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Die Stunde der Macht.

Der Thronwechsel vollzog sich ohne Zwischenfall. Schon kurz vor dem Tode Kaiser Friedrichs hatte der Justizminister Friedberg dem Kronprinzen Wilhelm ein merkwürdiges Schriftstück angekündigt, das dem kommenden Herrscher durch das Staatsarchiv sogleich nach dem Regierungswechsel vorgelegt werden sollte. Das Schreiben trug die Unterschrift Friedrich Wilhelms IV. und enthielt die Aufforderung des Königs an seine Nachfolger, die ihm abgetrotzte Verfassung wieder aufzuheben. Das Schreiben hatte in den Geheimarchiven geschlummert. Es war Kaiser Wilhelm I. bei seinem Regierungsantritt überreicht worden. Kaiser Friedrich III. hatte es in den Händen gehalten. Von beiden war es zu den Geheimakten wieder zurückgelegt worden. Jetzt las auch Wilhelm II. den Brief des Ahnen. Er vernichtete das Schriftstück – –

Die Truppen wurden auf den neuen Herrn vereidigt. Der Kaiser erließ seine ersten Botschaften an Heer und Marine. Vielleicht hätte Fürst Bismarck raten sollen, daß die Botschaft an die Gesamtheit des deutschen Volkes für den gleichen Zeitpunkt vorbereitet werde. War der erste Anruf des Soldaten auch selbstverständlich für den Kriegsherrn, dem Heer und Flotte der sichtbarste Ausdruck der ihm anvertrauten Macht war, so ließ sich doch Unruhe in der Meinung des Auslands erwarten, die vor Neuem und Ungewissem stand. Aber Fürst Bismarck schwieg. Er war einverstanden. Was die öffentliche Meinung in Deutschland betraf, so sprach sie von der Persönlichkeit des Herrschers in warmer Begrüßung, gleichviel welcher politischen Einstellung sie war. Inzwischen ordnete Kaiser Wilhelm den neuen Hofstaat.

 

Er wählte, wie er als Kronprinz schon beschlossen, nach eigenem Vertrauen und dem Rate des Generals von Versen, seines früheren Brigadekommandeurs. Für den Prinzen hatte der General, was ihm von anderen nicht allzu häufig widerfuhr, oft freundliche Worte gehabt. Jetzt sprach er in den ersten, wichtigen Fragen des jungen Kaisers mit.

Oberhofmarschall wurde August Graf Eulenburg. Im Wesen sehr gepflegt, war er ein Mann von reichem Wissen, von zurückhaltender politischer Betrachtung und auch ihm war stets jene angenehme geistige Kultur eigen, die alle Mitglieder des Eulenburgschen Hauses auszeichnete. Seinen Hofmarschall von Liebenau behielt der Kaiser. Er hatte sich im Kriege von 1870 verdient gemacht, freilich war der Offizier an seinen Nerven seither etwas mitgenommen. Den Hofdienst versah er nach außen mit größerer Schroffheit, als einst der Prinz und nunmehr der Herrscher wußte, vermischt mit überflüssiger, nicht ganz begründeter Selbsteinschätzung. Der neue »Chef des Zivilkabinetts« wurde der Unterstaatssekretär Hermann von Lucanus, nach Übereinkunft des Kaisers mit dem Fürsten Bismarck. Der Reichskanzler hielt viel von den Fähigkeiten des Unterstaatssekretärs im Kultusministerium, der in der Zeit von Preußens Kulturkampf mit vielem Takt und ebenso viel Klugheit Bismarcks Verbindung zum Vatikan geschaffen und aufrechterhalten hatte. Der Fürst fand ihn als immer nahen Sprecher bei dem neuen Herrscher nützlich, sogar wichtig und voraussichtlich hilfsbereit. Als Generaladjutanten hatte der einstige Brigadekommandeur des Prinzen den General Adolf von Wittich empfohlen, den er verläßlich, bescheiden und unbedingt ergeben nannte. Doch von allen Generaladjutanten schien der neue Chef des Militärkabinetts, General von Hahnke, einst Kaiser Friedrich sehr befreundet, die stärkste, geistig bedeutendste Persönlichkeit, die schon äußerlich auffiel. Er hatte ein ausgeprägtes, für Sauberkeit in jedem Sinne überaus empfindliches Gefühl. Er besaß – 1870 war er im Generalstabe des Kronprinzen gewesen – wirkliches und überlegenes Kriegswissen. Seine Vorträge hatten Glanz der Sprache und klarste Beherrschung des Gegenstandes. Sein Haus war jedem offen, der geistige Werte schätzte. Denn an seiner Tafel konnte er, der über keinerlei Mittel verfügte, nur Bescheidenes bieten. Seine Erscheinung hatte in Deutschland Fremdartiges: etwas von einem Spartaner oder Römer war um ihn mit seinen Kohlenaugen, mit seinem pechschwarzen Schnurrbart, mit seinem strengen, olivengrünen Gesicht. Manchmal lächelte der Kaiser:

»Ich weiß, viele finden Sie zum Fürchten« – –

Wichtiger war der unbestechliche Willen zur Gerechtigkeit, den der General überall erwies. Er haßte Freundschaftsdienste an Karrieren.

Die ›Maison militaire‹, Kaiser Wilhelms I. militärischer Hofdienst, der noch über die Zeit Kaiser Friedrichs bestanden hatte, wurde aufgelöst. Auch der Hofstaat Kaiser Friedrichs III. hörte auf zu bestehen. Die höfische Neuordnung vollzog sich schnell.

Der Reichskanzler hatte noch eine Frage:

»Wollen Euere Majestät eine Krönung?«

»Ich habe nicht die Absicht,« erwiderte ihm der junge Kaiser, »da mein Herr Großvater durch diesen Staatsakt noch einmal ganz besonders das Königtum von Gottes Gnaden betont hat.«

»Ich danke Euerer Majestät im Namen des Ministeriums«, erklärte Bismarck einverstanden, »und des Volkes, dem Sie die Ausgaben für eine solche Krönung erspart haben.«

Die Kosten sollten zehn Millionen Mark betragen. Sie blieben in der Staatskasse.

 

Die erste wichtige Herrscherpflicht, der Kaiser Wilhelm unverzüglich nachkommen zu müssen glaubte, war die Erfüllung eines Vermächtnisses, das sein sterbender Großvater ihm hinterlassen hatte.

Kaiser Wilhelm I. war in ganz langsamem, stets schwächerem Verflackern in den Tod hinübergeschlummert, dennoch bei völligem Bewußtsein seines Geistes. Noch sah der Enkel das ganze Bild. Zwei Stunden lang hatte er den Großvater mit seinem Arm gestützt, so daß der Kranke halb aufrecht lag. Kaiserin Augusta, dem Kaiser zur Rechten, war im Rollstuhl zu ihm gebracht worden: sie hielt des Kaisers Hand. Die Großherzogin von Baden neben ihr, er selbst an des Bettes anderer Seite. Der Kaiser hielt die Augenlider geschlossen. Er sprach von den politischen Aufgaben des Reichs. Die Türen des Nebenzimmers waren geöffnet, der Hof hatte sich versammelt, Generaladjutant von Albedyll war da, der Chef von Kaiser Wilhelms Zivilkabinett Wilmowsky, viele andere hatten sich eingefunden. Kaiser Wilhelm sprach in der Art von Aufträgen und längst formulierten Instruktionen. Da wurde Fürst Bismarck hereingerufen. Er stand hinter den Hofärzten von Lauer und Leuthold zu Füßen des Bettes. Er brachte kein Wort hervor. Er weinte lautlos vor sich hin.

Der Kaiser sprach von der Pflege der russischen Beziehungen. Das freundschaftliche Verhältnis zu Österreich-Ungarn sollte nicht gestört, aber alles aufgeboten werden, um die Verbindung mit Rußland gut zu erhalten. Er kam, mit den gleichen Worten, mit den gleichen Sätzen, immer wieder auf das gleiche Thema zurück. Die müden Lider öffnete er nicht. Dann wurden die Sätze immer matter. Endlich schien der Kaiser zu schlafen. Er erwachte nicht mehr.

Kaiser Wilhelm II. beschloß sogleich, die Aufmerksamkeit des ersten Besuches, den er als Herrscher machen wollte, dem Zaren zu erweisen. Er ließ sich durch die Verstimmung der englischen Großmutter nicht beirren, die recht ›autoritär‹ verlangte, daß der Enkel zuerst das Heimatland der Mutter aufsuche. Er beschwichtigte den aufgebrachten Kanzler, der der ›englischen Onkelei‹ deutliche Abfuhr geben wollte. Er schrieb der Königin selbst. Er wäre nicht allein der Enkel, der mit größter Achtung, Liebe und Verehrung an Königin Victoria hinge, er müsse zunächst die Pflichten des Deutschen Kaisers erfüllen, die hier ein ihm heiliges Vermächtnis bestimme. Fürst Bismarck war überrascht, als die Königin sofort nicht nur beipflichtete, sondern dem Enkel mit erneuter Einladung, bald nach England zu kommen, in unveränderter Herzlichkeit antwortete. Es blieb also dabei: der Kaiser wollte nach Rußland.

 

Deutschlands Beziehung zum russischen Reich war ihm längst schwere Sorge. So freundschaftlich der Zar den jungen Prinzen von Preußen vor Jahr und Tag in Petersburg aufgenommen hatte, so sehr hatten ihn in Brest-Litowsk die Eindrücke beunruhigt, die ihm dort bei seinem zweiten Besuche nicht ohne Absicht, zum Schlusse mit nicht zu verkennender Deutlichkeit vermittelt worden waren. Die Petersburger Herzlichkeit war kühl geworden, die Art der russischen Offiziere fast feindselig. Er hatte sofort nach Hause berichtet, was er in Brest-Litowsk erlebt: die ungünstige, den Deutschen abgewandte Stimmung, den großen betonten Aufwand an militärischen Kräften, die übermächtige Rüstung, die der Zar vor ihm unter dem Donner der Festungsbatterien entfaltete. Damals hatte Fürst Bismarck ihn mit dem Auftrage nach Brest geschickt, dem Zaren Konstantinopel anzubieten. Unwirsch, ohne seinen Ärger zu bemänteln, hatte der russische Kaiser dem Prinzen erwidert, daß er der Erlaubnis des Fürsten Bismarck nicht bedürfe, wenn er wirklich Konstantinopel nehmen wolle:

»Si je veux avoir Constantinople, je le prendrai quand il me plaira, je n'ai point besoin de la permission du Prince de Bismarck!«

Dem Prinzen hatte schon damals die Politik des Kanzlers nicht eingeleuchtet. Er fand darin mehr Verwicklung als Ausgleich. Fürst Bismarck war ein unerreichter Meister höchster Staatskunst. Seiner Einsicht beugte er sich unbedingt. Dennoch schien ihm, je länger er darüber nachdachte, das russische Problem um so verworrener.

Oft hatte der Prinz vor dem Kanzler den Gegenstand berührt. In ihren Gesprächen waren sie bis auf den Berliner Kongreß zurückgewandert. Dem Prinzen hatte Bismarck auseinandergesetzt, daß er Reibungsflächen, selbst Konfliktstoffe zwischen Rußland und England hatte schaffen wollen. Die beiden Stärksten in Europa sollten ruhig aneinander geraten.

»Aber Durchlaucht,« hatte der Prinz gefragt, »was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Wozu haben Sie denn dann den Berliner Kongreß gemacht?«

»Ich wollte keinen allgemeinen Krieg«, war jedesmal die Antwort des Kanzlers gewesen, sooft der Prinz seine Frage wiederholte, »da das Deutsche Reich dafür zu jung war.«

Bismarck hatte den Frieden mit allen Mitteln erhalten wollen. Seine Meinung war, daß Deutschland, zu allgemeinen Auseinandersetzungen noch zu schwach, zweifellos in den Krieg mitgerissen worden wäre. Allerdings verstand der Prinz dann den Widerspruch nicht, warum der Kanzler die Zwietracht zwischen England und Rußland nicht nur begünstigen, vielmehr noch steigern wollte. Noch widerspruchsvoller hatte er die Politik des Fürsten in Gastein gefunden, als Bismarck ihn mit der Brester Sendung betraute. Der Kanzler konnte damals nicht im Zweifel darüber sein, daß Österreich-Ungarn sich mit Plänen über Saloniki trug, um in absehbarer Zeit dort seinen Einfluß aufzurichten. Denn Kaiser Franz Joseph selbst hatte sich mit dem Fürsten darüber ausgesprochen. Bismarck hatte alles getan, um den Eindruck in dem Monarchen zu erwecken, als sei er völlig einverstanden, als billige er durchaus des Kaisers Absichten und Österreich-Ungarns Festsetzung in Saloniki bei der nächsten, sich schicklich bietenden und sicheren Gelegenheit.

»Euere Majestät sind ein guter Pürschjäger«, hatte er schließlich dem Kaiser geantwortet. »Wenn Sie einen starken Hirsch durch das Stangenholz gegen eine Lichtung heranziehen sehen, dann werden Sie den ungewissen Schuß in das Stangenholz nicht riskieren, sondern werden warten, bis der Hirsch auf die Lichtung tritt« – –

Unmittelbar darauf hatte er den Prinzen nach Brest-Litowsk geschickt. Der Zar sollte sein ausdrückliches Einverständnis erhalten, wenn Rußland nunmehr wirklich nach Konstantinopel wollte. Auch darüber hatte sich Bismarck mit Kaiser Franz Joseph unterhalten. Der Deutschland verbündete Monarch hatte um keinen Preis davon wissen wollen. Jede Möglichkeit einer solchen Lösung war von ihm zurückgewiesen worden.

»Wenn Sie den Russen Konstantinopel geben wollen«, stellte wiederum aufklärungsdurstig Prinz Wilhelm seine Frage: »Durchlaucht – wozu haben Sie denn dann den Berliner Kongreß gemacht? Die Russen waren ja schon in Konstantinopel! Sie standen dicht vor der Stadt und hatten für dieses Ziel einhundertachtzigtausend Mann liegen lassen. Durchlaucht haben sie ja fortgejagt!«

Die Preisgabe der Stadt, vielleicht im Augenblicke vor dem Einmarsch, empfand auch der Prinz als schwere Demütigung für Rußland und die russische Armee. Den Berliner Kongreß bezeichnete diesmal der Fürst als ›eklatanten Sieg von Disraeli und Österreich über Rußland‹. Offenbar wollte Bismarck diesmal entgegengesetzte Wege gehen. Im Angebot nach Brest-Litowsk lag zweifellos eine Unaufrichtigkeit gegen Österreich-Ungarn. Aber vielleicht wollte der Kanzler vor allem wieder den Gegensatz von Rußland und England verschärfen. Sicher wußte Fürst Bismarck was er tat. Denn unverändert groß war er bisher in der Spielbeherrschung der steigenden und fallenden europäischen Zankäpfel, auch wenn der Prinz den Ausgang solchen Spieles nicht ganz sicher sah. Ihm fiel doch das Wort Kaiser Wilhelms I. über Bismarcks ›fünf Kugeln‹ ein. Dem alten Kaiser, erbittert über des Kanzlers Starrsinn in einer Meinungsverschiedenheit, hatte nach Bismarcks Vortrag der ihm sehr nahe General von Albedyll in seiner etwas freien Art geraten:

»Majestät, so schmeißen Sie ihn doch heraus!«

»Das kann ich nicht,« war die Antwort des alten Kaisers gewesen, »ich kann nicht mit fünf Kugeln jonglieren, von denen immer drei in der Luft sind!«

Dann hatte der Brest-Litowsker Ärger und die Antwort Alexanders III. gezeigt, daß doch etwas in Bismarcks Rechnung nicht ganz stimmte. Erst der Berliner Besuch des Zaren im gleichen Jahre hatte eine gewisse Aussprache und Anzeichen dafür gebracht, daß langsam die russische Verärgerung sich zu bessern begann. Die Besserung betonte der Kanzler freudig und mit geistvollem Lärm. Zu seinem größten Zorn hatte ihn der Hofmarschall bei dem großen, dem Zaren gegebenen Abschiedsdiner auf die ›Blutseite‹ der Fürsten gesetzt, in eine unabsehbare Reihe. Die Ehrung war dem Kanzler gleich, aber die Unmöglichkeit, mit dem weit entfernten Zaren, dem er gegenüber hatte sitzen wollen, auch nur die kürzeste Unterhaltung zu führen, erbitterte ihn. Die Anordnung des Hofmarschalls empfand er als nicht ganz arglos. Jede Bewegung, jedes Mienenspiel zwischen Zar und Kanzler wurde für die Öffentlichkeit abgelauscht. Vielleicht sollte gerade sie in den Glauben gebracht werden, daß Zar und Staatsmann, einander fremd geworden, sich überhaupt nicht mehr beachteten. Da trank der Zar dem Fürsten lächelnd zu. Der Riese sprang vom Tisch empor, mit der zurückfassenden Linken warf er absichtlich mit ungeheuerem Gepolter den Stuhl hinter sich um. Die Gläser auf den Tischen klirrten, die Diener stürzten, die Gäste verstummten. Fürst Bismarck, hochaufgerichtet in seiner ganzen gewaltigen Höhe, trank mit beglücktem Gesicht dem Zaren die Bestätigung der Versöhnung zu. Niemand hatte sie übersehen. Tatsächlich reiste Alexander III. in Freundlichkeit ab. Der Kanzler glaubte seither immer überzeugter an Zeiten russischer Annäherung an Deutschland.

Er war sehr einverstanden, daß Kaiser Wilhelm II. nicht nach England, nicht zu Kaiser Franz Joseph, sondern vor allem nach Petersburg zum Zaren fuhr.

Vielerlei war in Rußland zu ordnen, um so mehr und um so leichter, als Stimmung und Entgegenkommen dort wirklich besser geworden, als sie noch vor Jahresfrist gewesen. Der russische Kanzler von Giers war voll Unruhe über die Möglichkeit eines österreich-ungarischen Eingreifens in Serbien. Dort hatte das eben zum Austrag gelangende Ehezerwürfnis zwischen König Milan und Königin Natalie, die beide um den Besitz des kleinen Kronprinzen Alexander kämpften, unklare Verhältnisse geschaffen. Vielleicht wollte der österreich-ungarische Außenminister Graf Kálnoky den Anlaß militärisch nützen. Aus Bulgarien war Fürst Alexander von Battenberg zwar entfernt, aber in diesem von Rußland stets als Einflußgebiet, fast als Abhängigkeitsstaat betrachteten Lande herrschte, von den Bulgaren selbst gerufen, von Österreich-Ungarn nach Ansicht des russischen Kanzlers zweifellos unterstützt, seit kurzer Zeit Fürst Ferdinand von Koburg. Er hatte in der österreich-ungarischen Armee gedient, nach dem griechisch-orthodoxen Bulgarien ging er als Katholik. Er hatte den Zaren so wenig um Erlaubnis gefragt, ob er die Krone tragen dürfe, wie Alexander von Battenberg. Eine bulgarische Abgesandtschaft hatte erst lose Verhandlungen mit ihm geführt. Im Wiener ›Hotel Imperial‹ hatte er, vergnügt im Kreis kameradschaftlicher Offiziere, die verpflichtende Anfrage der Bulgaren kurze Zeit danach durch offene, gewöhnliche Depesche erhalten. Er las sie unverblüfft: »Wir werden sehen, wie lange das dauert« – Dann war er abgereist. Vergrollt sah Rußland zu.

Dem Grafen Herbert Bismarck, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, dem in alle Geschäfte des Reichs eingeweihten Sohn, schickte der Kanzler genaue Vorschrift über das Verhalten während des Besuches zu. Der Staatssekretär hatte Kaiser Wilhelm nicht allein aus Gründen des Ansehens zu begleiten, ausschließlich er hatte politische Besprechungen zu führen, wenn Unterhaltungen von den Russen überhaupt begonnen wurden. Des Kanzlers »Promemoria für Seine Majestät den Kaiser zur eventuellen Besprechung mit dem Kaiser von Rußland« riet davon ab, daß die Herrscher selbst in politischen Themen sich ergehen sollten.

»Der erste Besuch Seiner Majestät muß meiner Überzeugung nach ein freundschaftlicher, nachbarlicher, politisch uninteressierter sein, gerade dann wird er die beste politische Wirkung haben. Jeder Versuch, ihm ein politisches Gepräge, einen sofortigen und erkennbaren politischen Erfolg als Aufgabe zu stellen, würde gerade den politischen Erfolg, den er haben kann und soll, schädigen nicht nur nach gemeingültiger psychologischer Berechnung im menschlichen Verkehr, sondern ganz besonders nach der eigentümlichen Natur des Kaisers Alexanders, der für offenes freundschaftliches Entgegenkommen sehr empfänglich, für jede Art politischer Berechnung aber empfindlich und gegen unprovoziertes Entgegenkommen sogar mißtrauisch zu sein pflegt.«

Vorher hatte der Kanzler seine noch immer unveränderten Ansichten über eine russische Erwerbung Konstantinopels auseinandergesetzt, wodurch das Kaiserreich »nicht stärker, sondern in sich und durch die Feindschaft Englands schwächer, jedenfalls weniger gefährlich« würde. Der Kanzler warnte vor allzu großem, überhaupt nur ausgesprochenem, politischem Entgegenkommen: »Jede Bereitwilligkeit würde bei der russischen Überhebung so ausgelegt werden, als ob wir Rußlands guten Willen brauchten, weil wir Furcht hätten, und als ob man deshalb über uns verfügen könnte.«

In des Fürsten Richtlinien lebte Graf Herbert Bismarck sich vollkommen ein. Dem Kaiser trug er die Gedankengänge des Kanzlers vor. Wo der Bismarck'sche Text Andeutungen enthielt, bezog er sie nur auf die ihm selbst damit vorgeschriebene Haltung. Der Kaiser nahm den Rat des Fürsten als durchaus billig an. Vor allem durch seine Persönlichkeit, durch herzliche Offenheit, nicht durch Geschäfte wollte er den Zaren und sein Vertrauen gewinnen. Mit dem russischen Kanzler sprach Graf Herbert Bismarck sich gründlich aus, auf die vorgefaßte, gleichgültig scheinende Art, die dem sonst lieber losstürmenden Staatssekretär nicht leicht wurde, die der Fürst aber gewollt hatte und die auf den russischen Reichskanzler nicht ohne Eindruck blieb. Seine serbischen Sorgen suchte der Graf ihm zu lösen. Was Bulgarien betraf, so war er sofort dazu bereit, alle Vorschläge mit Wohlwollen in Erwägung zu ziehen, die der russische Kanzler zur Herstellung ›legitimer Zustände‹ zu machen hätte. Von Deutschland könne niemand verlangen, daß es von sich aus im Interesse Rußlands Einfälle über eine bulgarische Neuordnung hätte. Über Österreich-Ungarns hinterhältige Tätigkeit auf dem Balkan suchte der Staatssekretär Beruhigung zu schaffen. Sicherlich war sie allzu russisch gesehen. An einem Zollabkommen wäre Deutschland nicht weniger interessiert als Rußland. Aber wenn es auch nicht zustande käme, wäre solche Tatsache noch kein Grund, Gereiztheit in die Politik zu tragen.

Der Staatssekretär hatte seine Aufgabe vorzüglich gelöst. Vieles konnte der russische Kanzler sich vom Herzen sprechen, nichts war wirklich angerührt, nichts erbeten, nicht einmal die russischen Truppenbewegungen gegen Österreich-Ungarn ernstlich berührt worden, dessen Bündnis mit Deutschland der Staatssekretär auf nicht unangenehme Art betont hatte. Die ganze Unterhaltung verlief in Freundschaftlichkeit. Der Zar selbst ließ Graf Herbert Bismarck rufen. Die Tragödie des armen Kaisers Friedrich, den schweren Zwiespalt zwischen Mutter und Sohn, erfuhr der Zar erst jetzt unter dem Siegel der Verschwiegenheit des geschickt plaudernden Grafen. Die letzten Schatten der ›Affaire Battenberg‹ schienen sich zu verflüchtigen. Für seinen jungen Souverän hatte der Staatssekretär in seinem Gespräch viel warme Worte. Er wisse, daß sein englischer Onkel ihn bei dem Zaren neulich angeschwärzt hätte. Aber der Prinz von Wales wäre mit der Königin Victoria, die übrigens voll Herzlichkeit zu ihrem Enkel stünde, in Verstimmung aus Berlin fortgereist. Seine Fürsprechversuche für das Haus Cumberland hätte der junge Kaiser ablehnen müssen.

»Ihren Kaiser kenne ich seit langer Zeit,« meinte zum Schluss der befriedigte Zar, »c'est un caractère franc et ouvert … mir ungemein sympathisch« … Er fügte beim Abschied hinzu: »Ihr Kaiser soll nur kommen, sooft er mag, mir wird sein Besuch immer sehr angenehm sein: Sie haben ganz recht damit, daß Sie die Notwendigkeit des Vertrauens am meisten betonen.«

So war der Antrittsbesuch Kaiser Wilhelms in Petersburg, ganz wie er erhofft hatte, zu voller Zufriedenheit, in schönster Harmonie verlaufen. Der Staatssekretär war sonst nicht eben zart in Wort und Ausdruck, aber in gehobener Stimmung spitzte er seine beiden Berichte an den Vater literarisch zu. Die österreich-ungarische Botschaft in Petersburg weihte er in seine russischen Gespräche ein. Die Tatsache einer Unterhaltung mit dem Zaren über die Themen, die dem Botschaftsrat von Ährenthal die wichtigsten waren, eine Unterhaltung über Österreich-Ungarn und Bulgarien bestritt er dabei. Befriedigt über jede Phase des Besuches reiste er ab. Auch der deutsche Botschafter am Hofe des Zaren, General von Schweinitz, wußte nur von besten Eindrücken, von größter Herzlichkeit zwischen Gastgebern und Gästen zu erzählen.

Kaiser Wilhelm fuhr nach Hause. Er tat es mit angenehmen Gefühlen. Von der Aufrichtigkeit russischer Politik war er auch jetzt nicht überzeugt. Seine Skepsis gegenüber ihrer Diplomatie und den militärischen Führern wollte er auch in Zukunft nicht aufgeben. Aber seine persönlichen Beziehungen zum Zaren glaubte er doch freundschaftlicher gestaltet zu haben. Der Reichskanzler schien ganz und gar befriedigt.

Einen Bericht, den ihm Graf Hatzfeldt mit anders lautenden Mitteilungen und Einzelheiten über den Kaiserbesuch eine Weile später aus London sandte, steckte der Fürst vorläufig in sein Schubfach.

 

Noch bestimmte damals in Deutschland die Herrschaft des ›Kartells‹, die vereinigte Kampfmacht der Konservativen, Nationalliberalen und der Reichspartei, den Gang der inneren Politik. Sie war um den Fürsten Bismarck geschart seit ihrer Helferschaft in dem großen Streit und Sieg für das Septennat von 1887. So reibungslos Kanzler und Regierung seither, bis an den Tod Kaiser Friedrichs, ihre Forderungen und Vorlagen, alle Staatsnotwendigkeiten durch die ergebene Mehrheit der Kartellparteien durchgesetzt hatten, so sehr zeigte – fast unmittelbar nach Kaiser Wilhelms II. Thronbesteigung – die Kartellherrschaft doch schon Risse und Sprünge. Mit den Konservativen, namentlich mit dem rechtsradikalen, äußersten Flügel der ›Kreuzzeitungspartei‹, fand der Reichskanzler immer schwerer sein Auskommen. Sicherlich machte ihm die reaktionärste deutsche Gruppe, die keinerlei Andersgeartete dulden, Anderen an Daseinsberechtigung überhaupt nichts gewähren wollte, das Leben häufig schwer. Aber der Kanzler war in der Form nicht ohne gewisse eigene Schuld, da seine gewaltsame, jeden Widerstand wild anbrausende Natur mit den heftigsten Angriffen gerade vor den Meinungsverschiedenheiten von Männern nicht haltmachen wollte, denen unbedingte Staatssicherung, widerspruchslose Gefolgschaft mit dem Staatslenker nach seiner Ansicht eine heilige, nach ihren Überlieferungen selbstverständliche Pflicht sein sollte. Schwer wäre zu entscheiden gewesen, wer hier der konservativere Kämpfer war, die Konservativen oder der Kanzler.

Gleichmäßiger tastete und wog der neue Kaiser, mit größerer Vorsicht, als seine sichtbar schnell entschlossene, von Jugendlichkeit getriebene Art erwarten lassen konnte, das politische Gelände ab. So nahe dem Hohenzollern auch Preußen war: die Parteien kamen doch von überall aus Nord und Süd und der Reichstag war die Stimme des ganzen Reichs. Der Kaiser besprach die Aufgaben und Ziele, die Berechtigung und Wünsche der Parteien mit dem nationalliberalen Abgeordneten von Benda, den er seit manchen Jahren kannte und als Politiker achtete. Er ließ sich Rudolf von Bennigsen kommen, den Führer der Liberalen. Nicht nur, um sich zu unterrichten, bat er ihn zu sich. Zugleich wollte er, daß auch seine eigenen Ansichten weitergeleitet würden. Er gab zu, daß der ihm befreundete Graf Douglas manches von seinen Überzeugungen und Äußerungen zu einer Rede verarbeitete, die der Graf – ohne daß er den Kaiser durch Berufung auf ihn auch nur in vertraulichem Kreis festlegen sollte – für den Wahlkampf vorbereitete. Den Konservativen riet der Herrscher engeren Anschluß an die Nationalliberalen, die größte Kartellpartei, die ihren eigenen Grundsätzen nicht allzu ferne war und eine nützlich verbindende Verständigung mit dem demokratischeren, katholisch beweglicheren Süddeutschland schaffen konnte.

In Gesprächen wie Handlungen trat der Kaiser im ganzen wenig hervor. Wo die Handlungen politische Färbung trugen, versuchte er Ausgleiche. Rudolf von Bennigsen machte er zum Oberpräsidenten von Hannover. Im gleichen Augenblick ernannte er, um die Konservativen nicht zu verletzen, aus ihren Reihen den Staatssekretär des Schatzes von Maltzahn. Professor von Harnack, den großen Theologen und Kirchenlehrer, den Forschung und Größe der Auffassung längst über jeden politischen Einwand gestellt, rief er, dem Zorn der evangelischen Orthodoxen zum Trotz, an die Berliner Universität. Der Reichskanzler mochte offene Kämpfe führen, in der Presse, gegen die Presse, vor den Wahlen, für die Wahlen: wo immer er Gegner sah. Er selbst wollte nur andeuten, daß er bis zu der Grenze, an der die Frage von Reich und Krone stand, die Meinung aller achten und alle bestehen lassen wollte. Mehr schien ihm selbst nicht erlaubt. Die öffentliche Meinung hatte gegen solche Art kaum einen Einwand. Soweit sie demokratischer Überzeugung war, befaßte sie sich mit dem Einzug einer Epoche, in der vielleicht die Volksvertreter herrschen konnten. Den jungen Herrscher hatte die öffentliche Meinung, von den Konservativen über die Liberalen bis hart nach links, mit dem überströmenden, ergebenen Wortschatz jener Zeit begrüßt. Fast allen schien, daß der Kaiser sie nicht enttäuschen wolle, fast alle rechneten, daß er nach vielen Seiten geben werde.

Mit kräftigerem Eingriff, mit energischerer Hand ging er an den Aufbau, den er sich als Herrscher unmittelbar vorbehalten sah. Alles um ihn war »überaltert«. Die noch Arbeitsfrohen und Brauchbaren aus seines Großvaters »Maison militaire« und Kaiser Friedrichs Hofstaat hatte er, soweit sie selbst es wollten, an andere Stellen gesetzt oder sie in die Armee eingeteilt. Die anderen hatte er in aller Freundlichkeit entlassen. Aber er wußte, daß die »Überalterung«, die nirgends um ihn herum länger zu übersehen war, nicht geheilt wurde bloß mit Veränderungen im nahen Dienst für seine Person. Kaiser Wilhelms I. Dasein war von ehrwürdiger, zeitbegnadeter Erfüllung und Dauer gewesen. Seine ganze alte Garde stand noch in den Sielen. Sie hatte unter ihm auf drei Schlachtfeldern gekämpft, die Paladine hatten ihn im Spiegelsaal von Versailles umstanden. Fast zwei Friedensjahrzehnte hatten sie dann noch fortgearbeitet. Was unter Kaiser Wilhelm I. jung gewesen war im neuen Reich, fortschrittsfroh und voll Erwartung eines notwendigen, neuen Zeitgeistes, hatte sich um die Gedanken und Verheißungen geschart, die an Kaiser und Kaiserin Friedrichs Namen sich knüpften. Sie alle hatten sich bereit gehalten. Aber in einer Herrscherzeit von neunundneunzig grau verhangenen Tagen konnten Programme nicht erfüllt, Helfer für sie nicht gefunden und auch Ideen kaum geboren werden. Was Kaiser und Kaiserin Friedrich für Deutschland sich gedacht hatten, war neu für dieses Reich, unausgeprobt und sicher nicht alles brauchbar im ersten Einsatz. Nur plötzlich Enterbte, nur Zukunftskämpfer, die lange gewartet hatten, die sich aber im Augenblicke, da sie die Gegenwart wurden, um alle Hoffnungen an Aufstieg und Wirken, um alle Ideale auf jähe, nie geahnte Art betrogen sahen, umstanden Kaiser Friedrichs Sarg. Nicht Kaiser Friedrich allein, eine ganze Generation ging mit ihm. Sie lebte noch, aber sie war ausgelöscht. Einer ganzen Generation war die Entfaltung und Blüte geraubt. Da sie abseits stand, so verkümmerte ihr Inhalt. Mit dem neuen Kaiser kam eine neue Welt. Wie er war, wußten die Enterbten nicht. Daß er anders als die Eltern war, dies wußten sie. Sie waren schon zur Kronprinzenzeit Kaiser Friedrichs, dann während der Kaisertragödie die wartenden, neuen Bannerträger der Zukunft gewesen: da die Eltern dem Erben feindlich galten, waren sie es erst recht. Sie konnten ihre Ideen, ihr Streben, ihre Dienste im schnellen Umschwung der Ereignisse nicht mehr auswirken. Sie wollten es auch nicht. Das Reich war voll von Keimen, gesät in Friedrichs III. langer Kronprinzenzeit, aber sie versanken und verwehten, als die Ablösung kam. Entweder mußte der neue Herrscher die Keime allein wieder hochzuziehen suchen. Oder das ganze Erdreich mußte umgepflügt und neu bestellt werden. Helfer mußte er suchen in jedem Falle. Er hatte nur den Acker. Ein Wegweiser stand da, breit, riesengroß, ein übermächtiger Titane: der Reichskanzler Fürst Bismarck. Ungeheures hatte er vollbracht, ungeheuere Kräfte mußten noch in ihm sein. An Bismarck wollte er sich halten, an ihm hing er, ihm dankte er Reich und Kaisertum, um seinetwillen hatte er Schweres gelitten. Mit ihm wollte er marschieren. Ein Genie vermochte auch eine Generation zu überspringen. Genies kannten keine Grenzen durch Zeit. Er wollte Raum schaffen für sich: dies schien dem Kaiser selbstverständlich. Aber er wollte Raum schaffen für sich mit Bismarck: dies war ihm ebenso selbstverständlich. Im übrigen, die alte Garde hatte ihren Dienst getan: den Lebendigen, der Arbeit von heute, der deutschen Zukunft wollte er weit die Tore öffnen.

Der Kaiser entließ eine ganze Reihe von alten Generälen. Ergraute Soldaten, in Deutschlands Feldzügen viel verdient, doch reif zur Ruhe. Er tat es mit der Huld des dankbaren Kriegsherrn. In Ehrfurcht entließ er den greisen Feldmarschall Graf Moltke. Der Neunzigjährige hatte selbst um den Abschied gebeten: wann immer Wichtiges geschah, sollte sein Rat auch weiterhin vorher gehört werden. In der Landesverteidigungskommission blieb er Präsident und Autorität. Viele Posten vertauschte der Kaiser, junge Offiziere rückten unerwartet höher. Den Rücktritt des Kriegsministers von Bronsart wünschte der Monarch. Nicht deshalb, weil der Minister nur unwillig für das Vertreten einer neuen Artillerievorlage zu gewinnen war, die der Kaiser in gewissem Rahmen für nötig hielt. Der Kriegsminister war die alte Zeit: allzu dogmatisch, stets widerspruchsmürrisch nur mit dem Hinweis auf Althergebrachtes, persönlich von großer Überheblichkeit in Sprache und Ton. Körperlich übergroß, hielt er dem Kaiser seine Vorträge in jedem Sinne nur sehr von oben herab und unterstrich in seiner ihm selbst unzweifelhaften Überlegenheit die Wirkung bei jeder Gelegenheit. Ein Klang aus der Jungenzeit, aus der Prinzenzeit schlug auf. Der Kaiser ertrug ihn nicht mehr. Er ersetzte den Kriegsminister durch den General von Verdy.

 

Schwerer als irgendeine andere Entscheidung für den Kaiser war die Frage, wen er an Feldmarschall Graf Moltkes Stelle zum neuen Chef des Generalstabes bestimmen sollte. Immer wieder hatte sich der Feldmarschall in den jüngsten Jahren für den Ersten Generalquartiermeister eingesetzt. Er hatte dies auch getan, als Kaiser Friedrich den Grafen Waldersee von Berlin fortschicken wollte, um ihm lieber das Kommando über ein Korps fern der Reichshauptstadt zu geben, als länger zuzusehen, wie Graf Waldersee unablässig nach politischem Einfluß suchte und ihn auszuspielen strebte. Dem Wunsche des alten Feldmarschalls, der seinen Gehilfen bei sich behalten wollte, hatte Kaiser Friedrich schließlich nachgegeben. Vollkommen hatte Graf Waldersee sich Moltkes Vertrauen als Mann und Soldat errungen, und der Feldmarschall war nicht der einzige, den der General mit seinem Wissen, seinem Können, mit seiner ganzen unendlichen Liebenswürdigkeit bestrickte. Früh war der noch junge Offizier selbst dem Fürsten Bismarck aufgefallen. Im Feldzug von 1870 hatte ihn der Kanzler, mit deutlichen Seitenhieben auf Moltke und Roon, für den fähigsten Kopf im Generalstab erklärt. Mit der Beschießung von Paris war es damals nicht recht vorwärts gegangen.

»Das kommt nur daher, daß wir so alte Generale haben«, rief Bismarck aus, »man sollte Waldersee zum Chef des Generalstabs machen! Da ginge die Sache gleich anders!«

Die diplomatischen Fähigkeiten Waldersees hatte der Fürst damals so hoch eingeschätzt, daß er ihn nach dem Vorfriedensschluß mit Frankreich als stellvertretenden Botschafter in Paris zurückließ. Diplomatisch geschmeidig war Waldersee in höherem Grade, als sonst ein Soldat, und die Jahre hatten solche Gewandtheit allmählich bis zur Meisterschaft entwickelt. Nie gab sein Blick, der schnell und listig war, der jeden Augenaufschlag beherrschte, der ganze Skalen von Gefühlen sprechen lassen konnte, seine wirklichen Gedanken preis. Graf Waldersees Gesicht war in den Linien nicht zu fassen. Nur Flächen tauchten ineinander. Das Kinn zeichnete sich nicht ab. Der Kopf hatte nur Umrisse, keine scharfen Konturen, trotz hochgewölbter Stirn. Er saß auf starkgepreßtem Nacken, ganz weit hinten im Kragen, wie ein Dachs im Bau, mit scharf gespitzten Ohren, mit schlauen, verschlagenen Lichtern, jeden Augenblick bereit, hervorzuschießen. Von Garrick wird erzählt, wie er einen Künstler zur Verzweiflung brachte, der ihn zu malen wettete. Tag um Tag vollendete der Meister eine Skizze von Garricks Kopf. Aber nie hatten, wenn der Schauspieler am nächsten Morgen zur neuen Sitzung kam, Modell und Bild miteinander auch nur die geringste Ähnlichkeit. Vor Waldersee fand Lenbach seinen Garrick. Drei oder vier Tage mühte sich Lenbach umsonst, das Wesen von Waldersees Zügen festzuhalten. Aber täglich starrte ihm, wenn der General kam, von der Leinwand ein völlig fremdes Gesicht entgegen. Endlich warf der Künstler ergrimmt den Pinsel fort.

»Was ist denn das? Ich bringe ihn nicht fertig!«

»Malen Sie ihn doch von der Seite«, schlug einer von Waldersees Vertrauten vor, »im Überrock der Königsulanen.«

Jetzt glückte die Arbeit: ein Fuchskopf kam heraus. Ihm, seiner echtwirkenden Herzlichkeit, seinen weitangelegten Schlichen, die keiner merkte, der Wärme seines Worts verfiel fast jeder. War seine Liebenswürdigkeit, sein Können auch groß: seine Emsigkeit übertraf beide dennoch. Noch spät nachts schrieb er in sein Tagebuch alle Einzelheiten seines Tagewerks. Er zeichnete auf, was er getan, gedacht, gehört, empfohlen oder abgelehnt hatte. Jeder Zeile gab er sorgfältig sittliche Höhe und geistigen Schwung. Er achtete gewissenhaft auf den guten Eindruck, den dereinst die Aufzeichnungen machen sollten. Er versah sie mit vielen frommen und schönen Sentenzen.

Vor dem Schreibtisch ließ er die kindliche Einfalt seiner Soldatenseele, wenn er sie durch heilige Sprüche reichlich geläutert hatte, durch glänzend berechnende Phantasie ablösen. Mit vieler Gedächtnistreue berichtete er dann von blendenden Gleichnissen und Aussprüchen aus dem Munde anderer, scharf gespitzte Epigramme, die in Wahrheit nie gefallen waren. Zu bestimmtem kämpferischen Zweck für eigenen Aufstieg hatte er sie in der Regel selbst erfunden. Er selbst gab sie seinem Adjutanten von Bagensky weiter, der sie, seinem Gebieter blind ergeben, in aller Welt herumtrug. Diese ganze Welt sah Alfred Graf Waldersee nur in zweierlei Beleuchtung: sie war gut, wenn sie ihm nützte, sie war schlecht, wenn sie ihm schadete. In ihr bewegte er sich, ohne Widerspruch zu dulden, wenn er von unten kam. Dann vergaß selbst er seine Liebenswürdigkeit und der Widerspruch war »gemein«. Im Dienste liebte Waldersee die Überlieferung aufopferungsvoller selbstloser Hingabe an das Ganze. Hatte eine Idee, eine Maßregel überraschenden Erfolg, so war es altpreußisch, daß dem Führer und Befehlsgeber allein der Erfolg gebührte. Er nahm dann jede Schmeichelei an und vertrat sie mit bescheidenem Gerechtigkeitssinn vor sich selbst. Mißglückten Idee oder Maßregel, so war er vor dem Untergebenen von erzieherischer Aufrichtigkeit:

»Das haben Sie sehr dumm gemacht« – –

Allen menschlichen Schwächen zum Trotz war seine militärische Begabung groß und selten. Mit jeder Situation fand er sich blitzschnell ab. Probleme der Heeresausbildung, Schulung des Generalstabs, Mobilisierungsfragen beherrschte er wie wenige seiner Zeit. Den Politiker Waldersee drängte der Soldat zu kriegerischen Stimmungen. Deutschlands Schicksal sah er durch die Geographie der Nachbarn bedroht. Aber auch ohne Geographie war er dafür, »das Prävenire zu spielen«. Er nannte Deutschlands Zukunft »hoffnungslos, wenn wir nicht rechts oder links einen totschlagen«. Des Totschlags schien ihm einmal Frankreich wert, ein wenig später Rußland.

»Mit wem wir Krieg führen müssen«, war meist seine Entscheidung, »ist Sache des Auswärtigen Amts.«

Als beste Lösung sah er es an, wenn er eines Tages die Entscheidung des Auswärtigen Amts selbst zu bestimmen hätte. Anlässe zu einem Kriege fänden sich immer. Allmählich neigte er stark der Ansicht zu, daß überhaupt der Reichskanzler Fürst Bismarck von Energie nur mehr wenig hätte. Von einem Präventivkrieg wollte er schon gar nichts mehr wissen. Der alte Kaiser Wilhelm hatte zuletzt immer geglaubt, daß er noch einmal zu Pferde steigen müsse, wenn er einen neuen Krieg auf sich nähme. Allerdings war jetzt ein junger Kaiser da. Die Gelegenheit war günstig. Auf Kaiser Wilhelm hoffte der General seinen ganzen Einfluß ausdehnen zu können. Die Szene im Berliner Schloß war ein vergessener Zwischenfall. Waldersee nahm sie offenbar nicht ernst. Er notierte sie nicht einmal. Der Kronprinz mußte damals verständig genug gewesen sein, zu wissen, daß er ihm in Wahrheit nur Gutgemeintes geraten hatte.

Tatsächlich ernannte auch der Kaiser Waldersee zum Chef des Generalstabes. Feldmarschall Moltke hatte seine ganze Autorität eingesetzt. Er selbst wollte im Dienste nicht mehr verbleiben, wie sehr der Kaiser ihn umzustimmen versuchte. Mit gutem Gewissen – dies war der Standpunkt des Marschalls – könne er als Nachfolger niemand anderen bezeichnen, der Kaiser niemand anderen ernennen, als Waldersee. Hart war der innere Kampf, den der Monarch mit sich ausfocht. Im Mißtrauen gegen den Generalquartiermeister bestärkte ihn noch der Generaladjutant von Hahnke, dem er den Zwischenfall jener Audienz erzählte:

»Im Kreise seiner Altersgenossen und Bekannten«, erwiderte der Generaladjutant auf die Schilderung des Kaisers, »führt Graf Waldersee den Spitznamen der Dachs, weil er so gern unter der Decke wühlt.«

Waldersee sei ein Intrigant. Militärisch sehr bedeutend. Mit Recht von hohem Ansehen in Generalstab und Heer. Aber politisch dürfe man ihm nicht trauen. Maßlos sei sein Ehrgeiz. Nach langem Schwanken fand der Kaiser einen Ausweg. War der Generalquartiermeister wirklich eine soldatische Kraft, wie der Feldmarschall und der so gerechte Generaladjutant sie werteten, unersetzlich für die Armee, dann wollte der Kaiser sich überwinden und Waldersee zum Chef des Generalstabs machen. In allen militärischen Dingen ihm weiter jedes Vertrauen schenken. Auch im persönlichen Umgang ihn keine Verstimmung, keine Änderung innerer Haltung merken lassen. Politisch aber wollte er ihm kein Wort, keine Anregung je gestatten. Unter den staatsmännischen Ratgebern, wann immer er ihrer bedurfte, sollte ein Mann niemals sein: Graf Waldersee – –

»Möge der Allmächtige mir richtige Gedanken, Tatkraft und Ausdauer geben«, schrieb der Chef des Generalstabes am Tage der Ernennung in seine Aufzeichnungen, »am guten Willen soll es nicht fehlen und ich will versuchen, mir stets frischen Mut zu bewahren. Wie wunderbar sind Gottes Fügungen!«

Schon sah der General die Politik des Kaisers ganz von seinem Kopf geleitet. Schon sah er sich auch als Fürst Bismarcks Erben, wenn für den Kanzler der Tag des Abschieds kam. Aber gründlicher hatte sich noch nie ein sichtbarer Günstling des Schicksals über Umstände und Aussichten seiner Erhöhung getäuscht. Einmal irrte der Fuchs sich gründlich.

Er wußte nicht, daß ihn am gleichen Tage der Kaiser zu den politisch Toten geworfen hatte.


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