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15

Für Leute aus Jon Gräffs Stand und auch für andere gab es genug zu reden, als es bekannt wurde, daß er in der Stadt war.

Ha, ha, ja! Es war ja sonnenklar, daß, wenn sie Gräffen da drüben in Australien gehängt hätten, sie ihn jedenfalls heruntergeschnitten haben mußten, bevor ihm die Puste ganz ausgegangen war, denn er ging hier ja in höchst eigener Person umher. Es sollte so sicher wie was Jon Gräff sein, er, dieser häßliche Kerl mit dem großen Wetterhut. Aber, zum Teufel, was hatte er hier zu suchen? Wußte er vielleicht nicht, was die Leute von ihm hielten? Redete sich wohl ein, daß man ihn nicht bis auf den Grund seiner Seele kannte! Sie wußten alle, daß er sein gutes Heim böswillig verlassen und hinterher seinem Oheim »god dam!« geschrieben hatte. Solch frecher Kerl! Und wie er die Leute anstarrte und selbstgefällig das Maul aufeinanderbiß. Fast schien es, als wolle er, daß man seinetwegen auf die Straße gehen solle. Als sei er eine Generalsperson. Daß so 'n gemeiner Kerl sich zu brüsten wagte … wie 'n Ochse, der klettern wollte. Aber er kam nicht weit damit – oh nein! Er hatte nicht einen einzigen, der mit ihm verkehren wollte, außer Kristen Olsen bei Krämer Karlsen. War merkwürdig genug, daß der sich mit Gräff sehen lassen wollte. Gräff hatte sich ihm wohl solange aufgedrängt, bis er ihn nicht mehr abschütteln konnte. Das war wirklich mehr als gutmütig zu nennen; vielleicht aber fürchtete er, daß Gräff sich rächen würde, wenn er ihn abschüttelte. Denn Gräff war wohl ein Mensch, vor dem man sich hüten mußte. Daß aber Olsen es wegen seines Prinzipals wagte! … Mit Karlsen würde sicher nicht gut Kirschen essen sein, wenn er erfuhr, daß einer seiner Leute mit diesem Räuber verkehrte.

Jon begriff sehr wohl, daß man ihn scheute, und darum vermied er es, sich unter die Leute zu mischen, und hielt sich immer für sich. Tagsüber sah man ihn selten, denn vom frühen Morgen an ruderte er in dem Boot, das er sich gekauft hatte, aufs Meer hinaus, um Eidergänse und Alken zu jagen. Gegen Abend aber kehrte er immer zurück, um mit Kristen Olsen zusammen zu sein, wenn dieser von Krämer Karlsen kam.

Dann gingen die beiden zusammen aus und streiften umher, wie es sich eben traf. Zu Anfang waren sie bei Simon Pedersen eingekehrt und hatten einige Seidel Bier in der Schenkstube getrunken; bald aber merkte Kristen, daß es nicht gut für Jon war, dort drinnen zu sitzen, denn vieler Augen ruhten auf ihm, und manchmal fiel es Kristen auch auf, wie Leute, die in der Nähe saßen, zusammen tuschelten, als hätten sie Geheimnisse miteinander, und wenn sie aufsahen, waren ihre Blicke meistens auf Jon gerichtet, hin und wieder lachend, gewöhnlich aber tiefernst. Niemals waren es gute Blicke, die sie seinem Kameraden gönnten. Nun war Jon keiner von denen, die die Augen niederschlagen, aber dadurch, daß er beständig mit den Blicken antwortete und sich herumschlug, bekamen diese einen häßlichen Ausdruck, als fragten und schrien sie immerfort: was in Teufels Namen habt ihr denn zu glotzen?

Von dem Augenblick an, als Kristen Olsen dies klar wurde, kehrten sie nicht mehr in Pedersens Schenkstube ein. Sie schlugen einen alten Weg ein, um den »Bärenstein« herum, wo sie als Knaben oft gespielt hatten. Damals lagen dort immer eine Masse Scherben, denn hinter dem Bärenstein pflegten Peter Milen und Kristoffer Kinafar zu sitzen und Bier zu trinken. Einmal hatten Jon und Kristen dort eine ganze leere Flasche gefunden, und das wurde als eine Merkwürdigkeit angesehen, denn wenn die beiden Männer betrunken wurden – das wurden sie immer – dann zerschmetterten sie die Flaschen in tausend Stücke.

Oft am frühen Vormittag konnte man Rufe vom Paradieswege zum Bärenstein hinüber hören:

»Stoffer, Stoffer! Wollen wir einen trinken?«

»Haben wir all getan!«

»Wer?«

»Ich und Milen!«

Aber häufig, wenn man abends des Weges ging, konnte man es lärmen hören wie' von Betrunkenen, und weiter oben, wo es der Bäume wegen, die dort standen, ganz dunkel war – konnte einem sowohl Peter Milen wie Stoffer Kinafar und mehrere andere, die sich später hinzugesellt hatten, begegnen, und diese waren es, die schrien und sangen:

Wir retten und wir räumen, juchhefallerallerar!
Alles Feuchte aus dem Weg' von Stoffer Kinafar!

All dergleichen entsann Jon sich noch genau, und während ihres Spazierganges erzählte er die eine Geschichte nach der andern. Kristen sah ihn oft verwundert an und sagte schließlich: »Wie gut du das alles behalten hast, Jon! Ich hab' es längst vergessen … ja, indem du es. erzählst, dämmert mir wohl auch das eine oder das andere wieder auf.«

Kristen meinte zu verstehen, daß der Freund diese Kleinigkeiten Stück für Stück in seinem Gedächtnis geordnet hatte. Er mußte annehmen, daß er sie wieder und wieder durchdacht hatte, bis sie so bombenfest saßen, daß sie nie wieder herausfallen konnten. Und eines Abends auf dem Heimwege bekam er Gewißheit durch eine Äußerung Jons: »Ja, ja, wie oft hab' ich an all das gedacht, am häufigsten, wenn ich auf Hundewache war, und wenn es mir so recht schlecht erging. Ich fand, daß der Gedanke, daß ich all diese Orte noch 'mal wiedersehen wollte, das einzige war, was mich am Leben hielt; aber jetzt, wo ich hier bin, finde ich gar nicht, daß ich solch rechte Freude daran hab', wie ich gern möchte.«

 

Eines Abends auf dem Wege zum Bärenstein war Kristen ungewöhnlich still. Es war auch kein Wetter, um froh und munter zu sein. Der Himmel hatte sich wie mit einem dicken, grauen Pelz überzogen; nur ganz im Westen standen einige hellere Wolken und brauten.

Als sie zum Bärenstein kamen, war es dunkel. Der hohe, magere Baum sah noch größer aus als sonst. Fast schien es, als reiche seine Krone bis in den Himmel hinein. Aber es war wohl nur die dunkle Luft, die ihn verschlang. Daß er so kahl und mager war, war die Schuld des Herbstes.

»Ich muß dir etwas erzählen, Jon,« sagte Kristen schließlich; »du sagst oft, so frohe Stunden, wie du hier gehabt hast, wirst du nie wieder erleben; aber das kommt davon, weil du die schweren Hundewachen gehabt und dann daran zurückgedacht hast. Darum erschienen sie dir wie die wahren Paradiestage. Aber ich will dir sagen, damals warst du gar nicht so froh. Das ist so wahr, wie ich hier gehe. Erinnerst du dich nicht, wie oft sowohl du wie ich ganz schreckliche Angst vor Prügel hatten, wenn wir! zu spät nach Hause kamen? Ich finde, wenn ich ehrlich sein soll, daß es mir besser geht als damals, und ich glaub' auch nicht, daß es mir schlechter ergehen wird, denn … ja, darüber wollt' ich gerade mit dir sprechen. Ich weiß nicht, ob ich dir schon mal erzählt habe, daß ich einem Verwandten in Chicago geschrieben und ihn gebeten habe, mir drüben einen Platz zu verschaffen. Es sind nun fast sieben Monate her, seit ich schrieb – – und in der letzten Zeit hab' ich so halbwegs auf Bescheid von ihm gewartet, ohne einen zu bekommen. Gestern aber bekam ich einen Brief von einem guten Bekannten von dort, und er schreibt, daß Julius Pedersen (mein Verwandter heißt nämlich Julius Pedersen) … ihm als ganz sicher erzählt habe, daß ich mit dem ehesten hinüberkäme. Er schreibt auch, daß Pedersen ein wohlhabender Mann sei, der eine große Gerberei und Fellhandel betreibt.«

»Ja, ja! und was weiter, Kristen?«

»Ja, siehst du, nun meine ich, daß Pedersen mir nicht schreiben will, bevor alles klipp und klar ist und er mir einen ordentlichen Bescheid geben kann. Denn du mußt wissen, ich kenne meinen Verwandten! Er war vor vier Jahren hier, und einen zuverlässigeren Menschen kann man sich nicht denken … hm ja, darum kannst du überzeugt sein, daß, wenn wir zusammen reisten, würde sich auch für dich etwas finden. Was sagst du dazu, Jon? Du siehst ja, hier in der Stadt ist's nicht gut sein für dich, und zu etwas bringen wirst du's hier auch nicht. In Amerika aber ist es ganz anders, alter Junge! Da gibt's kein Geflüster und Gerede, denn da sorgt jeder für sich selbst! Und tut einer nur seine Pflicht, dann kommt er vorwärts! Und du, Jon Gräff (er schlug ihm auf die Schulter), du bist solch braver Kerl, daß es jammerschad' wär', wenn du nicht gut vorwärtskämst.«

Jon ging lange neben Kristen her, ohne etwas zu antworten; schließlich aber sagte er:

»Ja … du sagst was, Kristen! Und es lohnt sich wohl, darüber nachzudenken, und recht hast du, daß es für mich hier in der Stadt nicht gut sein ist – und besser wird es nicht werden, wenn du erst fort bist, darauf kannst du dich verlassen. Und was du von Amerika sagst, daß einer gut vorwärtskommen kann, wenn er erst mal eine Stellung hat und sich tüchtig ins Zeug legt, das ist auch wahr, denn die beste Zeit, die ich in all den Jahren gehabt hab', war damals, als ich bei Mister Haverton in Boston auf der Werft war … und Geld kann man dort auch verdienen … Aber nun ist die Sache die, will ich dir sagen, daß es so um mich bestellt ist, daß ich mich in der Fremde nicht zurechtfinden kann. Ich weiß nicht, wie es kam, aber während ich drüben war, war es immer, als ginge ich auf Glasscherben. Nirgends hatte ich Ruhe. Ich sehnte mich nach Hause, wo ich ging und stand. Und jetzt, da ich eben wieder den Fuß ins Land gesetzt hab', wär' es wohl nicht klug, gleich wieder davonzulaufen. Und es ist ja auch möglich, wenn die Leute sehen, daß ich ein zuverlässiger Kerl bin, daß sie dann nicht schlimmer sind als anderswo. Aber komm, laß uns gehen, Kristen.«

Sie erhoben sich beide und gingen den Weg zurück. Keiner von ihnen sprach mehr von der Amerikareise, und viele Worte wurden überhaupt nicht gewechselt. Als sie sich trennten, ergriff Jon Kristens Hand zum Abschied, etwas, was er sonst nicht zu tun pflegte.

Einige Wochen vergingen, und kein Brief aus Amerika kam. Kristen aber rechnete mit Sicherheit darauf, und mehr als einmal versuchte er Jon zu überreden, den Gedanken, in der Stadt zu bleiben, aufzugeben. In dieser Sache aber war mit Jon nicht zu reden. Schließlich gab Kristen es auf und die Tage vergingen wie sonst. Sie machten ihre gewohnten Spaziergänge des Abends oder ruderten aufs Meer hinaus und stachen Fische mit der Aalgabel, fischten oder schossen, wie es sich gerade traf. Einmal bat Kristen sich für einen ganzen Nachmittag aus dem Geschäft frei, und sie segelten mit steifem Wind weit nach Hölingen hinaus und fischten Dorsch in dem tiefen Fahrwasser.

Eines Morgens aber, kurz vor Weihnachten, bekam Kristen einen Brief von dem Fellhändler in Chicago. Er war nicht lang, aber klar und deutlich. Kristen mußte schon in vierzehn Tagen reisen.

In diesen vierzehn Tagen ging Kristen nicht mehr ins Geschäft. Er mußte sich klar zur Reise machen, und gleichzeitig machte er manchen Weg, um eine Stellung für Jon zu suchen; denn Jon selbst war kaum der Mann dafür, dies auf die richtige Weise anzufassen. Erst ging er zu Karlsen; aber der Kaufmann hatte durchaus keine Verwendung für Gräff. Kristens Platz könne er ja nicht ausfüllen, denn er sei nie in einem Geschäft gewesen, außerdem sei er schon einem andern versprochen. Karlsen wolle Kristen Olsen gern einen Gefallen tun, aber in dieser Sache sei es unmöglich, so leid es ihm täte … wenn er ihm vielleicht in anderer Weise einen Dienst erweisen könne?

»Nein, danke!«

Dann ging er zu Leuten, die ihm weniger bekannt waren; sobald er aber auf die Frage: »Wie heißt der Mann?« – »Jon Gräff« geantwortet hatte, dann merkte er, daß sie wie vor den Kopf gestoßen waren.

»Konnten sie vielleicht Herrn Gräffs Zeugnisse sehen? Hatte er gute Zeugnisse? Gar keine? … Ja, Verehrtester, dann konnten sie ihn wirklich nicht nehmen. Man müsse doch eine Garantie einem wildfremden Menschen gegenüber haben.«

Gleich nach Neujahr reiste Kristen Olsen. Es war ein dunkler Abend, als Jon ihn zur Landungsbrücke begleitete. Sie setzten sich abseits, aber sprachen nicht viel. Als es zum erstenmal läutete, nahm Jon des Kameraden Hand und sagte: »Ich durfte dich also nicht so lange behalten, wie ich gern wollte, Kristen. Ja, ja, hoffen wir, daß es dir drüben gut ergeht.«

»Und ich will nun vor allen Dingen wünschen, Jon, daß. du hier festen Fuß faßt. Aber will es dir nicht gelingen, dann komm hinüber, komm nur hinüber! Wir wollen tagsüber zusammen arbeiten und nachher gemütliche Abende haben.«

Jon hielt die ganze Zeit Kristens Hand in der seinen. Er schüttelte sie wie zum Dank, sagte aber nichts. Kristen legte den Arm um Jons Hals und klopfte ihm die Schulter. So blieben sie sitzen, bis es zum drittenmal läutete. Jon hatte versuchen wollen, zu sagen, daß Kristen wohl gutes Reisewetter bekäme, aber seine Lippen zitterten, und als er es merkte, schwieg er still.


Lange stand er noch auf der Brücke und sah dem Schiff nach. Das letzte, was er unterscheiden konnte, war die rote Laterne. Und sie leuchtete ihm noch lange entgegen, nachdem der Schiffsrumpf verschwunden war.

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