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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wiedergabe eines Gespräches,
von Van Helsing in Dr. Sewards Phonographen gesprochen

Dies für Jonathan Harker:

Sie werden bei Frau Mina bleiben. Wir werden auf die Suche gehen, wenn man eine Suche ohne bestimmte Anhaltspunkte so nennen kann und wir einstweilen nur Gewißheit suchen. Aber Sie bleiben hier und leisten Ihrer Frau Gesellschaft. Das ist jetzt Ihre heiligste Pflicht. Diesen Tag kann er nicht kommen. Ich will Ihnen auch das sagen, was die anderen schon wissen, weil ich es ihnen gesagt habe. Er, unser Feind, ist fort. Er ist auf sein Schloß nach Transsylvanien zurück. Ich weiß das so gewiß, als hätte es eine feurige Hand in glühenden Lettern an die Wand geschrieben. Er hat das schon in irgend einer Weise vorbereitet, die letzte Erdkiste hat er schon irgendwo zum Einschiffen fertig gehalten. Darum nahm er noch Geld an sich, darum diese Eile, damit wir ihn nicht vor Sonnenuntergang in unsere Gewalt bekämen. Er ist sehr schlau! Er weiß, daß sein Spiel hier verloren ist, und kehrt nach Hause zurück. Er findet ein Schiff, das dieselbe Strecke zurückfährt, die er hergekommen ist, und geht an Bord. Wir haben nun zu erforschen, welches Schiff das ist und wohin es ging. Wenn wir dies wissen, kommen wir heim und berichten alles. Das wird Ihnen und Frau Mina neue Hoffnung geben. Denn Hoffnung besteht noch, wenn Sie es genau überlegen. Es ist nicht alles verloren. Diese Kreatur, die wir verfolgen, kann sich hundert Jahre von London fernhalten; wir aber können seiner in einem Tage habhaft werden, wenn wir seine Pläne kennen. Auch ihm sind Grenzen gesetzt, obgleich er uns noch viel Böses antun kann und nicht so leidet wie wir. Aber wir sind stark in unserem Vorsatz, und gemeinschaftlich werden wir noch viel stärker sein. Halten Sie den Kopf hoch um Ihres Weibes willen. Die Schlacht hat eben erst begonnen, der Sieg wird unser sein. Also seien Sie guten Mutes bis wir zurückkehren.

Van Helsing.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

4. Oktober. – Als ich Mina Van Helsings Mitteilung vom Phonographen vorsprechen ließ, wurde sie bedeutend froher. Schon die Gewißheit, daß der Graf das Land verlassen hat, gewährt ihr Trost, Trost aber bedeutet für sie Kraft. Ich für meine Person kann jetzt, da wir der Gefahr nicht mehr Auge in Auge gegenüber stehen, nicht mehr daran glauben. Sogar meine eigenen entsetzlichen Erlebnisse auf Schloß Dracula kommen mir wie ein langvergessener Traum vor. Hier im fröhlichen Sonnenlicht des klaren Herbsttages.

Aber leider muß ich doch glauben! Mitten in meinen freundlichen Gedanken fiel mein Blick auf die rote Narbe an der weißen Stirn meines lieben Weibes. Solange diese nicht verschwindet, ist ein Zweifel undenkbar. Auch späterhin wird die Erinnerung daran auch den Glauben erhalten. Mina und ich fürchten den Müßiggang und haben deshalb all die Tagebücher und Papiere wieder vorgenommen. Je größer uns die Wahrheit der Sache erscheint, desto mehr schwinden Furcht und Angst. In allem liegt es wie eine feste Fügung, das ist unser Trost. Mina sagt, daß wir vielleicht zu Werkzeugen der göttlichen Gnade ausersehen sind. Es kann sein! Ich will mir wenigstens Mühe geben es zu glauben. Wir haben die ganze Zeit über nicht von der Zukunft zu sprechen gewagt. Es ist besser, wir warten ab, bis der Professor und die Anderen von ihrer Forschungsreise zurück sind.

Der Tag läuft rascher dahin, als ich je geglaubt, daß er verrinnen könne. Es ist schon drei Uhr.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

5. Oktober, 5 Uhr abends. – Wir kommen zusammen, um zu berichten. Gegenwärtig sind: Professor Van Helsing, Lord Godalming, Dr. Seward, Herr Quincey Morris, Jonathan Harker, Mina Harker.

Professor Van Helsing berichtet, welche Schritte heute unternommen worden sind, um zu entdecken, auf welchem Schiff und in welcher Richtung der Graf seine Flucht bewerkstelligt hat:

»Als mir klar geworden war, daß er nach Transsylvanien zurück wollte, wußte ich auch, daß er die Donaumündung zu erreichen beabsichtigte oder irgend einen anderen Punkt des Schwarzen Meeres, da er ja von dort gekommen war. Vor uns stand eine gähnende Leere. So machten wir uns denn schweren Herzens auf, zu erkunden, welche Schiffe heute Nacht nach dem Schwarzen Meer abgegangen seien. Er war auf einem Segelschiff, da Frau Mina erzählt hatte, daß Segel gesetzt wurden. Da diese meistens nicht die Bedeutung haben, um in der Segelliste der ›Times‹ aufgeführt zu werden, so gingen wir auf Anregung von Godalming zum Lloyd, wo eine Liste sämtlicher abgehenden Schiffe aufliegt, seien sie auch noch so klein. Dort fanden wir, daß nur ein einziges Schiff, das nach dem Schwarzen Meer bestimmt war, mit der Ebbe hinausging. Es war die Czarina Catharina, die von Doolittles Werft nach Varna abging; von dort sollte sie noch andere Städte berühren und schließlich die Donau hinauffahren. Das ist das Schiff, auf dem sich der Graf befindet. Wir begaben uns zu Doolittles Werft und trafen dort einen Mann in einem kleinen Bureau. Bei ihm erkundigten wir uns wegen der Abfahrt der Czarina Catharina. Er fluchte viel, hatte ein rotes Gesicht und eine laute Stimme. Als Quincey ihm ein Trinkgeld gab, nahm er es hastig auf, versteckte es in einem kofferartigen Geldbeutel, den er der tiefsten Tiefe seiner Tasche entnahm, und wurde dann liebenswürdiger und dienstwilliger. Er ging mit uns und fragte viele Leute, die gerötet und schwitzend dort arbeiteten. Auch sie waren zugänglicher, nachdem man ihnen die Stillung ihres Durstes in Aussicht gestellt hatte. Sie fluchten viel, auch verstand ich sie fast nicht, obgleich ich erriet, was sie meinten; dennoch aber gaben sie uns Auskunft über alles, was wir von ihnen zu wissen begehrten.

Sie erzählten uns, daß gestern nachmittag gegen 5 Uhr ein Mann in größter Eile gelaufen kam. Ein großer, hagerer, bleicher Mann, mit einer großen Nase und Augen, die zu brennen schienen. Er sei ganz in Schwarz gekleidet gewesen, habe aber einen unmodernen Strohhut getragen, der gar nicht zu seinem sonstigen Aussehen paßte. Er warf mit dem Gelde nur so herum, um möglichst rasch in Erfahrung zu bringen, welches Schiff in das Schwarze Meer ginge und wohin. Einige von ihnen führten ihn zum Bureau und dann zum Schiff; er ging aber nicht an Bord, sondern blieb am Ende der Laufbrücke stehen, indem er den Kapitän bat, zu ihm herauszukommen. Der Kapitän kam, als man ihm gesagt, hatte, daß er gut bezahlt würde, und obgleich er anfangs entsetzlich fluchte und schimpfte, tat er es schließlich doch. Dann ging der Schwarze wieder und einige Leute sagten ihm, wo er Wagen und Pferd zu mieten bekäme. Er begab sich dahin und kam bald wieder, wobei er selbst den Wagen lenkte, auf dem eine große Kiste stand. Er hob sie herunter, obgleich sie so schwer war, daß später auf dem Schiffe mehrere Leute helfen mußten, um sie vom Fleck zu bringen. Er gab dem Kapitän Anweisung, wo und wie er seine Kiste gestellt haben wollte, aber dem Kapitän war das nicht recht, er fluchte in mehreren Sprachen und sagte ihm, er solle selbst kommen und sich darum kümmern. Aber jener sagte: ›nein‹, er könne jetzt nicht kommen, weil er noch viel zu tun habe. Darauf erwiderte der Kapitän, daß er sich beeilen müsse – zum Teufel – daß sein Schiff – Hölle und Teufel – den Hafen verlassen werde – beim Teufel –, ehe die Ebbe zu Ende. Der hagere Mann lächelte und sagte, daß er ja ohne Zweifel kommen müsse, wenn es der Kapitän wünsche, aber er würde sich sehr wundern, wenn er schon so bald ausfahren könnte. Der Kapitän stieß wieder sein vielsprachigen Flüche aus. Der Hagere verbeugte sich, dankte und versprach, rechtzeitig vor Abfahrt des Schiffes an Bord zu kommen. Schließlich sagte der Kapitän mit noch röterem Gesicht und in noch mehr Sprachen als gewöhnlich, daß er – Hölle und Teufel – keinen Franzosen an Bord brauche. Er sagte noch, wo sich in der Nähe ein Laden befinde, in dem man Schiffsmodelle kaufen könne, und empfahl sich dann.

Niemand wußte, wohin er gegangen war. Man kümmerte sich auch wenig darum, es gab anderer Dinge genug zu denken, denn bald war es allen klar, daß die Czarina Catharina nicht zur festgesetzten Zeit auslaufen könne. Ein dünner Nebel begann vom Flusse heraufzukriechen und wurde immer dichter und dichter, bis schließlich eine graue Wand das Schiff und die nächste Umgebung einhüllte. Der Kapitän fluchte in allen Sprachen Stein und Bein, Hölle, Blut und Teufel, aber es half nichts. Das Wasser stieg und stieg; er begann auch zu fürchten, daß er die Ebbe versäumen werde. Er war nicht in allzu rosiger Laune, als gerade mit dem Höhepunkt der Flut der hagere Mann über das Laufbrett daherkam und sich erkundigte, wo seine Kiste verstaut sei. Der Kapitän gab ihm zu Antwort, er solle sich mit samt seiner Kiste zum Teufel scheren. Aber der Hagere war nicht beleidigt, sondern ging mit dem Maat hinunter und sah nach seiner Kiste, kam wieder herauf und blieb im Nebel eine Weile an Deck stehen. Bald begann der Nebel zu zerfließen und alles lag wieder klar. Meine durstigen Freunde mit ihrer blumigen Sprache lachten, als sie schilderten, wie der Wortschwall des Kapitäns an diesem Tage noch den gewöhnlichen überboten habe; besonders wütend aber soll er deswegen geworden sein, daß er von anderen Seeleuten, die zu dieser Zeiten den Fluß auf- oder abwärts passiert hatten, hörte, sie hätten außer am Kai keine Spur von Nebel gesehen. Zur Ebbezeit ging das Schiff dann hinaus und war morgens jedenfalls schon weit draußen in der Flußmündung! Zu der Zeit, als wir die Erkundigungen einzogen, war es wohl schon auf hoher See.

Und nun, Frau Mina, können wir uns eine Weile ausruhen. Unser Feind ist auf der See, mit dem Nebel als treuen Bundesgenossen, und seine Fahrt geht zur Mündung der Donau. Die Fahrt mit dem Segelschiff erfordert viel Zeit, mag es auch noch so rasch gehen; wir werden die Reise zu Lande unternehmen und mit ihm zusammentreffen. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, ihn zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu fassen, und zwar in seiner Kiste, wo er sich nicht wehren kann und wir mit ihm verfahren können, wie wir es müssen. Wir haben noch Tage vor uns Zeit, unseren Plan fertig zu machen. Wir wissen genau, wohin er geht, denn wir haben den Schiffseigentümer gesehen, der uns alle erdenklichen Frachtbriefe und Papiere gezeigt hat. Die Kiste wird in Varna gelöscht und einem dortigen Agenten, einem gewissen Ristics, übergeben, der sich legitimieren muß. So weit geht also der Anteil unseres kaufmännischen Freundes. Was dann noch zu geschehen hat, müssen wir allein auf unsere Weise tun.«

Als Van Helsing geendet, fragte ich ihn, ob er sicher wüßte, daß der Graf an Bord des Schiffes geblieben sei. Er erwiderte: »Wir haben dafür den besten Beweis: die Aussagen, die Sie heute früh in Trance gemacht haben.« Ich fragte ihn neuerdings, ob es denn wirklich unumgänglich nötig sei, den Grafen zu verfolgen. Ich fürchtete, Jonathan werde mich verlassen, denn er werde sich auch nicht zurückhalten lassen, wenn all die anderen gingen. Seine Leidenschaft steigerte sich beim Sprechen. Anfangs war er ganz ruhig. Er wurde aber immer ärgerlicher und heftiger, und die Eigenschaften seiner persönlichen Überlegenheit, die ihm eine so gebietende Stellung unter den Männern eingeräumt hatte, traten noch mehr zu Tage.

»Ja, es ist notwendig! In erster Linie um Ihrer selbst willen, dann aber auch um der Menschheit willen. Dieses Scheusal hat schon genug Übles angerichtet in dem beschränkten Spielraum, den es hatte, und in der kurzen Zeit, noch dazu als unwissendes Geschöpf, das seine Fähigkeiten erst ausprobieren mußte. All das habe ich den anderen schon erläutert; Sie, Frau Mina, können es den Aufzeichnungen Ihres Mannes oder aus dem phonographischen Tagebuch meines Freundes nachträglich erfahren. Ich habe ihnen dargelegt, daß der Entschluß, sein eigenes, dünnbevölkertes Land zu verlassen und ein neues Land aufzusuchen, wo die Menschen dicht wie Kornähren wachsen, das Werk von Jahrhunderten war. Einem anderen Un-Toten als ihm, der das versucht hätte, was er versucht hat, wären vielleicht die vergangenen und zukünftigen Jahrhunderte nicht so zu Hilfe gekommen. Bei diesem Einen müssen alle verborgenen tiefen, starken Kräfte der Natur in merkwürdiger Weise zusammengewirkt haben. Schon das Land, in dem dieser Un-Tote seit Jahrhunderten gelebt hat, ist voll von geologischen und chemischen Wundern. Es gibt tiefe Höhlen und Riffe, die sich unendlich weit in das Innere der Erde erstrecken. Es gab dort Vulkane, deren Krater noch heute Wasser von besonderer Beschaffenheit ausspeien, und Gase, die töten oder heilen. Zweifellos sind einige dieser Kombinationen geheimer Kräfte magnetischer oder elektrischer Natur und wirken eigenartig auf das animalische Leben ein, und auch in ihm scheinen Kräfte solcher Art zu wirken. In einer rauhen, kriegerischen Zeit war er wegen seiner eisernen Nerven, seiner Klugheit und seiner Tapferkeit vor allen berühmt. In ihm haben einige vitale Prinzipien in unfaßbarer Weise ihre höchste Vollendung erlangt, und ebenso wie sein Körper stark bleibt, wächst und gedeiht, so wächst auch sein Gehirn. Neben diesem allem gehen die dämonischen Kräfte einher, über die er verfügt; aber sie werden das Feld den Mächten räumen müssen, die im Guten ihren Ursprung haben und feine Symbole sind. Nun wissen wir also, was wir von ihm zu halten haben. Er hat Sie vergiftet – verzeihen Sie mir, teure Frau, daß ich das sagen muß, aber es ist nur zu Ihrem Besten, daß ich so spreche. Er hat Sie in der Weise vergiftet, daß Sie weiter nichts zu tun haben, als in Ihrer bisherigen Art fortzuleben; aber später, wenn der Tod kommt, der nach Gottes Ratschluß unser aller Los ist, dann werden Sie sein wie er. Das darf nicht geschehen! Wir haben es einander geschworen, daß es nicht sein darf. Wir sind in diesem Falle Vollstrecker des göttlichen Willens; die Welt und die Menschen auf ihr, für die sein eigener Sohn in den Tod gegangen ist, will Gott nicht einem solchen Ungeheuer überlassen, dessen Existenz allein schon ihn schändet. Er hat es uns schon vergönnt, eine Seele zu erretten, und wir ziehen nun aus wie die alten Kreuzritter, um noch mehr zu befreien. Wie sie ziehen wir gegen Morgenland, und wenn wir fallen müssen, fallen wir wie sie um einer guten Sache willen.« Er machte eine kurze Pause und ich sagte:

»Aber wird der Graf aus diesem Mißerfolg keine Lehren ziehen? Wird er nicht, nachdem er aus England vertrieben worden ist, dieses Land meiden, wie der Tiger das Dorf, in dem man Jagd auf ihn gemacht hat.«

»Ja«, sagte er, »Ihr Beispiel mit dem Tiger ist gut und ich will näher darauf eingehen. Ihr ›Menschenesser‹, wie der Inder den Tiger nennt, der schon einmal Menschenblut gekostet, berührt keine andere Beute mehr, sondern streift nur mehr, von der Begierde nach jenem getrieben, umher. Auch er weicht nicht zurück und hält sich fern. Zu seinen Lebzeiten überschritt er die türkische Grenze und griff den Feind auf eigenem Grund und Boden an. Er wurde zurückgeschlagen – aber hielt ihn dies ab, erneut einzubrechen? Nein! Er kam immer und immer wieder. Beachten Sie seine Ausdauer und Hartnäckigkeit. Mit seinem Kindergehirn faßt er den Plan, in eine große Stadt zu gehen. Was tut er? Er findet diejenige heraus, die ihm von allen Städten der Welt die günstigsten Aussichten bietet. Dann macht er sich in wohlüberlegter Weise an die Durchführung seiner Idee. Er legte sich in Geduld das Maß seiner Stärke, die Ausdehnung seiner Fähigkeiten zurecht. Er studierte neue Sprachen. Er unterrichtete sich über neues soziales Leben, über Justiz, Politik, Geldwesen und Wissenschaften, die Gebräuche eines neuen Landes und eines neuen Volkes, das erst geworden ist, seit er lebt. Die Aussichten, die er hat, vermehren nur seinen Appetit und schärfen sein Begierde. Und das alles vermehrt auch seine geistigen Kräfte, denn er erhielt ja den Beweis, wie recht er mit seiner ersten Voraussetzung hatte. Er hat dies alles allein zu Wege gebracht; ganz allein kam er aus einem zerfallenen Grab in einem weltfernen Lande. Wieviel mehr wird er noch vermögen, wenn eine weitere Gedankenwelt sich ihm auftut. Er, der des Todes spottet, wie wir wissen; er, der inmitten von Seuchen gedeiht, kann ganze Menschengeschlechter dahinraffen! Wenn Gott ein solch begabtes Wesen schaffen würde, und nicht der Teufel, welche Ströme des Guten könnten von ihm ausgehen! Aber wir haben uns gegenseitig gelobt, die Welt von dem Ungeheuer zu befreien. Unser Handwerkszeug muß im stillen vorbereitet, unsere Pläne im geheimen überlegt werden. In unserem erleuchteten Zeitalter, in dem die Menschen nicht einmal das glauben, was sie sehen, wäre ein Zweifel der Klugen seine größte Stärke. Es wäre zugleich sein Schutz, sein Schild und seine Waffe, um uns zu vernichten, seine Feinde, die gewillt sind, sogar ihre eigenen Seelen für das Heil der einen, die sie lieb haben, zu wagen zum Wohle der Menschheit und zu Gottes Ruhm und Ehre.«

Nach einer allgemeinen Diskussion beschlossen wir, heute Nacht keine Entscheidungen mehr zu treffen; wir sollten alle über die Sache schlafen und versuchen, jeder seinen eigenen Plan zu fassen. Morgen beim Frühstück wollten wir uns zu einem endgültigen Plan entschließen.

*

Wunderbarer Friede und heilige Ruhe sind heute über mich gekommen. Mir ist, als sei etwas Störendes von uns gewichen. Vielleicht …

Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende, ich konnte ihn nicht zu Ende denken, denn ich sah im Spiegel das rote Mal auf meiner Stirn und wußte, daß ich unrein war.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

5. Oktober. – Wir standen alle früh auf, und ich glaube, der Schlaf hat uns recht wohl getan. Als wir uns zum Frühstück setzten, herrschte mehr allgemeine Fröhlichkeit, als wir gedacht hatten, je wieder empfinden zu können.

Es ist merkwürdig, welche Spannkraft in der menschlichen Natur wohnt. Laß irgend eine störende Einwirkung, ganz gleich welche, auf irgend eine Weise – sogar durch den Tod – aufhören, sofort federn wir wieder zu den Grundprinzipien der Hoffnung und der Freude zurück. Als wir so um den Tisch versammelt saßen, kam mir immer wieder der Gedanke, all das, was wir erlebt, sei nur ein gräßlicher Traum gewesen. Nur der Blick auf die rote Narbe an Frau Minas Stirn belehrte mich, daß wir mitten in der vollen Wirklichkeit standen. Auch jetzt, wenn ich die Sache immer wieder überlege, ist es mir fast unmöglich, zu glauben, daß der Urheber alles unseres Leides noch existiert. Selbst Frau Harker scheint auf Augenblicke ihr Elend zu vergessen; nur dann und wann, wenn irgend etwas sie darauf bringt, denkt sie noch ihrer schrecklichen Narbe. In einer halben Stunde wollen wir hier in meinem Arbeitszimmer zur Beratung über unser weiteres Vorgehen zusammenkommen. Nur eine unmittelbare Schwierigkeit glaube ich vorauszusehen, es ist mehr eine Ahnung als ein Resultat des Nachdenkens. Wir werden alle offen sprechen, und dennoch fürchte ich, daß Frau Harkers Zunge in dieser oder jener Weise gebunden sein wird. Ich weiß, daß sie selbst ihre Schlüsse zieht; aus all dem, was ich bisher hörte, sind sie sehr klar und zutreffend. Aber sie wird ihnen vielleicht keinen Ausdruck geben können oder wollen. Ich habe Van Helsing meine Meinung gesagt und er versprach mir, mit mir darüber sprechen zu wollen, wenn wir allein sind. Ich fürchte fast, daß jenes furchtbare Gift schon in ihr zu wirken beginnt. Der Graf hatte ihr doch nicht ohne tiefere Absicht das gegeben, was Van Helsing die Bluttaufe des Vamphyrs nannte. Nun, es kann ja auch ein Gift sein, das sich aus ganz harmlosen Stoffen herausdestilliert. In unserem Zeitalter, wo die Existenz der Ptomaine uns noch nicht einmal klar ist, sollten wir uns über gar nichts dergleichen wundern. Eins weiß ich aber: wenn mich meine Ahnung nicht täuscht bezüglich Frau Harkers Schweigen, dann liegt noch eine große Schwierigkeit, eine unbekannte Gefahr in unserem Werke. Dieselbe Kraft, die sie zum Schweigen zwingt, kann sie auch zum Reden zwingen. Ich will nicht weiter daran denken, um nicht in meinen Gedanken der edlen Frau Unrecht zu tun.

Van Helsing ist ein wenig früher als die anderen zu mir ins Arbeitszimmer gekommen. Ich werde das Thema anschneiden.

Später. – Nachdem der Professor sich niedergelassen hatte, sprachen wir über die ganze Lage der Dinge. Ich sah ihm an, daß er etwas zu sagen hatte, aber doch immer wieder zögerte, mit der Sprache herauszurücken. Nachdem er ein bischen auf den Busch geklopft, sagte er plötzlich:

»Freund John, ich muß etwas mit Ihnen allein besprechen, wenigstens fürs erste. Später können wir dann auch die Anderen ins Vertrauen ziehen.« Er hielt inne. Als ich schwieg, fuhr er fort:

»Frau Mina, unsere gute Frau Mina, ist ganz anders geworden.« Eiskalt rann es mir über den Rücken, als ich meine schlimmsten Befürchtungen so bestätigt sah. Van Helsing sprach weiter:

»Wir haben schon eine böse Erfahrung mit Fräulein Lucy gemacht; wir müssen also hier besonders auf unserer Hut sein, ehe es zu spät ist. Unsere Aufgabe ist gegenwärtig schwieriger als je, diese neue Sorge läßt jede Stunde, die verrinnt, zu einer schauderhaften Anklage werden. Ich sehe, wie die Kennzeichen des Vamphyrismus sich auf ihrem Gesicht zu zeigen beginnen. Noch ist es sehr wenig, aber man muß es bemerken, wenn man sie ohne Vorurteil anblickt. Ihre Zähne sind schärfer, und ihr Blick scheint mir etwas härter als sonst. Aber das ist noch nicht alles; sie ist jetzt oft so schweigsam, genau so wie seinerzeit Fräulein Lucy. Sie sprach auch nicht, selbst wenn sie das, was sie bekannt zu machen wünschte, für später aufschrieb. Nun befürchte ich Folgendes: Wenn sie in der Hypnose uns sagen kann, was der Graf hört und sieht, ist es nicht noch wahrscheinlicher, daß er, der sie zuerst hypnotisiert hat, der ihr Blut getrunken und ihr das seine zu trinken gegeben hat, sie zwingen kann, wenn er will, ihm das zu sagen, was sie von uns weiß?« Ich nickte zustimmend, und er fuhr fort:

»Wenn das so ist, dann müssen wir alles daran setzen, um es zu verhindern; wir müssen sie über unsere Absichten im Dunkeln lassen, denn das, was sie nicht weiß, kann sie ihm auch nicht verraten. Es ist eine schlimme Sache! Wenn wir wieder zusammenkommen, werde ich ihr sagen, daß sie aus einem Grunde, der ihr vorerst verborgen bleiben muß, unseren Beratungen fernzubleiben habe und von uns lediglich beschützt würde.« Er wischte sich die Stirn, auf der große Schweißperlen standen; so sehr hatte ihn die grausame Notwendigkeit angegriffen, die ohnehin schon so geplagte Frau wieder kränken zu müssen. Ich glaubte, ihm dadurch etwas Trost geben zu können, daß ich bemerkte, ich sei zu der gleichen Folgerung gekommen; zum mindesten befreite es ihn von den quälenden Zweifeln. Ich sagte es ihm also und erreichte auch meine Absicht.

Nur kurze Zeit trennt uns noch von dem Zusammentreffen aller. Van Helsing ist weggegangen, um sich darauf vorzubereiten, insbesondere auf das für ihn Schmerzlichste. Ich glaube wirklich, daß man sich am wohlsten allein fühlt, wenn man solch eine Aufgabe vor sich sieht.

Später. – Kurz vor Beginn der Versammlung ward Van Helsing und mir eine sehr angenehme Botschaft zuteil. Frau Harker hatte ihren Gatten beauftragt, uns mitzuteilen, daß sie nicht kommen werde; sie sei der Ansicht, daß wir dann freier über unseren Plan beraten könnten, während ihre Anwesenheit uns stören würde. Der Professor und ich wechselten rasche Blicke des Einverständnisses und fühlten uns sehr erleichtert. Ich wußte, daß uns viele Unannehmlichkeiten und manche Gefahr erspart blieben, wenn Frau Harker selbst auf die Idee gekommen war, sich fernzuhalten. Unter dieser Voraussetzung kamen wir, den Finger an den Lippen, Frage und Antwort zugleich in den Blicken, dahin überein, bezüglich unseres Verdachtes Stillschweigen zu bewahren, bis es uns wieder möglich war, ungestört darüber zu sprechen. Wir gingen nun sofort an die Besprechung unseres Feldzugsplanes. Van Helsing machte uns in Kürze mit den Erfahrungen der letzten Stunden bekannt:

»Die Czarina Catharina ist gestern früh aus der Themse ausgelaufen. Ich nehme an, daß sie die schnellste Fahrt macht, dann braucht sie bis Varna drei Wochen. Wir können diese Stadt über Land in drei Tagen erreichen. Rechnen wir noch zwei Tage weniger für die Fahrt des Schiffes – – wir wissen ja, daß der Graf imstande ist, das Wetter für seine Zwecke dienstbar zu machen; für Zeitverluste, die uns treffen können, rechnen wir einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, dann bleiben uns immer noch reichlich zwei Wochen. Wir müssen also, um sicher zu gehen, spätestens am 17. dieses Monats abfahren. Dann sind wir mindestens einen Tag vor Ankunft des Schiffes in Varna und haben noch Zeit, die nötigen Maßregeln zu treffen. Auf alle Fälle gehen wir bewaffnet, bewaffnet gegen alles Böse, sei es geistiger oder weltlicher Natur.« Quincey Morris fügte hinzu:

»Ich habe daran gedacht, daß der Graf aus dem Lande der Wölfe kommt und daß er unter Umständen schon vor uns dort eintrifft. Ich schlage vor, daß wir unsere Ausrüstung noch durch Winchesterbüchsen vervollständigen. Ich habe einen festen Glauben an den Winchester, wenn Gefahren mich rings umgeben. Erinnerst du dich, Arthur, wie wir bei Tobolsk eine solche Meute hinter uns her hatten? Was hätten wir da nicht darum gegeben, wenn jeder von uns einen Winchester in der Hand gehabt hätte!«

»Einverstanden!« sagte Van Helsing, »Sie sollen Ihre Winchesters haben. Quincey ist immer der Situation gewachsen, insbesondere wenn es ans Jagen geht. Hier können wir eigentlich in der Zwischenzeit doch nichts tun, und da wir Varna ohnehin noch nicht kennen, könnten wir etwas früher dahin aufbrechen. Wir müssen hier ebenso lange warten wie dort. Wir können uns von heute auf morgen fertig machen, und wenn alles in Ordnung ist, reisen wir vier ab.«

»Wir vier?« fragte Harker, indem er seine Blicke von einem zum anderen gleiten ließ.

»Natürlich«, antwortete der Professor rasch, »Sie müssen hier bleiben und auf Ihre liebe Frau achten.« Harker schwieg eine Weile und sagte mit rauher Stimme:

»Diese Angelegenheit wollen wir morgen weiterbesprechen. Ich werde mit Mina reden.« Ich glaubte nun die Zeit gekommen, daß man Harker warnen müsse, seiner Frau etwas von unseren Absichten zu enthüllen; aber Van Helsing tat es nicht. Ich räusperte mich und machte ihm Zeichen. Zur Antwort legte er den Finger an die Lippen und wendete sich ab.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

5. Oktober. Nachmittags. – Noch einige Zeit nach unserer Beratung heute früh war ich nicht imstande zu denken. Die neue Phase, in die unsere Angelegenheit getreten war, hatte meinen Geist in einen Zustand versetzt, der ein positives Denken nicht zuließ. Minas Weigerung, noch irgendwie an unseren Beratungen teilzunehmen, hatte mich stutzig gemacht, und da es mir nicht möglich war, Gründe von ihr zu erfahren, mußte ich mich aufs Raten verlegen. Ich bin heute aber von einer Lösung des Rätsels weiter entfernt als je. Die Art und Weise, wie die anderen die Nachricht aufnahmen, ist mir unverständlich; so oft wir in letzter Zeit über diese Dinge sprachen, waren wir doch alle einig, daß Mina nicht das Geringste mehr verheimlicht werden sollte. Mina schläft gerade ruhig und sanft, ihre Lippen sind leicht geöffnet und ihr Gesicht strahlt vor Glück. Ich bin froh, daß es doch noch solche Augenblicke für sie gibt.

Später. – Wie seltsam mir alles vorkommt. Ich saß und bewachte mein schlafendes Weib; ein Glücksgefühl zog mir durch die Brust, wie ich es lange nicht gekannt habe. Als der Abend herankam und die sinkende Sonne lange Schatten auf die Erde malte, ward mir in der schweigenden Stube immer feierlicher zu Mute. Plötzlich schlug Mina die Augen auf, sah mich zärtlich an und sagte:

»Jonathan, du mußt mir etwas auf dein Ehrenwort versprechen. Du versprichst es mir nur, aber Gott ist Zeuge; du darfst deinem Wort nicht untreu werden, und sollte ich mich vor dir auf den Knieen winden und dich mit heißen Tränen darum anflehen. Schnell, du mußt es mir sofort versprechen.«

»Mina«, sagte ich, »ein solches Versprechen kann ich nicht so ohne weiteres geben. Vielleicht habe ich gar kein Recht dazu.«

»Aber Liebster«, sagte sie mit Nachdruck, und ihre Augen leuchteten wie Sterne, »ich bin es ja, die es wünscht, und ich tue es ja nicht um meinetwillen. Du kannst Van Helsing fragen, ob ich recht handle. Wenn er mir Unrecht gibt, kannst du tun, was du für nötig hältst. Nein, noch mehr als das: wenn ihr alle später dahin übereinstimmt, daß es anders wird, entbinde ich dich von deinem Versprechen.«

»Ich verspreche es!« sagte ich, und einen Augenblick schoß ein Ausdruck des Glückes über ihr Gesicht. Ich aber glaube nicht an ihr Glück, solange ich die rote Narbe an ihrer Stirn sehe. Sie fuhr fort:

»Versprich mir, daß du mir gegenüber nie etwas von dem verlauten läßt, was ihr gegen den Grafen im Schilde führt. Weder in Worten, noch durch Zeichen, noch durch Andeutungen. So lange nicht, als ich dieses Zeichen hier trage.« Und sie zeigte bedeutungsvoll auf die Narbe an ihrer Stirn. Ich sah, daß es ihr ernst war, und antwortete:

»Ich verspreche es.« Als ich das sagte, hatte ich das Gefühl, als schlösse sich eine Tür zwischen uns beiden.

Später, Mitternacht. – Mina ist den ganzen Abend froh und heiter gewesen. So sehr, daß wir alle wieder Mut faßten, als hätte sich diese Fröhlichkeit auch auf uns übertragen. Selbst mir, auf dem doch das Leid wie eine dunkle Trauerdecke besonders schwer gelastet, kam es vor, als lüfte sich die Decke etwas. Wir zogen uns alle früh zurück. Mina schläft nun wie ein Kind; es ist eigentümlich, daß sie ihre Fähigkeit zu schlafen selbst im tiefsten Leide nicht einbüßt. So vergißt sie wenigstens ihre Sorgen. Vielleicht wirkt auch in dieser Beziehung ihr gutes Beispiel, wie auch heute Abend ihre Fröhlichkeit ansteckend auf uns gewirkt hat. Ich will es versuchen. Was gäbe ich für einen Schlaf ohne Träume.

6. Oktober, morgens. – Eine neue Überraschung. Mina weckte mich zur selben Zeit wie gestern und bat, Van Helsing zu holen. Ich dachte, sie wolle wieder hypnotisiert sein, und ging ohne weitere Frage, um ihn zu wecken. Er hatte es scheinbar erwartet gerufen zu werden, denn er saß vollkommen angekleidet in seinem Zimmer. Die Tür stand offen, so daß er es sofort hören konnte, wenn sich bei uns etwas rührte. Er kam sofort mit. Als er ins Zimmer trat, fragte er Mina, ob die Anderen auch kommen sollten.

»Nein«, sagte sie, »es ist nicht nötig. Sie können es ihnen ja sagen. Ich muß mit Ihnen auf die Reise gehen.« Van Helsing war ebenso erstaunt wie ich. Nach einer Pause fragte er:

»Aber warum denn?«

»Sie müssen mich mitnehmen. Ich bin sicherer bei Ihnen, und Sie sind sicherer, wenn ich bei Ihnen bin.«

»Aber wie ist das zu verstehen, Frau Mina? Sie wissen, daß Ihre Sicherheit unsere heiligste Pflicht ist. Wir gehen der Gefahr entgegen, von der Sie mehr zu fürchten haben oder zu fürchten haben können als einer von uns, in Rücksicht auf die Umstände, auf die Dinge, die geschehen sind.« Er schwieg verlegen.

Als sie antwortete, erhob sie ihren Finger und deutete auf ihre Stirn:

»Ich verstehe. Darum eben muß ich mitgehen. Ich kann ja jetzt, bis die Sonne aufgegangen ist, darüber sprechen, später ist es nicht mehr möglich. Ich weiß, daß ich gehen muß, wenn der Graf es will. Ich weiß, wenn er mir im geheimen befiehlt zu kommen, so muß ich ihm folgen; jede List muß ich anwenden, sogar meinem Jonathan gegenüber. Ihr Männer seid stark und tapfer. Ihr seid auch stark an Zahl, denn Ihr könnt vielem trotzen, unter dessen Last ein einzelner zusammenbräche. Außerdem kann ich Euch vielleicht von Nutzen sein, da Sie mich hypnotisieren und von mir Dinge erfahren können, die ich selbst nicht weiß.« Dr. Van Helsing sagte ernst:

»Frau Mina, Sie haben wie immer das Richtige getroffen. Sie sollen mit uns kommen, und gemeinschaftlich wollen wir das tun, zu dessen Vollendung wir ausziehen.« Als er geendet hatte, fiel mir Minas langes Schweigen auf und ich sah nach ihr hin. Sie war eingeschlafen und auf ihr Kissen zurückgesunken. Sie wachte auch dann nicht auf, als ich die Vorhänge öffnete und das Sonnenlicht in das Zimmer flutete. Van Helsing gab mir einen leisen Wink, mit ihm zu kommen. Wir gingen auf sein Zimmer, und bald waren auch Lord Godalming, Dr. Seward und Herr Morris bei uns. Er berichtete ihnen über das Gespräch mit Mina und fuhr fort:

»Morgen früh werden wir nach Varna abreisen. Wir haben nun mit einem neuen Faktor zu rechnen, mit Frau Mina. Aber ihre Seele ist treu. Es ist qualvoll für sie, uns manches zu berichten, wie sie es schon getan hat; aber es ist das Richtigste und wir werden dadurch gewarnt. Wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen, und in Varna müssen wir uns bereit halten sofort zu handeln, wenn das Schiff landet.«

»Was werden wir dann tun?« fragte Morris lakonisch. Einen Augenblick zögerte der Professor, dann antwortete er:

»Wir werden zunächst an Bord gehen. Wenn wir die Anwesenheit der Kiste festgestellt haben, wollen wir einen Zweig wilder Rosen darauflegen. Das wird ihn festhalten, denn so lange der Zweig auf der Kiste liegt, ist es dem Grafen unmöglich herauszukommen; wenigstens behauptet so der Aberglaube. Und auf diesen müssen wir uns vorerst verlassen, er war der Vorläufer des menschlichen Glaubens und wurzelt noch tief in ihm. Dann, wenn sich günstige Gelegenheit bietet, wenn niemand in der Nähe ist, uns zu beobachten, werden wir die Kiste öffnen und alles wird gut werden.«

»Ich werde nicht lange auf eine Gelegenheit warten«, sagte Morris. »Wenn ich die Kiste sehe, werde ich sie öffnen und das Scheusal vernichten, und wenn tausend Menschen zusehen und wenn man mich dafür auspeitscht!« Ich faßte unwillkürlich seine Hand und fühlte, daß sie hart war wie ein Stück Stahl. Ich glaube, er verstand, was ich meinte, ich hoffe es.

»Lieber Freund«, sagte Van Helsing, »Quincey ist ein wahrer Mann, aber glauben Sie mir, auch keiner von uns wird der Gefahr ausweichen oder nur mit der Wimper zucken. Ich sage nur, was wir tun wollen, was wir tun müssen. Aber es läßt sich heute noch nicht sagen, was wir tun werden. Es können sich allerlei Dinge ereignen und der Möglichkeiten sind allzu viele. Wir sind in jeder Weise bewaffnet, und wenn die Zeit zum Handeln kommt, dann soll es nicht an uns fehlen. Wir wollen nun alle unsere Angelegenheiten in Ordnung bringen, besonders was die berührt, die wir lieben oder die von uns abhängen, denn keiner weiß, wie das Ende sein wird. Meine Angelegenheiten sind geordnet, und da ich nichts anderes zu tun habe, werde ich meine Reisevorbereitungen treffen. Ich werde alle Billets lösen und das Notwendigste besorgen.«

Es war nun nichts mehr zu besprechen und wir trennten uns. Ich will nun alle meine irdischen Dinge in Ordnung bringen und dann auf alles vorbereitet sein …

Später. – Alles in Ordnung. Mein Testament ist gemacht und alles bis ins kleinste geregelt. Mina ist meine Universalerbin, wenn sie mich überlebt. Sollte das nicht der Fall sein, so sollen die Anderen alle, die so gut gegen uns waren, die Erben sein.

Die Sonne geht langsam hinunter; Minas Unruhe lenkt meine Aufmerksamkeit darauf. Ich bin sicher, es ist etwas in ihr, das genau bei Sonnenuntergang sich enthüllen wird. Diese Sonnenauf und -untergänge sind für uns wirklich immer neue Gefahren, auf immer neue Schmerzen, die aber doch hoffentlich zu einem guten Ende führen. Ich schreibe diese Dinge in mein Tagebuch, da mein liebes Weib sie ja nicht hören darf. Wenn es ihr aber beschieden ist, diese Blätter wieder zu sehen, dann sollen sie wenigstens vollzählig sein.

Sie ruft nach mir.


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