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Ullis erster Schmerz.

Am nächsten Morgen hatte Ulli gerade eine Lektion bei Miß Kirk beendet, als ihr der Diener einen Brief überreichte.

Dieser in grobes Papier ungeschickt couvertierte und gesiegelte Brief paßte schlecht zu dem silbernen Teller, auf dem er überreicht wurde, aber Ulli griff eifrig danach; sie wußte gleich, daß er von ihrem besten Freunde, von Andreas, kam.

Als sie ihn erbrach, fiel ein kleinerer Brief, der darin eingeschlossen war, heraus. Andreas schrieb: »Gnädiges Fräulein! – So werde ich Dich von jetzt an nennen, weil Du in einem vornehmen Hause lebst und bald eine große Dame sein wirst. – Also, gnädiges Fräulein, bald nach Deiner« – das Wort war ausgestrichen und »Ihrer« darüber geschrieben – »Abreise kam ein Brieflein aus Wien vom Herrn Onkel – wie wir vermuten. Susanne wollte ihn aufmachen, sie wollte wissen, ob von wegen uns was darin steht; hab's aber nicht erlaubt; was nicht recht, ist nicht recht, ein Brief gehört allemal an seine Adresse.

»Du bekommst ihn spät; denn der Schnee lag so hoch, daß wir uns nicht hinauswagten; dem Jungen, der uns Brot bringt, traue ich aber nicht; mußte also warten, bis es tüchtig fror.

»Seit Du fort bist, liebes Kind, will's mir auf Wolfshagen nicht mehr gefallen. Die Alte ist mürrischer und zänkischer als sonst, Du fehlst ihr nämlich; will's aber nicht Wort haben.

»Auf's Siezen richte ich mich in dem Briefe noch nicht ganz ein; aber 's wird schon werden, mein Herz. Vergiß in Deiner Vornehmheit nur nicht Deinen alten Andreas.«

Wie mit einem Zauberschlage stieg vor Ullis Augen das alte verfallene Schloß empor. Es war ihr, als atme sie auf einmal die eigentümliche Luft der von dicken Mauern eingeschlossenen Stuben, und als höre sie leibhaftig die Stimme des alten Dieners.

Mit klopfendem Herzen erbrach sie den zweiten Brief; er lautete:

»Meine geliebte Nichte!

»Wäre nicht das verdammte Podagra, würde ich Dir gleich selbst geschrieben haben; so aber liege ich gefesselt im Bett und Johann Dinkel muß statt meiner schreiben.« – Dieser Name war mit lateinischen Lettern geschrieben und zweimal dick unterstrichen.

»Es freut mich, daß Du mich nicht vergessen hast, ich habe das wilde kleine Mädchen auch nicht vergessen. Nun Du Deinen armen Vater verloren hast, sollst Du mich Vater nennen, und ich will Dich wie meine Tochter lieben.

»Andreas und Susanne bringst Du mit, versteht sich. Es gefällt mir von Dir, daß Du Dich für die alten Leute verwendet hast. Sie sollen in einem hübschen Häuschen wohnen und es gut haben auf ihre alten Tage.

»Der Hundert-Thalerschein ist das Reisegeld. Also komme bald.

»Es schadet nichts, daß Du noch nicht ganz orthographisch schreiben kannst; ich werde Dir eine Erzieherin und auch Lehrer halten.«

 

Die Unterschrift von des Freiherrn eigner Hand war fast unleserlich.

»Ich bin neugierig, was geschehen wird,« dachte Ulli. »Erst wußte ich gar nicht, wo ich hingehen sollte, und nun will mich der Onkel, und die Tante will mich natürlich auch. Mir mißfällt's hier nicht; ich möchte gleich hier bleiben. Hier geschieht doch sehr viel für meine Bildung; ich lerne Englisch und Schlittschuhlaufen und feine Manieren, und der Eduard ist auch nicht so böse, wie ich mir erst eingebildet habe, und das Essen schmeckt herrlich und« – hier leuchteten die Augen auf – »hier ist das Theater.« Die Erinnerung an das tags zuvor genossene Vergnügen war so stark, daß sie fast den Brief darüber vergaß. Auf einmal aber fiel ihr ein, daß der Onkel krank wäre, und da möchte es ihm vielleicht lieb sein, wenn sie ihm vorläse. »Und wenn ich nicht zu ihm gehe, dann will er vielleicht auch nichts für Andreas und Susanne thun.« Sie seufzte laut. »Man kommt doch nie heraus. Wenn ich nur wüßte, was ich thun sollte!«

Endlich kam sie zu dem Entschlusse, die Frage doch am Ende zuerst der Tante vorzulegen. Sie steckte des Andreas Brief in die Schublade, weil sie voraussetzte, daß er der Tante Mißfallen erregen würde. Mit des Onkels Brief begab sie sich nach der Tante Zimmer und klopfte an. Das Anklopfen war einer von Ullis Fortschritten in der Kultur; sehr weit war sie nach dieser Richtung leider noch nicht gekommen.

Ulli hatte keine gute Stunde getroffen. Es fand schon wieder eine Art Familienrat statt. Die Kommerzienrätin war erschienen, um über den skandalösen Auftritt im Theater zu berichten. Leonie und Gabriele konnten der wahrheitsgetreuen Erzählung nur beistimmen, und Ullis Verteidiger, Eduard, war auf dem Comptoir; aber Herr von Holder war zugegen und maß, die Hände auf dem Rücken, in äußerst übler Laune das Zimmer. Frau von Holder ruhte wieder auf der Chaiselongue; sie sah abgespannt und verstimmt aus.

In diesen Kreis trat Ulli ahnungslos, blieb aber verlegen stehen; sie hatte die Tante allein zu finden erwartet.

Die Kommerzienrätin dachte: »An diesem Mädchen kann gar nicht genug erzogen werden.« Und deshalb fing sie gleich mit dem Erziehen an.

»Nun, liebe Ulrike, wenn man in ein Zimmer tritt und sieht eine fremde Dame, so denke ich, daß man ein Kompliment macht, und wenn man diese Dame am Abend zuvor sehr geärgert hat, so denke ich, kann's nicht schaden, wenn man sie um Verzeihung bittet.«

Ulli sah verblüfft aus und blickte einen nach dem andern verwundert an; sie war auf einen solchen Empfang nicht vorbereitet.

»Wenn du die Augen so aufreißest, siehst du nicht sehr klug aus, Ulrike. So komm doch näher. Weißt du denn gar nicht, wie sich ein anständiges Mädchen beträgt?«

Frau von Holder empfand das Taktlose dieser neuen Erziehungsmethode und mengte sich ein; sie sprach herzlicher als sonst mit dem armen Kinde. »Willst du mir vielleicht etwas sagen, mein Herz?«

Die Kommerzienrätin stand ärgerlich auf und sagte halblaut zu ihrem Bruder: »Cäcilie kann's durchaus nicht vertragen, wenn man einmal in ihre Erziehung eingreift.«

Die freundlichen Worte der Tante thaten Ulli ordentlich wohl; sie lief zu ihr hin und reichte ihr den Brief. »Mein Onkel hat mir geschrieben, ich soll zu ihm kommen, und ich soll ihn Vater nennen, und für Andreas und Susanne will er auch sorgen,« erzählte sie eifrig.

Bei diesen Worten kam die Kommerzienrätin gleich näher. »Das wäre ja eine Fügung des Himmels, wenn sich ein Onkel gefunden hätte,« sagte sie.

»Du hast von diesem Onkel niemals gesprochen, Ulrike,« versetzte die Tante. »Ist es ein Bruder deiner verstorbenen Mutter?«

»Nein, es ist mein Großonkel. Wie ich ein kleines Mädchen war, besuchte er uns, da war's schon ein alter Mann mit weißen Haaren. Jetzt hat er das Podagra; er konnte den Brief nicht einmal selbst schreiben.«

Herr von Holder hatte sich genähert. »Wie heißt denn dieser gefundene Onkel?«

»Er ist der Freiherr von Gültling.«

»Und weißt du etwas über seine Verhältnisse?«

»Andreas sagt, er wäre der reichste Mann in Oesterreich; aber vielleicht übertreibt der Andreas. Die Herrschaft Brandenstein gehört ihm.«

»Na, da gratuliere ich dir,« versetzte Herr von Holder, und setzte in Gedanken hinzu: »Und uns gratuliere ich auch.«

»Da wären wir ja heraus,« meinte die Kommerzienrätin und klopfte Ulli ganz freundlich auf den Kopf.

»Ich soll wohl wieder fortgeschickt werden?« fragte Ulli stockend.

Frau von Holder blickte von dem Briefe auf, den sie durchgelesen. »Ein solches Anerbieten darf man nicht zurückweisen,« sagte sie. »Du bist ganz arm, und wir müssen an deine Zukunft denken.«

Ulli wurde bleich; die Thränen traten ihr in die Augen. »Die Tante hat mich nicht lieb,« dachte sie; »die Tante will mich nicht behalten.«

Die beiden Frauen merkten gleich, daß Ulli traurig wurde, und die Kommerzienrätin zog sie voll Mitleid an sich: »Du willst wohl die Tante nicht verlassen?« fragte sie.

Trotzig befreite sich Ulli; ihr Auge hing angstvoll an dem Gesicht der Tante.

»Mein liebes Kind,« sprach diese herzlich, »mir scheint es ein großes Glück, daß du einen reichen Onkel hast, der für dich zu sorgen verspricht. Es wäre ein Unrecht, seine Güte zurückzuweisen. Bei uns hättest du ohnedies nicht bleiben können, denn ... Aber was ist dir, Ulrike?«

Mit einem Wehruf war Ulli aus dem Zimmer gestürzt.

Die Verwandten sahen sich erschreckt an. Was war ihr geschehen? Keiner hatte es begriffen.

»Ich ängstige mich, daß sie gleich, wie sie ist, aus dem Hause läuft!« rief Frau von Holder zitternd. »Leonie, sieh doch nach, ob sie in ihrer Stube ist.«

»Ich glaube, Ulrike liebt Edchen,« meinte jetzt die Kommerzienrätin und war von ihrem Scharfsinne selbst überrascht.

»Oder den Ritter vom Strahl!« rief Gabriele und errötete dann über die unpassende Bemerkung.

Herr von Holder setzte sich und fand noch nicht das rechte Wort, um auch etwas zu sagen.

In zwei Sekunden war Leonie zurück. »Sie liegt auf der Erde und schluchzt,« berichtete sie.

Die beiden jungen Mädchen sahen sich an und lächelten. Ulrikes Benehmen erschien zu albern; sie konnten nur darüber lächeln.

Herr von Holder hatte sich gefaßt. »Dieses Mädchen ist wirklich unter uns gefahren, wie ein Raubvogel in einen Hühnerhof! – Was sagst du zu dieser unnatürlichen Heftigkeit, Cäcilie?«

»Ich bitte dich, Wilhelm, verschone mich mit Vorwürfen,« bat die kranke Frau. »Du weißt, daß ich schon wegen eines Pensionats nach Zürich geschrieben habe.«

»Aber liebes Kind, ich werde dich doch nicht für die Ungezogenheiten deiner Nichte verantwortlich machen!« begütigte Herr von Holder. »Mir ist nur ein solches Betragen geradezu unerklärlich.«

»Sie wird euch noch mehr Rätsel zu raten geben,« versetzte die Kommerzienrätin sehr weise; sie hatte sich zu ihren Nichten gesetzt, die sie zärtlich anblickte; sie war nicht immer mit der Erziehung ihrer Schwägerin einverstanden gewesen. »Aber einer solchen kleinen Furie gegenüber lernt man die lieben Mädchen sehr schätzen,« dachte sie.

Frau von Holder lag von dem Schreck ganz erschöpft in den Kissen; sie fühlte sich auch beunruhigt, was Ulli weiter anstellen würde.

»Ich will selbst einmal nach ihr sehen,« versetzte die Kommerzienrätin und ging hinaus.

Als sie gleich darauf wiederkehrte, schlug bei ihrem Anblick Frau von Holder die Hände zusammen. »Um Gotteswillen! Was bedeutet denn das?«

»Ja, was sagt ihr dazu?« rief die Kommerzienrätin und schwenkte in jeder Hand einen von Ullis langen dicken Zöpfen.

»So etwas ist allerdings noch nicht dagewesen,« sagte Herr von Holder. »Leonie, hole der Mama die Tropfen; sie wird ihren Brustkrampf bekommen.«

»Ich bin nur neugierig, ob Edchen das auch entschuldigen wird,« meinte die Kommerzienrätin. »Nur schade, daß die Zöpfe nicht gleich euern Mädchen anwachsen können.«

Was für ein böser Geist war mit einemmal in Ulli gefahren? War denn eine Ursache dazu, daß sie so verzweifelt aufschrie und sich auf den Boden warf und schluchzte, als sollte ihr das Herz brechen, um schließlich auch noch die Zöpfe abzuschneiden?

Sie hätte es wohl selbst kaum sagen können, wie plötzlich ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Liebe einer Mutter und nach Geschwisterliebe sie gepackt hatte. Sie war davon geradezu überwältigt worden.

Als sie soeben noch die Vorteile des Dresdener Aufenthalts erwog, hatte sie mehr an das gute Essen und das Theater, als an die Liebe zu ihren Verwandten gedacht. So recht innig hatte sie sich weder an jemand angeschlossen, noch war man ihr mit herzgewinnender Freundlichkeit entgegengekommen; sie hätte wohl fühlen können, daß sie nur geduldet wurde, ja daß sie fast eine Last für die Familie war.

Aber Ulli vermißte Liebe noch nicht. Ihrem Vater war sie gleichgültig, Susanne zankte nur mit ihr, Andreas allein bezeigte ihr Anhänglichkeit; so war sie mit Liebe nicht verwöhnt worden, und Dresden erschien ihr neben Wolfshagen wie ein Paradies.

Fast triumphierend, mit dem stolzen Gefühl, daß sie nicht ganz verlassen dastehe, war sie mit des Onkels Brief zu ihrer Tante gekommen. Daß man sie diesem Onkel abtreten würde, das erwartete sie nicht. Hier aber sah sie's auf jedem Gesichte geschrieben: »Das ist ja ein guter Ausweg, so werden wir den Störenfried los.« Und von der Tante mußte sie hören, daß es schon beschlossene Sache war, sie fortzuschicken.

Da, mit einmal wurde ihr's klar: In diesem Hause war niemand, der sie liebte; nicht einmal die leibliche Tante hatte sie lieb. Bei Ullis starkem Empfinden war diese Erkenntnis gleich einem heftigen Schmerze. Wie eine zarte junge Pflanze in dem neuen Boden, in den sie versetzt worden ist, ihre feinen Wurzelfasern ausstreckt, um sich darin zu festigen, so hatte auch Ulli angefangen, hier Wurzel zu fassen; jetzt war ihr, als habe eine grausame Hand sie ausgerissen und fortgeworfen, und sie müsse nach Liebe verschmachtend, zu Grunde gehen.

Ihre Verzweiflung führte sie auf den höchst sonderbaren Einfall, ihre Zöpfe abzuschneiden. Sie fühlte nur, daß sie etwas, thun, daß diesem Schmerze ein Opfer fallen müsse, und dieses Opfer waren die wundervollen Haare.

Der Schreck und das Staunen der Kommerzienrätin brachten das thörichte Kind zum Bewußtsein; jetzt folgte dem Zopfabschneiden Reue und Scham. Nicht etwa, daß Ulli bereute, sich dieser Zierde beraubt zu haben; sie hatte immer einen stillen Haß gegen ihre Haare genährt und sie in Wut und ungeduldig oft unbarmherzig gerauft, weil das Kämmen Mühe kostete. Nein, es war das Bewußtsein, daß sie etwas ungewöhnlich Dummes angestellt habe.

Am liebsten wäre sie in eine finstere Höhle gekrochen und nicht wieder zum Vorschein gekommen; aber sie blieb sich nicht mehr lange selbst überlassen; Madame Bontemps trat ein; auch ihr war ein solcher Fall noch nicht vorgekommen.

»Das nächste Mal, wenn Sie wütend sind, werden Sie sich wohl die Nase abschneiden,« sagte sie. »Von den Haaren haben Sie nicht mehr viel übriggelassen. Na, Sie können's mit Ihrer Heftigkeit noch weit bringen.«

Dabei fuhr die Bürste energisch über das zackig gekürzte Haar, das sich, weil es die Zöpfe nicht mehr hinunterzogen, ringsum aufbauschte.

Ulli verteidigte sich mit keinem Worte; erst als die Tischglocke ertönte, klammerte sie sich krampfhaft an die Bonne an. »Ich fürchte mich,« sagte sie leise.

Die Bonne sah sich genötigt, das arme Kind bis an ihren Platz zu geleiten.

Mit geschwollenen Augenlidern, einer dicken Nase und roten Flecken auf den Backen war sie kein angenehmer Anblick; und doch, sobald sie nur einmal aufblickte, begegnete sie geWiß irgend einem auf sie gerichteten Auge. Gesprochen wurde noch weniger als sonst; es lag ein Bann auf der Gesellschaft. –

Dieser Bann wurde von Ullis Seele nicht wieder genommen. Aus dem Züricher Pensionat des Fräulein Flodin war die Antwort gekommen, daß Ulli zu jeder Zeit eintreten könne. Ein kleine Ausstattung für sie noch anzuschaffen, bedurfte es nur weniger Tage.

Frau von Holder hatte mit Ulli gesprochen. »Dein Onkel hat sich meiner Ansicht gefügt,« sagte sie, »und giebt zu, daß du erst ein Jahr lang in einem Pensionat die notwendigste Bildung erhältst, ehe du in sein Haus eintrittst.«

Auf Ullis Gesicht malte sich, als die Tante von ihrer Korrespondenz mit dem Freiherrn sprach, eine so tödliche Angst, daß sie sogleich hinzusetzte: »Wegen des Zopfabschneidens habe ich deinem Onkel natürlich nichts geschrieben; ich hätte mich geschämt zu bekennen, wessen meine Nichte fähig ist.« Dann wurde ihre Stimme herzlicher; sie sagte, daß sie leidend sei, und daß die ganze Familie, Eduard ausgenommen, für mehrere Jahre eine Art Nomadenleben führen werde, was für Ulli sehr schädlich sein würde; auch knüpfte sie ernste Ermahnungen daran; aber Ulli nahm der Tante Worte mit einer Stumpfheit und Teilnahmlosigkeit auf, die diese verletzte. Leider vermochten kühle Ermahnungen nicht das Thor von Ullis Herz zu öffnen, das bei einem wahrhaft liebevollen Worte weit aufgegangen wäre. Liebe war ihr nötiger als Kenntnisse und Bildung, und diese Liebe hatte sie hier nicht gefunden.

Beim Abschied jedoch schien es, als wolle man Ulli mit Freundlichkeit überhäufen. Jeder brachte ihr ein Andenken.

Die Kommerzienrätin, wie immer praktisch, spendete einen ihrer warmen Mäntel für die kalte Nachtreise. Herr von Holder hatte schon eine prachtvolle Reisedecke gekauft und Miß Kirk brachte ein Buchzeichen mit den gestickten Worten: » The Lord bless you«. Leonie und Gabriele schenkten wohlriechende Kißchen und Täschchen, mit denen Ulli nur nichts anzufangen wußte.

Im letzten Augenblicke durchsuchten sie sogar noch einmal ihre Nippes; sie hätten Ulli gern noch ein besonders hübsches Andenken geschenkt. Sie umarmten und küßten sie herzlich, und hätte es die Mama wegen des scharfen Windes nicht verboten, sie würden gleich mit hinunter in den Hof gelaufen sein. So standen sie am Fenster, warfen Kußhändchen und wehten mit den Taschentüchern. Denn sie waren so ungeheuer vergnügt, daß Ulli in ein Pensionat geschickt wurde.

Frau von Holder hatte der Abschied sehr angegriffen. Fühlte sie sich auch nicht dafür verantwortlich, daß Ulli schlecht erzogen war, so blieb diese doch ihre Nichte und trug den Namen ihres edeln Geschlechts. Bei Ullis Charakter bangte ihr vor der Zukunft. Es schien ihr auch unpassend, ein so junges unerfahrenes Mädchen eine so weite Reise allein machen zu lassen; sie hätte ihr gern die Bonne mitgegeben; aber bei der Auflösung des großen Hausstandes konnte sie eine so treue und bewährte Person nicht entbehren.

Die Bonne brachte Ulli auf die Bahn, wo sie Eduard schon trafen. Er belohnte soeben den Schaffner mit einem sehr hohen Trinkgelde, damit er die junge Dame nicht nur selbst gut versorge, sondern sie in Hof auch dem zweiten Schaffner anempfehle. »Das Frühstück muß ihr ins Coupé gebracht werden,« fuhr er fort; »sie ist noch zu schüchtern, es sich selbst zu bestellen. An den Stationsvorsteher in Lindau habe ich schon telegraphiert, damit sie auch in der Schweiz Schutz findet.«

»Ulli,« sagte er dann herzlich und setzte sich einen Augenblick neben sie ins Coupé. »Heute mußt du mir's aber nicht übelnehmen, wenn ich dir ein paar Süßigkeiten bringe.« Und dabei setzte er eine elegante Bonbonniere auf ihren Muff.

Ullis Augen leuchteten nicht auf. »Ich danke,« sagte sie so gleichgültig, wie sie seit dem großen Schmerze immer geredet hatte.

Eduard wollte noch etwas sagen; aber der Schaffner erschien, coupierte das Billet und schloß die Thür.

»Grüßen Sie mir meine Schweiz!« rief die Bonne und trocknete sich die Augen; sie würde gern mit Ulli getauscht haben.

Da drängte sich durch das herumstehende Publikum ein Freiwilliger; das Binocle auf der Nase, ein riesenhaftes Bouquet in der Hand, starrte er in jedes Coupé erster und zweiter Klasse, fiel jedermann beschwerlich und stieß überall mit seinem Bouquet an. Jetzt erblickte er Ullis Begleiter und wußte, daß er die Gesuchte gefunden habe. Er sprang auf das Trittbrett, legte das Bouquet neben Ulli, die nicht zugriff, und schnarrte höflich: »Mein gnädiges Fräulein, erlauben Sie, daß ich Ihnen eine glückliche Reise wünsche. Auf Wiedersehen!«

Nun hüpfte er hinunter, lächelte, verbeugte sich und betrachtete sich selbst als edeln Charakter.

Ulli starrte ihn erst ganz verblüfft an; auf einmal stürzten ihr Thränen aus den Augen, und als sich der Zug in Bewegung setzte, bog sie sich weit hinaus. »Adieu, Eduard!« rief sie und reichte ihm die Hand. »Adieu, Madame! Ich danke auch für die Blumen, Herr von Reiffenstein.« Und unter Thränen glänzte das sonnige Lachen eines guten Kindes.


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