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Ullis Eintritt in eine neue Welt.

Die Villa des Bankiers von Holder – er hatte sich im letzten Jahre adeln lassen – lag in Dresden auf der Schillerstraße, die sich in der Neustadt von dem Linkschen Bade nach einer waldreichen Höhe, dem ›Weißen Hirsch‹, hinzieht. Ein umfangreicher Garten führte terrassenförmig zu der vorüberströmenden Elbe. Die Familie bewohnte das prachtvoll eingerichtete Haus ganz allein.

Frau von Holder saß in ihrem Ankleidezimmer; sie war in tiefe Trauergewänder gehüllt und sah bleich und recht niedergeschlagen aus; soeben hatte sie noch einmal in der Kreuz-Zeitung die mit einem ungewöhnlich breiten Trauerrande versehene Todesanzeige ihres Bruders durchgelesen: »Im Namen der schwergeprüften Tochter, Baroneß Ulrike de Watteville, zeigen wir das Ableben unsres teuren, unvergeßlichen Bruders, des Hauptes unsrer Familie an.

»Auf seinem Stammschlosse Wolfshagen ist der letzte Baron de Watteville, Wolf Eberhard Amadeus Konrad Gerhard, am 21. Dezember verblichen, und am 24. desselben Monats sind seine sterblichen Überreste mit allen seinem Range und Ansehen schuldigen Feierlichkeiten in der Familiengruft beigesetzt worden.

Cäcilie v. Holder, geb. Baroneß de Watteville.
Wilhelm v. Holder, Ritter etc.«

Das klang freilich großartig; die Leute in Wolfshagen würden verwundert die Köpfe geschüttelt haben, wenn sie das gelesen hätten, und Frau v. Holder konnte sich auch ganz gut vorstellen, wie armselig es bei dem Begräbnis ihres Bruders zugegangen sein werde; aber auch sie litt an dem Familienstolze der Wattevilles und glaubte, sie wäre es dem Verstorbenen schuldig, die Welt zu täuschen – ja nicht nur die Welt, selbst ihrem Gatten hatte sie niemals gestanden, wie arm sie war; aber jetzt mußte sie ihm die Wahrheit sagen. Das alles lag schwer auf ihrem Herzen. Die Hand sank herab, das Zeitungsblatt fiel auf ihren Schoß, und trübselig schaute sie vor sich hin. Sie dachte auch des Bruders, der unversöhnt gestorben war, und warf sich vor, daß sie die Versöhnung zu nachlässig gesucht habe. »Ich ließ mich zu schnell abschrecken,« dachte sie. »Ich fühlte mich tief gekränkt von ihm; aber ich hätte immer von neuem an ihn schreiben sollen; ich hätte Susannen Geld für ihn und das Kind schicken sollen. Ich allein wußte ja, wie unsäglich arm er gewesen ist; geWiß hat's ihm am Notwendigsten gemangelt und er ist in bitterer Armut gestorben!« Sie seufzte. Wohin sie auch die Gedanken wenden mochte, wie der Endreim einer Strophe kam immer wieder über ihre Lippen: »In bitterer Armut gestorben!« Es war wie ein Stachel, der sich jedesmal tiefer ins Fleisch drückte.

»Nun ist's zu spät, für ihn etwas zu thun; ich kann nur für das Kind sorgen.« Der Gedanke an das verwahrloste Mädchen machte ihr auch Kummer; sie nahm es sehr ungern in ihr Haus. Ihre Töchter waren schon erzogen, und wie sie glaubte, ausgezeichnet erzogene junge Damen. »Ulrike,« dachte sie, »wird zu ihnen passen wie eine Krähe unter weiße Tauben.« Es war ihr auch sehr peinlich, von ihrem Manne ein Opfer für die eigne Familie zu verlangen. Dazu kam, daß sie stets leidend war; Kränklichkeit erschwert jeden Entschluß. Sie legte die feine Hand über das bleiche Gesicht und blieb in traurige Gedanken versunken.

Da wurden die schweren Falten des Thürvorhangs zurückgeschoben und leise, daß man ihre Schritte auf dem türkischen Teppiche nicht hörte, traten zwei junge Mädchen ein; sie waren zwar schon erwachsen, sahen aber wie zarte Püppchen aus, sorgsam gepflegt und vor jedem rauhen Hauche behütet. Man mußte gleich denken: »was für artige kleine Mädchen!« Das war der Eindruck, den sie machten; darüber kam man nicht fort, obgleich sie schon 16 und 17 Jahre zählten. Sie waren nicht häßlich – auch nicht sonderlich hübsch; alles an ihnen war hell; lichtblondes Haar, lichtblonde Brauen und Wimpern, blasser Teint und blaßblaue Augen; durch etwas vorstehende Oberzähne glichen sie ein wenig weißen Häschen; sie waren ebenfalls in Trauerkleidern.

Frau von Holder änderte ihre Miene sofort; sie wußte sich zu beherrschen.

»Verzeih, Mama,« sagte Leonie, die älteste mit einem zarten Stimmchen; »wir wollten uns dir in den neuen Kleidern vorstellen, der Schneider verlangt es. Bist du damit zufrieden?«

Beide Mädchen drehten sich langsam vor der Mutter, damit sie die Anzüge von jeder Seite prüfen konnte. Sie betrachtete ihre Töchter sehr aufmerksam und hatte da und dort eine Kleinigkeit an dem Faltenwurfe auszusetzen; das Anprobieren der Trauerkleider war ein wichtiges Geschäft für alle drei.

Die jungen Mädchen hatten sich noch nicht lange entfernt, als der Bankier eintrat. Er bemerkte sogleich, daß seine Frau sehr angegriffen war. Ihrer Gesundheit wegen war er stets besorgt; alle Jahre wurden Badereisen unternommen, und seit er das Geschäft einem tüchtigen Geschäftsführer übergeben hatte, brachte man die rauhen Monate des Winters öfter in Italien zu.

»Du nimmst dir den Tod deines Bruders zu sehr zu Herzen, liebe Cäcilie,« sagte er und warf sich auf einen Sessel; der arme Sessel spürte das Gewicht des wohlbeleibten Herrn in allen seinen Fugen und seufzte vernehmlich. Frau von Holder seufzte gleichfalls: sie mußte jetzt ihrem Gemahle bekennen, daß ihr Bruder ganz arm gewesen war; sie mußte ihn bitten, seine Tochter in sein Haus aufzunehmen; denn ohne seine Hilfe blieb Ullis Zuflucht ein öffentliches Waisenhaus. Ach, wie schwer fiel ihr diese Demütigung; doppelt schwer, weil ihr Bruder diesen Mann tief beleidigt, und sie selbst, als sie den bürgerlichen Bankier heiratete, sich eingebildet hatte, ihm eine Gnade zu erweisen. Sie liebte es auch, von dem feudalen Stammsitze zu erzählen; aber sie beschrieb ihn so, wie er vor alten Zeiten gewesen war; sie konnte sich nicht entschließen, von dem Ruin und der von allen Enden hereinbrechenden Not zu berichten.

Doch jetzt war die Stunde gekommen, wo sie offen reden mußte. »Ich habe dir etwas zu sagen, Wilhelm,« versetzte sie, stand auf und ging im Zimmer umher.

Der Bankier wunderte sich über ihre Aufregung; dann kam ihm ein Gedanke: »Ich merke schon, was du willst« – er lächelte schlau. »Ich soll das alte Stammschloß in unsre Hände bringen? Nicht wahr? Die kleine Baroneß wird doch einmal heiraten – dann ginge der alte Name verloren – wir aber können ihn ja dem unsern anhängen lassen. Wie? Das klänge nicht so übel: von Holder de Watteville auf Schloß Wolfshagen.«

Die arme Frau war vor ihm stehen geblieben; sie sah totenbleich aus; ihre Hände zitterten merklich: »O Wilhelm,« rief sie, »es klingt, als ob du meiner spotten wolltest!«

Der Bankier fuhr erschreckt auf; er hatte nicht an Spott gedacht. »Um Gottes willen, Cäcilie, du bist krank!«

»Nein, ich bin nicht krank; aber es fällt mir schwer, dir etwas zu gestehen, was ich dir verschwiegen hatte. Mein Bruder war viel ärmer, als du glaubtest; er ist in bitterer Armut gestorben.« Und dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und ihr ganzer Körper bebte wie im Krampf.

Der Bankier sprang auf und führte sie zu einem Sessel, nahm aus einem Ebenholzschränkchen Tropfen, die sie in solchem Zustande zu nehmen gewohnt war; dann rieb er ihre kalten Hände und redete ihr freundlich zu; aber sie merkte trotzdem, daß er verstimmt war; sie fühlte auch das große Unrecht, das sie begangen hatte; zwischen Eheleuten soll kein Geheimnis aufkommen; jemehr sie jedoch ihr Unrecht fühlte, um so weniger konnte sie sich entschließen, es einzugestehen; das erlaubte nun einmal ihr falscher Stolz nicht. Nachdem der Anfall überwunden war, fing er wieder zu reden an; aber er sprach trocken wie ein Geschäftsmann.

»Schloß Wolfshagen gehörte also nicht mehr dem Baron de Watteville?«

»Nein; er besaß nichts als das Recht, bis zu seinem Tode darin zu wohnen.«

»Und seine Tochter hat kein Vermögen?«

Die arme Frau zog die Augen schmerzhaft zusammen; aber es schien ihr ganz unmöglich, die Frage mit einem bloßen »Nein« zu beantworten. »Wenn sich der König von Preußen erinnerte, daß er unsrer Familie verpflichtet ist, würde Ulrike nicht länger ein armes Fräulein sein.«

»So besteht allerdings ihr Vermögen nur in thörichten Einbildungen. – Besitzt sie von mütterlicher Seite nicht nähere Verwandte?«

Diese Worte kränkten die Frau tief; ach, wie schwer fiel es ihr, bei dem reichen Gatten für ein Kind ihrer eignen Familie zu betteln, aber sie unterdrückte, was sie empfand, und entgegnete kalt: »Die Gemahlin meines Bruders war eine von Gültling – kleiner österreichischer Adel, und so viel ich weiß, besaß die Dame keine Geschwister.«

»Ich hoffe, daß ich dich nicht beleidigt habe, Cäcilie? Sei nicht böse; aber es ist mir peinlich, eine so völlig fremde Person ins Haus zu nehmen.«

Tiefverletzt stand Frau von Holder vor ihrem Gatten. »Wenn meine Nichte, weil wir ihr das Haus verschließen, bei irgend einem der von Gültling um Hilfe betteln müßte – oder gar – in das Waisenhaus käme – es wäre die größte Schmach, die mir angethan werden könnte.«

»Aber, mein Kind, echauffiere dich nicht; es ist ganz selbstverständlich, daß wir uns des armen Mädchens annehmen, wenn sie nähere Verwandte nicht besitzt. Du weißt ja, daß es meine Art nun einmal ist, mich gegen alles Neue und Fremde im Anfang zu sträuben. Aber nun wollen wir die Angelegenheit als abgemacht betrachten. Mein Bankier soll dir morgen die Summe auszahlen, die du für die kleine Watteville notwendig hast. – Jetzt zu etwas Erfreulicherem. Ich begegnete soeben Graf Büren. Er läßt dir sein aufrichtiges Beileid versichern und wird sich in diesen Tagen selbst einstellen. – Die Einladung zu dem Bürenschen Neujahrsball hast wohl du schon erhalten? – Büren hatte sich gefreut, daß auf seinem Balle unsre Töchter zum erstenmal in die Gesellschaft eingeführt werden sollten, – aber des Trauerfalles wegen ... Weißt du, ich habe ihm nicht alle Hoffnung benommen; da wir doch mit dem Baron nie verkehrt haben – dachte ich ...«

Seine Stimme klang zuletzt etwas zaghaft; Frau von Holder sah unnahbar aus, »schrecklich vornehm«, wie er diese Miene nannte.

»Was müßten die Leute von mir denken, wenn ich das Andenken meines teuren Bruders so wenig ehrte? Leonie und Gabriele sind aus Rücksicht gegen ihren Onkel verhindert, in diesem Jahre ausgeführt zu werden; damit will ich dich und Eduard nicht abhalten, den Ball zu besuchen.«

Eduard war der Sohn erster Ehe.

Der Bankier rannte nun seinerseits, die Hände auf dem Rücken, auf und ab; er ärgerte sich, weil er sich darauf gefreut hatte, seine Mädchen, die ihm sehr gut gefielen, in die Welt zu führen; aber er wagte seiner Frau nicht zu widersprechen; in Sachen, die den Anstand betrafen, ordnete er sich ihr stets unter.

An diesem Nachmittage – es war der erste Weihnachtsfeiertag – saß Madame Bontemps, die ehemalige Bonne, sehr behaglich in ihrem kleinen wohldurchwärmten Zimmer. Draußen tobte ein eisiger Schneesturm, doch das abscheuliche Wetter erhöhte nur das Wohlbefinden der Bonne und ihrer Freundin, Mademoiselle Bertouche. Beide saßen vor einem zierlich gedeckten Tische, tranken vorzüglichen Kaffee mit Schlagsahne und aßen köstliche Dresdener Mandel- und Rosinenstolle. Die Unterhaltung war auch sehr lebhaft. Was hatten sie sich nicht alles zu erzählen, denn sie sahen sich selten und ein Kaffeebesuch war nur ein Vergnügen für hohe Festtage. Die Bonne hatte ihr schwarzseidnes Kleid an und darin bewegte sie sich stets mit feierlicher Würde; eine große schwarzseidne Schürze wurde im Hause vorgebunden, und über dem grauen Scheitel lag ein feines Spitzenhäubchen. Das Leben war mit diesen beiden alten Schweizerinnen nicht immer gnädig umgegangen; fern von Heimat und Familie lebten sie unter Fremden; aber an diesem Nachmittage fühlten sich beide vollkommen glücklich, und wenn sie sich auch einmal an Ungemach und Trübsal, das sie betroffen hatte, erinnerten, so erhöhte es, wie der Wintersturm, nur das Behagen der gegenwärtigen Stunde.

Da wurde geklopft und der Bediente meldete, daß Frau von Holder Madame zu sprechen verlange.

»Trink nur aus, Marie,« sagte sie, »ich bin gleich wieder hier, und dann schenke ich uns wieder ein.«

Es dauerte auch gar nicht lange und die Bonne kehrte zurück; aber ach, wie trübselig sah sie aus! Die wenigen Minuten hatten sie völlig verändert. Wie gebrochen setzte sie sich auf einen Stuhl. »O Marie, wenn man so etwas erleben muß!« brachte sie nur klagend hervor.

»Um Gotteswillen, was ist dir begegnet?« rief Mademoiselle erschreckt; aber die Bonne antwortete nicht; sie guckte durch das Fenster, schüttelte den Kopf und sagte nur: »In einem solchen Wetter! Man kann sich ja den Tod dabei holen.«

Mademoiselle wurde ungeduldig. »Aber so sage doch nur endlich, was dir begegnet ist.«

»Nimm's mir nicht übel, Marie; aber ich kann dir nicht einschenken – du mußt dich selbst bedienen. Ich kann keinen Augenblick verlieren – der Zug geht um fünf Uhr ...«

»Du hast doch nicht ... Luise ... du bist doch nicht krank?« Mademoiselle meinte verrückt. Die Bonne hatte sie ganz gut verstanden. »Ich bin nicht verrückt; aber ich glaube, Madame hat den Verstand verloren. In diesem Wetter soll ich mit dem Nachtzuge nach Westfalen reisen, um Madames Nichte hierher zu holen.«

Mademoiselle schlug die Hände zusammen; sie bemitleidete ihre Freundin innig und dankte zugleich im Herzen dem lieben Gott, daß sie vor einer so gefahrvollen Reise bewahrt blieb; aber den Kaffee ließ sie stehen und half dafür der Bonne beim Einpacken. Dabei jammerten und zankten beide um die Wette, und das war gewissermaßen ein Trost. Groß wurde die Verwirrung und laut das Geschrei, als der Diener meldete, der Wagen sei angespannt, der die Bonne nach dem Bahnhofe bringen sollte. Die Jungfer mußte zur Hilfe herbeigerufen werden, um das Köfferchen zu schließen und die Bonne einzuhüllen; dann stiegen die alten Freundinnen ganz verstört in die elegante Equipage – – Mademoiselle wurde gleich mit in die Stadt expediert – und nahmen auf dem Bahnhofe einen Abschied, als sollten sie sich nie wiedersehen.

Drei Tage später saß Frau von Holder mit ihrer Schwägerin, Frau Kommerzienrätin Boßhart, im Salon. Die Damen verkehrten höflich miteinander und nie fiel zwischen ihnen ein unfreundliches Wort; aber sie liebten sich nicht. Die Frau Kommerzienrätin war eine stattliche Erscheinung; man sah ihr gleich die reiche angesehene Dame an; aber sie pochte auch auf diesen Reichtum, das war nicht zu leugnen, obwohl sie sonst recht gute Eigenschaften besaß. Von Leuten, die es in ihrem Leben nicht zu einem gewissen Wohlstande brachten, hielt sie nichts; das waren untüchtige Menschen, dagegen hatte sie vor Millionären großen Respekt, und war der Millionär gar ein einfacher Arbeiter, der sich durch eigne Kraft aufgeschwungen hatte, war ihre Achtung noch einmal so groß. Von der Kunst redete sie gern, obwohl sie nichts davon verstand, und die Künstler schätzte sie sogar; denn man brauchte Bilder und Statuetten, um die leeren Wände zu verzieren, und was sollte man in den langen Winterabenden ohne Theater und Konzerte anfangen? Arme Künstler aber unterstützte sie ungern. »Wären es Leute, die ihre Sache verständen, brauchten sie nicht zu betteln,« pflegte sie zu erwidern, wenn sie um eine Beisteuer angegangen wurde. Der »sogenannten Powerté« – wie sie Proletarier im allgemeinen nannte – gab sie reichlich. Bei Sammlungen stand sie stets mit einer ansehnlichen Summe an der Spitze; denn sie liebte ihren Namen gedruckt zu sehen. Aus einem Adel, der sich mit Ahnen brüstete, aber keine Besitzungen aufweisen konnte, machte sie sich nichts. »Was will nur die gute Cäcilie mit ihren aristokratischen Mienen?« sagte sie wohl zu ihrem Bruder. »Wenn man so arm ist wie eine Kirchenmaus, braucht man nicht stolz zu sein.« Als ihr Bruder sich adeln ließ, rümpfte sie die Nase. »Der Name wäre, dächte ich, gut genug, auch ohne das ›von‹«. Aber bei ihren Gesellschaften liebte sie dennoch die Gegenwart von Adligen und erzählte nicht ungern, daß ihre Schwägerin, eine Baroneß de Watteville, aus einem uralten französischen Geschlechte stamme, das in den Zeiten der Kreuzzüge, »wissen Sie, bei diesen alten Geschichten«, schon Helden aufzuweisen hatte.

Frau von Holder fand dagegen den Geldstolz äußerst vulgär. Jeder Mann, der seinen Reichtum selbst erworben hatte, war in ihren Augen ein Parvenü, und jeder Parvenü ein verächtlicher Mensch. Von moderner Kunst wollte sie nichts wissen, sie liebte nur die mittelalterliche, und in der Gemäldegalerie stieg sie niemals die zweite Treppe hinauf, wo die modernen Meister aufgestellt sind. Sie besuchte gern die Antiquitätenhändler und kaufte verdunkelte alte Ölbilder, alte Schränke, altes Porzellan – kurz alles, was alt war. Ihr Mann seufzte über den alten Kram; aber er wagte nicht sich aufzulehnen. »Es muß wohl im Blute liegen,« sagte er zu seiner Schwester, »sie sieht immer etwas Schönes, wo ich etwas Häßliches sehe; aber sie ist ungeheuer klug in diesen Sachen und versteht mehr davon als ich.«

Natürlich gab es zwischen den Schwägerinnen immer kleine Häkeleien, und wenn die eine wegen des Adelstolzes einen Nadelstich bekam, so mußte die andre wegen ihres Geldstolzes eine bittere Pille schlucken.

Frau Boßhart war soeben erst gekommen, ihrer Schwägerin zu kondolieren, weil sie die Feiertage bei ihrer verheirateten Tochter auf dem Lande zugebracht hatte. Vor niemand wünschte Frau von Holder die ärmlichen Verhältnisse ihrer Familie so zu verbergen, wie vor dieser Frau. Die Kommerzienrätin aber kannte diesen wunden Fleck und war nicht geneigt die Schwägerin zu schonen, sondern brannte vor Neugierde recht viel zu erfahren.

»Liebe Cäcilie,« sagte sie, »wie ich höre, hast du die Bontemps geschickt, um deine Nichte abzuholen. Warum bringt ihre Gouvernante sie nicht her? Das wäre doch das einfachste gewesen.«

Frau von Holder beherrschte sich und entgegnete: »Ulrike hat keine Gouvernante.«

»Also nicht einmal eine Gouvernante hat ihr der Baron halten können? Der arme Mann!«

Frau von Holder schien diese Worte nicht gehört zu haben; sie fuhr ruhig fort: »Mein Bruder besaß eigentümliche Erziehungsprinzipien; die Prinzipien von Jean Jacques Rousseau. Er wünschte, seine Tochter ohne allen Zwang aufwachsen zu sehen. Nichts sollte sie der Erziehung verdanken, sondern alles nur ihren natürlichen Anlagen. Er haßte deshalb alle Gouvernanten und würde seine Tochter niemals einem Pensionat anvertraut haben.«

So hatte sich Frau von Holder das, was ihr Pastor Kielmann über Ullis verwahrloste Erziehung geschrieben, zurechtgelegt. Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als ihrer Schwägerin gestanden, daß es ihrem Bruder an den Mitteln gefehlt habe, seine Tochter standesgemäß zu erziehen.

Die Kommerzienrätin schüttelte mitleidig den Kopf. »Das kann aber eine schöne Geschichte werden; ich habe einmal von einer jungen Gräfin gehört, die war auch so verrückt erzogen – entschuldige, liebe Cäcilie; ich bin aber sehr gegen emancipierte junge Damen. Was ich von dieser Gräfin hörte, war geradezu haarsträubend; sie schlug ihre Reitknechte mit der Peitsche – weißt du, so eine Art Brunhilde, jagte ihre Pferde zu Tode und ging mit ihren Hunden wie mit guten Freunden um; ja sie soll sogar Cigaretten geraucht haben.«

»Liebe Emilie, meine Nichte ist eine de Watteville; in unsrer Familie hat es niemals emancipierte Frauenzimmer gegeben.«

»Aber, liebe Cäcilie, die junge Dame, von der ich rede, war sogar eine Gräfin – der Name ist mir wieder abhanden gekommen – ich vergesse alle Namen; aber es war ein sehr alter Name – sie stammten glaube ich in direkter Linie von Noah ab. Die Erziehung war aber falsch – und das Fräulein geriet deshalb verkehrt. – Ja, was wirst du denn mit deiner Nichte anfangen? So ein Mädchen paßt doch nicht zu Leonie und Gabriele!«

»Liebe Emilie, unsre Ansichten sind in diesem Punkte verschieden. Ich lege großen Wert auf angestammte Eigenschaften. Wo der Adel im Blute liegt, zeigt er sich auch in der äußern Erscheinung; ich bin fest überzeugt, daß Ulrike in wenig Wochen schon eine junge Dame comme il faut sein wird.«

Die Unterhaltung wurde unterbrochen. Leonie und Gabriele traten hastiger, als sie es gewohnt waren, ein. »Mama, sie ist angekommen,« rief Leonie erregt, und Gabriele setzte hinzu: »Die Bontemps kommt schon die Treppe herauf.«

»Ach!« machte die Kommerzienrätin vor Erwartung und setzte das Lorgnon auf die Nase; sie brannte darauf, die Baroneß kennen zu lernen.

Frau von Holder war bleich geworden; sie ahnte Schlimmes. »Die Bontemps soll die Baroneß zuerst auf ihr Zimmer führen,« gebot sie ihren Töchtern. Aber es war zu spät; die Thür that sich auf und Ulli trat ein.

Der Anblick des armen Kindes war viel schlimmer, als selbst Frau von Holder sich vorgestellt hatte; er wirkte geradezu erschütternd. Das war nicht eine nach wunderlichen Prinzipien erzogene junge Dame, das war ein Kind der bittersten Armut; ihre ganze Erscheinung zeugte von dem Elend, der Entbehrung und der Erniedrigung dieses vornehmen Hauses.

Verlegen und verwirrt war Ulli an der Thür stehen geblieben; ihr abgetragenes, über und über mit Flecken bedecktes rotkarriertes Kleid hatte sie vollständig ausgewachsen; man sah die geflickten wollenen Strümpfe und die plumpen Schuhe; ein dickes graues Tuch vertrat den Mantel, und weil ihr ein Winterhut mangelte, trug sie einen zerknüllten altmodischen Strohhut mit verblichenem roten Bande, so rot beinahe wie ihre erfrorenen Hände.

Entsetzt starrte Frau von Holder die Erscheinung an, sie war im ersten Augenblicke keines Wortes mächtig. Die Kommerzienrätin ließ das Lorgnon fallen, ihr traten Thränen in die Augen; über dieses Mädchen konnte sie nicht spotten, der Anblick griff ihr ans Herz; am liebsten würde sie gleich geholfen haben, aber dann hätte sie ihre Schwägerin tödlich beleidigt.

Die kleinen Fräuleins sahen bald auf ihre Mutter, bald auf die finsterblickende Ulli; es war eine recht peinliche Scene, obgleich sie nur wenige Augenblicke währte.

Die Bonne hatte Ulli natürlich den Vorantritt gelassen; aber sie wußte recht gut, daß ihr Anblick einen furchtbaren Schrecken bei ihrer gnädigen Frau hervorrufen mußte; doch konnte sie sich diese kleine Rache nicht versagen; war sie auch im allgemeinen eine gutmütige Person, so hatte sie diese Reise doch in die übelste Laune versetzt; sie brachte einen heftigen Katarrh mit und glaubte nun, auch ein wenig boshaft sein zu dürfen. Aus Rücksicht für die Frau Kommerzienrätin sprach sie obenein deutsch. »Da sind wir, gnädige Frau – (sie mußte niesen). Treten Sie nur näher, Baroneß (sie nieste wieder), die Dame im Traueranzug ist die gnädige Tante. Genieren Sie sich nicht (sie schneuzte sich), Sie sind ja bei Ihren Verwandten.«

Jetzt hatte Frau von Holder ihre Fassung gewonnen; aber ihre feinen Nasenflügel bebten noch und ihre Stimme war einen Ton höher und auch etwas lauter als sonst; sie sprach französisch: »Ich begreife nicht, Bontemps, wie Sie es wagen können, Mademoiselle in diesem Aufzuge in den Salon zu führen. Geleiten Sie Mademoiselle auf ihr Zimmer und lassen Sie sie die Kleider wechseln.«

Der scharfe Ton und der Ausdruck Mademoiselle erinnerten Ulli an den verstorbenen Vater. Sie hatte einen andern Empfang erwartet; aber der Eindruck dieses Empfanges war so stark, so überwältigend, daß alles, was sie sich auf der Reise ausgedacht hatte, ausgelöscht wurde. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie blickte ihre Tante finster an.

Die Bonne hatte noch eine Karte auszuspielen. »Gnädige Frau werden entschuldigen, aber die Baroneß de Watteville besitzt keine Kleider zum Wechseln.«

Auf der feinen weißen Stirn der Frau von Holder zeigten sich blaue Adern und ihre Stimme klang noch schärfer: »Dann – dann hätten Sie mir die Umstände melden und mich nicht dem Affront aussetzen sollen, meine Nichte in einem solchen Zustande begrüßen zu müssen.«

»Kommen Sie, Fräulein,« sagte die Bonne und machte mit ihrem Schützlinge kehrt.

»Das arme Kind,« sagte die Kommerzienrätin und führte ihr gesticktes Taschentuch über die Augen.

Die jungen Mädchen sahen auf ihre Mama: sie wußten nicht, was sie dazu sagen durften.

»Ja, das arme Kind,« wiederholte Frau von Holder und erhob sich. »Ich muß gleich hinüber und wieder gut machen, was die Bontemps verdorben hat. Susanne muß jetzt geradezu altersschwach sein, daß sie das Kind in einem solchen Anzuge reisen läßt.«

Die Kommerzienrätin wischte abermals die Augen. »Eine Garderobe läßt sich ja bald herstellen, weißt du; aber das Kind – sah in jeder Weise – vernachlässigt aus.«

»Die lange Krankheit meines Bruders muß schuld daran sein. – Leonie denke an deine Haltung. – Susanne ist mir unbegreiflich; sie war eine vorzügliche Jungfer; die Prinzeß Solms hat Mama geradezu um diese Person beneidet.«

Bei diesen Worten entfernte sich Frau von Holder; die Kommerzienrätin seufzte. »Dagegen ist nicht aufzukommen,« sagte sie halblaut und wandte sich dann zu ihren Nichten. »Kinder, seid nur mit eurer Cousine freundlich; das ist ein unglückliches, unerzogenes Mädchen. Mit der wird Mama mehr Not haben, als sie glaubt.«

Die Bonne setzte sich in dem für Ulli eingerichteten Stübchen auf einen Stuhl, nieste und schneuzte sich abwechselnd; sonst fühlte sie sich wohler, die kleine Rache hatte ihr Vergnügen gemacht; doch das Kind that ihr von Herzen leid; sie wußte, was das heißt, unter fremden Menschen zu leben. Mit fünfzehn Jahren hatte man sie schon hinaus in die Fremde geschickt; sie kannte das Heimweh, es hatte sie beinahe getötet. Wie hätte sie nicht Mitleid mit der verlassenen Waise haben sollen?

»So, da wären wir endlich in den Hafen eingelaufen,« sagte sie; »und da wir keine andern Kleider besitzen, so müssen wir hier erwarten, was die gnädige Frau weiter beschließen wird.«

Ulli war von der langen Reise noch wie betäubt; und nun dieser Empfang! Sie konnte das Benehmen ihrer Tante gar nicht verstehen; sie war seit Jahren an keinen bessern Anzug gewöhnt; wie war es nur möglich, daß man sich vor Kleidern fürchtete? Oder waren es nicht die Kleider? War sie wirklich so häßlich, daß man sich vor ihr entsetzte?

»Meine Tante will mich wohl wieder fortschicken?« fragte Ulli und kämpfte vergeblich gegen die Thränen.

»Tatata, mein kleines Fräulein; so schlimm ist die Sache noch nicht; höchstens bekommen Sie Stubenarrest, bis die Trauerkleider fertig sind.«

Nach dem ersten Schrecken erwachte der Stolz in Ulli. »Sagen Sie meiner Tante, ich brauchte ihr nicht lästig zu fallen; so gehen Sie nur gleich und sagen Sie es ihr; ich will mich nicht so behandeln lassen, lieber will ich fort; ich habe auch einen Onkel ...«

Da öffnete sich die Thür und Frau von Holder trat ein. Sofort sank Ullis Mut unter Null; aber die Tante wendete sich an die Bonne: »Haben Sie die Güte, Bontemps, sofort in das Trauermagazin Marquart zu schicken. Man soll für Mademoiselle einige Anzüge zur Auswahl senden.«

Frau von Holder hatte wieder französisch gesprochen. »Es scheint, daß sie niemals deutsch redet,« dachte Ulli und ihre Angst wuchs; aber hierin hatte sie sich getäuscht. Sobald die Bonne sich entfernte, ging Frau von Holder auf Ulli zu; tiefbewegt nahm sie ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie mehrere Male, dabei feuchteten ihre Thränen des Kindes Wangen; dann führte sie es zu einem kleinen Sofa und zog es neben sich nieder; sie betrachtete Ulli sehr aufmerksam.

»Du gleichst nicht deinem Vater,« sagte sie endlich.

Ulli konnte vor Erstaunen nichts antworten; von ihrem Aussehen und gar von Ähnlichkeiten wurde in Wolfshagen nicht gesprochen. »GeWiß findet sie mich abschreckend,« dachte Ulli sehr bekümmert.

Die Tante fing aber gleich wieder zu reden an: »Hat dein Vater manchmal meinen Namen genannt?«

»Nein, niemals,« entgegnete Ulli bestimmt.

»Auch nicht in seiner letzten Krankheit?«

Ulli merkte jetzt, daß sich die Tante darüber betrübte.

»Papa ist sehr plötzlich gestorben,« erklärte sie.

»Dann bin ich falsch berichtet worden. Der Pastor schrieb mir, er sei lange krank gewesen.«

»Ja, das war auch so; aber wir haben von der Krankheit gar nichts gemerkt.«

»Da hat ihn niemand gepflegt?«

Ulli fühlte sich gekränkt. »Ich bin gleich zum Doktor gelaufen,« versetzte sie eifrig.

» Du bist zum Doktor gelaufen? In die Stadt?«

»Ja, wer denn sonst? Andreas konnte doch im Dunkeln und bei einem so schrecklichen Wetter nicht den Weg machen; er hat ja ein lahmes Bein.«

Ulli begriff nicht, weshalb die Tante aufsprang und mit verschlungenen Händen, wie in großer Pein, in der Stube umherlief. »O mein Gott! o mein Gott!« jammerte sie.

Das wunderte Ulli. War sie über des Vaters Tod betrübt? Oder bedauerte sie Andreas wegen des lahmen Beines?

Auf einmal nahm die Tante wieder ihren Platz ein; sie hatte sich gefaßt und sprach ruhig: »Meine liebe Ulrike, was ich dir jetzt zu sagen habe, wirst du vielleicht noch nicht vollständig begreifen; aber ich hoffe, daß du mir zutraust, ich wolle nur dein Bestes.«

Ulli nickte ernsthaft; davon war sie überzeugt.

Die Tante fuhr fort: »Es ist sehr traurig, daß dein Papa so arm gewesen ist; aber von diesen Dingen spricht man nicht. Armut ist eine Schande. Man ruft nicht den Leuten zu: ›Wir sind adelige Bettler‹, sondern man sucht diesen Schandfleck vor aller Welt zu verbergen.«

Ulli glotzte ihre Tante so einfältig an, daß diese wohl merkte, sie sei nicht verstanden worden. Sie fuhr deshalb mit erhöhter Stimme fort: »Ich erwarte von dir, liebe Ulrike, daß du niemand, verstehst du, niemand von den Verhältnissen deines unglücklichen Vaters erzählst. – Du bist jetzt in einem Hause, wo es dir gut gehen wird, wenn du, wie ich hoffe, dich folgsam, höflich und artig beträgst. Du wirst anständige Kleidung bekommen und sollst zu einer feinen Dame herangebildet werden.« Hier seufzte Frau von Holder; sie fühlte, daß das keine leichte Aufgabe sein würde; dann wurde ihr Ton herzlicher. »Du wirst von der langen Reise geWiß ermüdet sein, mein Kind; darum ist es besser, daß du zu Bette gehst, sobald du die Kleideranprobe überstanden haben wirst; ich werde dir sogleich das Abendbrot schicken; morgen sollst du deinem Onkel vorgestellt werden; ich hoffe, daß du dich respektvoll gegen ihn betragen wirst, seiner Güte verdankst du die neue Heimat.« Sie stand auf, Ulli gleichfalls. »Ich kann nicht länger bei dir bleiben, denn ich habe Besuch. Gute Nacht, mein Kind.« Ihre Lippen berührten Ullis Stirn.

»Gute Nacht,« sagte Ulli und blieb steif wie ein Stock stehen.

Frau von Holder entfernte sich mit schwerem Herzen; die Aufgabe, die sie übernommen, war viel größer als sie sich sie vorgestellt hatte. Daß sie das arme Kind am ersten Abend in ihrer neuen Heimat in Stubenarrest halten mußte, war ihr auch nicht leicht geworden; aber ihre Nichte in einem solchem Aufzuge ihrem Gemahl vorzustellen, erschien ihr unmöglich.

Ulli blieb in einem Zustande grenzenloser Verwirrung zurück; es brummte und brauste in ihrem Kopfe. Sie hatte alle Worte, die die Tante gesprochen, verstanden; aber doch war ihr, als hätte diese in einer fremden Zunge geredet, denn sie konnte den Sinn nicht begreifen. Dabei überfiel sie eine ihr ganz fremde Bangigkeit; ohne daß sie es merkte, liefen große Thränen über ihre Backen. Als aber an die Thür geklopft wurde, fuhr sie zusammen, wischte mit dem Ärmel schnell die Spuren der Thränen fort, und als sie jemand eintreten hörte, guckte sie starr nach dem Fenster, ohne sich umzuwenden.

Der Diener war mit einem mächtigen Theebrette eingetreten; er zündete eine Lampe an, deckte den Tisch und servierte die mitgebrachten Speisen; dann lud er »das gnädige Fräulein« höflich zum Essen ein und entfernte sich.

Ulli verharrte noch eine Weile in ihrer Stellung, ehe sie den Kopf wendete; beim Anblick des gedeckten Tisches machte sie einen langen Hals und näherte sich endlich zaghaft. War's nicht gerade wie in einem Märchen? Sie kam sich wie eine verzauberte Prinzessin vor, die von unsichtbaren Geistern bedient wurde. Der Diener war freilich sichtbar gewesen; aber sie hatte ihn doch nicht gesehen, und nun stand vor ihr ein Tisch, gedeckt und mit köstlichen Dingen besetzt, wie sie etwas Ähnliches nie erblickt hatte. Bei diesem Anblicke merkte sie auf einmal, daß ihr Magen bedenklich knurrte. Hastig griff sie nach einem Butterbrote, stopfte es in den Mund und blickte sich dann scheu um; darauf nahm sie mit den Fingern ein Stückchen Braten und verschlang es; endlich setzte sie sich auf eine Kante des Stuhles, schaute mit großen hungrigen Augen die Herrlichkeiten an, und auf einmal lächelte sie; sie dachte an Andreas. »Wie der sich freuen würde, wenn er wüßte, was ich hier zu essen bekomme; aber es würde mir noch besser schmecken, wenn er und Susanne mit mir am Tische säßen.«

Jetzt warf sie die Serviette von dem Teller fort, an Servietten war sie nicht gewöhnt, und guckte noch einmal scheu nach der Thür; dann häufte sie Fleisch und Kompot auf ihren Teller und verschlang alles hastig. Sie aß, als ob sie fürchtete, gestört zu werden. Da sie dürstete, goß sie Thee in die Tasse. Neugierig betrachtete sie den Trank, roch daran und kostete ihn; sie schüttelte sich und stellte die Tasse wieder hin; es war das erste Mal, daß sie Thee versuchte. Indem sie wieder Umschau hielt, entdeckte sie ein Töpfchen mit Milch; sie überlegte, ob sie den Thee in die Kanne zurückgießen, oder ob sie die Milch aus dem Töpfchen trinken solle; endlich entschied sie sich für das letztere. Aus einem Körbchen nahm sie nun einen Apfel und biß tapfer hinein – da vernahm sie wieder das Klopfen. Das Klopfen war ihr unheimlich. »Warum kommen die Leute nicht gleich herein,« dachte sie. »Es ist ja gerade, als wollten sie mich warnen.« Und mit vollem Munde rief sie »ja«.

Die Thür ging auf und ihre alte Bekannte, die Bonne, nebst der Jungfer und einer Schneiderin aus dem Trauermagazin, die einen großen Karton trug, traten ein.

Das Anprobieren des Kleides war Ulli äußerst peinlich; sie wußte nicht, wie sie sich dabei zu benehmen habe; von den leisen Bemerkungen, die die Jungfer mit der Schneiderin wechselte, verstand sie kein Wort. Ihre Blicke wendeten sich wieder dem Tische zu; sie hatte eine Schüssel entdeckt, die ihr entgangen war; aber sie kam nicht mehr dazu, diese zu kosten; sobald sich die Schneiderin mit der Jungfer entfernte, erschien auch der Diener und trug alle Herrlichkeiten hinaus. Ulli – es ist traurig, das gestehen zu müssen – Ulli traten die Thränen in die Augen.

»Nun wird das kleine Fräulein schlafen gehen,« sagte die Bonne und entfaltete ein langes weißes Nachtkleid. Ulli schauderte. »Das sieht wie ein Totenhemd aus,« sagte sie und bezeigte keine Lust, es anzulegen. Aber Madame machte nicht viel Umstände, denn Mademoiselle Bertouche wartete auf sie. »Jede Dame trägt ein Nachtkleid,« versetzte sie und zog es Ulli über den Kopf.

»Dann wird es wohl nichts Gefährliches sein,« dachte Ulli und ließ es sich gefallen; mit ihrem Widerstande war's auch vorbei. Sie war so erschöpft, daß ihr die Augen zufielen, und als Frau von Holder noch einmal an ihr Bett trat, lag sie in tiefem Schlafe.

Madame Bontemps saß indes mit ihrer Freundin, die sich eine halbe Stunde frei gemacht hatte, in ihrem Stübchen; aber es sah dort nicht mehr so behaglich aus wie am Weihnachtsfeiertage; die Reste des Abendbrots standen noch auf dem Tische, das Köfferchen, halb entleert, auf dem Boden und auf den Stühlen lagen die verschiedensten Gegenstände umher. Die Bonne hatte sich in einen alten Schlafrock gehüllt und ein Tuch über den Kopf gebunden. Sie sprach heiser, und der Rheumatismus saß ihr in der Schulter; je länger sie ihrer Freundin von dieser Reise berichtete, um so übler wurde ihre Laune. »Und weißt du, wo ich geschlafen habe, Marie? In dem verstorbenen Baron seiner Stube auf dem harten Sofa, weil ich mich nicht in sein Bett legen wollte; denn das haben sie mir zugemutet.«

Mademoiselle drückte lebhaft ihr Mitgefühl aus.

»In dem ganzen großen Schlosse giebt's nämlich nur ein anständiges Zimmer; das Schloß ist eine Ruine, sage ich dir. Natürlich habe ich kein Auge zugethan; bald schien mir, es käme den langen Gang herauf, bald raschelte es in der Stube, und wenn's nicht am Fenster klapperte, na so rumorte es vor der Thür. Nicht eine Minute habe ich geschlafen; ich dachte nur immer: »Jetzt wird er hereinkommen.«

»Der Geist?« fragte Mademoiselle mit aufgerissenen Augen.

»Wer denn sonst? Natürlich der Geist des letzten Barons oder sonst ein Geist der vielen Ahnen. In einem alten Schlosse geht immer etwas um; das gehört zur Vornehmheit. Ja, du meine Güte, zur Vornehmheit! Davon konnte man sonst nichts spüren; meine Baroneß hauste mit ihrer alten Bedienung in zwei elenden Stübchen, und da saßen sie alle an demselben Tische und aßen ... Ach, Marie, das Essen war unbeschreiblich schlecht; ich sagte der alten Person, mein Magen sei krank, ich vertrüge nur Kaffee; aber als ich den Kaffee kostete – die reine Cichorie; ich habe mich geschüttelt und gesagt, es wäre Fieberfrost. – Na und dort heißt's nicht etwa »gnädiges Fräulein«, da geht's auf du und du. – Wenn die Madame wüßte, wie die Susanne ihr Fräulein Nichte behandelte – sie risse sich die Haare aus. Und die Erziehung! Kein Wort versteht sie französisch – und der Anzug! Ich dachte, Madame würde Nervenzufälle kriegen ...«

Hier wurde die Bonne unterbrochen, denn die Jungfer trat ein; unaufgefordert setzte sie sich auf den Stuhl, schlug die Hände zusammen und brach in Lachen aus. »Da haben wir ja eine feine Baroneß ins Haus bekommen. Das geflickte beschmutzte Kleid hätten sie sehen sollen, Mamsell Bertusch – und das grobe Hemd. Meine Mutter hätte mich gleich zur Thür ...«

Die Bonne unterbrach ihren Redefluß. »Baroneß de Watteville ist die Nichte der gnädigen Frau, und Sie wissen, Fräulein Sophie, ich erlaube nicht, daß in dieser Stube gegen meine Herrschaft geredet wird. Was Sie in der Küche schwatzen, das geht mich nichts an.«

Die Jungfer verzog ihren Mund. »Bilden Sie sich denn ein, daß wir uns blind stellen können der Herrschaft wegen? Ein Bettelmädel ist ein Bettelmädel und wenn's zehnmal ein gnädiges Fräulein heißen soll. – Aber ich kann mir den Schreck der Gnädigen denken, als sie die ›Baroneß Ulrike‹ sah. Und nun mußte auch gerade die Kommerzienrätin noch da sein. Na die Augen von der ...«

Abermals wurde die geschwätzige Jungfer unterbrochen. »Fräulein Sophie, seien Sie so gut und bestellen Sie mir eine Tasse Fliederthee mit Citronensaft; ich muß schwitzen.«

Die Jungfer erhob sich widerstrebend; aber Mademoiselle griff gleich nach ihrem Mantel. »Es ist unrecht, daß ich solange geblieben bin, Luise; du bist sehr erkältet und mußt dich ins Bett legen.«

Die Bonne erwiderte französisch, denn die Jungfer zog sich nur langsam zurück; aber französisch verstand sie nicht. »Dich brauche ich ja nicht erst zu bitten, Marie, daß du von dem, was ich dir erzählte, keinen Gebrauch machst. Du verstehst mich schon.«

* * *

Einsam, verschneit, umtost vom Wintersturme lag Schloß Wolfshagen und sorgenvoll saß das alte Ehepaar in der verödeten Stube. Susanne zankte über die Härte der vornehmen Leute im allgemeinen und über die Rücksichtslosigkeit der Frau von Holder im besondern. Sie hatte erwartet, daß sie und ihr Mann zugleich mit Ulli das Schloß verlassen dürften; anstatt dessen waren sie nur mit einer geringen Geldsumme bedacht worden. Andreas schmauchte sein Pfeifchen, blies besonders starke Rauchwolken aus und gab nur selten ein begütigendes Wort dazu; er dachte bekümmert und sehnsuchtsvoll an seinen Liebling. »Vielleicht werde ich das Kind nie mehr wiedersehen. Ach wie wird's ihm in der Welt gehen! In dem vornehmen Hause werden sie es verlachen und verspotten; dahin paßt es halt nicht.« Und er wischte sich verstohlen die Thränen aus den Augen.

Die Dekoration hatte gewechselt; aus dieser öden Heimat war Ulli plötzlich nach einer Großstadt versetzt worden, wohnte in einer prachtvollen, mit seltenem Luxus ausgestatteten Villa und sollte sich in das konventionelle Leben einer vornehmen Familie finden.

Aber über dem Schlosse wie über der Villa, über dem einsamen Walde wie über der verkehrsreichen Stadt strahlten dieselben Sterne, leuchtete derselbe Mond, und von der Ferne des Himmels aus floß alles, was uns hier auf Erden so verschieden und getrennt erscheint, zusammen in dem milden Glanz eines Planeten.


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