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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

29. Oktober. – Geschrieben im Zuge von Varna nach Galatz. Gestern Abend versammelten wir uns kurz vor Sonnenuntergang. Jeder hatte seine Arbeit so gut getan, als er vermochte; was Nachdenken und Fleiß betrifft, sind wir für alle Wechselfälle der Reise gerüstet, ebenso für das Werk, das unser in Galatz wartet. Als die gewohnte Zeit herankam, richtete Frau Harker alles zum Hypnotisieren her. Es bedurfte einer längeren Tätigkeit Van Helsings als sonst, ehe sie in Trance fiel. In der Regel genügte sonst ein Wink, um sie zum Sprechen zu bringen; diesmal aber mußte der Professor sie fragen, und zwar ziemlich energisch, bis endlich die Antwort kam:

»Ich kann nichts sehen, wir liegen still. Ich höre keine Wogen rauschen, sondern nur ein ständiges sanftes Gurgeln gegen den Bug. Ich höre das Rufen von menschlichen Stimmen, nahe und fern, und das Rollen und Knirschen von Rudern in den Klampen. Ein Geschütz wird irgendwo abgefeuert; von weiter Ferne scheint das Echo herzurollen. Ich höre das Trampeln von Füßen über mir und kann deutlich unterscheiden, daß Taue und Ketten gezogen werden. Was ist das? Ich sehe einen Lichtschimmer; frische Luft weht mich an.«

Sie hielt inne. Sie hatte sich vom Sofa erhoben, wie unter einem raschen Impuls, und hob ihre beiden Hände, mit den Flächen nach aufwärts, als ob sie eine Last trüge. Van Helsing und ich sahen einander verständnisvoll an. Quincey zog seine Augenbrauen hoch und blickte scharf zu ihr hin, während Harkers Hand instinktiv nach dem Knauf seines Kukrimessers griff. Es entstand eine lange Pause. Wir wußten, daß die Zeit, in der sie sprechen konnte, unwiederbringlich dahinfloß; aber wir fühlten, daß es zwecklos war, etwas zu fragen. Plötzlich stand sie auf, öffnete die Augen und fragte freundlich:

»Wünscht keiner der Herren eine Tasse Tee zu trinken? Sie müssen doch alle sehr müde sein!« Wir wollten ihr die Freude machen und gingen auf ihren Wunsch ein. Geschäftig eilte sie hinaus, um den Tee zu bereiten. Kaum aber hatte sie die Türe hinter sich geschlossen, fragte Van Helsing:

»Sie sehen, meine Freunde, er ist nahe am Land; er hat seine Erdkiste verlassen. Immerhin aber muß das Schiff noch anlegen. In der Nacht kann er ja irgendwo verborgen liegen; wenn er aber nicht ans Ufer getragen wird oder das Schiff es nicht berührt, kann er seine Landung nicht vollenden. In diesem Falle kann er, wenn es Nacht ist, seine Gestalt verändern und an Land springen oder fliegen, wie er es in Whitby tat. Wenn aber der Tag anbricht, ehe er landet, dann kann er nicht entrinnen, außer er wird herausgetragen. Wenn er aber herausgetragen wird, dann werden die Zollbeamten entdecken, was die Kiste enthält. Mit einem Wort, wenn er heute Nacht nicht mehr an Land entkommen kann, so ist ein ganzer Tag für ihn verloren. Wir kommen dann zur rechten Zeit; denn wenn er nicht nachts entflieht, kommen wir bei Tage über ihn und er ist uns in seiner Kiste auf Gnade und Ungnade verfallen. Er darf nicht wieder er selbst werden, wach und sichtbar, ohne daß er entdeckt ist.«

Weiter war nichts mehr zu sagen. So warteten wir in Geduld bis zum Morgengrauen, zu welcher Zeit wir hoffen durften, mehr aus Frau Harkers Munde zu erfahren.

Früh am Morgen lauschten wir in atemloser Spannung der Worte, die sie im Trance sprach. Es dauerte länger als je, bis der hypnotische Schlaf erreicht war. Als er eintrat war die Zeit, die noch bis Sonnenaufgang blieb, nur noch so kurz, daß wir zu verzweifeln begannen. Van Helsing legte seine ganze Seele in seine Aufgabe. Schließlich antwortete Frau Mina, gehorsam seinem Willen:

»Alles ist dunkel. Ich höre klatschendes Wasser in gleicher Höhe mit mir und ein Knirschen, wie von Holz auf Holz.« Sie hielt inne, und rotleuchtend stieg die Sonne empor. Wir müssen nun bis zum Abend warten.

So kommt es, daß wir in äußerster Spannung unsere Reise nach Galatz fortsetzen. Wir müssen unbedingt um zwei oder drei Uhr morgens ankommen, ab jetzt schon, in Bukarest, haben wir drei Stunden Verspätung. Wir werden unser Ziel also wohl erst ein gut Stück nach Sonnenaufgang erreichen. Bis dahin werden wir zweimal hypnotische Aufschlüsse von Frau Harker erhalten. Vielleicht werden beide oder wenigstens einer von ihnen imstande sein, Licht über das Geschehende zu bringen.

Später. – Sonnenuntergang ist vorüber. Glücklicherweise hatten wir zu dieser Zeit keine Ablenkung. Wären wir gerade auf einer Station gewesen, so hätten wir kaum die nötige Ruhe und Einsamkeit gefunden. Frau Harker gab sich dem hypnotischen Einfluß noch weniger hin als heute morgen. Ich fürchte, daß ihre Fähigkeit, die Gefühle des Grafen zu empfinden, gerade dann hinschwindet, wenn wir ihrer am meisten bedürfen. Ich habe den Eindruck, als gäbe sie ihrer Fantasie immer mehr Spielraum. Bisher hat sie sich im Trance auf die Aufgabe der einfachsten Tatsachen beschränkt. Wenn das so weiter geht, lassen wir uns unter Umständen irre führen. Es wäre ja eine Freude, annehmen zu dürfen, daß des Grafen Macht über sie mit ihrem geistigen Zusammenhang dahinschwindet; aber ich fürchte, es könnte doch nicht so sein. Als sie wieder sprach, waren ihre Worte vollkommen rätselhaft:

»Irgend etwas geht heraus; es weht über mich hin wie ein kühler Wind. Ich höre, weit weg wirre Stimmen; Menschen, die in fremden Zungen reden; donnernde Wasserfälle und das Heulen von Wölfen.« Sie schwieg und erschauerte; einige Sekunden schüttelte es sie, bis sie sich schließlich streckte, wie vom Schlage gerührt. Sie sagte nichts mehr, auch nicht auf des Professors befehlende Fragen. Als sie aus dem Trance erwachte, fror sie und war erschöpft und schlaff, aber ihr Geist war vollständig klar. Sie konnte sich an nichts erinnern, erkundigte sich aber, was sie im Schlafe gesagt habe. Als wir es ihr mitteilten, dachte sie lange und schweigend darüber nach.

30. Oktober. 7 Uhr morgens. – Wir sind nun nahe an Galatz; es kann sein, daß ich später keine Zeit zum Schreiben mehr habe. Wir haben den Sonnenaufgang mit ängstlicher Spannung erwartet. Van Helsing war sich der immer wachsenden Schwierigkeit bewußt, den Trance herbeizuführen, und hatte deshalb früher mit dem Hypnotisieren begonnen. Er hatte jedoch keinen Erfolg, und erst kurz ehe die Sonne heraufkam, unterlag sie endlich dem übermächtigen Einfluß. Der Professor stellte unverzüglich seine Fragen und ebenso rasch erfolgte ihre Antwort:

»Alles ist dunkel. Ich höre Wasser vorbeirauschen in gleicher Höhe mit meinen Ohren, und ein Krachen wie von Holz auf Holz. Vieh höre ich in weiter Ferne brüllen. Da, ein anderer Ton, ein ganz seltsamer – –« sie schwieg und wurde bleich und bleicher.

»Weiter! Weiter! Sprechen Sie, ich befehle es Ihnen!« sagte Van Helsing mit heißer Angst in der Stimme. Zugleich kam tiefe Verzweiflung in seine Züge, denn die aufsteigende Sonne warf einen roten Schein auf Frau Harkers bleiches Angesicht. Sie öffnete die Augen. Wir erstaunten, als sie freundlich und scheinbar mit großer Gelassenheit fragte:

»Ach, Herr Professor, warum verlangen Sie etwas von mir, von dem Sie wissen, daß ich es nicht kann? Ich erinnere mich an nichts mehr.« Dann, als sie unsere erschreckten Mienen sah, sagte sie, indem sie ihre besorgten Blicke von einem zum anderen schweifen ließ:

»Was habe ich gesagt? Was habe ich getan? Ich weiß nichts, außer daß ich im Halbschlafe hier lag und Sie sagen hörte: Weiter! Weiter! Sprechen Sie, ich befehle es Ihnen!« Es kam mir so komisch vor, mich von Ihnen schelten zu lassen wie ein unartiges Kind.«

»Frau Mina«, sagte er traurig, »es ist ein Beweis, wenn ein Beweis überhaupt nötig wäre, wie sehr ich Sie liebe und verehre, daß ein Wort, das in Ihrem eigensten Interesse strenger gesprochen wurde als üblich, Ihnen so seltsam erscheint, weil es derjenigen zu befehlen hat, der gehorchen zu dürfen ich stolz bin!«

Die Zugpfeife ertönt; wir fahren in Galatz ein. Wir sind in Sorge und glühen vor Eifer.

 

Mina Harkers Tagebuch.

30. Oktober. – Herr Morris begleitete mich ins Hotel, wo unsere Zimmer bereits telegraphisch vorausbestellt waren. Er ist am besten abkömmlich, da er keine fremde Sprache spricht. Die Rollen waren verteilt wie in Varna, nur daß sich Lord Godalming zum Vizekonsul begab, da wir annehmen konnten, daß sein hoher Rang den Beamten gegenüber der schleunigen Erledigung unserer Angelegenheiten zugute kommen könnte. Jonathan und die zwei Ärzte gingen zum Schiffsagenten, um Näheres über die Ankunft der »Czarina Catharina« zu erfahren.

Später. – Lord Godalming ist zurückgekehrt. Der Konsul ist verreist, der Vizekonsul krank; so mußte die wichtige Angelegenheit von einem Sekretär erledigt werden. Er war äußerst zuvorkommend und versprach sein möglichstes zu tun.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

30. Oktober. – Um 9 Uhr sprachen Dr. Van Helsing, Dr. Seward und ich bei den Herren Mackenzie & Steinkoff, den Vertretern der Londoner Firma Hapgood, vor. Sie hatten ein Telegramm aus London erhalten, das sie, Lord Godalmings telegraphischem Ersuchen an die Firma entsprechend, anwies, uns in jeder Weise behilflich zu sein. Sie waren freundlich und höflich und führten uns sofort an Bord der »Czarina Catharina«, die im Flußhafen vor Anker lag. Dort sprachen wir den Kapitän, Donelson mit Namen, der uns von seiner Reise erzählte. Er sagte, daß er nie in seinem Leben eine so flotte Fahrt gehabt habe.

»Wir hatten Sorge«, sagte er, »denn wir fürchteten, daß wir dafür büßen müßten, mit einem Schiffbruch oder sonst einem Unglück für die schnelle Fahrt. Es ist nicht ungefährlich, von London nach dem Schwarzen Meer zu fahren vor einem Winde, daß man hätte glauben können, der Teufel selbst bliese einem in die Segel, so rasch ging es dahin. Dabei konnten wir fast gar nichts sehen. Wenn wir uns einem Schiffe, einem Hafen oder einem Kap näherten, fiel ein dichter Nebel herab und begleitete uns; wenn er dann in die Höhe ging und wir hinausschauten, war wieder alles außer Sicht. Wir fuhren an Gibraltar vorbei, ohne ein Signal geben zu können. Als wir in die Dardanellen kamen und dort auf die Ausfertigung unseres Passierscheines warten mußten, hielten wir uns stets außer Rufweite. Zuerst dachte ich daran, Segel wegzunehmen und zu lavieren, bis der Nebel geschwunden sei. Dann dachte ich aber wieder, daß, wenn es dem Teufel darum zu tun sei, uns recht rasch ins Schwarze Meer zu bringen, er dies doch tun würde, ob wir damit einverstanden wären oder nicht. Wenn wir eine rasche Reise machten, so würde uns das bei den Schiffseigentümern nur in Ansehen und dies auch unserem Geschäft keinen Schaden bringen, und auch der alte Herr, dessen Interessen wir durch unsere flotte Fahrt so gut vertraten, würde sich sicher erkenntlich erweisen.« Diese Mischung von Einfalt und Schlauheit, von Aberglaube und kaufmännischer Berechnung erheiterten Van Helsing und er sagte:

»Dieser Teufel ist viel schlauer, als manche denken; er weiß recht wohl, wer ihm gewachsen ist!« Der Seemann fühlte sich durch das Kompliment geschmeichelt und fuhr fort:

»Als wir den Bosporus passiert hatten, begann meine Mannschaft zu murren. Einige von ihnen, die Rumänen, kamen und baten mich, eine große Kiste über Bord werfen zu dürfen, die kurz vor unserer Abfahrt von London ein alter, merkwürdig aussehender Mann hatte verstauen lassen. Ich hatte schon gesehen, wie sie nach dem Kerl hinschielten und zwei Finger gabelförmig gegen ihn ausstreckten, um sich vor dem bösen Blick zu schützen. Dieser Aberglaube der Ausländer ist doch wirklich zu lächerlich. Ich hieß sie schnell wieder an ihre Arbeit gehen. Als uns aber wieder ein undurchdringlicher Nebel einschloß, fühlte ich doch ein gewisses Unbehagen, wenn ich auch nicht gerade sagen kann, daß es sich auf die Kiste bezog. Wir fuhren weiter, und als der Nebel fünf Tage lang nicht wich, beschloß ich, mich vom Winde treiben zu lassen. Denn wenn der Teufel uns irgendwo hintreiben wollte, so ließ ich ihm eben sein Vergnügen. Jedenfalls hatten wir die ganze Zeit guten Wind und tiefes Wasser, und als vor zwei Tagen die Morgensonne durch den Nebel drang, befanden wir uns schon im Flusse, Galatz gegenüber. Die Rumänen waren aufgebracht und verlangten im guten oder bösen, daß ich die Kiste herausholen und in den Fluß werfen ließe. Ich mußte mich mit ihnen vermittels eines Hebebaumes auseinandersetzen, und als der letzte von ihnen seinen Kopf haltend, das Deck verließ, hatte ich sie überzeugt, daß – ob böser Blick oder nicht böser Blick – das Eigentum meiner Auftraggeber bei mir besser aufgehoben sei als auf dem Grunde der Donau. Sie hatten die Kiste schon auf Deck geschleppt, um sie hinauszuwerfen, und da sie mit Galatz via Varna gezeichnet war, dachte ich, ich lasse sie gleich da, bis wir im Hafen gelöscht hatten oder wir sie auf eine andere Weise los würden. Wir kümmerten uns diesen Tag nicht mehr viel um die Deklaration und blieben über Nacht vor Anker liegen. Am Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, kam ein Mann an Bord, der eine aus England an ihn gerichtete Ordre vorwies, eine für Graf Dracula bestimmte Kiste in Empfang zu nehmen. Offenbar war die Sache gut vorbereitet. Seine Papiere waren in Ordnung, und ich war herzlich froh, das verwünschte Ding loszuwerden, denn es begann mir selbst unheimlich zu werden. Wenn ich das Gepäck des Teufels an Bord gehabt hätte, konnte mir auch nicht unbehaglicher sein.«

»Wie hieß der Mann, der die Kiste in Empfang nahm?« fragte Dr. Van Helsing mit verhaltener Neugierde.

»Das kann ich Ihnen sogleich sagen«, antwortete der Kapitän. Er stieg in seine Kabine hinunter und brachte eine Empfangsbestätigung mit der Unterschrift »Immanuel Hildesheim«; seine Adresse war Burgenstraße 16. Das war alles, was der Kapitän wußte; deshalb dankten wir und verabschiedeten uns.

Wir trafen Hildesheim in seinem Kontor, einen Juden, wie man ihn auf der Bühne sieht, mit einer großen, krummen Nase und einem Fez. Seine Mitteilungen ließ er sich mit barem Geld bezahlen und erzählte, nachdem er noch ein wenig gehandelt hatte, alles, was er wußte. Es war einfach, aber sehr wichtig. Er hatte von einem Herrn de Ville aus London einen Brief erhalten mit dem Auftrage, wenn möglich vor Sonnenaufgang, um den Zoll zu umgehen, eine Kiste abholen zu lassen, welche auf der »Czarina Catharina« in Galatz ankommen würde. Hier sollte er sie einem gewissen Petroff Skinsky übergeben, der mit den Slovaken in Verbindung stand, welche den Fluß hinunter bis zum Hafen Handel treiben. Er war für seine Mühewaltung mit einer englischen Banknote bezahlt worden, die ihm bei der Internationalen Donaubank bereitwillig umgewechselt wurde. Als Skinsky zu ihm gekommen war, hatte er ihn zum Schiff mitgenommen und ihm dort die Kiste übergeben, um die Zustellungsgebühr für die Mitteilung zu ersparen. Das war alles, was wir erfahren konnten.

Wir machten uns nun auf den Weg, um Skinsky zu suchen; aber vergebens. Einer seiner Nachbarn, der ihm nicht gerade sehr gewogen schien, sagte, er sei vor zwei Tagen fortgegangen; wohin, wisse man nicht. Dies wurde von seinem Mietsherrn bestätigt, dem Skinsky durch einen Boten den Hausschlüssel und die schuldige Miete in englischem Gelde übersandt hatte. Das war gestern Nacht zwischen zehn und elf Uhr geschehen. So waren wir also auf einem toten Punkte angelangt.

Während wir noch verhandelten, kam jemand gelaufen und berichtete atemlos, daß man Skinskys Leichnam auf der Innenseite der Friedhofmauer gefunden hätte; seine Kehle sei aufgerissen gewesen, wie von einem wilden Tier. Die, mit denen wir eben gesprochen hatten, eilten davon, um sich das Entsetzliche selbst anzusehen, und die Weiber kreischten: »Das hat ein Slovak getan!« Wir machten uns aus dem Staube, weil wir fürchteten, irgendwie in die Angelegenheit verwickelt und aufgehalten zu werden.

Zuhause angekommen, konnten wir zu einem festen, definitiven Entschluß nicht gelangen. Wir waren überzeugt, daß die Kiste auf dem Wasserwege irgend wohin geschafft wurde; wohin aber, das zu entdecken, war sehr schwierig. Es ist begreiflich, daß wir mit schwerem Herzen bei Mina im Hotel ankamen.

Als wir zusammen waren, beschlossen wir, Mina wieder ins Vertrauen zu ziehen. Da die Sache verzweifelt liegt, so ist dieses Mittel, wenn auch gewagt, doch vielleicht geeignet uns zu helfen. Das nächste war, daß ich von meinem Schweigegelübde ihr gegenüber entbunden wurde.

 

Mina Harkers Tagebuch.

30. Oktober, abends. – Sie waren alle so müde, erschöpft und entmutigt, daß ihnen keine Arbeit mehr zugemutet werden konnte, bis sie sich ausgeruht hatten. Ich bat sie deshalb, sich auf eine halbe Stunde niederzulegen, während ich meine Eintragungen bis zur Stunde ergänzen wollte. Ich bin dem Manne, der die Reiseschreibmaschine erfand, sehr dankbar und auch Herrn Morris, der mir eine solche verschaffte. Es wäre mir sehr schwer geworden, wenn ich die viele Schreibarbeit mit der Feder hätte ausführen sollen.

Es ist alles geschehen. Guter Jonathan, was mußt du schon gelitten haben und was mußt du jetzt noch leiden! Er liegt auf dem Sofa. Sein Atem geht fast unmerklich, und sein ganzer Körper macht den Eindruck, als sei seine Kraft gebrochen. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, sein Gesicht ist vor Kummer verzerrt. Armer Mann, vielleicht denkt er nach, denn sein ganzes Antlitz ist mit Fältchen bedeckt, wie von langer, angestrengter Gedankenarbeit. Wenn ich ihm nur ein wenig helfen könnte … ich will ja gern tun, was ich kann.

Ich habe Van Helsing gebeten, mir die Papiere zu geben, die ich bis jetzt noch nicht gesehen habe. Während sie ruhen, will ich alles sorgfältig durchsehen, vielleicht komme ich doch zu einem bestimmten Resultat. Ich werde versuchen, dem Beispiele des Professors zu folgen und über die vorliegenden Tatsachen ohne Vorurteil nachzudenken.

Ich glaube, Gottes Gnade hat mich eine Entdeckung machen lassen. Ich muß die Landkarten holen und studieren.

Ich bin meiner Sache vollkommen sicher. Mein Plan ist fertig. Ich will meine Freunde zusammenrufen, um es ihnen vorzulesen.

 

Mina Harkers Denkschrift.

(In ihr Tagebuch eingetragen.)

Grundlage der Untersuchung: Graf Draculas Plan ist, in seine Heimat zurückzukehren.

a) Er muß von irgend jemand zurückgebracht werden. Das ist offenbar. Denn hätte er die Macht, sich nach seinem Wunsche zu bewegen, so würde er es tun, entweder als Mensch, als Wolf, als Fledermaus oder in einer anderen Gestalt. Er fürchtet entschieden eine Entdeckung oder eine Störung in seinem Zustande der Hilflosigkeit; ist er doch zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in seiner Kiste gefangen.

b) Wie können wir seiner habhaft werden? – Hier muß uns ein indirekter Schluß zu Hilfe kommen. Ist es auf der Straße, auf der Eisenbahn oder auf dem Wasser?

1. Auf der Straße. – Dies hätte endlose Schwierigkeiten, besonders beim Passieren von Städten.

x) Dort gibt es Leute, diese sind immer neugierig und spüren gern etwas auf. Ein Wink, ein Argwohn, der Wunsch, zu wissen, was in der Kiste sei, könnten ihm verderblich werden.

y) Es könnten Wach- oder Zollstationen zu passieren sein.

z) Seine Feinde könnten ihn verfolgen. Das ist seine größte Sorge. Um sich nicht zu verraten, hat er sogar auf sein Opfer, auf mich, verzichtet.

2. Mittels Eisenbahn – Hier wäre niemand, der die Kiste beaufsichtigt. Es könnte möglicherweise eine Verzögerung im Transport eintreten; jede Verzögerung müßte ihm aber verhängnisvoll werden, da seine Feinde ihm auf den Fersen sind. Allerdings könnte er ja nächtlicherweise entfliehen; aber was würde aus ihm werden, auf unbekannter Erde, ohne Schlupfwinkel, in den er sich verkriechen könnte? Diesen Weg wird er also auch nicht einzuschlagen wagen.

3. Auf dem Wasserwege. – Dies ist wohl in mancher Hinsicht der sicherste Weg für ihn; allerdings drohen ihm auch hier genug Gefahren. Auf dem Wasser ist er machtlos, außer bei Nacht; selbst dann kann er nur Nebel, Sturm und Schnee und seine Wölfe herbeirufen. Würde er Schiffbruch erleiden, so würde ihn das Wasser rettungslos verschlingen und er wäre verloren. Er könnte auch das Schiff an Land treiben; wäre es aber ungeeignetes Land, wo er sich nicht frei bewegen könnte, so wäre seine Lage gleichfalls eine verzweifelte.

Wir wissen, daß er sich auf dem Wasser befindet. Es handelt sich also darum, festzustellen, auf welchem Wasser.

In erster Linie müssen wir genau wissen, was er bis jetzt getan hat. Wir können daraus vielleicht einen Schluß ziehen auf das, was er weiterhin zu tun beabsichtigt.

Erstens: Wir müssen wissen, was er in London für den wichtigsten Teil seines Feldzugsplanes hielt und was er davon ausführte, trotzdem die Zeit drängte.

Zweitens müssen wir sehen, so gut es die uns bekannten Tatsachen ermöglichen, was er hier getan hat.

Er hatte offenbar die Absicht, nach Galatz zu kommen, fertigte aber den Frachtbrief nach Varna aus, um uns zu täuschen und damit wir im unklaren wären, auf welchem Wege er aus England entkommen ist. Sein unmittelbarer und einziger Zweck war also, uns zu entgehen; Beweis hierfür ist der Brief, in welchem Immanuel Hildesheim beauftragt wird, die Kiste vor Sonnenaufgang wegzuschaffen. Hier haben wir auch die Instruktion für Petroff Skinsky. Dies können wir allerdings nur vermuten; es muß aber noch ein Brief oder eine Botschaft eingelaufen sein, da sich Skinsky zu Hildesheim begab.

Wir wissen, daß bis hierher sein Plan gelungen war. Die »Czarina Catharina« machte eine so außerordentlich rasche Fahrt, daß Kapitän Donelsons Verdacht erregt wurde. Aber sein Aberglauben im Verein mit seiner Schlauheit kamen dem Grafen sehr zu statten und er fuhr mit dem günstigen Winde, dem Nebel zum Trotz, bis er blindlings in Galatz landete. Daß die Vorbereitungen des Grafen sehr sorgfältig getroffen waren, ist bewiesen. Hildesheim nahm die Kiste in Empfang, brachte sie fort und übergab sie Skinsky. Skinsky übernahm sie – hier aber verloren wir den Faden. Wir wissen nur, daß die Kiste irgendwo auf dem Wasser schwimmt. Wachen und Zollbehörden sind glücklich umgangen worden.

Nun kommen wir zu dem, was der Graf nach seiner Ankunft in Galatz an Land getan haben muß.

Die Kiste war Skinsky vor Sonnenuntergang übergeben worden. Bei Sonnenaufgang konnte der Graf in eigener Gestalt erscheinen. Hier fragen wir uns, warum Skinsky überhaupt zur Hilfeleistung herbeigezogen worden ist? In meines Mannes Tagebuch ist Skinsky als ein Mann erwähnt, der mit den Slovaken, die den Fluß hinunter bis zum Hafen Handel treiben, Verbindung hat, und die Bemerkung des Mannes, daß der Mord das Werk eines Slovaken sei, zeigt die allgemeine Stimmung, die gegen diese Menschenrasse herrscht. Der Graf wollte allein sein.

Ich bin folgender Ansicht: In London beschloß der Graf, auf dem Wasserwege nach seinem Schlosse zurückzukehren, also auf dem sichersten und am wenigsten auffallenden Wege. Er war von Zigeunern vom Schlosse weggebracht worden; wahrscheinlich haben diese ihre Ladung den Slovaken übergeben, die die Kisten nach Varna transportierten. Von dort aus sind diese ja auch nach London eingeschifft worden. Auf diese Weise wußte also der Graf, welche Personen imstande waren, ihm Dienste zu leisten. Als dann die Kiste an Land war, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, kam er heraus, traf mit Skinsky zusammen und instruierte ihn, wie er den Transport der Kiste auf einem der Flüsse zu bewerkstelligen habe. Als das geschehen und alles im Gange war, meinte er seine Spur dadurch verlöschen zu können, daß er seinen Agenten ermordete.

Ich habe die Karte genau geprüft und gefunden, daß der für die Slovaken am leichtesten zu erreichende Fluß der Sereth oder der Pruth ist. Ich las in unseren Akten, daß ich in meinem Trance das Brüllen von Kühen, das Wirbeln von Wasser in gleicher Höhe mit meinen Ohren und das Krachen von Holzwerk gehört hatte. Der Graf mußte also damals in seiner Kiste in einem offenen Boot auf einem Flusse transportiert worden sein. Das Boot muß mit Rudern oder Stangen getrieben worden sein, denn Sandbänke sind in der Nähe gewesen, und es muß stromaufwärts gegangen sein. Wäre das Boot stromabwärts gefahren, so wäre jedenfalls das Krachen der Ruder oder Stangen nicht so laut zu hören gewesen. Ich bin der festen Überzeugung, daß nur der Sereth oder der Pruth für ihn in Betracht kommen; trotzdem dürfen wir aber unsere Nachforschungen nicht einstellen. Während der Pruth leichter zu befahren ist, hat der Sereth den Vorzug, daß er sich bei Fundu mit der Bistritza vereinigt, die den Borgopaß umfließt. Die Schleife, die der Fluß macht, liegt so nahe an Schloß Dracula, daß es bequemer gar nicht zu erreichen ist.

 

Mina Harkers Tagebuch.

Als ich fertig gelesen hatte, nahm mich Jonathan in seine Arme und küßte mich. Die anderen ergriffen und drückten meine Hände und Dr. Van Helsing sagte:

»Unsere liebe Frau Mina ist wieder einmal unsere Führerin gewesen. Ihre Augen allein waren sehend, wo wir blind waren. Jetzt haben wir die verloren gegangene Fährte wieder, und diesmal werden wir Erfolg haben. Unser Feind hat den Höhepunkt seiner Schwäche erreicht. Wenn wir am Tage und auf dem Wasser über ihn kommen, ist er verloren und unsere Aufgabe vollendet. Er hat ja einen Vorsprung, aber er kann ihn nicht ausnützen, da er seine Kiste nicht verlassen darf, wenn er nicht den Verdacht derer, die ihn transportieren, erregen will. Wenn er ihren Verdacht erregt, so würden sie ihn zweifellos in den Fluß werfen, wo er zu Grunde ginge. Das weiß er und möchte es vermeiden. Nun zum Kriegsrat, denn auf der Stelle müssen wir jedem das zuteilen, was er zu tun haben wird.«

»Ich werde eine Dampfbarkasse kaufen und ihn verfolgen«, sagte Lord Godalming.

»Und ich nehme Pferde und verfolge ihn längs des Ufers, bis er landen muß,« sagte Herr Morris.

»Gut,« sagte der Professor, »ich bin mit beidem einverstanden. Aber keiner darf allein gehen. Wir müssen die Kräfte so verteilen, daß wir etwaigen Widerstand zu überwinden vermögen. Der Slovak ist stark und wild und hat ein Paar feste Arme.« Alle lächelten, denn das, was sie an sich trugen, machte ein kleines Arsenal aus. Herr Morris fügte noch hinzu:

»Ich habe einige Winchesters besorgt. Sie sind sehr handlich; vielleicht können wir sie gegen Wölfe gut brauchen. Der Graf hat, wie wir wissen, noch einige andere Vorsichtsmaßregeln getroffen. Wir müssen auf alles gefaßt sein.« Dr. Seward sagte:

»Ich denke, es ist am besten, ich gehe mit Quincey. Wir sind durch lange Jagdreisen aneinander gewöhnt. Wir beide werden, bis an die Zähne bewaffnet, nicht zu unterschätzende Gegner sein für alles, was sich uns in den Weg stellen mag. Du, Arthur, darfst auch nicht allein bleiben. Es kann nötig werden, mit den Slovaken zu fechten, und der kleinste Mißerfolg – allerdings glaube ich ja nicht, daß die Kerle Flinten haben – kann unser ganzes Unternehmen in Frage stellen. Diesmal darf es für uns keine Zufälligkeiten geben. Wir werden nicht eher ruhen, bis wir den Kopf des Grafen vom Rumpfe getrennt haben und sicher sein können, daß er nimmer wieder kommt.« Er sah beim Sprechen Jonathan an und Jonathan mich. Ich bemerkte, daß dieser innerlich von Zweifeln gepeinigt wurde. Ich weiß gewiß, daß er gern bei mir geblieben wäre; aber er wäre ebenso gern im Boote mitgefahren, um den … den …: Vampyr – warum zögere ich, dieses Wort zu schreiben – zu vernichten. Er schwieg und Dr. Van Helsing sprach:

»Freund Jonathan, das ist Ihre Sache, aus zwei Gründen. Erstens weil Sie jung und tapfer sind, fechten können und weil die äußerste Anspannung dazu nötig ist. Sodann ist es auch Ihr Recht, den zu vernichten, der solches Leid über Sie und Ihre liebe Frau gebracht hat. Wegen Frau Mina machen Sie sich keine Sorge, sie ist bei mir gut aufgehoben. Ich bin alt. Meine Beine können nicht mehr so rasch laufen wie ehemals; ich bin auch nicht gewöhnt, so lange zu reiten, wie es bei der Verfolgung unter Umständen nötig werden kann, oder mit Mordwaffen umzugehen. Aber ich kann anderweitig nützlich sein, ich kann auf andere Weise kämpfen. Ich kann auch sterben, wenn es sein muß, ebenso gut wie ein Jüngerer. Nun lassen Sie mich meinen Vorschlag machen: Während Sie, mein lieber Lord Godalming, und Sie, Freund Jonathan, in Ihrem kleinen, flinken Dampfboot den Fluß hinauffahren und während John und Quincey das Ufer bewachen und den Feind abfassen, wo er auch landen mag, werde ich Frau Mina direkt ins Herz des Feindeslandes führen. Während der alte Fuchs in seiner Kiste festgebannt auf dem Flusse schwimmt und nicht an Land kommen kann – den Deckel seiner Kiste kann er nicht aufheben, weil er fürchten muß, daß seine slovakischen Begleiter ihn vernichten – werden wir, den Spuren Jonathans folgend, von Bistritz über den Borgopaß gehen und den Weg zum Schlosse Dracula einschlagen. Hier wird mir Frau Minas hypnotische Kraft den Weg weisen – sonst wäre ja alles dunkel und unbekannt – nach dem ersten Sonnenaufgang, wenn wir in der Nähe des verhängnisvollen Platzes angekommen sind. Es muß noch vieles andere geschehen und es gilt auch noch manche Sterilisierungen vorzunehmen, damit das Vipernnest endlich ausgehoben wird.« Hier unterbrach ihn Jonathan hitzig:

»Wollen Sie damit sagen, Professor Van Helsing, daß Sie Mina, die ohnehin unglücklich genug und von jenem Teufel gezeichnet ist, mit in jene Hölle führen wollen? Nicht um alles in der Welt! Das dürfen Sie nicht!« Seine Stimme versagte auf ein paar Augenblicke, dann fuhr er fort:

»Wissen Sie denn, was das für ein Platz ist? Haben Sie die Fallgrube voll höllischer Infamien gesehen, wo selbst das Mondlicht grauenhafte Gespenster gebiert und jedes im Winde wirbelnde Staubkörnchen ein gräßlicher Ungeheuerembryo ist? Haben Sie schon des Vampyrs Lippen an Ihrer Kehle gefühlt?« Er sah mich an. Als seine Augen auf meiner Stirn hafteten, rang er die Hände und rief: »Mein Gott, was haben wir getan, daß du solche Schrecken um uns anhäufst?« Dann sank er auf das Sofa nieder und barg sein Gesicht in den Händen, von seinem Elend überwältigt. Die klare, freundliche Stimme des Professors beruhigte uns:

»Mein Freund, verstehen Sie denn nicht, daß ich Mina eben vor dem grauenhaften Platze retten will, den ich betreten muß? Ich werde Sie mit mir nicht hineinnehmen. Es muß dort etwas geschehen – etwas Furchtbares – das ihre Augen nicht erblicken dürfen. Wir alle, außer Jonathan, wissen, was ich meine, was geschehen muß, um das Nest unschädlich zu machen. Denken Sie daran, daß wir in einer entsetzlichen Lage sind. Wenn es dem Grafen diesmal gelingt zu entkommen – und er ist stark und gewandt und schlau – wird er vielleicht ein Jahrhundert in seinem Sarge schlafen. Dann wird unsere verehrte Frau Mina« – er ergriff meine Hand – »zu ihm kommen, um ihm Genossin zu sein, und würde wie die anderen, die Sie, Jonathan, gesehen haben. Sie haben uns von ihren schwellenden Lippen erzählt, Sie haben das grausige Gelächter gehört, als sie das zuckende Bündel ergriffen, das ihnen der Graf zuwarf. Sie schaudern, und dennoch könnte der Fall eintreten. Vergeben Sie mir, daß ich Ihnen Schmerz bereite, aber ich kann nicht anders. Ist es nicht eine gräßliche Aufgabe, für die ich, wenn es sein muß, mein Leben hingebe? Wenn irgend einer dort am Platze bleibt und den Gespenstern Genosse werden muß, so will ich es sein.«

»Tun Sie, wie Sie wollen«, sagte Jonathan mit einem Seufzer. »Wir sind alle in Gottes Hand.«

Später. – Wie wohl tat es mir zu sehen, wie diese braven Männer sich anstrengten. Solche Männer muß eine Frau doch lieb haben, die so treu und tapfer sind. Außerdem muß ich daran denken, welche Rolle das Geld in unserem Falle gespielt hat. Was kann es tun, wenn es richtig angewendet wird, und welches Unheil kann es in der Hand böser Menschen anrichten! Ich bin froh, daß Lord Godalming reich ist und daß er und Herr Morris, der auch über bedeutende Mittel verfügt, diese so großherzig in den Dienst unserer Sache stellen. Denn würden sie das nicht, so könnte unsere kleine Expedition nicht so pünktlich und nicht so wohlausgerüstet, wie sie in einer Stunde sein wird, abgehen. Noch keine drei Stunden sind es her, daß jedem von uns seine Rolle zugeteilt worden ist, und schon haben Lord Godalming und Jonathan eine schöne Barkasse, die unten am Flusse unter Dampf liegt, um jeden Augenblick abfahren zu können. Dr. Seward und Herr Morris haben ein halbes Dutzend guter Pferde mit voller Ausrüstung erworben. Wir haben Karten und Reisegegenstände aller Art, die für unseren Zweck irgend in Betracht kommen konnten, gekauft. Van Helsing und ich wollen mit dem Zuge um 11 Uhr 40 Min. abends nach Veresti fahren, von dort aus werden wir einen Wagen nach dem Borgopaß nehmen. Wir haben ziemlich viel Bargeld bei uns, da wir den Wagen und die Pferde kaufen wollen. Wir haben die Absicht selbst zu kutschieren, denn wir haben niemand, dem wir in dieser Sache trauen könnten. Der Professor kennt eine Anzahl fremder Sprachen; ich hoffe, daß uns dies zustatten kommen wird. Sie alle haben Waffen, und auch für mich hat man einen großkalibrigen Revolver angeschafft. Jonathan wollte durchaus haben, daß ich genau so bewaffnet würde wie die anderen. Leider kann ich eines der Kampfmittel, das die anderen haben, nicht an mir tragen wegen der Narbe an meiner Stirn. Dr. Van Helsing tröstete mich und sagte, ich sei hinreichend bewaffnet, um mich gegen Wölfe zur Wehr setzen zu können. Das Wetter wird stündlich kälter, wie Vorboten des Winters fegten zeitweise Schneeschauer über das Land.

Später. – Ich mußte all meine Kraft zusammenraffen, als es galt, von meinem geliebten Manne Abschied zu nehmen. Wer weiß, ob wir uns lebend wiedersehen werden. Mut, Mina! Der Professor sieht dich scharf an; sein Blick ist wie eine Aufmunterung. Tränen dürfen jetzt nicht fließen.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

30. Oktober. Nachts. – Ich schreibe beim Scheine der Kesselfeuerung unserer Dampfbarkasse; Lord Godalming heizt eben. Er versteht die Sache vollkommen, denn er hatte selbst Jahre lang sein eigenes Dampfboot auf der Themse und ein zweites auf den Norfolk Broads. Wir waren zu der Überzeugung gelangt, daß Mina richtig gefolgert hatte und daß für die Flucht des Grafen, wenn er überhaupt den Wasserweg gewählt hatte, nur der Sereth, und dann von der Einmündung der Bistritza ab diese in Betracht kommen konnte. Nach unserer Meinung war etwa auf dem 47. Grad nördlicher Breite der günstigste Platz, um die Landstrecke zwischen dem Fluß und den Karpathen zu überwinden. Wir glaubten auf dem Flusse auch bei Nacht eine große Geschwindigkeit annehmen zu dürfen, denn es war reichlich Wasser vorhanden und die Sandbänke traten nicht so dicht heran, daß sie unsere flotte Fahrt behindert hätten. Lord Godalming forderte mich auf, mich schlafen zu legen, da es zur Zeit genüge, wenn einer wache. Aber ich kann nicht schlafen. Wie wäre das denkbar, da ich weiß, in welcher Gefahr mein liebes Weib schwebt und welch gräßlicher Stelle sie sich nähert. Mein einziger Trost ist noch, daß wir in Gottes Hand sind. Ohne diesen Glauben wäre es besser zu sterben als zu leben und sich so von all der Qual zu befreien. Herr Morris und Dr. Seward haben ihren langen Ritt angetreten, ehe wir abfuhren. Sie beabsichtigten, sich auf dem rechten Ufer zu halten und zwar weit genug vom Flusse entfernt, um von den Höhen aus lange Strecken übersehen zu können und sich von den Windungen unabhängig zu machen. Sie haben für die ersten Etappen zwei Leute engagiert, um die Reservepferde zu reiten und zu führen. Sie sind also nur zu vieren und lenken die Aufmerksamkeit weniger auf sich. Wenn sie die Leute entlassen, was in Kürze der Fall sein wird, müssen sie die Pferde selbst übernehmen. Es kann nötig werden, daß sich alle die getrennten Kräfte vereinigen. Auch hierfür ist gesorgt, denn wir können uns dann alle beritten machen. Einer der Sättel ist so eingerichtet, daß er rasch in einen Damensattel verwandelt werden kann.

Es ist ein wildes Abenteuer, in das wir uns gestürzt haben. Wir fahren da in Windeseile über den nächtlichen Fluß, von dem kalte Nebel aufsteigen und um unsere Gesichter flattern. Und rings um uns hören wir die geheimnisvollen Stimmen der Nacht. Wir treiben auf unbekannten Wegen unbekannten Zielen entgegen, in eine ganze Welt dunkler und schrecklicher Dinge. Godalming schließt die Heiztüre …

31. Oktober. – In großer Eile geht es weiter. Der Tag ist angebrochen und Godalming schläft. Ich halte Wache. Der Morgen ist bitter kalt; trotzdem wir in dicke Pelze gehüllt sind, tut uns die Glut der Heizung wohl. Eben haben wir ein paar offene Boote überholt, aber keines von ihnen hat eine Kiste oder Ladung von der Art an Bord, wie wir sie suchen. Die Schiffer erschraken, als wir das Licht unserer elektrischen Lampen auf sie fallen ließen, sanken auf die Knie und beteten.

1. November. Abends. – Die ganze Zeit nichts Neues. Wir haben nichts von dem gefunden, was wir suchen. Wir sind nun in die Bistritza eingelaufen; wenn wir uns in unserer Voraussetzung getäuscht haben, dann ist all unsere Hoffnung dahin. Wir haben jedes Boot, ob groß oder klein, untersucht. Heute früh hielt uns die Bemannung eines der Boote für ein Regierungsschiff und kam uns dementsprechend höflich entgegen. Wir erkannten daraus, daß wir uns die Sache wesentlich erleichtern konnten. Wir beschafften uns in Fundu, wo sich die Bistritza mit dem Sereth vereinigt, eine rumänische Flagge und ließen sie recht auffällig flattern. Bei sämtlichen Booten, die wir seitdem durchsucht haben, hat der Trick uns viel geholfen. Man begegnete uns allenthalben mit der größten Bereitwilligkeit und wir fanden nicht den geringsten Widerstand, was wir auch tun und fragen mochten. Einige der Slovacken berichteten uns, daß ihnen ein großes Boot vorangefahren sei, dessen außergewöhnliche Eile und doppelte Rudermannschaft ihnen aufgefallen war. Das war aber schon gewesen, ehe sie nach Fundu kamen, sie konnten uns also nicht sagen, ob das genannte Boot in die Bistritza eingebogen sei oder den Sereth weiter verfolgt habe. In Fundu konnten wir in dieser Sache nichts erfahren und mußten deshalb annehmen, daß das Fahrzeug dort in der Nacht vorbeigekommen war. Ich bin sehr schläfrig; vielleicht ist die Kälte daran schuld; etwas Ruhe muß die Natur doch haben. Godalming besteht darauf, zuerst die Wache zu übernehmen. Gott segne ihn für all das Gute, das er mir und meiner lieben Mina tut.

2. November. Morgens. – Es ist heller Tag. Godalming hat mich nicht wecken wollen. Er sagt, es wäre eine Sünde gewesen, denn ich hätte so friedlich geschlummert und ausgesehen, als hätte ich alle Sorgen vergessen. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich in meinem geradezu verwerflichen Egoismus so lange schlief und ihn die ganze Nacht wachen ließ. Aber er hatte erkannt, was mir not tat. Ich fühle mich heute Morgen wie neugeboren; ich sitze hier und tue alles, was geschehen muß. Ich bediene die Maschine, ich steuere, ich beobachte den Fluß und hüte Godalmings Schlaf. Ich habe das Gefühl, als kehrte mir Kraft und Energie wieder. Ich möchte wissen, wo jetzt Mina ist und Van Helsing. Sie müssen Mittwoch gegen Mittag in Veresti angekommen sein. Sie werden wohl einige Zeit gebraucht haben, um Wagen und Pferde zu beschaffen. Wenn sie dann abgefahren sind und sich etwas beeilt haben, können sie schon bald in der Nähe des Borgopasses sein. Gott leite und schütze sie! Ich denke mit Schrecken an das, was sich ereignen könnte. Wenn wir nur rascher vorwärts kämen! Aber es ist unmöglich. Die Maschine keucht und leistet ihr Äußerstes. Auch möchte ich wissen, wie Dr. Seward und Morris vorwärts kommen. Unermeßlich viele Bäche fließen vom Gebirge herab in den Strom, aber da keiner von ihnen sehr breit ist – im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, mögen sie ja ohne Zweifel entsetzlich wüten – haben die Reiter wahrscheinlich nicht allzuviele Hindernisse auf ihrem Wege zu überwinden. Ich hoffe, daß wir, noch ehe wir Strasba erreichen, ihrer ansichtig werden; denn falls wir bis dahin den Grafen noch nicht eingeholt haben sollten, wird es nötig werden zu beraten, was weiter geschehen muß.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

2. November. – Drei Tage im Sattel. Keine Nachrichten. Hätte auch keine Zeit, sie niederzuschreiben, da jeder Augenblick kostbar. Wir haben nur die im Interesse der Pferde unerläßlichen Rasten eingelegt; aber wir befinden uns dabei prächtig. Die Abenteuer vergangener Tage kehren in unserer Erinnerung wieder. Wir müssen eilen, daß wir weiter kommen; wir dürfen nicht eher beruhigt sein, als bis wir die Dampfbarkasse in Sicht haben.

3. November. – Wir erfuhren in Fundu, daß die Barkasse die Bistritza hinaufgefahren sei. Ich wünschte, es wäre nicht so kalt. Es scheint, als wolle es schneien; wenn viel Schnee fällt, wird er uns rechte Schwierigkeiten bereiten. In diesem Falle müßten wir eben einen Schlitten nehmen und unsere Verfolgung nach russischer Art fortsetzen.

4. November. – Heute hörten wir, daß die Barkasse einen Unfall erlitten habe, indem sie eine Stromschnelle zu forcieren versuchte. Die Slovackenboote sind alle ohne weitere Schwierigkeiten hinaufgekommen, indem sie sich an Seilen hinaufziehen ließen; außerdem kam ihnen ja auch ihre Ortskenntnis zu gute. Erst vor ein paar Stunden sind wieder einige heraufgekommen. Godalming ist selbst Fachmann; offenbar hat er das Boot wieder so weit repariert, daß es die Fahrt fortsetzen konnte. Schließlich kamen sie dann doch über die Stromschnellen herauf, indem sie die Hilfe der Anwohner in Anspruch nahmen, und begannen wieder ihre unterbrochene Jagd. Ich glaube, daß das Boot durch den Unfall wesentlich gelitten hat. Die Bauern sagen, daß es, nachdem es wieder in ruhigeres Wasser gekommen war, jeden Augenblick stoppte, bis sie es außer Sicht verloren. Wir müssen uns noch mehr beeilen, vielleicht bedarf man bald unserer Hilfe.

 

Mina Harkers Tagebuch.

31. Oktober. – Wir sind mittags in Veresti angelangt. Der Professor sagte mir, daß er heute Morgen mich fast gar nicht hypnotisieren konnte und daß alles, was ich sagte, war: »Dunkel und ruhig.« – Er ist gerade weggegangen, um Wagen und Pferde zu besorgen. Er sagt, er wolle dann später unterwegs noch Reservepferde kaufen, damit wir auch imstande wären zu wechseln. Wir haben etwas mehr als 70 Meilen vor uns. Das Land ist lieblich und sehr interessant. Wie herrlich wäre es, wenn wir unter erfreulicheren Umständen seiner Schönheit froh werden könnten. Welche Freude wäre es für Jonathan und mich, zusammen das Land zu durchfahren, da und dort anzuhalten, das Volk zu studieren, etwas über sein Leben und seine Sitten zu erfahren und die Seele mit all der Pracht und malerischen Wildheit des Landes zu erfüllen. Aber leider!

Später. – Dr. Van Helsing ist zurück. Er hat Pferde und einen Wagen gekauft; wir wollen etwas essen und dann in einer Stunde abreisen. Die Wirtin packt uns gerade einen mächtigen Korb mit Lebensmitteln auf das Gefährt; er schien für eine Kompagnie Soldaten berechnet. Der Professor redet ihr immer noch zu und sagt mir leise, daß vielleicht eine Woche vergehen kann, bis wir wieder etwas Anständiges zu essen bekämen. Er hat noch eine Menge anderer Dinge eingekauft, eine prächtige Kollektion von Pelzmänteln und Decken und sonstigen warm haltenden Hüllen. Ich habe keine Angst, daß wir frieren werden.

*

Bald werden wir abfahren. Ich denke mit Schrecken an das, was uns passieren kann. Aber Gott hält ja seine Hand über uns. Er allein weiß, was die Zukunft bringt, und ich flehe ihn aus der Tiefe meiner traurigen, gequälten Seele an, er wolle meinen heißgeliebten Gatten beschirmen. Was sich auch ereignen möge, Jonathan soll wissen, daß ich ihn mehr geliebt und verehrt habe, als Worte es zu sagen vermögen, und daß mein letzter, mein einziger Gedanke er war.


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