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Wie die junge Baroneß erzogen wurde.

Mademoiselle,« versetzte der Baron mit Stirnrunzeln, nachdem sich der Freiherr entfernt hatte, »eine Baroneß de Watteville spricht nicht vor Fremden von Familienkalamitäten. – Ich bin sehr irritiert über dieses unpassende Benehmen. Ich wünsche jetzt allein zu sein. Mademoiselle kann sich entfernen.«

Ulli schlich beschämt hinaus. Als sie in den Schloßhof trat, dessen zerbröckelndes graues Gemäuer von einem letzten Strahle der Sonne vergoldet wurde, überkam sie plötzlich eine große Sehnsucht. Es war ihr, als wäre sie ein gefangener Vogel, als harre jenseits dieser Mauern die Freiheit, das Glück, und der Gedanke durchblitzte sie, dem neugefundenen Onkel nachzulaufen und ihn zu bitten: »Nimm mich mit, o nimm mich fort von hier!«

Da plötzlich rief eine keifende Frauenstimme ihren Namen und Ulli wandte sich trotzig um. Die alte Susanne kam mit einem Korbe nasser Wäsche keuchend daher und schrie: »Wer hat dir denn erlaubt, meine Mantille aus der Kommode zu nehmen, um mit den Enden den Hof zu fegen?«

»Ich muß mich doch putzen, Susanne, weil mich mein Onkel in dem zerrissenen Kleide für ein Bauernmädchen gehalten hat; ich will nicht zerrissen gehen wie die Bauernmädchen; ich will wie eine Baroneß gekleidet werden.«

»Du willst dich putzen? Mit andrer Leute Garderobe, nicht wahr? Nun das hat noch gefehlt! Wer hat dir denn solche Raupen in den Kopf gesetzt? Nun wird's aber arg! Und was faselst du denn da von einem Onkel, he?«

Hier kam der alte Andreas dem Kinde zu Hilfe. »Mußt nicht mit ihr schelten, Frau. Unser kleines Fräulein hat ganz recht gethan, daß sie sich putzte, denn wir haben einen vornehmen Besuch gehabt; der Onkel von unsrer verstorbenen Frau Baronin hat den Herrn besucht.«

Die Frau setzte den Korb nieder, um verzweifelt die Hände zusammenzuschlagen. »Jesus, das ist ja der reiche Herr, der uns aus aller Not helfen könnte! Und da muß ich grade nicht im Hause sein – komme nicht über die Schwelle, und muß Wäsche spülen, wenn uns das Glück ungerufen ins Haus läuft! O du Einfaltspinsel! Kannst du den Weg bis zum Bache nicht mehr finden? Mich mußtest du rufen – mich, da ich allein noch mein bißchen Verstand beisammen habe. Ich hätt's ihm schon stecken wollen, wie 's bei uns zugeht. Aber – ach, du mein Himmel! eher weist ihm unser Herr die Thür, als daß er Geld von ihm nähme!«

Weil ihre Vorfahren schon fast ein Jahrhundert im Dienste der Familie gestanden hatten, ehe Andreas unter Baron Ludwig als Reitknecht in das Haus getreten war, blickte Frau Susanne auf ihren Ehemann mit einer gewissen Verachtung herunter.

Als Jungfer der gnädigen Frau spielte Mamsell Suschen damals eine Rolle; sie war die Braut von Monsieur Charles, dem französischen Kammerdiener, und hatte Aussicht, nach ihrer Verheiratung Frau Schloßverwalterin zu werden. Gewissermaßen hatte sich die Erwartung erfüllt, nur freilich in andrer Weise als Mamsell Suschen gehofft hatte. Anstatt daß ihr ein Haufe müßiger Diener und träger Mägde gehorchte, war sie genötigt, jede Arbeit, auch die gröbste, selbst zu besorgen, und während sie sich in der Jugend gepflegt und die Hände in den Schoß gelegt hatte, mußte sie sich im Alter plagen. Der feine elegante Kammerdiener hatte sich, als er den Ruin der Familie eintreten sah, aus dem Staube gemacht, und Mamsell Suschen, die den armen Reitknecht stets hochmütig behandelt hatte, mußte am Ende noch zufrieden sein, als er wagte, um ihre Hand anzuhalten. Enttäuschungen und harte Entbehrungen hatten die Alte erbittert; sie fand in der Treue für ihren unglücklichen Herrn keinen Trost, denn weder liebte, noch achtete sie Baron Gerhard. Er that nichts, den Verfall aufzuhalten, sondern ließ widerstandslos das Unglück über sich hereinbrechen. Susanne erlaubte sich sogar einmal, ihm sein Sündenregister vorzuhalten. Der Baron bekam einen Anfall ohnmächtiger Wut, aber er änderte sich nicht.

Gegen die bürgerliche Ehe der Baroneß Cäcilie hätte Susanne nichts eingewendet. Fräulein Cäcilie war im Haushalt keine Hilfe und durch ihre Ansprüche wurden die knappen Einnahmen nur verringert; Susanne hoffte, daß die reiche Bankiersfrau ihrer Familie mit Geschenken oder Geldsendungen zu Hilfe kommen würde. Auch diese Hoffnung vernichtete Baron Gerhard; er wies jede Annäherung seiner Schwester schroff zurück.

Aber liebte Susanne das Kind nicht, das sie von seiner hilflosen Jugend an gepflegt und groß gezogen hatte? Ja sie liebte es; doch auf ihre Art. Wäre es krank geworden, würde sie seiner gewartet haben. Ulli war aber niemals krank; dafür trotzig, übermütig, unbändig; sie vermehrte noch die Arbeit und Plage der Alten. Susanne zankte mit ihr bei jeder Gelegenheit und behandelte sie ziemlich rücksichtslos. In ihrem Herzen hielt sie sich selbst, weil sie schon zu den Zeiten gelebt, da die Familie noch groß und geehrt dagestanden, für vornehmer als dieses Kind, das erst nach dem Verfalle des Hauses geboren worden war.

Hätte die arme Alte ein liebevolles Herz besessen, so würden ihr, trotz Not, Sorge und harter Arbeit, tausend glückliche Stunden erwachsen sein. Aber weil sie Tag für Tag die glänzende Vergangenheit mit der traurigen Gegenwart verglich, weil sie sich einbildete, sie habe ein Recht an bessere Tage, da sie solche einmal genossen hatte, weil sie nur glücklich sein wollte, ohne zu bedenken, daß man das niemals sein könne ohne glücklich zu machen, verlebte sie ein trauriges Alter und quälte obenein die, die mit ihr zusammen lebten.

Der alte Andreas aber, den sie so gering schätzte, besaß eine Eigenschaft, die dem eleganten Kammerdiener fremd gewesen, und die selbst Susanne nie besessen hatte – er hing mit rührender Treue an seinem Herrn und an dem Kinde seines Herrn, und um der guten Tage willen, die er in dem Hause verlebt hatte, ertrug er mit Geduld und ohne Klagen die schlimmen, die ihnen gefolgt waren.

Ulli war der Abgott seines Herzens und um ihretwillen wagte er, sich sogar gegen seine Frau aufzulehnen. Das Kind aber verstand es auch, seine Liebe auf die Probe zu stellen.

Die einzige Puppe, die sie je besessen hatte, kaufte ihr Andreas von mühselig zusammengesparten Dreiern auf dem Weihnachtsmarkte. Es war ein schauderhaftes Ungetüm mit einem Holzkopf und goldbesetztem steifen Gazekleid. Andreas fühlte sich sehr enttäuscht, als er sah, daß Ulli mit diesem kostbaren Gegenstande Fangball spielte; er ahnte das traurige Ende der Puppe, das sich auch bald erfüllte. Als er eines Tags über den Hof ging, rief ihm Ulli aus einem Fenster des ersten Stockwerks zu, er solle acht geben, die Puppe werde ihm in die Arme fliegen; in diesem Augenblicke flog sie auch an seinem Kopfe vorbei und zerschellte auf den Steinen. Er trat näher und machte Ulli Vorwürfe; da aber stieg sie auf das Fenstersims und rief, jetzt solle er besser acht geben, jetzt werde sie selbst geflogen kommen, und richtig wagte das tollkühne Ding den Sprung; nur durch einen glücklichen Zufall gelang es dem entsetzten Diener, sie aufzufangen.

Noch spät am Abend nach dem Besuche des Freiherrn lief die alte Susanne, die gefältelte Nachthaube auf dem Kopfe, aufgeregt umher, störte das Kind in seinem Schlafe und ließ den armen Andreas nicht zur Ruhe kommen.

Aber auch der Baron saß noch wach in seinem Zimmer und schrieb eifrig gegen seine Gewohnheit. Er war der Ansicht, daß der König von Preußen verbunden sei, die Kontributionen, die König Jerôme der Familie auferlegt hatte, zurückzuerstatten. Seine Gesuche in dieser Sache waren schon öfter zurückgewiesen worden; er schrieb aber diesen Mißerfolg nur einigen Personen der vornehmsten Kreise zu, die er feindlich gesinnt glaubte, denn von der Gerechtigkeit seiner Ansprüche war er überzeugt und lebte der Hoffnung, daß, wenn sein Gesuch nur zu den Ohren des Königs dränge, es auch genehmigt werden müsse. Dann aber sollte die versunkene Größe seines Hauses in neuem Glanze erstehen.

Selten hatte er seine Armut so bitter empfunden wie an diesem Nachmittage, und er beschloß, sofort ein neues Gesuch einzureichen. Er setzte es auf und wollte mit dem Pastor Kielmann einiger Ausdrücke wegen noch Rücksprache nehmen.

Der Pastor wohnte in Bechsteden und predigte nur einen Sonntag um den andern in der Kirche in Wolfshagen. An diesen Tagen aber fehlte der Baron mit seiner kleinen Tochter niemals in den mit dem Wappen verzierten Kirchstühlen der Familie, und wenn er sich auf dem verschossenen Samt mit steifer Würde niederließ und auf die Landleute hinuntersah, wenn er das Lorgnon vorhielt, um den richtigen Vers im Gesangbuche zu finden, und wenn er sich mit der Überzeugung schmeichelte, daß der Geistliche mehr für ihn als für die dummen Bauern und den dicken Pächter predigte, so war das die einzige Stunde, in der er sich einbildete, daß er eigentlich noch immer ein großer Herr wäre.

An dem folgenden Sonntage jedoch unterbrach der Baron seine Andacht häufig durch ein ärgerliches Hüsteln. Die Predigt des Pastors Kielmann war durchaus nicht nach seinem Geschmacke, ja er fühlte sich sogar durch sie verletzt. Der Geistliche predigte von der christlichen Demut, und es war deshalb ganz natürlich, daß er auch von dem Gegensatze dieser Demut, von dem Stolze und der weltlichen Überhebung reden mußte. Baron Gerhard aber fand in dieser ganzen Rede nur einen Angriff auf seinen Charakter; als danach der gute Pastor Kielmann auf dem Kirchhofe arglos an ihn herantrat, schnarrte er ihn an, daß er, der Baron, sich nicht ein zweites Mal dem Affront aussetzen würde, ein gegen ihn gerichtetes Pamphlet anzuhören. Der Pastor entgegnete darauf erstaunt, daß er den Herrn Baron nicht verstehe.

»Ich werde meine Meinung schriftlich aussprechen,« entgegnete der Baron, entfernte sich ohne Gruß und ließ den etwas verblüfften Pastor stehen. Wirklich erhielt dieser einen so beleidigenden Brief, daß er sich genötigt sah, jeden Verkehr mit dem Baron abzubrechen, und auch dieser unterließ seit jenem Tage den Kirchenbesuch.

Der armen kleinen Ulli wurde das lange Stillsitzen in der Kirche oft unbequem und sie hatte auf die Predigt nicht immer achtgegeben, weil ihre eigenen Gedanken sie davon abzogen. Dennoch wurde sie nun der einzigen Gelegenheit beraubt, durch die ein veredelnder Einfluß aus ihr Gemüt ausgeübt werden konnte.

Aber auch der Baron hatte sich auf diese Weise den Verkehr mit der Welt völlig abgeschnitten; der Weg nach der Kirche war sein einziger Ausgang; schon längst vermied er das Spazierengehen in Feld und Wald, weil er sich dabei ärgerte. Sah er gefällte Bäume im Walde, der einst den Wattevilles gehörte, so kam ihm das wie ein Eingriff in seine Rechte vor; wurden Wege ausgebessert, schimpfte er, als habe man vergessen seine Erlaubnis einzuholen, denn in frühern Zeiten hatten die Wattevilles für Erhaltung der Straßen zu sorgen. Auch die gehäuften Erntewagen machten ihn nervös; sie fuhren ja nicht wie einst in seine Scheuern, und wenn ihn – einige ältere Leute abgerechnet – die Bauern und Tagelöhner nicht mehr grüßten, weil er ihnen nichts mehr zu befehlen hatte, fühlte er sich tief verletzt.

Mit seinen Nachbarn verkehrte er überhaupt nicht. Die großen Güter der Familie waren vereinzelt verkauft worden und in den Händen wohlhabender bürgerlicher Familien. Daß sich ein Baron de Watteville mit dieser Art Leute am Ende nicht befreunden konnte, versteht sich von selbst. Aber auch für sein Kind zeigte der Baron keine Teilnahme. Nur während der Mahlzeiten durfte Ulli sein Zimmer betreten und mußte stumm ihm gegenübersitzen; zwar hatte er dem kleinen Mädchen nicht das Reden verboten; aber es wußte recht gut, daß es mit dem Vater nicht vertraulich schwatzen dürfe. Nach dem Essen erwartete er, daß Ulli ihm die Hand küßte, und ohne teilnehmendes, herzliches Wort entließ er sie.

Seine Erziehung bestand darin, daß er Ulli Mademoiselle nannte, wenn er einen Verweis erteilte; der Verweis bestand gewöhnlich in einer Ermahnung an das, was sie sich als Baroneß de Watteville schuldig wäre.

Der Baron liebte selbst seine Tochter nicht; er hatte sich einen Erben seines alten Namens gewünscht und haderte mit Gott, weil er ihm diesen Wunsch versagt hatte. Während seiner einsamen Stunden beschäftigte er sich mit diesem Sohne, der, wie er hoffte, das Haus zu seiner alten Größe emporgehoben haben würde, wenn diese Tochter ihn nicht verdrängt hätte.

Die verstorbene Baronin hatte in der kurzen Zeit ihrer Ehe Muße gehabt zu bereuen, daß sie, durch ungünstige Verhältnisse genötigt, diese Heirat eingegangen war.

In dieser trüben Zeit wurden ihr die Nonnen des nahegelegenen Klosters treue Freundinnen. Sie wünschte sehnlich, das Kind ihrer Obhut anzuvertrauen. Aber erst, als sie im Sterben lag, gab ihr der Baron das Versprechen, Ulli während der ersten Lebensjahre dem Kloster zu übergeben. Obgleich Ulli halsstarrig, trotzig und entsetzlich wild war, gewann sie doch die Herzen der Nonnen, denn sie bewies zugleich ein gutes Herz und ungewöhnliche Anlagen. Deshalb wurde sie auch schon nach der ersten Prüfung mit einem Preise belohnt, der in einem Christkindchen aus Wachs bestand, das in einem Glaskästchen auf Blumen ruhte. Ulli durfte diesen Preis während der Osterfeiertage mit nach Hause nehmen, sollte ihn aber bei ihrer Rückkehr wieder an die Klosterfrauen abliefern.

Ulli war selig ihrem Papa diese glänzende Belohnung zeigen zu dürfen, stürmte damit in sein Zimmer – und das Glaskästchen lag zertrümmert am Boden! Der Baron aber verbat sich fernerhin Auszeichnungen für seine Tochter, die ihm Geld kosteten.

Ernstere Folgen hatte der böse Streich, von dem schon die Gastwirtin dem Freiherrn erzählte. Es war natürlich, daß Ulli dafür eine Strafe erleiden sollte; doch fand der Baron, seine Tochter sei zu vornehm, um von einfachen Schulschwestern bestraft zu werden, und nahm sie aus dem Kloster.

Jetzt wurde Kasper Hutzelmann, der Schullehrer, angenommen. Dem Ärmsten erschien die Ehre so groß, daß er sich mit fünf Groschen Honorar pro Stunde zufrieden erklärte.

Freilich ahnte er noch nicht, welche Martern ihm bevorstanden; aber nur zu bald erkannte er, mit wie viel Ängsten und Qualen er diese Ehre erkaufen mußte.

Vom Himmel war er nicht zu einem Helden bestimmt, und Furchtsamkeit lag in seinem Charakter. Nur mit Zittern und Grauen dachte er an diese Lektionen, und nie betrat er das Schloß, ohne vorher seine Seele – oder vielmehr seine gesunden Glieder dem Himmel zu besonderer Beachtung empfohlen zu haben.

Denn die Tochter dieses Hauses, dessen Frauen sich stets durch den Adel ihrer Sitten ausgezeichnet haben sollten, war sehr zu übermütigen Streichen aufgelegt, und niemand war da, der ihr Schranken gesetzt und das Gute in ihr geweckt hätte.

Leider besaß Kasper Hutzelmann zum Erziehen weder Geschick noch sittliche Kraft; man konnte von ihm sagen, der liebe Gott habe ihn im Zorn zu einem Schulmeister gemacht. Den Dorfkindern bläute er mit seinem Stocke den nötigen Respekt und das nötige Wissen ein. Aber bei einer jungen Baroneß konnte er diese handgreifliche Erziehungsmethode nicht anwenden, und da er mit keiner andern vertraut war, fühlte er sich diesem begabten Kinde gegenüber bald ganz hilflos.

Am meisten fürchtete er sich vor Ullis Fragen – ja, er fürchtete diese noch mehr als ihre Neckereien. Einem Gelehrten, dem nur zu gut bewußt ist, wie beschränkt überhaupt alles menschliche Wissen ist, fällt es nicht schwer, auf eine Frage zu antworten: »Das weiß ich nicht.« Aber Kasper Hutzelmann war so unwissend, daß er es für die größte Schande gehalten haben würde, seine Unwissenheit einzugestehen. Dazu kam, daß Ulli Fragen von absonderlicher Art stellte, die selbst kein Gelehrter zu beantworten vermocht hätte. Denn was sollte der arme Schulmeister erwidern, wenn sie fragte, in welcher Sprache der liebe Gott mit Adam und Eva geredet habe? Ob wohl die Schlange, die Eva verführte, eine Kreuzotter, und ob das Wasser der Sündflut salzig gewesen sei?

Und wenn sich Kasper Hutzelmann mit Geschick gewunden und gedreht, geschnupft und sich geschneuzt hatte, hielt das entsetzliche Kind schon wieder neue Fragen in Bereitschaft.

Wollte er seiner Schülerin das Einmaleins einpauken, so legte Ulli die Ellbogen auf, stützte den Kopf auf die Hände und sprach langsam und träge nach, was ihr vorgesagt wurde; dauerte es ihr aber zu lange, so warf sie sich plötzlich im Stuhl zurück und schrie: »Schulmeister, du langweilst mich!« Denn sonderbarerweise, während er »Sie« und »Fräulein« sagte, beliebte es ihr, ihn »Schulmeister« und »Du« zu nennen. Gewöhnlich aber benutzte sie diese Zeit, um sich auf neue Fragen vorzubereiten, und dann gnade Gott dem armen Manne!

»Schulmeister, ich habe in einem Buche gelesen, daß die Erde rund sei; ist das wahr?«

Hutzelmann beeilte sich zu erwidern, daß das eine anerkannte Thatsache sei; aber er griff schon nach seiner Schnupftabaksdose, denn er wußte, daß noch mehrere Fragen dieser ersten folgen würden, und er war gewohnt, sich so lange mit seiner Nase zu beschäftigen, bis er die passendste Antwort gefunden hatte.

»Schulmeister, warum ist die Erde rund?«

Dem Ärmsten war nie ein Zweifel an der Kugelgestalt der Erde aufgestiegen; warum besaß denn dieses schreckliche Kind nicht auch diesen heilsamen Glauben?

Ich muß hier bemerken, daß diese Geschichte in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts spielt, wo es wohl vorkam, daß auf einem Dorfe irgend ein alter Schulmeister nicht alle die Anforderungen erfüllte, die man heute an einen Lehrer stellt.

Hutzelmann wußte freilich, daß es Beweise für die Kugelgestalt der Erde gäbe; aber lieber Himmel, so etwas vergißt sich, wenn man es auch früher einmal gehört hat; deshalb erwiderte er, nachdem er eine große Prise in die Nase geschoben: »Die Erde ist rund – weil sie eben rund ist. Es fällt doch niemand ein zu fragen, weshalb eine Apfelsine oder ein Ei rund sei. So etwas muß man allein dem lieben Gott überlassen, der alles zum besten eingerichtet hat.«

»Ich will dir etwas sagen, Schulmeister: weshalb die Apfelsinen und Eier rund sind, das weiß nur der liebe Gott; aber weshalb die Erde rund ist, das wissen auch die Menschen. Es stand darüber etwas in einem Buche, aber ich konnte es nicht verstehen, und du sollst es mir sagen, denn du bist dazu da, mich klüger zu machen.«

Der geplagte Schulmeister lachte, als ob er die ganze Sache für einen Witz hielte; aber es war ihm dabei nicht heiter zu Mute. »Wenn das kleine Fräulein klüger werden will, muß es lernen; dazu spürt aber das Fräulein keine Lust. Ist's nicht so, Fräulein?«

Ja, das kleine Fräulein hatte schon Lust, zu lernen, nur nicht die Dinge, die der Lehrer ihm beizubringen wünschte.

»Schulmeister, wenn man nach Emden – dann nach Bremen – immer weiter hinauf geht ...«

»Das Fräulein meinen nach Norden.«

Ulli nickte: »Dann wird's immer kälter?«

»Ja, dann wird's immer kälter – zuletzt giebt's nur noch Eis und Schnee.«

»Aber wenn man nach der andern Seite geht, dann wird's immer heißer und heißer, nicht wahr?«

»Ei freilich, im Süden ist's viel heißer.«

»Bist gefangen, Schulmeister, bist gefangen! Wenn du immer weiter, immer weiter gehst ...«

»Ja, zuletzt wird's wieder kalt – dort ist dann der Südpol.«

»Also das weißt du? Ich habe davon auch in dem Buche gelesen. Nun sage mir aber, Schulmeister, warum ist es mitten auf der Erde so heiß – und an den Enden ...«

»Fräulein, eine Kugel hat keine Enden.«

»Ja, ich weiß es jetzt – die Pole nennt man diese Stellen; warum ist es an den Polen so kalt?«

Herrgott, ist das einfach! Wo's heiß ist, da scheint die Sonne, nicht wahr? Ohne Sonne ist's nicht heiß. Und wo's kalt ist, na da scheint die Sonne eben nicht.«

Das Kind dachte eine Weile nach und schon atmete der Schullehrer auf, da fing es wieder an: »Im Winter scheint die Sonne auch, und doch friert's Eis.«

»Ja natürlich, dafür ist's auch Winter – und die Tage sind so kurz – die Sonne kann's nicht zustandebringen, um richtig zu wärmen.«

»Nein, nein, Schulmeister, im Sommer scheint die Sonne heißer; ich bin einmal mittags in der Sonne gegangen, da hat sie mir Kopfweh gemacht; das thut sie im Winter niemals.«

»Ja, das fehlte noch; wie sollte denn bei der Wintersonne das Getreide reifen? Du lieber Himmel, das gäbe gleich eine Hungersnot.« Und als Hutzelmann das sagte, blickte er auf seine dicke silberne Uhr und glaubte sich einbilden zu dürfen, daß die Stunde abgelaufen sei. Ach, sein Fortgehen war nur eine Galgenfrist; am andern Tage empfing ihn Ulli mit hundert neuen Fragen, die sie in ihrem kleinen Hirn ausgebrütet hatte. An Zeit fehlte es ihr nicht, da sie weder durch Geschwister noch Spielkameraden, weder durch Puppen noch Bilderbücher von dem einsamen Grübeln abgehalten wurde.

Da sie aber zugleich ein wildes Ding war, kam sie auch auf tolle Streiche; sie versteckte die Schnupftabaksdose Hutzelmanns, oder setzte ihm Maikäfer in den Hut. Einmal aber hatte sie etwas sehr Böses gethan. Sie stellte dem Lehrer einen Stuhl hin, dessen viertes Bein nur lose eingefügt war, so daß dieser, als er eben mit einer gewissen Salbung den Unterricht beginnen wollte, plötzlich mit einem krähenden Aufschrei verschwand, während seine Beine in die Höhe fuhren.

Ulli hatte sich die Sache komisch vorgestellt; aber als sie den armen Schullehrer wirklich auf dem Boden herumkrabbeln sah, wurde ihr angst, er möchte ernstlichen Schaden genommen haben. Mit einem verlegenen Gesicht sprang sie schnell hinzu, und als sie ihn wieder glücklich auf die Beine gebracht, fragte sie besorgt, ob er sich nicht weh gethan habe.

»Das wird sich erst zeigen,« stotterte der erschrockene Lehrer, trocknete sich mit dem blauen Schnupftuch den Angstschweiß von der Stirn und befühlte dann seine Glieder. »Es kann sich innerlich etwas verschoben und verbogen haben – äußerlich spürt man's nicht gleich – und obendrein der Schreck – auch der ist sehr gefährlich. Ihre Späße gehen zu weit, Fräulein. Ich bin mir's schuldig, der Herr Baron soll erfahren, wie Sie mich zu behandeln belieben.«

Leider merkte jetzt das unartige Kind, daß er keinen Schaden genommen hatte, und verzog trotzig die Lippen: »Du gehst doch nicht zum Papa, Schulmeister. Du fürchtest dich vor Papa.«

Ja, der arme Mensch fürchtete sich wirklich, und der Baron erfuhr nichts von dem abscheulichen Benehmen seiner Tochter.

An dem Tage, der dem Besuche des alten Freiherrn folgte, stand der Schullehrer wie gewöhnlich zögernd vor der Thüre und befühlte noch einmal vorsichtig seine Taschen, ob seine Sachen auch noch darin geborgen wären; wie erstaunte er aber, als er die Bücher für den Unterricht, die Ulli sonst nur nach wiederholtem Ermahnen und ärgerlichem Suchen herbeischaffte, wohlgeordnet auf dem Tische fand. Ulli selbst trat ihm mit gebürstetem Haar und reingewaschenen Händen entgegen. »Ich habe einen Onkel,« sagte sie feierlich. »Ich will nicht wieder unartig sein.«

Der Zusammenhang dieser Sätze war nur Ulli klar. Der alte Freiherr hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht; sie schämte sich, daß er sie für ein Bauernmädchen gehalten; sie wußte auch, daß sie in andrer Hinsicht nicht seine gute Meinung verdiente; deshalb nahm sie sich vor, diese zu gewinnen, denn sie hoffte ihn wiederzusehen.

Ihre guten Vorsätze hielten freilich nur kurze Zeit vor, und nur zu bald zeigte sie sich wieder ebenso wild, trotzig und ungezügelt, wie vor diesem denkwürdigen Besuche.

Aber wenn auch die Folgen dieser flüchtigen Bekanntschaft nicht von Dauer waren, das Bild des alten Mannes bewahrte sie; denn in der großen Einsamkeit ihres Lebens prägten sich alle Eindrücke tief in ihrer Seele ein.

Der Onkel spielte fortan eine Rolle in ihrer Phantasie. Mit seiner Person verknüpften sich alle Träume einer glücklichen Zukunft. Sein Schloß war ein Märchenschloß. Der geschickteste Baumeister hätte ein so wunderbares Gebäude nicht aufzuführen vermocht. In einem Saale, der mit zauberhafter Pracht ausgeschmückt war, standen reichbesetzte Tafeln, wo man auf goldenen Tellern köstliche Gerichte speiste. Bunte Papageien wiegten sich in glänzenden Ringen und wiederholten die Worte, die Ulli ihnen vorsprach. Neben Pferden, die aus marmornen Krippen ihr Futter fraßen, stand auch ein munterer Pony, auf dem sie an der Seite ihres Onkels auf schattigen Waldwegen galoppierte, außer man zog vor, in einer vierspännigen Karosse dahinzujagen. Ein niedlicher Page, in roten Samt gekleidet, mußte ihr stets folgen und vor ihr die Thüren öffnen. Sie selbst aber trug seidene, goldgestickte Kleider wie eine Märchenprinzeß.

Ihre phantastischen Vorstellungen schöpfte sie aus einer alten Ausgabe der Märchen von Tausend und eine Nacht, die sie in einem Schranke gefunden und seit dieser Zeit immer und immer wieder gelesen hatte.

Längst, ehe der fremde Onkel eine Rolle in ihren Träumereien spielte, hatte sie schon von Zwergen oder zauberhaften Tieren phantasiert, die sie mit Schätzen beschenkten. Mit diesem Golde baute sie dann Schloß Wolfshagen wieder auf, herrlicher als zuvor, und machte ihren Papa noch einmal zu einem großen Barone.

Zu andern Zeiten träumte sie von Feen, die sie in das schönste, klügste und liebenswürdigste Fräulein verwandelten; es wurde ihr mit einer solchen Feenausstattung nicht schwer, die Rolle einer Königin zu spielen und von allen Menschen angebetet oder beneidet zu werden.

So träumte sich das verwahrloste Kind, zusammengekauert in irgend einem Winkelchen, geliebt und beneidet. In Wirklichkeit aber mochte es nur der alte Andreas leiden; es gab wohl auch mitleidige Herzen, die es beklagten; aber weder im Dorfe noch in der Umgegend war einer einfältig genug, das arme Ding zu beneiden.

Ulli fühlte den Mangel an Liebe, obgleich sie sich das nicht klar machte; doch reichte der Stolz, den ihr der Vater eingeimpft hatte, nicht immer aus, die fehlende Liebe auszugleichen.

Manchmal guckte Ulli hinter einem Busche sehnsüchtig dem Spiele der Dorfkinder zu; aber hätte eins gewagt, sie zum Spielen aufzufordern, sie würde es mit einem hochmütigen Blick gemessen und ihm verächtlich den Rücken gewendet haben.

Durch ihr störrisches und abstoßendes Benehmen hatte sie es wirklich dahin gebracht, daß niemand sie grüßte oder gar ein freundliches Wort mit ihr redete.

So wuchs das arme Kind auf; genährt mit falschen Vorstellungen, ohne Religion, ohne die Liebe einer Mutter, ohne Kenntnisse und Zucht. Ein großes Herz war ihm zu teil geworden, das es selbst nicht verstand, und das zu verstehen sich auch niemand die Mühe gab; sie war außerdem mit ungewöhnlichen Geistesanlagen geschmückt, aber ohne die ordnende Hand eines verständnisvollen Gärtners wucherte Unkraut auf, und üppige Ranken drohten die edlern Triebe zu ersticken.

Wie wenige Kinder denken wohl je darüber nach, wieviel sie Eltern und Lehrern verdanken, und was ohne liebevolle Leitung und ohne sorgfältige Erziehung aus ihnen geworden wäre. Diejenigen aber, die schlecht erzogen und mit mangelnden Kenntnissen und Fertigkeiten in die Welt treten, vielleicht dabei noch ihren Unterhalt erwerben müssen, klagen mit bittern Zähren, welch eine strenge und harte Lehrmeisterin ihnen diese Welt ist.


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