tür und bat mich, indem er höflich aber ganz unbewußt mir Platz machte, voranzugehen. Es lag eine köstliche Ironie in dieser Höflichkeit bei einer so unheimlichen Gelegenheit. Mein Begleiter folgte mir unmittelbar und zog die Türe vorsichtig zu, nachdem er sich vorher genau über die Beschaffenheit des Schlosses informiert hatte. Wir hätten sonst unter Umständen in eine üble Lage kommen können. Dann suchte er in seinem Koffer und machte Licht, nachdem er eine Streichholzschachtel und eine Kerze herausgezogen. Das Grab hatte schon am Tage und im Schmucke frischer Blumen unheimlich und grauenvoll genug ausgesehen; aber jetzt, einige Tage später, wo die Blumen schlaff und tot herunterhingen, deren Weiß rostfarbig und deren Grün braun geworden war, war der Eindruck geradezu abstoßend und schrecklich, schrecklicher als man sich vorstellen kann. Die Spinnen und Käfer hatten schon wieder von der Stätte Besitz ergriffen; der Schein der Kerze fiel auf die zerbröckelnde Wand, die staubbedeckten Mörtelritzen, auf rostiges, feuchtes Eisen, fleckiges Messing und erblindetes Silber. Es drängte sich einem unwiderstehlich der Gedanke auf, daß das Leben – das animalische Leben – nicht das Einzige dem Untergang Geweihte ist.

Van Helsing ging ganz systematisch ans Werk. Er leuchtete mit der Kerze, von der das Stearin in dicken Tropfen herunterfiel und auf dem kalten Metall der Särge erstarrte, in der Gruft herum, um die Aufschriften zu lesen. Endlich hatte er Lucys Ruhestatt gefunden. Wieder suchte er in seinem Koffer und zog einen Schraubenschlüssel heraus.

»Was wollen Sie tun?« fragte ich.

»Ich will den Sarg öffnen. Sie sollen sich jetzt selbst überzeugen.« Sogleich begann er die Schrauben herauszuziehen und hob den Deckel ab, unter dem der Zinnsarg sichtbar wurde. Der Anblick war mir fast unerträglich. Ich hatte das Gefühl, als tue er der Toten einen Schimpf an, als zöge er der Lebenden die Kleider vom Leibe. Ich ergriff tatsächlich seine Hand, um ihm Einhalt zu tun. Er sagte nur: »Sie werden sehen!«; dann kramte er wieder in seinem Koffer und brachte eine kräftige Laubsäge hervor. Er bohrte mit dem Schraubenschlüssel ein Loch in das Zinn, das gerade weit genug war, die dünne Säge durchzulassen. Der rasche, abwärtsgerichtete Stich, den er führte, machte mich schaudern. Ich hatte erwartet, daß ein Strom von Gasen dem verwesenden Leib entweichen würde. Wir Ärzte, die die Gefahren unseres Berufes wohl kennen, wissen diese Dinge vorher, ich hatte mich deshalb vorsichtshalber bis zur Türe zurückgezogen. Der Professor aber wich keinen Schritt. Er sägte in die eine Seite des Zinnsarges einen Schnitt von einigen Fuß Länge, dann quer herüber und auf der anderen Längsseite wieder hinunter. Dann ergriff er den Rand des entstandenen Ausschnittes und bog ihn zurück gegen das Fußende des Sarges, hielt die Kerze in die Öffnung und bat mich hineinzusehen.

Ich trat näher, um seiner Einladung Folge zu leisten.

Der Sarg war leer.

Ich war aufs äußerste überrascht und erschrocken, aber Van Helsing schien völlig unberührt. Er war nun seiner Sache um so sicherer und faßte neuen Mut, sein Vorhaben durchzuführen. »Sind Sie nun zufrieden?« fragte er.

Ich fühlte eine unbändige Lust zu disputieren über mich kommen und antwortete:

»Daß Lucys Körper nicht im Sarge liegt, ist mir hinreichend bewiesen, ist aber auch nur der Beweis für eines!«

»Und wofür zum Beispiel?«

»Daß er nicht da ist.«

»Das ist entschieden logisch«, sagte er, »damit allein kommen Sie aber doch zu keinem Resultat. Denn wie erklären Sie sich, wie können Sie sich erklären, daß er nicht da ist?«

»Vielleicht war es ein Leichenräuber«, suchte ich mir einzureden, »oder einer der Leute des Begräbnisunternehmers hat die Leiche gestohlen.« Ich merkte, daß ich Unsinn sprach, und doch wären dies die einzig plausiblen Erklärungen gewesen. Der Professor seufzte. »Nun gut«, sagte er, »dann brauchen wir eben noch einen Beweis. Kommen Sie mit.«

Er legte den Sargdeckel wieder auf seinen Platz, packte alle seine Sachen zusammen und schob sie in den Koffer; dazu die Kerze, nachdem er sie ausgeblasen hatte.

Wir öffneten die Tür und gingen hinaus. Er schloß sorgfältig ab und reichte mir den Schlüssel, indem er sagte: »Wollen Sie ihn zu sich nehmen? Sie haben dann mehr Sicherheit.« Ich lachte – ich weiß wohl, daß es kein heiteres Lachen war – und bat ihn, den Schlüssel zu behalten. »Ein Schlüssel ist gar nichts«, sagte ich; »es könnte Duplikate davon geben; außerdem ist es ja keine Kunst, ein Schloß, wie dieses hier, zu öffnen.« Er erwiderte nichts, sondern steckte den Schlüssel ein. Dann gab er mir den Auftrag, auf einer Seite des Friedhofes Wache zu halten, während er das Gleiche auf der anderen Seite tun wollte. Ich suchte mir einen Platz hinter einem Eibenbaum aus und sah seine dunkle Gestalt allmählich hinter den Grabsteinen und Bäumen verschwinden.

Es war eine unheimliche Wache. Kurze Zeit nachdem ich meinen Posten bezogen, hörte ich eine ferne Uhr zwölf schlagen. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr. Ich fror, war nervös und ärgerte mich über den Professor, daß er mich auf eine solche Irrfahrt mitgenommen hatte, und über mich selbst, daß ich mitgegangen war. Die Kälte und die Schläfrigkeit machten es mir schwer, aufmerksam zu beobachten; ich war aber doch nicht schläfrig genug, um ohne weiteres zuzugeben, daß ich alles glaube. Ich verbrachte also hinter meinem Baum ein paar recht trostlose, schreckliche Stunden.

Plötzlich, als ich mich etwas umdrehte, meinte ich einen weißen Streifen wahrzunehmen, der sich an der am Grab entgegengesetzten Seite des Friedhofes zwischen zwei dunklen Eibenbäumen zu bewegen schien. Zu gleicher Zeit löste sich von der Seite her, wo der Professor gestanden hatte, eine Gestalt aus dem Schatten los und eilte auf das weiße Gespenst zu. Auch ich ging näher heran. Ich hatte zwei Grabsteine und umgitterte Gräber zu umgehen und stolperte über die Hügel. Der Himmel war überzogen, und irgendwo, weit draußen, ließ ein Hahn seinen Schrei ertönen. Etwas weiter unten, einer Reihe zerstreuter Wacholderbäume entlang, die den Weg einsäumten, huschte eine weiße, schlanke Gestalt auf das Grab zu. Dieses war hinter Bäumen verborgen, ich konnte deshalb nicht bemerken, wo die Gestalt verschwand. Ich hörte das Geräusch wirklicher Bewegung aus der Richtung her, wo ich das Gespenst zuerst gesehen hatte. Als ich darauf zuging, traf ich den Professor, der in den Armen ein kleines Kind trug. Als er mich erblickte, hielt er mir das Kind entgegen und sagte:

»Sind Sie nun zufrieden?«

»Nein!« sagte ich in ziemlich verletzenden Tone, der mir selbst auffiel.

»Sehen Sie denn das Kind nicht?«

»Allerdings, es ist ein Kind, aber wer hat es hierher gebracht? Und ist es denn verletzt?« fragte ich.

»Wir wollen sehen«, erwiderte der Professor. Unwillkürlich nahmen wir die Richtung gegen den Ausgang des Friedhofes, wobei er sorgfältig das schlafende Kind trug.

Nachdem wir uns etwas entfernt hatten, begaben wir uns in ein Gebüsch und untersuchten beim Scheine eines Streichholzes die Kehle des Kleinen. Sie zeigte nicht die geringste Wunde oder Narbe.

»Hatte ich nicht recht?« fragte ich triumphierend.

»Wir sind gerade zurecht gekommen«, sagte der Professor nachdenklich.

Wir hatten nun zu beschließen, was mit dem Kinde geschehen sollte. Wenn wir es auf einer Polizeiwache abgegeben hätten, wäre es nötig geworden, sich über die nächtliche Exkursion auszuweisen; schließlich hätten wir eben eine Geschichte erfinden müssen, wie wir zu dem Kinde gekommen waren. So beschlossen wir, es auf die Heide mitzunehmen, um es dann, wenn wir einen Polizisten kommen hörten, so hinzulegen, daß er es nicht übersehen konnte; wir wollten dann so rasch als möglich den Heimweg antreten. Alles fiel zu unserer Zufriedenheit aus. Am Rande der Hampsteader Heide vernahmen wir den schweren Schritt eines Polizisten. Wir legten das Kind auf den Weg und warteten, bis er es beim Scheine seiner hin- und herschwankenden Laterne entdeckt hatte. Wir hörten noch seinen Ausruf des Erstaunens und schlichen dann geräuschlos fort. Ein angenehmer Zufall wollte es, daß wir in der Nähe der »Spaniards« einen Wagen antrafen, mit dem wir zur Stadt fuhren.

Da ich nicht schlafen kann, mache ich diese Aufzeichnungen. Doch muß ich unter allen Umständen versuchen, ein paar Stunden zu ruhen, weil mich Van Helsing mittags wieder abholen will. Er besteht darauf, daß ich ihn auf einer weiteren Expedition begleite.

27. September. – Es wurde zwei Uhr, bis wir eine günstige Gelegenheit fanden, unser Vorhaben auszuführen. Das um Mittag stattfindende Begräbnis war nun zu Ende, und die letzten Nachzügler unter den Leidtragenden gingen langsam hinweg. Wir hatten uns vorsichtig hinter einem Gebüsch versteckt und sahen, wie der Friedhofaufseher das Gitter hinter ihnen absperrte. Wir wußten nun, daß wir bis zum Morgen, wenn es nötig werden sollte, freie Hand hatten; aber der Professor sagte, daß wir höchstens eine Stunde benötigten. Wieder empfand ich die unheimliche Gewißheit, daß alles wahr sei; jeder Versuch, dies alles für ein Phantasiegebilde zu halten, war vergebens. Auch machte ich mir die strafrechtlichen Gefahren klar, denen wir uns bei unserem frevelhaften Werk aussetzten. Nebenbei gesagt, ich hielt die Sache für vollkommen zwecklos. War es schon sehr seltsam, ein Grab zu öffnen, um nachzusehen, ob ein nahezu eine Woche totes Mädchen wirklich tot sei, so erschien es mir als der Gipfel der Tollheit, noch einmal das Grab zu öffnen, nachdem wir uns durch eigenen Augenschein überzeugt hatten, daß der Sarg leer war. Ich zuckte nur die Schultern, schwieg aber still, denn Van Helsing hatte eine eigene Art vorzugehen, ohne Rücksicht darauf, wer ihm widersprach. Er nahm den Schlüssel, öffnete das Gewölbe und ließ mich wieder in höflicher Weise vorangehen. So grauenhaft wie in der Nacht vorher erschien mir der Ort nicht mehr, aber unsäglich traurig, als der Sonnenschein hineinfiel. Van Helsing ging auf Lucys Sarg zu und ich folgte ihm. Er beugte sich nieder und legte das ausgeschnittene Zinn zurück; nun durchschoß mich ein Gefühl der Überraschung und des Unbehagens.

Da lag Lucy genau so, wie wir sie am Tage vor der Beerdigung gesehen hatten. Sie war, wenn möglich, von noch bestrickenderer Schönheit als damals, und es war mir unfaßbar, daß sie tot sein solle. Die Lippen waren rot, röter als ich sie je bei ihr gesehen, und auf den Wangen lag ein rosiger Schimmer.

»Ist das Taschenspielerei?« fragte ich.

»Sind Sie nun überzeugt?« gab der Professor als Antwort zurück; dabei zog er mit einer Hand die toten Lippen in die Höhe, daß mich schauderte, und zeigte mir die weißen Zähne.

»Sehen Sie«, fuhr er fort, »sehen Sie, sie sind noch schärfer geworden. Mit diesem und diesem hier«, er berührte einen der Eckzähne und den gegenüberliegenden – »können die Kinder wohl gebissen worden sein. Glauben Sie nun?« Wiederum erwachte der unbezwingliche Widerspruchsgeist in mir. Ich konnte einen derartigen Gedanken, wie er ihn mir aufzwingen wollte, nicht fassen; ich brachte ein Argument vor, dessen ich mich aber sogleich schämte, und sagte:

»Sie kann ja doch seit heute Nacht wieder hierher zurückgebracht worden sein.«

»Glauben Sie wirklich? Aber wer sollte es getan haben?«

»Das kann ich nicht sagen. Irgend jemand muß es wohl gewesen sein.«

»Jetzt ist sie doch schon eine Woche tot. Die meisten Leichen würden nach dieser Zeit wohl nicht mehr so aussehen.« Darauf hatte ich allerdings keine Antwort und schwieg deshalb. Van Helsing nahm davon jedoch scheinbar gar keine Notiz; jedenfalls zeigte er weder Kummer noch Triumph. Er sah gespannt auf das Gesicht des toten Mädchens. Von Zeit zu Zeit hob er ihre Lider hoch und blickte in ihre Augen, öffnete wieder ihren Mund und betrachtete die Zähne. Dann wandte er sich an mich und sagte:

»Hier ist etwas, das von allem bisher Bekannten abweicht; hier ist eine Art Doppelleben, das ungewöhnlich ist. Sie wurde vom Vampyr gebissen, als sie im Trance lag, als sie schlafwandelte. Sie erstaunen, Sie wissen es bis jetzt noch nicht, aber später sollen Sie alles erfahren. In ihrem Trancezustand konnte er am besten kommen, um ihr Blut zu trinken. Im Trance starb sie, und im Trance liegt sie hier als Un-Tote. So kommt es, daß sie sich von allen anderen unterscheidet. Gewöhnlich, wenn die Un-Toten zuhause schlafen« – als er sprach, machte er mit dem Arm eine umfassende Gebärde, um anzudeuten, was für die Un-Toten »zuhause« sei – »zeigt ihr Gesicht das an, was sie sind, aber dieses süße Geschöpf kehrt, wenn es nicht gerade un-tot ist, in die Formen einer gewöhnlichen Toten zurück. Sehen Sie, es liegt kein Zug von Bosheit auf ihrem Angesicht, deshalb tut es mir so furchtbar leid, sie in ihrem Schlafe töten zu müssen.« Es überlief mich kalt bei diesen Worten, und es dämmerte in mir die Möglichkeit auf, allmählich Van Helsings Ideen zu begreifen. Aber wenn sie wirklich tot war, so war es ja gar nicht so entsetzlich, sie nochmals zu töten. Er sah mich an und erkannte in meinem Gesicht offenbar den Wechsel in meiner Stimmung, denn er sagte fast erfreut:

»Nun glauben Sie also?«

Ich antwortete: »Drängen Sie mich nicht allzusehr. Ich bin bereit, mich Ihrer Auffassung anzuschließen. Wie wollen Sie dies blutige Werk vollbringen?«

»Ich werde ihr den Kopf abschneiden, den Mund mit Knoblauch füllen und ihr dann einen Pfahl durch den Leib treiben.« Der Gedanke, den Körper des Mädchens, das ich so geliebt, in dieser Weise verstümmeln lassen zu müssen, erregte mir Grauen. Dennoch war dieses Gefühl nicht so übermächtig, als ich erwartet hatte. Ich begann mich tatsächlich in der Nähe dieses Wesens, dieser Un-Toten, wie sie Van Helsing nannte, unbehaglich zu fühlen und sie zu verabscheuen. Ist es möglich, daß die Liebe ganz subjektiv oder ganz objektiv ist?

Ich wartete eine gute Weile, daß Van Helsing beginnen würde, aber er stand wie in Gedanken versunken. Plötzlich ließ er das Schloß seines Koffers wieder zuschnappen und sagte:

»Ich habe nachgedacht und nachgegrübelt, was wohl das Beste sein könnte. Wenn ich einfach meinem Wunsche folgen könnte, so würde ich gleich jetzt das tun, was doch getan werden muß, aber es gibt auch noch andere Dinge zu überlegen, Dinge, die tausendmal mehr Schwierigkeiten in sich bergen, als wir denken können. Das ist einfach. Sie hat bis jetzt noch kein Leben getötet, obgleich sie Zeit gehabt hätte; jetzt handeln, hieße sie auf immer vor jeder Gefahr in Sicherheit bringen. Auch brauchen wir Arthur. Wie sollen wir ihm aber die Sache plausibel machen? Wenn Sie, der doch die Wunden an Lucys Kehle gesehen und die ähnlichen am Hals des Kindes im Hospital, wenn Sie, der den Sarg heute Nacht leer und jetzt belegt von einem Mädchen vorfand, das keine Veränderung acht Tage nach dem Tode aufwies, als daß es rosiger und schöner geworden ist, wenn Sie, der dies weiß und auch von der weißen Gestalt, die heute Nacht das Kind auf den Friedhof getragen, wenn Sie Ihren Sinnen nicht trauen, wie kann ich dann von Arthur erwarten, der nichts von allen diesen Dingen weiß, daß er mir Glauben schenkt? Er mißtraute mir schon damals, als ich ihn wegriß, da er seine sterbende Braut küssen wollte. Ich weiß, er hat mir schon verziehen, weil er meinte, es sei ein Irrtum gewesen, der mich veranlaßte, ihn daran zu verhindern, daß er sich von ihr verabschieden könne. Er kann sich auch denken, daß ich in einer ebenso verfehlten Idee dieses Mädchen habe lebend begraben lassen und sie nun in einer weiteren verfehlten Idee wirklich getötet habe. Schließlich wird er dann überhaupt meinen, unsere Irrtümer seien an ihrem Tode schuld, und wird deshalb immer unglücklich sein. So wie es jetzt steht, ist er seiner Sache nie sicher, das ist das Schlimmste. Er wird sich manchmal vorstellen, daß die, die er liebte, lebend begraben worden ist, und sich in schrecklichen Träumen die Qualen ausmalen, die sie erleiden mußte; oder aber er wird einsehen, wie recht wir hatten, wenn wir der Ansicht waren, daß seine Braut eine Un-Tote ist. Nein, jetzt, da ich weiß, daß alles wahr ist, bin ich hunderttausendmal mehr der Überzeugung, daß er durch die bitteren Wasser muß, wenn er die süßen kosten will. Er muß eine Stunde durchleben, in der er an Gott und der Welt verzweifelt; dann können wir unser gutes Werk fortsetzen und ihm endlich Ruhe verschaffen. Ich bin zu allem bereit. Wir wollen gehen. Sie werden heute Abend nach Ihrer Anstalt zurückkehren und nach dem Rechten sehen. Was mich betrifft, so werde ich die Nacht hier auf dem Friedhof verbringen; ich habe noch Verschiedenes hier zu tun. Morgen Abend zehn Uhr bitte ich Sie, mich im Berkeley-Hotel abzuholen. Ich werde auch Arthur bitten, zu kommen, ebenso den jungen Amerikaner, der auch sein Blut hergegeben hat. Bis Piccadilly komme ich jetzt mit Ihnen, um zu Abend zu speisen, muß aber wieder hier sein, ehe die Sonne untergeht.«

Wir schlossen das Grab ab und entfernten uns, überkletterten die Friedhofmauer, was ja keine Schwierigkeiten bot, und fuhren nach Piccadilly.

 

Notiz
von Van Helsing im Berkeley-Hotel im Handkoffer zurückgelassen,
für John Seward, Dr. med., bestimmt

(Nicht abgegeben.).

27. September.

Lieber Freund John!

Ich schreibe dies für den Fall, daß mir etwas Menschliches passieren sollte. Ich gehe allein zum Friedhof, um dort meine Studien zu machen. Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, daß die Un-Tote, Fräulein Lucy, heute das Grab nicht verlassen soll, damit sie morgen Abend um so gieriger ist. Deshalb werde ich einige Sachen, die sie nicht liebt – ein Kruzifix und Knoblauch – vor die Grabtür legen, diese also gewissermaßen versiegeln. Sie hat als Un-Tote noch wenig Erfahrung und wird sich abschrecken lassen. Nebenbei gesagt, hilft das nur, um ihren Austritt zu verhindern. Ihre Rückkehr in das Grab würde es nicht unmöglich machen; denn in einem solchen Falle wird der Un-Tote rabiat und dringt doch, am Punkte des geringsten Widerstandes, ein. Ich werde die ganze Nacht, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang zur Hand sein, und wenn etwas zu lernen ist, so werde ich es lernen. Für Fräulein Lucy oder vor ihr habe ich keine Angst; aber jener andere, dem sie ihren Zustand zu verdanken hat, hat nun die Fähigkeit, ihr Grab aufzusuchen und dort sich zu verstecken. Er ist schlau; ich weiß das von Jonathan; aber auch wir haben das reichlich erfahren, als wir mit ihm das Spiel spielten, dessen Einsatz Lucys Leben war, das wir verloren. In mancher Hinsicht sind die Un-Toten stark. Sie haben in ihren Armen immerhin die Kraft von zwanzig Männern; sogar unsere eigene Kraft, die wir für Fräulein Lucy gaben, besitzt nun er. Außerdem kann er über Wölfe, und wer weiß über was noch alles, verfügen. So wird er also, wenn er heute Nacht kommen sollte, mich treffen. Es kann aber auch sein, daß er diesen Platz nicht aufsucht. Eigentlich hat er gar keine Ursache dazu; seine Jagdgründe sind voller von Wild als der einsame Friedhof hier, wo die un-tote Frau schläft und ein alter Mann wacht.

Ich schreibe dies aber für alle Fälle. Nehmen Sie die beiliegenden Papiere an sich, das Tagebuch Harkers sowie das Übrige und lesen Sie es. Dann gehen Sie auf die Suche nach dem großen Un-Toten, und wenn Sie ihn finden, so schneiden Sie ihm den Kopf ab, verbrennen sein Herz oder durchbohren es mit einem Pfahl, damit die Welt Ruhe vor ihm habe.

Wenn es also sein müßte, leben Sie wohl.

Van Helsing.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

28. September. – Es ist großartig, was eine gut verbrachte Nacht Wunder wirkt. Gestern war ich nahe daran, Van Helsings ungeheuerliche Ideen anzunehmen; nun aber, im hellen Tageslichte, stehen sie deutlich vor mir als einfache Übertreibungen. Ich zweifle ja nicht, daß er selbst daran glaubt. Ich möchte auch wissen, ob nicht sein Verstand in irgend einer Weise Schaden genommen hat. Eine natürliche Erklärung all dieser mysteriösen Dinge muß es ja allerdings geben. Ist es denn möglich, daß der Professor selbst der Täter war? Er ist so außerordentlich gescheidt, daß er seine Absicht unter dem Zwange einer fixen Idee auf irgend eine sonderbare Weise durchzusetzen imstande wäre. Ich kann es aber nicht recht glauben. Es wäre in der Tat ein ebenso großes Wunder, als plötzlich zu entdecken, daß Van Helsing wahnsinnig sei; auf alle Fälle werde ich ihn sorgfältig beobachten. Ich muß etwas Licht in diese geheimnisvolle Sache bringen.

29. September. Morgens. – Heute Nacht kamen, kurz vor zehn Uhr, Arthur und Quincey in Van Helsings Zimmer. Er sagte uns, daß er unser aller Mithilfe bedürfe, wandte sich aber hauptsächlich an Arthur, gleichsam als sei unser aller Wille in dem seinen konzentriert. Er sagte zuerst, er hoffe, daß wir ihn ohne Ausnahme begleiten würden, denn es gelte eine schwere Pflicht zu erfüllen. »Sie waren zweifellos sehr erstaunt über meinen Brief?« Diese Frage war direkt an Lord Godalming gerichtet.

»Allerdings. Er regte mich sogar auf. Es ist in letzter Zeit so viel Elend über mich gekommen, daß ich recht wohl auf weiteres hätte verzichten können. Trotzdem bin ich neugierig geworden und wollte wissen, was Sie eigentlich meinen. Quincey und ich plauderten darüber; aber je mehr wir plauderten, desto rätselhafter wurde uns die Sache, so daß ich jetzt getrost sagen kann, ich kann mir überhaupt keine Meinung mehr in dieser Angelegenheit machen.«

»Auch ich nicht«, fügte Quincey lakonisch bei.

»Dann sind Sie beide näher daran als mein Freund John, der erst noch einen langen Weg zurückgehen muß, um nochmals von vorn anzufangen.«

Offenbar erkannte er, ohne daß ich ein Wort darüber gesagt hatte, meinen Rückfall in die skeptische Gemütsstimmung. Dann sagte er, indem er sich wieder den beiden anderen zuwandte, mit eindringlichem Ernst:

»Ich erbitte Ihre Erlaubnis, heute Nacht tun zu dürfen, was ich für gut halte. Es ist, ich weiß das wohl, etwas viel verlangt. Wenn Sie erst wissen, was zu tun ich Ihnen vorschlage, dann werden Sie begreifen, wieviel ich verlange. Deshalb muß ich fordern, daß Sie mir das blindlings versprechen, damit nicht nachher, obgleich Sie mir eine Zeit lang zürnen werden – ich verhehle mir keineswegs die Möglichkeit, daß dieser Fall eintritt – über irgend etwas Vorwürfe zu machen haben.«

»Das ist offen gesprochen«, warf Quincey ein, »ich stehe für den Professor ein. Ich begreife ja seine Beweggründe nicht, aber ich schwöre, daß er es ehrlich meint; das genügt mir vollkommen.«

»Ich danke Ihnen!« sagte Van Helsing stolz. »Es ist mir stets eine Ehre gewesen, Sie zu meinen vertrauten Freunden rechnen zu dürfen; Ihr Vertrauensvotum tut mir wohl!« Er streckte Quincey seine Hand hin, die dieser ergriff und drückte.

Dann sprach Arthur:

»Dr. Van Helsing, ich liebe es im allgemeinen nicht, die Katze im Sack zu kaufen, und wenn es etwas ist, das meiner Ehre als Edelmann und meinem christlichen Glauben zuwiderläuft, kann ich das Versprechen nicht geben. Wenn Sie mir versichern können, daß keines von beiden durch das, was Sie vorhaben, verletzt wird, so gebe ich Ihnen sofort meine Zustimmung, wenngleich ich nicht verstehen kann, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich nehme Ihre einschränkenden Bedingungen an«, erwiderte Van Helsing. »Alles, was ich von Ihnen fordere, ist, daß Sie jede meiner Handlungen, die Sie verdammen zu müssen glauben, erst genau betrachten und sie daraufhin prüfen, ob sie im Widerspruch mit Ihren Anschauungen stehen.«

»Einverstanden!« sagte Arthur. »Das ist das einzig Richtige. Und nun, da die Einleitung vorüber, darf ich Sie fragen, was wir zu tun haben?«

»Sie müssen mit mir kommen, und zwar im Geheimen, auf den Friedhof von Kingstead.«

Arthur wurde bleich und fragte erschreckt:

»Wo Lucy begraben liegt?« Der Professor nickte. Arthur fragte weiter: »Und wenn wir dort sind?«

»Dann steigen wir in die Gruft.« Arthur stand auf.

»Professor, sprechen Sie im Ernst oder ist es irgend ein ungeheuerlicher Scherz? Verzeihen Sie, ich sehe, saß Sie vollkommen im Ernst sprechen.« Er setzte sich wieder, aber mit einer festen, stolzen Miene, wie einer, der sich im Recht fühlt. Es entstand eine kleine Pause, bis er weiter fragte:

»Und wenn wir in der Gruft sind?«

»Dann öffnen wir den Sarg.«

»Das ist zu viel!« rief Arthur, empört aufspringend. »Ich bin gern bereit, in allen Dingen, die nur einen Schein von Vernunft haben, zu folgen, aber in diese Schändung des Grabes – des Mädchens, das ich – –.« Die Stimme versagte ihm vor Entrüstung. Der Professor sah voll tiefen Mitleides auf ihn.

»Wenn ich Ihnen dieses Weh ersparen könnte, mein lieber Freund«, sagte er, »weiß Gott, ich würde es tun. Aber heute Nacht müssen wir Dornenpfade wandeln; sonst muß später und für immer die, die Sie geliebt haben, durch Flammen schreiten.«

Arthur sah ihn mit entschlossenem, bleichen Gesicht an und sagte:

»Nehmen Sie sich in Acht, Herr, nehmen Sie sich in Acht!«

»Wäre es nicht besser, Sie würden mich anhören, was ich noch zu sagen habe?« erwiderte Van Helsing. »Dann werden Sie erst die Tragweite dessen begreifen, was ich vorhabe. Soll ich fortfahren?«

»Das ist schon klar genug«, brach Quincey los.

Nach einer Pause sprach Van Helsing mit offenbarer Selbstüberwindung weiter:

»Fräulein Lucy ist tot; oder ist es nicht so? Ja? Nun, dann kann ihr ja nichts geschehen. Wenn sie aber nicht tot sein sollte – –.«

Arthur sprang auf.

»Herr«, schrie er. »Was wollen Sie damit sagen? Ist irgend ein Versehen vorgekommen, ist sie lebend begraben worden?« Er stöhnte vor Angst, die nicht einmal der Hoffnungsschimmer überwand.

»Ich habe nicht gesagt, daß sie lebt, daran dachte ich gar nicht. Ich will nichts weiter sagen, als daß sie vielleicht un-tot sein könnte.«

»Un-tot! Nicht lebend! Was soll das heißen? Ist das alles ein böser Traum, oder was ist es sonst?«

»Es gibt Geheimnisse, die Menschen nur erraten können, die nur Jahrhundert nach Jahrhundert allmählich aufklären kann. Glauben Sie mir, wir sind einem solchen auf der Spur. Doch ich bin noch nicht fertig. Darf ich Fräulein Lucy das Haupt abschneiden?«

»Himmel und Hölle, nein!« schrie Arthur in einem Sturm von Leidenschaft. »Um nichts in der weiten Welt werde ich in eine Verstümmelung ihres toten Leibes einwilligen. Dr. Van Helsing, Sie stellen meine Geduld auf eine allzuharte Probe. Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich so furchtbar quälen? Was hat Ihnen das gute Mädchen getan, daß Sie sie noch im Grabe schänden wollen? Sind Sie wahnsinnig, daß Sie solche Sachen aussprechen, oder bin ich es, daß ich solches zu hören vermeine? Wagen Sie es nicht, noch weiter an ein derartiges Sakrileg zu denken; ich verweigere meine Zustimmung zu jeder Ihrer Maßnahmen. Ich habe die heilige Pflicht, ihre Grabesruhe vor jeder Störung zu schützen und, bei Gott, ich werde es!«

Van Helsing erhob sich von seinem Sitz, den er die ganze Zeit über innebehalten, und sagte ernst und traurig:

»Mein werter Lord Godalming! Auch ich habe eine Pflicht zu erfüllen, eine Pflicht gegen andere, eine Pflicht gegen Sie, eine Pflicht gegen die Tote; und, bei Gott, ich werde sie tun! Alles, um was ich Sie vorerst bitte, ist, daß Sie mit mir kommen, sehen und hören. Und wenn ich später noch einmal dasselbe Ansinnen stelle und Sie sind nicht noch mehr, als ich selbst, für die Ausführung meines Vorhabens eingenommen, dann werde ich dennoch meine Schuldigkeit tun, ganz gleich, wie Sie es dann beurteilen. Darnach werde ich mich, wenn es Euer Lordschaft wünschen, jederzeit zur Verfügung halten, damit Sie mit mir abrechnen können, wo und wie Sie wollen.« Seine Stimme versagte einen Augenblick und er fuhr mit einem Tone warmen Mitleides fort:

»Aber ich bitte Sie, gehen Sie jetzt nicht im Zorn von mir. In meinem langen Leben hatte ich oft Pflichten zu erfüllen, die gewiß nicht angenehm zu erfüllen waren und die mir fast das Herz zerrissen. Aber niemals ist mir etwas schwerer gefallen als das, was ich jetzt tun muß. Glauben Sie mir, wenn die Zeit kommt, da Sie mich verstehen werden, wird ein Blick von Ihnen mir genügen, um die Erinnerung an diese traurigen Stunden zu verwischen; denn ich habe getan, was in menschlicher Macht steht, um das Leid von Ihnen abzuwenden. Denken Sie doch darüber nach. Warum mache ich mir selbst so viel Arbeit, so viel Schmerz? Ich bin aus fernem Lande hierher gekommen, um mein Bestes zu tun; anfänglich, um meinem Freunde John gefällig zu sein, dann aber, um einem guten, jungen Mädchen zu helfen, das ich ja selbst lieben gelernt habe. Für sie habe ich – ich schäme mich es einzugestehen, aber es geschieht nur in der besten Absicht – das gegeben, was Sie alle gaben, das Blut aus meinen Adern; ich gab es, obgleich ich nicht, wie Sie, ihr Bräutigam, sondern nur ihr Freund und Arzt war. Ich schenkte ihr meine Tage und Nächte vor dem Tode und nach dem Tode; und wenn ihr jetzt noch mein Tod etwas nützen könnte, wenn sie dann keine tote Un-Tote mehr ist, will ich gern mein Leben für sie geben.« Er sagte das alles mit ernstem, schönen Stolze.

Arthurs bemächtigte sich tiefe Rührung. Er ergriff die Hand des alten Herrn und sagte:

»Ja, es ist hart daran zu denken und ich begreife es nicht; aber schließlich will ich doch mit Ihnen gehen und abwarten.«


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