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Ulli unter den Jammerspechten.

Ulli stand auf dem großen Bahnhofe in Zürich einen Augenblick verwirrt. Weil sie nicht den Mut fand einen Träger anzurufen, mußte sie ihr Handgepäck selbst tragen, und die geleerte Bonbonniere und den verwelkten Blumenstrauß dazu. Sie folgte der Richtung des Menschenstroms. Nahe dem Ausgang hörte sie: »Ulrike de Watteville aus Dresden?«

»Die bin ich!« rief Ulli lebhaft; und es war ihr, als sei sie aus der Gefahr, verloren zu gehen, errettet.

Fräulein Renate Flodin trat auf sie zu und nahm ihr das Bouquet und die Bonbonniere ab; die schwereren Gegenstände wollte Ulli aus Bescheidenheit behalten, bis sie einem Dienstmanne übergeben wurden.

Sie gingen nun durch die prachtvolle Bahnhofstraße, wo sich Hotel an Hotel reiht; dann sich nach links wendend, überschritten sie die Limmat, eilten rechts am Quai entlang, stiegen in einem engern Gäßchen bergauf und erreichten, nachdem sie noch mehrere Straßen durchwandert hatten, eine Gartenmauer.

Fräulein Renate sprach wenig. Ullis Größe schien sie erschreckt zu haben. »Du bist ja ein ungewöhnlich großes Mädchen,« sagte sie und betrachtete Ulli mit mißbilligenden Blicken. »So ein großes Mädchen ist mir noch gar nicht vorgekommen. Du spielst wohl schon die Dame?«

Weil Ulli nicht wußte, was sie darauf erwidern sollte, schwieg sie und Fräulein Renate wies auf das Bouquet, das jetzt der Dienstmann trug.

»Wer hat dir denn das große Ding gegeben?« fragte sie ärgerlich.

»Herr von Reiffenstein.«

»Ein Verwandter?«

»Nein.«

Darauf trat eine längere Pause ein; Fräulein Renate, eine kleine rundliche Dame, blickte Ulli prüfend von der Seite an.

»Hat dir Herr von Reiffenstein auch die Bonbonniere geschenkt?«

»Nein, die gab mir Eduard, mein Vetter.«

»Du bist wohl an den Verkehr mit jungen Herren gewöhnt? – Hier bei uns giebt's aber keine jungen Herren.«

Ulli würde gern gesagt haben: »Das ist mir ja ganz gleich;« aber sie glaubte, das sei am Ende nicht höflich, und darum schwieg sie. Fräulein Renate schloß daraus, daß sie unzufrieden wäre.

Die Gartenthür öffnete sich, nachdem Fräulein Renate geläutet hatte, anscheinend von selbst und Ulli trat in einen Garten, der trotz der winterlichen Zeit, einen fast sommerlichen Eindruck machte; Nadelbäume, Lebensbäume und mannigfaltige immergrüne Sträucher standen darin, und grüne Tannenreiser bedeckten nicht nur die Beete, sondern auch die an den Mauern gezogenen Weinreben.

Das weiß angestrichene Haus mit breit vorspringendem Dache und hellgrünen Jalousien machte gleichfalls einen freundlichen Eindruck.

Ulli wurde durch eine einfache aber höchst saubere Parterrestube geführt, in der junge Mädchen mit Handarbeiten beschäftigt waren. Daß sich alle neugierig umwendeten, war natürlich, aber es machte Ulli sehr verlegen.

In dem nächsten Zimmer trat ihnen Fräulein Juliane Flodin, die eigentliche Leiterin des Instituts entgegen; sie schien in jeder Beziehung das vollständige Gegenstück ihrer Schwester.

Fräulein Renate hatte verschwommene, weichliche Züge, aber ein äußerst gutmütiges Gesicht. Alles an ihr war hell, rötlich, rundlich, was nur irgend hell, rötlich und rundlich sein konnte. Das rötliche Haar war sorgfältig in kleine Löckchen gekräuselt. Putz schien sie überhaupt zu lieben und bunte lichte Farben den dunkeln vorzuziehen; die kleinen runden Händchen sahen nicht aus, als verständen sie energisch zuzugreifen; überhaupt machte sie den Eindruck einer unselbständigen, schüchternen und sehr ängstlichen Person. Es schien, daß sie ihre Schwester Juliane, die sich jetzt von ihrem Schreibtische erhob, mit einem Respekt betrachtete, der an Furcht grenzte.

Fräulein Juliane war ganz einfach in Schwarz gekleidet, ohne Schmuck und Zierat. Ihr dunkles Haar war glatt gescheitelt; der Ausdruck ihrer Augen ernst; aber durch schwarze Brauen, die über der Nase fast zusammengewachsen waren, wurde er streng. So war auch ihr Auftreten sicher und fest; man sah ihr gleich an, daß sie das Haus regierte. Ihre Stimme hatte einen tiefen Klang.

Offenbar wünschte sie sich über Ullis Wesen ein wenig zu unterrichten; sie nötigte sie neben sich aufs Sofa und ließ für sie Thee hereinbringen.

Ullis Eigentümlichkeiten kamen aber bei diesem Examen nicht zum Vorschein; sie beantwortete die an sie gerichteten Fragen, bedauerte im stillen, nicht ungestört ihren Appetit stillen zu können, und horchte zugleich auf das Geräusch der jugendlichen Stimmen nebenan.

Sie hatte auf dieser Reise sehr gute Vorsätze gefaßt; sie wünschte so schnell wie möglich gebildet zu werden, damit sie bald nach Wien zu ihrem Onkel gehen dürfe. Der Onkel war das Ideal ihrer Kindheit gewesen; jetzt wurde er das Ziel ihrer Sehnsucht. Mit ihrer reichen Phantasie schuf sie sich ein Leben voll Glanz, Glück und Liebe an seiner Seite, und ihr heißester Wunsch war, dieses Leben bald verwirklicht zu sehen.

Beim Abendbrot führte sie Fräulein Juliane selbst herein und stellte sie der versammelten jungen Schar vor; mit der französischen und englischen Gouvernante wurde Ulli noch besonders bekannt gemacht, und daß sie diese beiden Sprachen nicht verstand, kam dabei an den Tag. Fräulein Juliane hatte aber nach dem Briefe der Frau von Holder erwartet, daß Ulli weder Sprachkenntnisse noch Schulkenntnisse mangelten.

Das Abendbrot kam Ulli, die in dem reichen Hause der Tante verwöhnt worden war, einfach, fast zu einfach vor.

Die Abendstunden wurden mit ein wenig Musik – Ulli mußte wieder bekennen, daß sie darin nie unterrichtet worden war – und Gesellschaftsspielen ausgefüllt. Um neun Uhr wurden die Kinder und um zehn Uhr die größern Mädchen in die Schlafzimmer geschickt.

Ulli sollte mit vier jungen Mädchen zusammenschlafen.

Mit großer Schnelligkeit, und ohne zu schwatzen, entkleideten sich ihre Gefährtinnen, und als die französische Gouvernante nach fünf Minuten noch einmal hereinschaute und ihnen » Bon soir mes enfants« zurief, antwortete ihr ein Chor von fünf müden Stimmen; sie löschte die Lampe aus und schloß die Thür beim Hinausgehen ab.

Ulli war nach der langen Reise sehr müde; sie hatte gefürchtet, daß die jungen Mädchen sie ausfragen und mit ihr plaudern würden, daher war sie über die Ruhe sehr zufrieden, und ihre Vorstellungen gingen unmittelbar in Träume über.

Plötzlich weckte sie ein Lichtschein; sie suchte sich zu ermuntern, konnte aber die schweren Lider kaum heben; es war ihr, als vernehme sie Flüstern und leises Hin- und Herhuschen.

Sie setzte sich auf und gewahrte vier Gestalten in langen Nachtgewändern, die in Flanelldecken eingehüllt umherliefen.

Mitten in der Stube auf einer Fußbank stand ein winziges Wachslichtchen in einer Nußschale, fünf Stühle waren im Kreise darum gestellt.

»Was ist denn los?« fragte Ulli verschlafen.

Eine der in Decken Gewickelten trat an ihr Bett. »Ulrike von Watteville,« sagte sie, »ziehe deine Strümpfe an, hänge deine Decke um und erhebe dich. Der feierlichste Augenblick deines Lebens ist angebrochen.«

»Was soll ich denn?« fragte Ulli mürrisch.

»Du sollst in den Geheimbund der Jammerspechte aufgenommen werden; also erhebe dich.«

Die Neugierde überwand jetzt Ullis Müdigkeit; sie sprang aus dem Bette, hüllte sich in die Decke und trat in den kleinen Kreis; die jungen Mädchen saßen auf den Stühlen bei der sehr schwachen Beleuchtung des Lichtstümpchens.

»Zuerst die Vorstellung der Jammerspechte,« begann das Mädchen, das Ulli geweckt hatte. Sie deutete auf ein kleines dickes Mädchen und sagte: »Der dicke Specht – Bertha von Tuchlingen aus Unterwalden. Der magere Specht – Jenny Wiß aus Karlsruhe. Der rote Specht – Nina von Ganzoni aus Thonon. Der lange Specht bin ich selbst – Ida Zachmann aus Konstanz. Jenny Wiß führt das Präsidium.«

Jenny, ein schlankes Mädchen mit einem klugen Gesicht, stand auf, hüllte sich fester in die Decke und schickte sich an, eine feierliche Rede zu halten.

»Ulrike de Watteville, du kannst von Glück sagen, daß du mit uns zusammenschläfst. Du machst ein Gesicht, als verständest du mich nicht. So wisse, du bist in die Gesellschaft der Jammerspechte geraten, und diese edeln Seelen sind bereit, dich in ihren Geheimbund aufzunehmen.«

Am Fenster schlug von draußen klirrend ein Steinchen an.

»Ulrike de Wattewille, jetzt wirst du Gelegenheit haben, die Vorteile des Geheimbundes kennen zu lernen,« versetzte die Präsidentin mit großer Würde.

Der sogenannte dicke Specht Bertha lief an das Fenster, öffnete und ließ einen Bindfaden hinunter, an dem sie dann ein Körbchen in die Höhe zog, und ein Paketchen herausnahm, worauf sie das Körbchen wieder hinabließ, den Bindfaden versteckte und das Fenster schloß.

Die Mädchen guckten neugierig zu, als sie auspackte.

»Lauter Fleischpastetchen,« meinte Ida ein wenig mißvergnügt; »süße Pastetchen wären mir lieber.«

Die Pastetchen wurden verteilt und Ulli ebenso reichlich wie jede andre damit bedacht. Daß diese Näschereien nicht auf loyale Weise in das Schlafzimmer der Pensionärinnen gelangten, hätte selbst die unerfahrene Ulli erraten können. Aber ein ewig hungriger Magen, Ullis vorherrschendes Leiden, ist ein böser Tyrann und unterdrückt selbst Gewissensskrupeln. Zu ihrer Schande muß ich sagen, daß sie nur bedauerte, nicht noch mal soviel Pasteten schmausen zu können.

»Hat's geschmeckt?« fragte Bertha; Ulli nickte befriedigt.

»Merkst du nun, wozu unser Geheimbund nützt? Wenn du ein Jammerspecht bist, kannst du alle Abend solche gute Dinge verzehren,« sagte Nina.

»Was muß ich als ein Jammerspecht thun?«

»Das wird dir die Präsidentin sagen.«

Jenny schluckte den letzten Bissen hinunter, die Präsidentin bekam immer die größte Portion.

»Vernimm zuvor,« sprach sie »daß du ins Hotel zum kalten Fegefeuer eingekehrt bist, allwo dich der Obergeist durch die Seelenläuterung von allen Sünden reinigen wird.«

»Davon verstehe ich kein Wort.«

»Ich werde dich erleuchten,« fuhr Jenny fort. »Unser Pensionat nennen wir das Fegefeuer; der Obergeist ist Fräulein Juliane; Fräulein Renate wird Angstseele genannt, und unser Leben hier mit Seelenläuterung übersetzt; uns selbst aber nennen wir Jammerspechte. Es ist jetzt an dem Kassierer, das Wort zu ergreifen.«

Nina von Ganzoni stand auf. »Ulrike de Watteville, bist du im Besitz von Moneten?« fragte sie.

»Was ist das?« fragte Ulli dagegen.

»Wenn dir das Wort ›Moneten‹ fremd ist, so scheinst du immer viel Moneten besessen zu haben; Moneten heißt auf deutsch Geld und an Geld denkt man erst, wenn's fehlt.«

Ulli erhob sich. »Ich habe Moneten,« sagte sie, »aber wie viel, das weiß ich nicht.«

»Entweder bist du sehr grün oder eine reiche Erbin,« bemerkte Ida weise.

Ulli war zu eifrig an ihrer Garderobe beschäftigt, um zu antworten. »Habt ihr eine Schere!« fragte sie. »Die Bonne hat das Beutelchen in meinen Unterrock eingenäht.«

Die Schere fand sich sofort; Ulli brachte ein grünseidenes gehäkeltes Beutelchen herbei, das ihr die Bonne gearbeitet hatte, und schüttete auf ihren Schoß fünf Zwanzigfrankstücke aus.

Die Mädchen machten große Augen.

»Hundert Frank!« riefen sie entzückt.

»In drei Monaten schickt mir mein Onkel wieder hundert Frank, das hat er versprochen, und mein Onkel hält sein Wort.«

»Du Glückskind!« rief Bertha. »So viel Geld hat keine von uns!«

»Wie viele gute Sachen können wir um hundert Frank anschaffen!« meinte Ida.

»Aber wir müssen das Geld einteilen,« versetzte die vorsichtige Kassiererin. »Jeden Tag einen Frank; das muß reichen. In unsrer Kasse ist ohnehin nicht mehr viel.«

»Wir wollen Ulrike ›Goldspecht‹ taufen.«

»Ja, Goldspecht soll sie heißen,« stimmten die andern dem Vorschlag bei.

Ulli kam sich groß vor; die fünf kleinen glänzenden Dinger, die noch in ihrem Schoße lagen, hatten sie zu Ansehen gebracht. Und alle Abend einen Nachtisch von Pasteten, das war auch nicht zu verachten.

»Ich will ein Jammerspecht werden,« erklärte sie bestimmt.

»Gut; dann mußt du zuerst schwören, unsern Geheimbund an keine lebende Seele zu verraten. Schwöre Schweigen bis ans Grab.«

Diese Anspielungen auf Schwören, Schweigen und Grab störten Ullis Behagen; es kamen ihr auch Bedenken. »Wenn mich aber jemand fragt, ob ich ein Jammerspecht bin, muß ich's doch sagen?«

»Um keinen Preis!« riefen die Mädchen eifrig. »Willst du uns verraten? – Das wäre abscheulich.«

»Wenn wir nicht mehr das bißchen Verschwörung haben sollen, halt's der Kuckuck aus,« meinte Bertha. »Du willst mit uns Pasteten essen, Ulrike, und dann gehen und uns verklatschen?« fragte Ida.

»Ich will nicht klatschen,« versetzte Ulli fest. »Klatschen ist gemein; aber ich will auch nicht lügen; ich lüge niemals.«

»Da haben wir's,« machte Nina ganz verzweifelt. »Und die besitzt gerade das viele Geld!«

Die Jammerspechte sahen sich hilflos an. Ullis Benehmen war ihnen vollkommen unverständlich. Endlich kam Ida auf einen Ausweg; sie schlug vor, die Beratung auf den nächsten Abend zu vertagen, damit sich Ullis Verstand zuvor durch einen gesunden Schlaf kräftigen möge.

Dieser Vorschlag fand Anklang; jedes der jungen Mädchen huschte ins Bett; das Lichtchen wurde ausgelöscht, und nach wenig Minuten war es im Zimmer so still, wie es die strengste Pensionsvorsteherin nur wünschen konnte.


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