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Achtzehntes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

30. September. – Ich kam um fünf Uhr nach Hause und fand, daß Lord Godalming und Morris nicht nur angekommen waren, sondern auch schon die Übertragung der verschiedenen Tagebücher und Briefe durchstudiert hatten, die von Harker und seiner prächtigen Frau angefertigt und geordnet worden waren. Harker war von seinem Besuch bei den Fuhrleuten, von denen mir seinerzeit Dr. Hennessey berichtet hatte, zurückgekehrt. Frau Harker bereitete uns den Tee, und ich muß offen gestehen, daß ich mich das erstemal, seit ich dieses alte Haus bewohne, daheim fühlte. Nachdem wir unsere Mahlzeit beendet hatten, sagte Frau Harker:

»Dr. Seward, darf ich Sie um eine Gefälligkeit bitten? Ich möchte Ihren Patienten Renfield kennen lernen. Führen Sie mich zu ihm. Das, was Sie in Ihrem Tagebuch von ihm erzählen, interessiert mich aufs höchste!« Sie sah mich dabei so bittend und lieblich an, daß ich nicht imstande war, ihr die Bitte abzuschlagen. Da auch kein schwerwiegender Grund dagegen sprach, nahm ich sie mit. Als ich in das Zimmer des Kranken trat, sagte ich ihm, daß eine Dame seine Bekanntschaft zu machen wünsche, worauf er nur antwortete: »Warum?«

»Sie machte einen Rundgang durch das Haus und möchte alles sehen«, antwortete ich. »Ganz recht«, antwortete er, »sie soll nur kommen; aber warten Sie noch einen Augenblick, bis ich etwas aufgeräumt habe.« Seine Aufräumungsweise war recht merkwürdig; er aß sämtliche Fliegen und Spinnen, die er in seinen Schachteln aufbewahrt hatte, auf, ehe ich ihn daran verhindern konnte. Es war offenkundig, daß er irgend eine Beeinflussung durch sie argwöhnte oder befürchtete. Nachdem er sein unappetitliches Werk vollbracht, sagte er höflich: »Nun lassen Sie die Dame eintreten« und setzte sich mit gesenktem Kopfe auf den Rand seines Bettes; dabei schielte er von unten herauf gegen die Tür, um die Eintretende zu sehen. Einen Augenblick erfaßte mich der Gedanke, er könnte einen Mordanfall im Sinne haben. Ich erinnerte mich recht wohl, wie ruhig er damals gewesen, ehe er den Überfall auf mich in meinem Arbeitszimmer inszenierte, und wählte deshalb einen Platz, um ihn sofort packen zu können, falls er Miene machen sollte, sich auf Frau Harker zu stürzen. Sie trat ins Zimmer mit jener unbesorgten Liebenswürdigkeit, die sofort den Irren in Respekt setzt, denn Unbefangenheit ist eine der Eigenschaften, die den Narren imponieren. Frau Harker ging freundlich lächelnd auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.

»Guten Abend, Herr Renfield«, sagte sie. »Sie sehen, ich kenne Sie schon, denn Herr Dr. Seward hat mir von Ihnen erzählt.« Er erwiderte nicht sofort, sondern ließ seine Blicke mit einem finsteren Ausdruck über sie hingleiten. Dieser Ausdruck wich zuerst dem der Neugierde, dann dem des Zweifels; schließlich sagte er zu meiner höchsten Überraschung:

»Sind Sie das Mädchen, das der Doktor gern geheiratet hätte? Aber das kann ja nicht sein; ich weiß, sie ist tot.« Frau Harker erwiderte freundlich lächelnd:

»Nein! Ich habe mich verheiratet, ehe ich Herrn Dr. Seward sah oder er mich. Ich bin Frau Harker.«

»Was wollen Sie dann hier?«

»Mein Mann und ich haben Herrn Dr. Seward Besuch gemacht.«

»Dann machen Sie, daß Sie bald wieder fort kommen.«

»Warum denn?« Ich dachte, daß diese Art der Unterhaltung Frau Harker noch weniger angenehm sein mußte als mir, und mischte mich ins Gespräch:

»Wie kommen Sie darauf, daß ich irgend jemand heiraten wollte?« Seine Antwort war eine sehr verächtliche; er wandte seinen Blick nur ganz kurz von Frau Harker weg auf mich und sagte:

»Was für eine eselhafte Frage!«

»Das sehe ich nicht ein, Herr Renfield«, sagte Frau Harker, indem sie mir beistand. Er antwortete ihr mit ebensoviel Höflichkeit und Respekt, als er mir Mißachtung gezeigt hatte:

»Sie werden einsehen, gnädige Frau, daß, wenn ein Mann so beliebt und verehrt ist wie unser Herr Doktor, alles, was ihn betrifft, für unsere kleine Gemeinschaft von Interesse ist. Dr. Seward ist nicht nur sehr beliebt bei seinen Patienten, die aus Mangel an geistigem Gleichgewicht Ursachen und Wirkungen zu verwechseln pflegen. Seit ich selbst Insasse dieses Irrenasyls bin, habe ich die Bemerkung gemacht, daß die sophistischen Tendenzen einiger von ihnen hart an die Irrtümer des ›non causae‹ und der ignoratio elenchi streifen.« – Ich riß die Augen auf bei dieser neuen Offenbarung. Es war mein Lieblingsnarr – der ausgesprochenste Typus eines solchen, dem ich je begegnet bin – der da elementare Philosophie zum besten gab, und zwar mit den Formen eines vollendeten Gentlemans. Ich möchte wissen, ob es Frau Harkers Einfluß zuzuschreiben ist, die vielleicht irgend eine Seite in seiner Erinnerung berührte. Wenn diese neue Phase eine spontane oder auf ihre unbewußte Einwirkung zurückzuführen war, so muß sie eine ganz beträchtliche, geistige Kraft haben.

Wir plauderten noch einige Zeit. Frau Harker wagte es sogar, nachdem sie erkannt hatte, daß er ganz vernünftig war, und nachdem sie mir erst einen fragenden Blick zugeworfen, auf sein Lieblingsthema überzugehen. Ich war wieder hocherstaunt, denn er beteiligte sich am Gespräch mit der Unbefangenheit eines ganz Gesunden; er führte sogar sich selbst als Beispiel an, wenn er gewisser Dinge Erwähnung tat.

»Sehen Sie, ich bin das Beispiel eines Mannes, der von einer seltsamen Idee im Bann gehalten wurde. Es war nicht zu verwundern, daß meine Freunde ängstlich wurden und meine Unterbringung in einer Heilanstalt veranlaßten. Ich bildete mir ein, daß das Leben eine positive und ununterbrochene Entität wäre und daß man durch Verzehren lebender Wesen, ganz gleich, wie tief sie auf der Stufe der Schöpfung stünden, sein Leben bis ins Ungemessene verlängern könne. Manchmal war der Glaube daran so stark in mir, daß ich tatsächlich den Wunsch hatte, mir ein Menschleben einzuverleiben. Herr Dr. Seward wird mir bestätigen, daß ich ihn gelegentlich zu töten versuchte in der Absicht, meine Lebenskraft zu erhöhen, indem ich durch das Medium des Blutes eine Verschmelzung seiner Kraft mit meinem Leibe erhoffte, denn, wie die Bibel sagt: das Blut ist das Leben. Allerdings hat ein Verkäufer eines gewissen Geheimmittels die Sache wirklich ins Verächtliche gezogen. Ist es nicht wahr, Herr Doktor?« Ich nickte zustimmend, denn ich war dermaßen verblüfft, daß ich nicht wußte, was sagen und was tun. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß ich denselben Mann noch fünf Minuten vorher hatte Fliegen und Spinnen verzehren sehen. Ich sah nach der Uhr und bemerkte, daß es Zeit würde, Van Helsing von der Bahn abzuholen. Weshalb ich zu Frau Harke sagte, daß wir nun gehen müßten. Sie erhob sich, indem sie scherzend zu ihm sprach: »Leben Sie wohl; ich hoffe, Sie noch öfter, aber unter für Sie angenehmeren Umständen wiederzusehen«, worauf er erwiderte:

»Leben Sie wohl, mein Liebling. Ich flehe zu Gott, daß er mich Ihr süßes Antlitz nie mehr erblicken lasse. Er segne und behüte Sie!«

Ich begab mich nach dem Bahnhof, um Van Helsing abzuholen, ließ aber meine Freunde zu Hause. Arthur schien gefaßter, als er seit Lucys Erkrankung gewesen, und Quincey ist auch wieder heiterer geworden, wie ich ihn seit langem nicht sah.

Van Helsing stieg mit der Lebhaftigkeit eines Jünglings aus. Er hatte mich sofort gesehen, kam rasch auf mich zu und sprach:

»Nun, Freund John, wie geht es zu Hause? Gut? So? Ich habe viel zu tun gehabt, denn ich bleibe hier, wenn es nötig werden sollte. Alle meine Angelegenheiten sind in Ordnung und ich habe Ihnen viel zu erzählen. Frau Mina ist also da? Ja? Und ihr prächtiger Mann? Und Arthur und mein lieber Freund Quincey, sie sind auch alle da? Dann ist's gut.«

Als wir heimwärts fuhren, erzählte ich ihm alles, was sich ereignet, und daß mein eigenes Tagebuch – ein großartiger Einfall Frau Harkers – auch noch eine passende Verwendung gefunden hatte. Der Professor unterbrach mich:

»Diese prächtige Frau Mina! Sie hat das Gehirn eines Mannes – nur ein sehr begabter Mann kann sich eines solchen Gehirnes rühmen – und das Herz eines Weibes. Der Herrgott hatte sicherlich etwas Großes mit ihr vor, als er diese prächtige Kombination schuf. Bis jetzt hat uns das Glück diese Frau geschenkt, um uns zu helfen; von heute Abend an darf sie mit der entsetzlichen Geschichte nichts mehr zu tun haben. Es ist nicht recht, daß wir sie einer so furchtbaren Gefahr aussetzen. Wir Männer sind entschlossen und haben wir uns ja geschworen, das Ungeheuer zu vernichten. Aber das ist keine Arbeit für eine Frau. Selbst wenn ihr kein Leid geschieht, so wird sie doch seelische Erschütterungen aus den bevorstehenden Schrecken davontragen und wird darunter leiden, sowohl im Wachen durch ihre Nerven als auch im Schlafe durch ihre Träume. Nebenbei gesagt ist sie ein junges Blut und noch nicht lange verheiratet; es wird andere Dinge für sie zu denken geben. Sie erzählten mir, daß sie alles niedergeschrieben hat; sie muß also noch mit uns beraten; morgen aber soll sie dieser Sache Valet sagen und wir gehen allein unseres Weges.«

Ich stimmte ihm lebhaft zu und erzählte, welche Entdeckung wir in seiner Abwesenheit gemacht; daß das Haus, das Dracula seinerzeit gekauft, meinem eigenen benachbart sei. Er war sehr erstaunt und eine große Unruhe schien sich seiner zu bemächtigen. »Hätten wir das doch vorher gewußt!« sagte er. »Dann hätten wir rechtzeitig seiner habhaft werden können, um Lucy zu retten. Aber an geschehenen Dingen ist nichts mehr zu ändern. Wir wollen daran nicht mehr denken, sondern unverdrossen unsern Weg bis zum Ende gehen.« Dann versank er in Schweigen, bis wir am Gittertor meines Gartens ankamen. Ehe wir uns trennten, um Toilette für das Diner zu machen, sagte er zu Frau Harker:

»Man hat mir berichtet, gnädige Frau, daß Sie und Ihr Herr Gemahl alle Ereignisse bis zu diesem Augenblick aufgezeichnet und chronologisch geordnet haben.«

»Nicht bis zu diesem Augenblick«, sagte sie rasch, »aber bis heute früh.«

»Aber warum denn nicht bis jetzt? Wir haben doch erkannt, welcher Nutzen uns aus den kleinsten Einzelheiten bisher erwachsen ist. Wir haben alle unsere Geheimnisse erzählt und keiner hat davon Schaden genommen.«

Frau Harker zog errötend ein Blatt aus der Tasche und sagte:

»Dr. Van Helsing, lesen Sie das einmal und sagen Sie mir, ob es auch in die Akten kommen soll. Es ist meine heutige Notiz. Ich habe ja selbst gesehen, wie wichtig es ist, und habe auch die unbedeutendste Kleinigkeit niedergelegt; aber hier ist doch eine kleine Ausnahme zu machen; es ist doch rein persönlich. Muß es denn sein?« Der Professor überlas das Blatt mit ernstem Gesicht, gab es ihr zurück und sagte:

»Es muß nicht gerade hinein, wenn es Ihnen nicht angenehm ist; dennoch bitte ich Sie, fügen Sie es ein. Es kann die Liebe Ihres Gatten doch nur erhöhen, und auch wir, Ihre Freunde, werden Sie nur noch mehr verehren und achten.« Sie nahm das Blatt mit neuem Erröten zurück und lächelte glücklich.

So haben wir denn alles bis zum gegenwärtigen Augenblick vollständig und in Ordnung. Der Professor nahm eine Kopie an sich, um sie zwischen dem Diner und unserer Besprechung, die auf neun Uhr angesetzt war, zu studieren. Wir anderen haben bereits alles gelesen; wir werden also, wenn wir im Arbeitszimmer zusammenkommen, über alle Dinge unterrichtet und imstande sein, einen Plan zu schmieden, wie wir diesem entsetzlichen und geheimnisvollen Feind zu Leibe rücken können.

 

Mina Harkers Tagebuch.

30. September. – Als wir zwei Stunden nach Tisch uns in Dr. Sewards Studierzimmer trafen, bildeten wir instinktiv eine Art Kollegium. Professor Van Helsing nahm das obere Ende des Tisches ein, wozu ihn Dr. Seward bei seinem Eintritt genötigt hatte. Er ersuchte mich, zu seiner Rechten Platz zu nehmen und als Sekretär zu fungieren; Jonathan saß neben mir. Auf der anderen Seite des Tisches saßen Lord Godalming, Dr. Seward und Herr Morris. Der Professor begann:

»Ich darf doch voraussetzen, daß wir alle mit den in diesen Papieren enthaltenen Dingen vertraut sind.« Wir gaben alle unsere Zustimmung zu erkennen und er fuhr fort:

»Dann halte ich es für nützlich, wenn ich Ihnen zuerst etwas über den Feind mitteile, mit dem wir es zu tun haben werden. Ich werde Sie mit der Geschichte dieses Mannes bekannt machen, über die ich mich unterrichtet habe. Wir können dann in der Diskussion darüber eintreten, wie wir vorgehen wollen, und können unsere Maßregeln dem Zweck entsprechend ergreifen.«

»Es gibt Wesen, die man Vampyre nennt; einige unter uns haben handgreifliche Beweise dafür, daß sie existieren. Selbst wenn wir nicht unsere eigenen traurigen Erfahrungen hätten machen müssen, so würden immerhin die Berichte und Lehren unserer Vorfahren für vernünftig Denkende Beweis genug bilden. Ich gebe zu, daß ich anfangs der Sache skeptisch gegenüberstand. Wäre ich nicht schon durch die Übung langer Jahre darauf geschult, meine Augen offen zu halten, ich hätte nicht eher daran geglaubt, als bis mir die Tatsachen zugerufen hätten: »Sieh, sieh! Ich beweise es!« Leider! Hätte ich gleich zu Anfang das gewußt, was ich heute weiß – selbst wenn ich es nur hätte ahnen können ein kostbares Leben hätte erhalten bleiben können. Aber das ist nun vorbei; unsere Aufgabe ist es nun, so zu wirken, daß nicht auch andere Seelen zu Grunde gehen, so lange sie noch zu retten sind. Der ›Nosferatu‹ stirbt nicht wie die Biene, wenn sie einmal gestochen hat. Er wird dadurch nur noch stärker, und je stärker er wird, desto mehr Kraft hat er, wieder Böses zu tun. Dieser Vampyr, der unter uns weilt, vereinigt in sich die Kraft von zwanzig Männern; er ist schlauer als die Sterblichen, denn seine Schlauheit wächst im Laufe der Zeiten. Er besitzt die Gabe der Nekromantie, d. h., wie ja schon aus der Ethymologie der Wortes ersichtlich, die Sehergabe als Toter und unbedingte Macht über alles Tote, in dessen Nähe er kommt. Er ist grausam, mehr als grausam, er ist ein Teufel an Gefühllosigkeit, und ein Herz besitzt er nicht. Er kann, mit gewissen Einschränkungen, erscheinen, wann und wo und in welcher Gestalt er will; er kann innerhalb seines Machtbereiches den Elementen gebieten: dem Sturm, dem Nebel, dem Donner. Er hat auch Macht über geringere Dinge, über Ratten, Fledermäuse, Fliegen, Füchse und Wölfe. Er kann sich größer und kleiner, er kann sich zeitweilig unsichtbar machen und ungesehen kommen und gehen. Wie wollen wir also vorgehen, um ihn zu vernichten? Wie bringen wir heraus, wo er ist, und wenn wir das gefunden haben, wie können wir ihn unschädlich machen? Meine Freunde, das ist nicht einfach; es ist ein schreckliches Unternehmen, das wir da vorhaben, und kann Folgen haben, die auch den Tapfersten erzittern lassen. Denn wenn unser Plan mißlingt, ist er Sieger; wie werden wir dann enden? Das Leben bedeutet nichts; ich klammere mich nicht daran. Aber wenn wir unterliegen, handelt es sich um mehr als Leben und Tod. Wir werden dann so wie er; wir werden von da an gräßliche Nachtgespenster ohne Herz und Gewissen, die die Leiber und Seelen derer zu vernichten trachten, die sie vorher am meisten geliebt haben. Uns sind dann auf ewig die Pforten des Himmels verschlossen, denn wer sollte sie uns wieder öffnen? Wir werden für immer der Abscheu aller sein; ein Schandfleck in Gottes reinem Angesicht; ein Pfeil in der Seite dessen, der für die Menschen gestorben ist. Aber wir stehen unserer Pflicht Auge in Auge gegenüber. Dürfen wir in diesem Falle noch zögern? Ich für meine Person sage nein! Denn ich bin alt, und das Leben liegt weit hinter mir mit seinem Sonnenschein, seinen Vogelgesang, seiner Musik, seinen Lieben. Ihr aber seid jung. Einige von euch haben wohl das Leid kennen gelernt, aber sie haben doch noch Aussicht auf schöne Tage. Was sagen Sie dazu?«

Während er so sprach, hatte Jonathan meine Hand ergriffen. Ich fürchtete, daß ihn die erschreckende Beschreibung der uns drohenden Gefahren überwältigt habe, als ich ihn seine Hand nach mir ausstrecken sah. Aber heiße Freude durchzog mein Herz, als ich den Druck dieser Hand fühlte, so stark, selbstbewußt und entschlossen. Eines wackeren Mannes Hand hat ihre eigene Sprache, und es ist nicht nur die Liebe des Weibes, die diese Sprache vernimmt.

Nachdem der Professor geendet, sah mir mein Mann in die Augen und ich in die seinen; wir bedurften keines gesprochenen Wortes.

»Ich bürge für Mina und mich«, sagte er.

»Rechnen Sie auf mich, Professor«, sagte Quincey Morris, lakonisch wie immer.

»Ich gehöre Ihnen«, sagte Lord Godalming, »schon um Lucys willen, wenn es nicht noch andere Gründe genug gäbe.«

Dr. Seward nickte nur. Der Professor stand auf, legte das goldene Kruzifix auf den Tisch und streckte seine Hände nach beiden Seiten hin aus. Ich ergriff seine Rechte und Lord Godalming seine Linke; Jonathan gab mir seine linke Hand und reichte die Rechte Herrn Morris hinüber. Als wir so Hand in Hand dastanden, schlossen wir den ernsten Bund. Ich fühlte, daß es mir eiskalt ums Herz wurde, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen mich zurückzuziehen. Wir nahmen unsere Plätze wieder ein, und Van Helsing fuhr fort mit einer Freude, die mir bewies, daß wir schon unser ernstes Werk begonnen hatten. Es mußte so wichtig sein und ebenso geschäftsmäßig erledigt werden wie irgend etwas im Leben.

»Sie wissen also jetzt, gegen wen wir zu kämpfen haben; aber auch wir sind nicht ganz machtlos. Wir haben auf unserer Seite die Kraft der Überlegung, eine Kraft, die dem Geschlecht der Vampyre versagt ist. Wir haben wissenschaftliche Erfahrungen; wir können frei denken und handeln. In der Tat sind unsere Kräfte, so weit sie reichen, ungefesselt und wir können beliebigen Gebrauch davon machen. Wir hängen selbstlos an der Sache, deren Ziel ja auch kein egoistisches ist. Das hat viel zu sagen.

Nun wollen wir uns über die allgemeine Natur der uns entgegentretenden feindlichen Kräfte und über das individuelle Nichtkönnen klar werden, d. h. wir wollen die Fähigkeiten der Vampyre im allgemeinen und die unseres Gegners im besonderen betrachten.

Alles, worauf wir fußen, ist Tradition und Aberglaube. Das scheint im ersten Augenblick nicht viel, wenn man bedenkt, daß es sich um Leben und Tod handelt. Aber dennoch müssen wir zufrieden sein; erstens, weil wir nicht anders können – weitere Mittel stehen uns nicht zur Verfügung – und zweitens weil schließlich diese Dinge, Aberglaube und Tradition, doch wenigstens etwas sind. Beruht nicht darauf allein der Glaube anderer an die Vampyre und leider auch der unsere? Wer von uns hätte noch vor einem Jahr die Möglichkeit solcher Dinge zugegeben, inmitten unseres wissenschaftlichen, skeptischen, nüchternen neunzehnten Jahrhunderts. Haben wir doch Dingen die Möglichkeit abgesprochen, die wir vor unseren eigenen Augen sich abspielen sahen. Nehmen Sie also mit mir an, daß der Glaube an die Vampyre sowohl wie auch an ihre Lebensbedingungen und an den Schutz gegen sie augenblicklich auf derselben Basis beruhen. Denn, Sie dürfen mir Glauben schenken, der Vampyr ist überall bekannt, wo Menschen leben. Im alten Griechenland, im alten Rom; er spukt in ganz Germanien und Frankreich, in Indien, wie im Chersones; sogar in China, das doch so weit in jeder Hinsicht von uns abliegt, ist er bekannt, und die Menschen fürchten sich dort vor ihm bis auf den heutigen Tag. Er folgt den Spuren der isländischen Berserker, der von Teufeln erzeugten Hunnen, der Slaven, Sachsen und Magyaren. So weit reichen also unsere Kenntnisse über ihn, und in der Tat ist so manches, was jene Völker von ihm glaubten und noch glauben, durch das erwiesen, was wir an uns selbst erfahren mußten. Der Vampyr lebt weiter und kann nicht sterben im Laufe der Zeit; er gedeiht immer weiter, so lange er sich vom Blute lebender Wesen ernähren kann. Noch mehr! Wir wissen auch, daß er sich sogar zu verjüngen vermag, daß seine Lebenskraft immer größer wird und sich immer wieder zu erneuern scheint, wenn er genügend Nahrung hat.

Aber ohne sie kann er nicht existieren; er ißt nicht wie andere. Hat doch unser Freund Jonathan, der wochenlang mit ihm zusammenlebte, ihn nie essen sehen. Er wirft keine Schatten und gibt im Spiegel kein Bild, wie Jonathan gleichfalls beobachtet hat. Er hat die Stärke vieler Männer; Zeuge dafür ist wiederum Jonathan, der ihn das Tor vor den Wölfen verschließen sah, der seinen Griff beim Aussteigen aus dem Wagen fühlte. Er kann sich in einen Wolf verwandeln, wie wir seit der Ankunft jenes gespenstischen Schiffes in Whitby wissen, wo er einen Hund zerriß; er kann als Fledermaus erscheinen. Frau Mina hat ihn als solche am Fenster in Whitby beobachtet, Jonathan ihn aus dem Fenster unseres Nachbarhauses fliegen und Freund John am Fenster von Lucy sitzen sehen. Er kann im Nebel kommen, den er sich selbst schafft; dafür haben wir das Zeugnis jenes pflichtgetreuen Kapitäns. Aber nach dem, was wir weiter wissen, ist die Entfernung, auf die er solchen Nebel erzeugen kann, auf einen gewissen Umkreis begrenzt. Er kommt auf den Strahlen des Mondes als elementarer Staub, Freund John hat ja die unheimlichen Schwestern auf Schloß Dracula auf diese Weise entstehen sehen. Er kann sich klein machen, wir selbst haben Lucy, ehe sie zum ewigen Frieden einging, durch eine haarfeine Spalte der Grufttür hineinschlüpfen sehen. Er kann, wenn er einmal seinen Weg gefunden, überall hinein und heraus, es mag noch so fest verschlossen, ja sogar verlötet sein. Er sieht in der Dunkelheit, eine mächtige Gabe, auf dieser Welt, die die Hälfte der Zeit im Finstern ruht. Aber ich bin noch nicht zu Ende. Er kann alles das und ist dennoch nicht frei. Im Gegenteil, er ist noch mehr Gefangener als der Galeerensträfling. Als der Narr in seiner Isolierzelle. Er kann nicht überall dorthin, wohin es ihn gelüstet; er, der außerhalb der Natur steht, muß sich dennoch einigen ihrer Gesetzen fügen. Warum, wissen wir nicht. Er darf das erste Mal nirgends eintreten, außer es ladet ihn einer der Bewohner ein; darnach allerdings kann er kommen und gehen wann er will. Seine Macht zerstiebt, wie die aller bösen Dinge, wenn der Tag kommt. Nur zu gewissen Zeiten hat er seine begrenzte Freiheit. Wenn er sich nicht an dem Platze befindet, an den er gebunden ist, kann er sich nur um Mittag und genau bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang verwandeln. Diese Dinge sind mir erzählt worden, und unsere Aufzeichnungen lassen uns schließen, daß dies wirklich so ist. Denn er konnte innerhalb der ihm gezogenen Schranken alles tun, was er wollte, wenn er sich in seiner Heimaterde, in seinem Sarg oder an einem verrufenen Platze befand, wie z. B. in dem Selbstmördergrab in Whitby; war dagegen an anderen Plätzen bezüglich seiner Verwandlung an eine bestimmte Zeit gebunden. Ebenso erzählt man sich, daß er fließendes Wasser nur zur Zeit der eintretenden Ebbe oder Flut passieren kann. Aber es gibt Dinge, die ihn so angreifen, daß er alle Kraft verliert. Wie wir wissen, hat der Knoblauch diese Eigenschaft, und gegen geheiligte Dinge, wie z. B. das Kreuz, das auf unserem Tische liegt, ist er machtlos. Er hält sich schweigend in respektvoller Entfernung. Es gibt auch noch andere Bannmittel, von denen ich Ihnen berichten will für den Fall, daß wir bei unserer Verfolgung ihrer bedürfen sollten. Ein Zweig wilder Rosen auf sein Grab gelegt, hindert ihn am Herauskommen; eine geweihte Kugel, die man in den Sarg schießt, tötet ihn endgültig; und welch friedenbringende Wirkung ein Pfahl hat, den man ihm durch das Herz treibt, wissen wir ohnehin; ebenso daß das Abschneiden des Kopfes ihn zur Ruhe bringt. Wir haben das mit eigenen Augen gesehen.

Wenn wir das Versteck dieses Mannes finden, dann können wir ihn dort in seinem Sarge festhalten und vernichten, wenn wir das beobachten, was wir erfahren haben. Aber er ist schlau. Ich habe meinen Freund Arminius von der Universität Budapest gebeten, mir einiges über den Mann mitzuteilen. Er muß tatsächlich jener Wojewode Dracula gewesen sein, der sich in den Türkenkriegen berühmt gemacht hat, dessen Name über den Fluß weit hinein bis in das Land der Türken bekannt war. Wenn sich das wirklich so verhält, dann war er kein gewöhnlicher Mann, denn damals und noch Jahrhunderte später wurde er als der klügste und geschickteste, aber auch als der tapferste der Söhne des ›Landes jenseits der Wälder‹ gerühmt. Diese mächtige Denkkraft und Entschlossenheit hat er mit ins Grab genommen und führt sie nun heute gegen uns ins Feld. Die Dracula waren, sagt Arminius, ein großes und edles Geschlecht; von einzelnen seiner Sprößlinge erzählten allerdings die Zeitgenossen, daß sie Bündnisse mit dem Satan hätten. Sie lernten seine Künste in den Bergen beim Hermannstädter See, wo der Teufel jeden Zehnten seiner Schüler als Tribut fordert. In unseren Akten kommen Worte vor wie ›Stregoica‹ – Hexe, ›ordog‹ und ›pokol‹ – Satan und Hölle; in einem der Manuskripte fanden wir den Grafen Dracula sogar als Vampyr bezeichnet. Wir wissen ja alle, wie viel Wahres daran ist. Aus den Lenden dieses Einen entsprangen große Männer und edle Frauen, deren Gräber die Erde heiligen, auf der solche Scheußlichkeiten existieren können. Denn es ist nicht der kleinste der von ihm ausgehenden Schrecken, daß er seine Wurzeln tief in alles Gute schlägt; auf einer Scholle, die jeder geheiligten Erinnerung bar ist, kann er nicht weilen.«

Während wir sprachen, sah Herr Morris unverwandt nach dem Fenster, dann stand er ruhig auf und verließ das Zimmer. Es entstand eine kleine Pause und der Professor fuhr fort:

»Nun heißt es überlegen, was wir tun. Wir haben hier eine schöne Anzahl von Daten, und wir müssen unsern Feldzugsplan entwickeln. Wir wissen aus Jonathans Angaben, daß vom Schlosse nach Whitby fünfzig Kisten Erde transportiert und ohne Ausnahme in Carfax abgeliefert wurden; wir wissen auch, daß einige der Kisten später weggeschafft worden sind. Ich meine, unser erster Schritt müßte sein, sich zu vergewissern, ob alle übrigen sich noch in dem Hause jenseits der Mauer, die Sie da sehen, befinden oder ob noch einige geholt worden sind. Wenn letzteres der Fall ist, müssen wir die Spur – – – –«

Hier wurden wir in etwas überraschender Weise unterbrochen. Vor dem Hause ertönte ein Pistolenschuß; das Fensterglas war von einer Kugel zerschmettert, die die Fenstervertiefung streifte und dann in die gegenüberliegende Wand des Zimmers fuhr. Ich fürchte, daß ich doch im Innersten meines Herzens feig bin, denn ich schrie laut auf. Die Männer sprangen alle in die Höhe; Lord Godalming stürzte ans Fenster und riß es auf. Da hörten wir von außen Quincey Morris' Stimme:

»Entschuldigen Sie! Ich fürchte beinahe, ich habe Sie erschreckt. Ich komme sogleich hinein und erzähle Ihnen.«

Eine Minute später trat er ein und sagte:

»Es war ja eigentlich töricht von mir, so etwas zu tun, ich bitte Sie deshalb um Verzeihung, Frau Harker; ich fürchte, ich habe Sie arg erschreckt. Aber während der Professor seinen Vortrag hielt, kam eine große Fledermaus und setzte sich auf die Fensterbrüstung. Ich habe einen solchen Abscheu vor diesen Tieren bekommen, seit wir so viel erlebt, daß ich sie nicht mehr ausstehen kann. Ich mußte hinaus und einen Schuß darauf abgeben, wie ich es in der letzten Zeit immer getan habe, wenn ich abends eine Fledermaus sah. Du hast ja immer über mich deshalb gelacht, Arthur.«

»Haben Sie sie getroffen?« fragte Van Helsing.

»Ich weiß nicht; ich glaube nicht, denn sie flatterte davon, auf den Wald zu.« Ohne etwas Weiteres zu sagen, nahm er wieder seinen Platz ein, und der Professor wiederholte seine Feststellung:

»Wir müssen die Spur jeder einzelnen Kiste verfolgen, und wenn wir damit fertig sind, müssen wir das Scheusal auf seinem Lager entweder töten oder fangen; oder wir müssen, wenn man so sagen kann, die Erde sterilisieren, so daß er keine Sicherheit mehr auf ihr findet. So werden wir ihn dann schließlich in Menschengestalt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang antreffen und mit ihm kämpfen, wenn er am schwächsten ist.

Was nun Sie betrifft, Frau Mina, heute Abend nehmen Sie das letzte Mal an unseren Beratungen teil, bis alles sich zum Guten gewendet hat. Sie sind uns viel zu kostbar, als daß wir Sie einer solch furchtbaren Gefahr aussetzen möchten. Wenn wir heute Nacht ausziehen, so fragen Sie nicht. Wir werden Ihnen später alles erzählen. Wir sind Männer und dazu geschaffen, Mühsal zu ertragen; aber Sie müssen unser Stern, unsere Hoffnung sein, wir werden umso freier handeln, je weiter wir Sie von der Gefahr entfernt wissen.«

Alle Männer, sogar Jonathan, atmeten erleichtert auf; aber es schien mir nicht richtig, daß sie die Gefahr durch Verminderung ihrer Stärke – und Stärke ist in diesem Falle wohl die beste Sicherheit – erhöhen, lediglich aus Rücksicht auf mich. Aber sie waren fest entschlossen, und ich konnte, obgleich es mir eine harte Pille war, nichts dagegen sagen, sondern mußte ihr ritterliches Anerbieten annehmen.

Herr Morris beendete unsere Besprechung, indem er sagte:

»Da wir keine Zeit zu verlieren haben schlage ich vor, wir besichtigen jetzt gleich sein Haus da drüben. Zeitgewinn ist für ihn von ausschlaggebender Bedeutung, und rasches Handeln von unserer Seite vermag ihm vielleicht noch einige Opfer zu entreißen.«

Ich gestehe, daß mir das Herz recht schwer wurde, als ich die Zeit zum Handeln so nahe herangekommen sah. Aber ich fürchtete, ihnen eine Last zu sein und ihre Arbeit zu verzögern, so daß sie mich schließlich auch noch von ihren Beratungen ferngehalten hätten. Sie sind nun nach Carfax hinüber und haben Werkzeug mitgenommen, um sich den Eintritt zu erzwingen.

Nach Männerart haben sie mir geraten, ins Bett zu gehen und zu schlafen; als ob eine Frau schlafen könnte, wenn sie die, die sie lieb hat, in Gefahr weiß! Ich werde mich niederlegen und, wenn Jonathan heimkommt, tun, als ob ich schliefe, damit er nicht auch noch um mich Angst haben muß.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

1. Oktober, 4 Uhr vormittags. – Gerade als wir das Haus verlassen wollten, brachte man mir eine dringende Bitte Renfields, sofort zu ihm zu kommen, da er mir etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Ich beauftragte den Wärter, Renfield zu sagen, daß ich am Morgen zu ihm kommen würde, im Augenblick aber zu tun hätte. Der Wärter fügte hinzu:

»Es scheint sehr dringlich zu sein, Herr Doktor. Noch nie habe ich ihn so ungeduldig gesehen; ich bin überzeugt, daß er wieder einen Tobsuchtsanfall bekommt, wenn Sie ihm nicht seinen Willen tun.« Ich wußte, daß der Mann dies nicht ohne besonderen Grund sagte. »Gut; ich gehe doch lieber.« Die Anderen bat ich, sich einige Augenblicke zu gedulden, da ich noch rasch meinen Patienten zu besuchen hätte.

»Nehmen Sie mich mit, Freund John«, sagte der Professor. »Die Beschreibung, die Sie in Ihrem Tagebuch von ihm gaben, hat mich sehr interessiert, und sein Verhalten hängt doch da und dort mit unserem Falle zusammen. Ich möchte ihn gern kennen lernen, besonders wenn er wieder einen seiner Anfälle hat.«

»Darf ich auch mitkommen?« fragte Lord Godalming.

»Ich auch?« fragte Quincey Morris. Ich nickte, und wir alle begaben uns durch den Korridor nach Renfields Zimmer.

Er befand sich in einem Zustande großer Erregung, seine Rede aber und sein Gebahren waren vernünftiger als sonst. Er verstand sich selbst vollkommen, was nach meinen Erfahrungen bei einem Irren etwas ganz Ungewöhnliches ist. Und er hielt es für selbstverständlich, daß seine Hirngespinste mit den Gedanken der Normalen auf eine Stufe gestellt wurden. Wir gingen alle vier in das Zimmer, keiner sagte ein Wort. Er hatte mich rufen lassen, weil er sofort entlassen und heimgeschickt werden wollte. Er begründete diese Bitte mit seiner vollkommenen Wiederherstellung und seiner tatsächlichen Gesundheit. »Ich appelliere an Ihre Freunde«, sagte er, »daß sie mich nicht verurteilen. Übrigens haben Sie mich ja noch gar nicht vorgestellt.« Ich war so erstaunt, daß das seltsame Verlangen des Irren, er möchte den Besuchern vorgestellt werden, mir gar nicht außerordentlich erschien. Nebenbei gesagt lag in dem Wesen des Mannes etwas Achtunggebietendes, daß man einen Gleichberechtigten vor sich zu haben glaubte, und ich stellte ihn vor: »Lord Godalming; Professor Van Helsing; Herr Quincey Morris aus Texas; Herr Renfield.« Er schüttelte jedem die Hand und fuhr dann wieder fort:

»Lord Godalming, ich hatte die Ehre, Ihrem Herrn Vater in Windham zu sekundieren; aus Ihrem Titel entnahm ich zu meinem Bedauern, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es war ein Mann, den alle, die ihn kannten, liebten und verehrten. In seiner Jugend war er, wie man erzählte, der Erfinder eines heißen Rumpunsches, der auf den Derby-Abenden besonders gern getrunken wird. Herr Morris, Sie dürfen auf Ihr Vaterland stolz sein; seine Aufnahme in die Union war ein Schritt, dessen Bedeutung ja heute noch nicht abzusehen ist, ein Schritt, der die Pole und die Tropengürtel unter dem Sternen- und Streifenbanner verbindet. Der Vertrag wird erst zur Geltung kommen, wenn einmal die Monroedoktrin ihren wohlverdienten Platz als politische Fabel einnehmen wird. Wie soll man seine Freude beschreiben, mit Van Helsing zusammenkommen zu dürfen? Herr Professor, ich entschuldige mich nicht, daß ich Ihnen gegenüber alle konventionellen Formen fallen lasse. Wenn jemand die Therapie durch seine Entwicklung der Gehirnmasse revolutioniert hat, so sind ihm gegenüber Formen ja gar nicht angebracht. Sie, meine Herren, die Sie durch Ihre Nationalität, durch Vererbung oder durch natürliche Anlagen bestimmt sind, Ihre Plätze in der sich bewegenden Welt einzunehmen, Sie rufe ich als Zeugen dafür an, daß ich so vernünftig bin wie die weitaus meisten Menschen, die im vollen Besitz ihrer Freiheit sind. Ich weiß, daß Sie, Herr Dr. Seward, als Menschfreund sowohl wie als Jurist, Mediziner und Wissenschaftler mit mir verhandeln wollen, wie man eben mit einem verhandelt, der von der allgemeinen Regel abweicht.« Er brachte diesen letzten Appell mit einer höflichen Überzeugung vor, die ihren eigenen Reiz hatte.

Wir waren alle verdutzt. Ich für meine Person war trotz der genauen Bekanntschaft mit dem Charakter und dem Leben dieses Mannes überzeugt, daß seine Vernunft wieder völlig zurückgekehrt sei, und ich fühlte das dringende Bedürfnis ihm zu sagen, daß sein Zustand mich zufriedengestellt habe und ich die nötigen Formalitäten einleiten wolle, ihn morgen früh zu entlassen. Dennoch aber hielt ich es für besser, etwas zu warten, ehe ich eine so schwerwiegende Entscheidung traf, denn ich kannte schon seit langem die unglaublich raschen Veränderungen im Befinden des merkwürdigen Patienten. So begnügte ich mich, ihm einstweilen zu bestätigen, daß seine Besserung rapid vorwärtsschreite, und versprach, ihm morgen früh eine längere Unterredung zu gewähren und die Mittel zu erwägen, wie ich am raschesten seine Wünsche erfüllen könne. Das schien ihm nicht zu genügen, denn er erwiderte rasch:

»Ich fürchte, Herr Doktor, daß Sie meinen Wunsch nicht begriffen haben. Ich möchte sogleich fort, auf der Stelle, jetzt, in dieser Stunde, in diesem Augenblick, wenn es möglich ist. Die Zeit drängt, und in unserem stillschweigenden Vertrag mit dem Sensenmann ist sie von ausschlaggebender Bedeutung. Ich bin mir bewußt, daß es einem so erfahrenen Arzt, wie Ihnen gegenüber, genügt, einen so einfachen, augenblicklich zu erfüllenden Wunsch auszusprechen, um ihn auch schon gewährt zu sehen.« Er sah mich scharf an und wandte sich dann, als er den ablehnenden Bescheid in meinen Zügen las, an die Anderen und suchte ihre Meinung zu erforschen. Da ihm jedoch auch hier keine befriedigende Antwort zu Teil ward, fuhr er fort:

»Ist es möglich, daß ich mich in meinen Voraussetzungen getäuscht habe?«

»Das haben Sie«, sagte ich offen und zugleich, wie ich fühlte, ziemlich schroff. Es entstand eine längere Pause, dann sagte er leise:

»Dann werde ich wohl meinen Standpunkt in dieser Sache ändern müssen. Lassen Sie mich um diese Erlaubnis bitten, um diese Vergünstigung, um dieses Privileg, wenn Sie wollen. In einem solchen Falle kommt es mir gar nicht darauf an, Sie anzuflehen, denn es sind ja nicht persönliche Motive, sondern es geschieht um Anderer willen. Ich bin nicht frei genug, Ihnen meine ganzen Gründe auseinanderzusetzen, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß es gute Gründe sind, tiefliegende, selbstlose Gründe, die dem höchsten Pflichtbewußtsein entspringen. Könnten sie mir ins Herz schauen, Herr Doktor, Sie würden die Gefühle vollkommen begreifen, die mich bewegen. Nein, mehr als das, Sie würden mich unter Ihre besten und treuesten Freunde zählen.« Wieder sah er uns alle scharf an. Ich gewann immer mehr die Überzeugung, daß diese völlige Veränderung in seiner Methode nur eine neue Erscheinungsform oder Phase seiner Narrheit war, und beschloß ihn ruhig weiterreden zu lassen, da ich aus Erfahrung wußte, daß er sich, genau wie jeder andere Irre, am Schluß doch zufrieden geben werde. Van Helsing hielt den Blick mit der äußersten Spannung auf ihn gerichtet, seine Augenbrauen zogen sich förmlich zusammen. Er sagte zu Renfield in einem Tone, der mich damals nicht überraschte, dagegen nachher, wenn ich daran dachte, denn es war, als spräche er zu einem auf gleicher Stufe Stehenden:

»Können Sie uns nicht offen die Gründe sagen, die den Wunsch in Ihnen erregen, heute Nacht noch frei zu werden. Ich verspreche Ihnen, daß Dr. Seward, wenn Sie mir willfahren – – mir, einem Fremdem, der Ihnen ohne jedes Vorurteil gegenübertritt und genau weiß, was er will – – Ihnen auf eigene Gefahr und Verantwortung heute noch die gewünschte Erlaubnis erteilen wird.« Er schüttelte traurig den Kopf und ein Zug bitteren Vorwurfs trat auf sein Antlitz. Der Professor fuhr fort:

»Also, Herr Renfield, überlegen Sie sich die Sache. Sie erheben Anspruch darauf, als vollkommen vernünftig zu gelten, und versuchen, uns mit Ihrer geistigen Klarheit zu imponieren. Dies ist Ihnen auch gelungen, trotzdem wir alle Veranlassung haben, an Ihrer Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln, denn Sie sind ja noch nicht aus der ärztlichen Behandlung entlassen, die Ihr Zustand notwendig machte. Wenn Sie selbst uns nicht helfen wollen, den weisesten Weg zu wählen, können wir über unsere Pflicht nicht hinaus, zu der Sie uns zwingen. Seien Sie vernünftig und helfen Sie sich und uns; wenn wir können, werden wir alle ein gutes Wort für Sie einlegen, daß Ihr Wunsch erfüllt wird.« Er schüttelte wieder den Kopf und sagte:

»Doktor Van Helsing, ich habe nichts weiter hinzuzufügen. Ihre Argumente sind stichhaltig; wenn ich frei wäre, würde ich keinen Augenblick zaudern, zu sprechen. Aber ich bin in dieser Sache nicht mein eigener Herr. Ich kann Sie nur bitten, mir zu vertrauen. Wenn Sie es nicht tun, auf mir ruht die Verantwortung nicht.« – Ich dachte, es sei nun Zeit, der Szene ein Ende zu machen, die nachgerade tragikomisch zu wirken begann, und wandte mich zum Gehen, indem ich sagte:

»Kommen Sie, meine Freunde, wir haben noch etwas anderes zu tun. Gute Nacht.«

Als ich mich aber der Tür näherte, trat eine neue Änderung im Verhalten des Kranken ein. Er sprang so rasch auf mich zu, daß ich einen Augenblick fürchtete, er wolle einen erneuten Mordversuch gegen mich unternehmen. Meine Befürchtung war aber grundlos, denn er erhob flehend seine Hände und wiederholte seine Bitte in rührenden Tönen. Als er sah, daß dieser Ausbruch seiner Gefühle uns gegen ihn nur mehr einnahm, indem es unsern Verdacht wieder verstärkte, wurde er noch dringlicher. Ich schaute Van Helsing an und sah, daß er meiner Überzeugung war. So wurde ich noch fester in meinem Vorsatz und machte dem Flehenden begreiflich, daß alle seine Anstrengungen vergebens seien. Ich hatte schon früher einmal diese wachsende Erregung an ihm bemerkt, wenn er eine Bitte vorbrachte, an die er schon lange dachte, wie zum Beispiel, als er mich seinerzeit um eine Katze bat. Ich erwartete jeden Augenblick, daß der Kollaps eintreten würde, wie bei jener Gelegenheit und damit ein finsteres Sichfügen. Meine Erwartung wurde aber getäuscht, denn als er wahrnahm, daß seine flehentlichen Bitten mich kalt ließen, geriet er förmlich in Raserei. Er warf sich vor mir auf die Knie und streckte seine Hände nach mir aus, die er in jammervoller Verzweiflung rang; er überschüttete mich mit einem Strom von Beschwörungen, während heiße Tränen über seine Wangen herunterrollten und sein Körper und sein Antlitz die tiefste Bewegung widerspiegelten:

»Erhören Sie mich, Herr Doktor, lassen Sie sich erweichen, lassen Sie mich sogleich fort aus diesem Hause. Schicken Sie mich weg, wie Sie wollen und wohin Sie wollen; geben Sie mir Wärter mit Peitschen und Ketten mit; lassen Sie mir die Zwangsjacke anlegen; lassen Sie mich meinetwegen gefesselt und mit Fußketten in ein Gefängnis bringen, aber lassen Sie mich fort von hier. Sie wissen ja gar nicht, was Sie tun, wenn Sie mich hier zurückhalten. Ich spreche aus der Tiefe meiner Seele – – aus meinem Herzen. Sie haben keine Ahnung, wem Sie damit ein Leid zufügen und in welcher Weise; und ich darf mich leider nicht näher erklären. Weh über mich, ich darf nicht sprechen. Bei allem, was Ihnen heilig ist, bei allem, was Sie lieb haben – bei Ihrer toten Liebe bei Ihrer Hoffnung, die noch lebt – – um des Allmächtigen Gottes Willen, lassen Sie mich frei und retten Sie meine arme Seele vor dem Verderben! Hört Ihr denn nicht, Ihr Männer? Versteht Ihr denn nicht? Begreift Ihr denn nicht? Wißt Ihr nicht, daß ich nun gesund bin und im vollsten Ernst rede; daß ich kein Narr mehr bin, der in einem Anfall von Tobsucht Euch anschreit, sondern ein vernünftiger Mensch, der um seine Seele kämpft? Hören Sie mich! Hören Sie mich! Lassen Sie mich fort! Lassen Sie mich fort! Lassen Sie mich fort!«

Ich sagte mir, daß, wenn dies noch länger so weiterginge, er doch schließlich einen Anfall bekäme; deshalb ergriff ich seine Hand und hob ihn auf.

»Kommen Sie«, sagte ich streng, »nichts mehr davon; wir haben ohnehin schon genug. Gehen Sie zu Bett und versuchen Sie, sich etwas gesetzter zu benehmen.«

Er schwieg sogleich und sah mich lange sinnend an. Dann erhob er sich, ohne ein Wort zu sagen, und ging zu seinem Bett hinüber, auf dessen Kante er sich setzte. Der Kollaps war eingetreten, wie bei früheren Angelegenheiten, genau wie ich es vorausgesehen.

Wir verließen das Zimmer, ich als letzter, und er sagte mit ruhiger, gefaßter Stimme:

»Sie werden mir noch recht geben, Herr Doktor, wenn Sie sich später erinnern, daß ich in dieser Nacht mein Möglichstes getan haben, Sie zu überzeugen.«


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