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Bismarck Major Domus

Kaiser Wilhelm und Fürst Bismarck lebten in schwerer Verstimmung. Sie begannen beide – sie waren sich nur noch nicht völlig klar darüber – ohne einander leben zu wollen.

Der Kaiser konnte nicht entscheiden, ob ihn die Haltung des Kanzlers mehr verletzte oder die Tatsache, daß kein einziger Minister es gewagt hatte, sich ihm in einer Sache anzuschließen, deren innere Berechtigung niemand zu bestreiten vermochte. Daß Fürst Bismarck ihm dürr und unzweideutig eigentlich den Abschied angeboten hatte, bewegte den Kaiser nicht weiter. Bis zu dem Tage des Kronrats war ihm der Kanzler der alte, überlebensgroße Paladin gewesen, vor dem er die Worte nicht wägen wollte. Auch seine Taten nicht alle. Das Angebot seines Rücktritts nahm er nicht ernst. Er dachte nicht daran, ihm den Abschied zu bewilligen. Aber anders lag doch die Angelegenheit, wenn er an die Minister dachte. Es schien, daß sie überhaupt keine Meinung hatten, wenn Bismarck sie nicht vorschrieb, und daß ihre Vorstellung von den Beziehungen zwischen Monarch und Minister weder von Verantwortlichkeit, noch von Verpflichtung beschwert war. Sie schienen mit Haut und Haaren nur dem Kanzler verschrieben und verfallen. Dem Kaiser fiel wieder ein, wie Bismarck vor nicht allzulanger Zeit eines Tages zu ihm gekommen war und erklärt hatte, daß er einen Minister fortschicken wolle.

»Ja, was hat er denn gemacht?« hatte der den Fürsten gefragt.

»Er paßt mir nicht mehr«, war damals die Antwort des Kanzlers.

Der Kaiser war recht verwundert gewesen. Es hatte ihm nicht eingeleuchtet, daß ein Minister ohne besonderen Grund sollte entlassen werden, ohne ein sichtbares Verschulden, nur deshalb, weil er dem Kanzler nicht mehr paßte. Der Kaiser hatte dem Fürsten seine Verwunderung auch ausgesprochen, aber Bismarck hatte verächtlich den Mund verzogen:

»Ah, er ist ein schlechter Charakter«, war seine wegwerfende Antwort, »er hat Geld von mir genommen. Ich habe ihm dreißigtausend Mark gegeben.«

Das Erstaunen des Kaisers war maßlos. Aber offenbar wollte der Reichskanzler gar kein Geheimnis aus seiner Technik machen. Selbst Fernstehende wußten, daß Fürst Bismarck auch die Schulden des Vizekanzlers fortgeräumt hatte. Ähnlich war ein Erlebnis des Chefs des Zivilkabinetts von Lucanus auf gleichem Gebiete und nur der Ausgang nicht so gewesen, wie der Kanzler ihn erwartet hatte.

Den neuen Chef des Zivilkabinetts, der sich bei dem Reichskanzler meldete, hatte der Fürst sehr freundlich begrüßt:

»Lieber Lucanus, ich freue mich über Ihre neue Stelle! Aber Sie werden sich natürlich darin neu einrichten müssen – erlauben Sie, daß ich Ihnen das dazu zur Verfügung stelle!«

Auf dem Tische hatte ein großer Beutel mit Geld gestanden. Der Fürst hatte ihn bereitgehalten, nahm ihn jetzt, wie man einen Beutel mit Zechinen nimmt, und hielt ihn dem vollkommen verblüfften und befremdeten Kabinettschef hin.

»Euere Durchlaucht wollen verzeihen: ich brauche kein Geld« –

In der Tat hatte der Chef des Zivilkabinetts, ganz abgesehen von der inneren Bedeutung eines solchen Angebots, Zuwendungen nicht nötig. Er lebte in Unabhängigkeit und Ordnung. Aber der Reichskanzler wollte das Thema nicht aufgeben.

»Aber, lieber Freund«, nahm er es mit Wohlwollen nochmals auf, »das ist doch keine Sache« – –

Der Chef des Zivilkabinetts blieb halsstarrig:

»Euer Durchlaucht – ich brauche kein Geld und ich nehme kein Geld« – –

Da platzte der Fürst mit ehrlicher Überraschung heraus:

»Sie sind der erste, der mir das sagt, und der erste, der nichts nimmt! Meine Minister haben alle genommen!«

Der neue Kabinettschef hatte sich verbeugt und war gegangen. In Wahrheit hatte der Reichskanzler versucht, seine Stimme und seinen Einfluß zu erkaufen. Er war die Vorsicht selbst, wenn er von diesem Tage an den Chef des Zivilkabinetts sprach.

Der Kaiser wußte nicht alles. Aber vieles erfuhr er doch, noch mehr ahnte er, manches berichtete ihm in offenem Triumphe Fürst Bismarck selbst. Jetzt kam das Mißtrauen in den Kaiser. Der Fürst verfügte über bedeutende Geldmittel frei. Ihm war der 1866 beschlagnahmte Welfenfond zur Verwaltung übertragen worden. Er konnte mit seinen Geldern nach Gutdünken walten und schalten. Ihm stand das ausdrückliche Recht zu, dies ohne jede Kontrolle und ohne jeden Rechenschaftsbericht tun zu dürfen. Politische Zwecke waren ein dehnbarer Begriff. Jedenfalls schuf der Kanzler Abhängigkeiten, die in Preußen neu waren. Dem Kaiser gingen, wenn er an die Zusammenhänge von Ministerschaft, Schulden und Geldgeschenken dachte, alle Überlieferungen durch den Kopf, aus denen er sich seine Vorstellung vom preußischen Staatsapparat aufgebaut hatte. Was die Beamten betraf, so war er noch bei seinem Vorfahren Friedrich Wilhelm I. Seine eigenen Pflichten gegenüber dem Staat wollte er nach den Forderungen Friedrichs des Großen abmessen. Der Fürst schien andere Überlieferungen zu pflegen oder zu schaffen. Es war mehr die Art eines Großveziers, als eines preußischen Ministerpräsidenten. Die Minister hielt der Kaiser alle für untadelig. Aber der Geist, mit dem der Kanzler über sie, über alle herrschte, der Geist der uneingeschränkten Gewalt, der kein Mittel zur Unterwerfung ohne Vorbehalt verschmähte, erschien ihm plötzlich unheimlich und gespenstisch. Er begriff nicht nur, trostlos und in erster großer Verbitterung, daß er tatsächlich mit seinem Wollen ganz allein stand. Daß er auf niemand anderen zählen konnte als auf sich selbst. Er begriff auch, daß die nahe Zukunft für ihn nur einen einzigen Sinn haben konnte: den Kampf um die Macht.

Noch hoffte er, mit dem Kanzler gehen zu können. Wenn es eigentlich auch umgekehrt war, daß Fürst Bismarck sich entschließen sollte, in Einigkeit die nächsten Wege mit ihm zu marschieren. Noch hoffte er, daß er die Minister, die er als König ernannte, allmählich daran gewöhnen könnte, daß sie nicht ausschließlich Bismarcks Diener waren. Das Zerwürfnis mit dem Fürsten in der Arbeiterfrage bekam so höhere Bedeutung.

Kaiser Wilhelm beschloß, die Machtprobe aufzunehmen.

 

Verzichtsstimmung war in diesen Tagen über den Kanzler gekommen. Überhaupt schwankte er sehr in seinen Stimmungen. Er wußte, daß sein Gegensatz zum Kaiser das offene Gespräch aller Kreise war, die ihm oder dem Kaiser nahestanden. Das Wort des Grafen Waldersee ging wieder um, an den jungen Kaiser vor langer Zeit schon gerichtet:

»Wenn Friedrich der Große einen solchen Kanzler gehabt hätte, so wäre er nicht der Große geworden« –

Der Ausspruch des Generals war in Wirklichkeit vor dem Kaiser nie getan worden. Der Chef des Generalstabes hatte ihn sich selbst zurechtgespitzt und, wenn er zu ihm zurückkam, entkräftete er ihn nicht. Der Kaiser erwog seit seiner Szene mit dem Grafen genau, was er ihm mitteilte, noch genauer wußte der Graf, was er wagen durfte und zu unterlassen hatte. Das Walderseesche Wort, das den Fürsten beunruhigen mußte, kannte der Monarch jetzt noch nicht. Aber dem General schien die Zeit gekommen, da das Erbe des alten Kanzlers ihm doch vielleicht zufallen konnte. Noch wies der Kaiser den Gedanken von sich, daß er überhaupt von Bismarck sich trennen sollte. Aber der frühere Staatssekretär im Reichsmarineamt von Stosch, schon unter Kaiser Friedrich ein Kandidat für die Kanzlerschaft, beriet mündlich und schriftlich mit dem Abgeordneten von Miquel, beide mit dem Grafen Waldersee, ob man nicht den Chef des Generalstabs zum Kanzler machen wollte. Einmal hatte der Staatssekretär noch geschwankt, ob der Graf wirklich den geeigneten Nachfahr des Fürsten abgeben könnte. Aber dann kam er mit dem Abgeordneten auf den General wieder zurück, der mit dem Gedanken seiner Ernennung zum Reichskanzler so vollständig einverstanden war, wie offenbar die beiden anderen mit ihrer selbstbestimmten Berufung, über die Kanzlerschaft zu verfügen. In seiner bescheidenen und frommen Art gab sich der Graf daraufhin besonnene Ratschläge:

»Ich halte mich jetzt aber ganz still und möchte um alles in der Welt nicht den Eindruck erwecken, ich wollte noch irgend etwas erreichen.«

Daß sich der Chef des Generalstabes noch mit Hoffnungen auf die Kanzlerschaft trug, war in jedem Falle eine Schwäche seiner sonst nicht geringen Urteilskraft. Er mußte wissen, daß der Kaiser gerade ihn niemals zum Kanzler machen würde. So trug er, der eifrig in seiner unterirdischen Art die eigene Kandidatur förderte, nur zur Vertiefung der Stimmung bei, in der Fürst Bismarck lebte. Denn nichts geschah oder geschah angeblich in irgend einem Lager, wovon nicht alle Lager wußten. Müdigkeit überkam Bismarck, der schlaflos war, an Schmerzen litt und im Widerstande des Kaisers vor ungekannten Kränkungen stand. Es war wenige Tage nach der Unterzeichnung der beiden Erlässe, daß er dem Kaiser vorschlug, sich auch vom Amte des preußischen Ministerpräsidenten zurückziehen zu wollen, nachdem der Oberpräsident von Berlepsch ihn schon als Handelsminister ersetzt hatte. Nur den Ausgang der Wahlen wollte er noch abwarten, sie nicht vorher durch einschneidende Änderungen verwirren. Vielleicht legte er dann seine Ämter ganz und gar nieder. Auch seine Gesundheit bestimme ihn, der Wunsch nach Entlastung zunächst, sodann nach völliger Ruhe. Länger als höchstens bis in den Juni des gleichen Jahres wolle er in den Geschäften nicht verbleiben – –

Er trug seine Absichten dem Kaiser am 8. Februar vor. Der Kaiser schwieg dazu und nickte nur. Fast immer verliefen die Unterhaltungen zwischen Kaiser und Kanzler seit einiger Zeit so, daß der Fürst sprach und der Kaiser schwieg. Sie wurden einander fremd. Der Reichskanzler bemühte sich um einen kühlen, wie aus der Ferne kommenden Vortragston. Der Kaiser strebte seit den Vorfällen im Kronrat nach der formellen Haltung des Monarchen, der den Kanzler nahm, wie alle anderen auch, die vor ihm in Audienz erschienen. Verstimmt und bedrückt blieben dann beide, wenn die Audienz zu Ende war.

Wenn der Kanzler wieder ruhig geworden schien, setzte dann freilich stets aufs neue ganz unerwartet der Rückschlag ein. Soeben erst hatte er dem Kaiser seinen Entschluß gemeldet, als preußischer Ministerpräsident zurücktreten zu wollen. Zugleich wollte er seinen völligen Abschied vorbereiten. Zwei Tage später trat er abermals vor den Kaiser, um seinen Entschluß zu widerrufen. Er hatte dem Staatsministerium die Absicht seines Ausscheidens aus der Ministerpräsidentschaft mitgeteilt. Kein einziger der Minister hatte ihn gebeten, von seiner Absicht abzustehen. Im Gegenteil, der Kanzler hatte bemerkt, daß alle Mitglieder des Kabinetts zu seiner Mitteilung »vergnügte Gesichter gemacht hätten«. So wollte er erst recht und ganz in seinen Ämtern bleiben:

»Bloß, um die Minister zu ärgern.«

Er sah, daß der Kaiser völlig überrascht war. Er erwog gar nicht, daß eine Änderung seiner Entschlüsse nicht allein von ihm, sondern vielleicht auch von dem Monarchen abhing. Er teilte mit, daß er sich eben anders entschieden hätte. Der Kaiser erwiderte, daß er auch die neue Entscheidung des Fürsten annehme und sich freuen wolle, wenn er weiter mit ihm arbeiten könne. Der Kanzler begann, sich in Ausfällen gegen die Minister zu ergehen. Er nahm jeden einzelnen vor. Kaiser Wilhelm hatte den Eindruck, daß der Fürst ihn verhindern wollte, unter ihnen einen Kanzlerkandidaten zu sehen. Dann brach der Fürst die Unterhaltung ab. Er verabschiedete sich frostig.

Der Staatsrat, dessen Berufung der Kaiser gewünscht hatte, trat zusammen. Industrielle saßen dort neben Arbeitern. Kaiser Wilhelm eröffnete die Versammlung selbst, die Eingangsfeierlichkeit war kurz, der Kaiser befahl, daß die eigentlichen Sitzungen noch im gleichen Monat beginnen sollten. Fürst Bismarck beurteilte die Aussichten des Staatsrates nach wie vor schlecht. Er beurteilte die ganzen Absichten und Pläne des Kaisers schlecht. Da er in engerem Zirkel offener wurde, klangen auch die Worte offener, die man ihm erwiderte. Es begannen sich Gruppen zu spalten: für den Kanzler und für den Kaiser. Bei Hofe trat der Flügeladjutant von Bülow für den Fürsten ein. Um seiner Verdienste willen mußte man ihm manches nachsehen. Auch der General von Kessel, ein Vetter des Kanzlers, bot alles auf, um die vielen Verstimmungen auszugleichen, die es jetzt täglich gab. Schon unter Kaiser Friedrich hatte er bei Gegensätzen zwischen dem Monarchen und dem Kanzler vermittelt. Bismarck sah den General gern bei sich, denn er liebte seine schlagfertige, immer sehr witzige und von unabhängiger Gesinnung durchwehte Art. Von alters her hatte er offene Tür im Hause des Fürsten.

»Vergessen Euere Durchlaucht nicht«, versuchte er auf Bismarck einzuwirken, »daß ich aus eigener Anschauung bestätigen kann, was Seine Majestät der Kaiser im Hause seiner Eltern Ihretwegen leiden mußte, weil er unter Ihnen im Auswärtigen Amte zu arbeiten hatte. Der damalige Prinz hat bei allem Schweren, das er im Elternhause erdulden mußte, das auch Ihretwegen stillschweigend ertragen. Daher werden Euer Durchlaucht doch wohl der jetzigen Majestät das Verhalten des damaligen Prinzen anrechnen müssen.«

Bismarck wurde nachdenklich. Er schien in sich versunken. Er erwiderte nichts. Haltung und Ton wurden aber dem Kaiser gegenüber milder bis zu dem Augenblick, da die Sprecher der anderen Gruppe wieder auf ihn eindrangen. Dem bayrischen Gesandten Grafen Lerchenfeld klagte er auf einer Soirée sein Leid über den Kaiser.

»Nehmen Sie doch«, riet der Graf, »dem jungen Herrn die Kandare hoch« –

Der Graf war sehr stolz auf seine freimütigen Äußerungen über den Kaiser. Er ergänzte sie:

»Il n'est pas un monsieur« – –

Beide Worte durchschwirrten alle Kreise. Bismarck hatte sie angehört. Er hatte dazu geschwiegen und augenblicklich wurde seine Haltung dem Kaiser gegenüber wieder schroff. Schwäche sollte man ihm nicht nachsagen. Der Kaiser wurde noch zurückhaltender und immer förmlicher. Solange der Kanzler zu halten war, wollte er es versuchen. Bismarcks Können war kaum zu ersetzen. Aber menschlich begann eine Mauer zwischen ihm und dem Fürsten sich aufzurichten. Seit geraumer Zeit verbitterte ihm, der in der Abwehr stand, der gegen den Heros des Volkes nur in äußerster Notwehr etwas unternehmen konnte, der Kanzler das Leben, die Arbeit und alles Wollen. Es bedurfte gar nicht der zwei Worte des Grafen Lerchenfeld, die auch zu ihm zurückgeflogen waren.

 

Der Ausgang der Wahlen für den Reichstag gab den Prophezeiungen des Fürsten recht, wenigstens nach dem Stand der Zahlen, die von den einzelnen Parteien für ihre Sitze im neuen Hause erreicht wurden. Die Sozialdemokratie eroberte tatsächlich wesentlich mehr Stimmen, als bisher für sie abgegeben worden waren. Der Reichskanzler fühlte sich in seinen Anschauungen nur gestärkt. Er sah nur mehr das Mittel aus »Blut und Eisen« gegen den Aufruhr und Umsturz, der für ihn die Sozialdemokratie war. Er gestand offen, daß er von der ganzen Arbeiterschutzgesetzgebung, von Staatsrat und »Internationaler Konferenz« gar nichts hielt. Dem Kaiser wollte er – es war an der Zeit – ganz andere Vorschläge machen. Er erbat Vortrag bei ihm zum 24. Februar. Knapp vorher war ihm vom Staatssekretär Grafen Herbert Bismarck ein merkwürdiges Schriftstück vorgelegt worden.

Die Dynastie des Grafen Schwarzburg-Sondershausen war im Aussterben. Wenn der letzte, sechzigjährige Fürst Karl Günther die Augen schloß, wenn sein etwa gleichaltriger Bruder – sie waren beide kinderlos – ihm gefolgt war, so fiel die Thronfolge an das regierende Haus des Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt. So belanglos das Ereignis an sich war, so wichtig schien dem Fürsten, da er sich in sie vertiefte, mit einemmal die Frage, ob das Haus Schwarzburg-Rudolstadt mit der Regentschaft zugleich auch die Stimme erbte, die dem verwaisten Fürstentum bisher im Bundesrate zustand. Vor zwei Jahrzehnten war er bei irgendeinem Anlaß der Auffassung gewesen, daß die einzelnen Staaten des Reiches, nicht seine Fürsten, ihr Stimmrecht durch die von ihnen entsendeten Vertreter im Bundesrate übten. Diesmal aber neigte er anderer Meinung zu: nicht die Staaten des Reiches, sondern die Reichsfürsten waren die Träger der Bundesratsstimmen. Ob das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt wie bisher nur eine Stimme behielt oder durch Erbfolge sie verdoppelte, war dem Kanzler völlig gleich. Wichtig war ihm bei dem ganzen Anlaß nur, daß er als Stimmträger und Beschließer im Bundesrate die Reichsfürsten feststellte: weil diese Tatsache ganz unerwartete Ausblicke gab.

Der Bundesrat hatte die deutsche Reichsverfassung aufgerichtet. Sein Beschluß, dem Reiche die bestehende Form und Verfassung zu geben, war also ein Vertrag der Reichsfürsten. Wenn man in solchem Gedankengange weiterschritt, so ließ sich nicht leugnen oder wenigstens ließ es sich vertreten, daß Vertragsteilnehmer ihren Vertrag nach Wunsch jeden Tag wieder aufheben konnten. Sie brauchten sich nur darüber zu einigen. Wenn sie den alten Vertrag verwarfen und zunichte machten, so konnten sie dann allerdings nach Belieben auch wieder ein neues Abkommen schließen. Das ganze Deutsche Reich erschien dem Kanzler plötzlich als eine ausschließliche Gründung und Bindung durch den Willen und Beschluß der Reichsfürsten. Sie konnten finden, daß die Verhältnisse im Deutschen Reich unerträglich geworden waren. Sie konnten darum die alte Verfassung durch Rücktritt vom Vertrage aufheben. Dann war auch kein Reichstag mehr da. Lag das Recht aber so, wie es sich hier auslegen ließ, so gab es überhaupt verschiedene Mittel, um sich des unbequem gewordenen Reichstages vollständig zu entledigen oder ihn allmählich mattzusetzen. Der König von Preußen konnte es verweigern, in Zukunft preußische Bevollmächtigte in den Bundesrat zu ernennen. Sie fehlten dann auch im Reichstage. Er wurde arbeitsunfähig. Denn wenn er sich in Opposition erhob, so mußte er es gegen jemand tun, dessen Anwesenheit er zu gesetzgeberischer Tätigkeit brauchte, der aber nie da war: denn der Bundesrat konnte sich für unabsehbare Dauer fernhalten. Der Reichstag mußte dann entweder nach Hause gehen oder sich für den Übergang zu Taten entscheiden, die sich im Zaume halten ließen.

Die Tatsache, daß die Reichsfürsten die Verfassung beherrschten und daß nach solcher Folgerung im Grunde sie allein das Deutsche Reich darstellten, gewährte dem Wunsche nach Beseitigung des Reichstages auch die Möglichkeit noch schnellerer Erfüllung. Der Kaiser konnte die Reichskrone niederlegen. Das Deutsche Reich wurde zunächst einmal aufgelöst. Zwar gab es dann auch keinen Reichskanzler mehr. Aber der Ministerpräsident von Preußen blieb. Der Botschafter Graf von der Goltz hatte 1865 Bismarcks Worte aufgezeichnet:

»Der Versuch, mit dem jetzigen Kammersystem zu regieren, müsse als vollständig gescheitert angesehen werden. Constitutionalismus sei für Preußen ein Wahnwitz; wir könnten nur eine Regierungsform vertragen, die der absoluten Regierungsgewalt, gleichviel ob die letztere von einer Monarchie oder einer republikanischen Diktatur ausgeübt würde. Als ich Minister wurde, war ich ein radikaler Constitutionalist im Vergleich zu dem, was ich jetzt bin. Ich kenne jetzt nur noch den Absolutismus für Preußen.«

Der Kaiserin Eugenie hatte Bismarck in einer Unterhaltung über die Auflösung der preußischen Kammern schon damals die Überzeugung ausgedrückt, »daß sich der Constitutionalismus für kontinentale Länder überhaupt nicht eignet.« Er dachte 1890 nicht anders als 1865. Er konnte, wenn der deutsche Kaiser durch den Verzicht auf die Reichskrone eine völlig neue Lage schuf, nicht nur in Preußen schalten und walten ohne sich um den fortgeschickten Reichstag weiter zu kümmern. Er konnte auch mit den Bundesfürsten, die ihre freie Entscheidung wieder bekommen hatten, neue Bedingungen zur Wiederaufrichtung eines besseren Reiches und zur Wiedereinsetzung des Kaisers vereinbaren. Ob der Kaiser die Zustimmung zu einem Unternehmen gab, das in Wahrheit einen Staatsstreich größten Stils darstellte, war nicht zu übersehen. Es konnte sein, wahrscheinlich war es sogar so, daß der Monarch mit seinen Versuchen zu einer Arbeiterschutzgesetzgebung in naher Zeit völlig scheiterte. Oder daß der sozialdemokratisch gestärkte Reichstag Herausforderungen brachte, die rasch in Unruhen überglitten und an Stelle einer Arbeiterschutzgesetzgebung die Strenge des Einschreitens bedingten. Wenn sie das letzte Auskunftsmittel war, so blieb dem mit seinen Programmen der Milde niedergebrochenen Kaiser kaum viel anderes übrig, als daß er sich fügte. Die Macht war dann bei dem Kanzler. Er allein schaffte mit harter Faust dort wieder Ordnung, wo der Herrscher versagt und mit seinen Reformen die Wirrnis erst angerichtet hatte. War es dem Kanzler das eine Mal geglückt, ein deutsches Kaiserreich zu schaffen, so war es ein Mißtrauen in seine eigene Kraft, wenn er nur einen Augenblick bei dem Zweifel blieb, ob sich die Riesentat auch wiederholen ließ. Nur war es dann ein anderes Kaiserreich. Auch war es dann ein anderer Kaiser, ein Träger anderer, gebändigter Macht, den er wieder einsetzte. Er war völlig abhängig geworden: vom Kanzler – –

Gedankenreihen so vielsagender Art ließen sich mit unabsehbarer Tragweite aus dem »Promemoria« ableiten, das der Staatsminister von Boetticher lediglich als Untersuchung über die Thronfolgesorgen von Schwarzburg-Sondershausen schon in der Februarmitte gearbeitet und an den Staatssekretär im Auswärtigen Amte geschickt hatte. Zu den Ausführungen des Staatsministers, daß nach dem sechsten Artikel der Reichsverfassung »nicht die Souveräne, sondern die Staaten die Mitglieder des Bundes seien«, fügte der Kanzler die Anmerkung:

»Wo steht das? Der Bundesrat (A. R. T. 6) besteht aus Vertretern der Mitglieder des Bundes. Mitglieder sind nach dem Kopf der Verfassung die Souveräne.«

An den Rand des Gutachtens schrieb er:

»Ist das gewiß? Geschlossen ist der Bund laut Eingangsgesetz von den Souveränen.«

Die Angelegenheit war für ihn noch nicht zu Ende.

Seine Audienzen beim Kaiser waren jetzt so, daß er in der Regel für neun Uhr früh nach Potsdam zum Vortrag bestellt wurde. Er hatte zuweilen auch den Verdruß, im Vorraum warten zu müssen. Den alten Kaiser hatte er bisweilen um zwei Uhr nachts aufgesucht, ohne eine Minute aufgehalten zu werden. Der junge Kaiser begann seit einiger Zeit, Abstand auch zwischen den Kanzler und sich zu legen. Offenbar wollte er betonen, daß er doch der Kaiser war. Bismarck gewöhnte sich schwer. Aber die Wichtigkeit der Vorschläge, die er zu machen hatte, überwog die Empfindlichkeit. Er trat beim Kaiser ein.

Um die Arbeiterschutzgesetzgebung entbrannte sogleich wieder ein heftiges Hin und Her. Der Kanzler sprach von den Wahlen. Er frohlockte fast. Dann erhob er Vorwürfe. Alles war falsch, was nicht der Ordnung mit Gewalt zustrebte. Ein Chaos, das mit Strenge geklärt würde, wäre der langmütigen Nachgiebigkeit vorzuziehen, die zuletzt doch im Chaos endete. Aber der Kaiser bestritt, daß auch nur irgend etwas auf Unruhe hindeute. Die Arbeiter müßten trotz der Wahlen spüren, daß Gutes für sie im Werke sei. Der Staatsrat beginne am nächsten Tage seine Beratungen. Der Zeitpunkt der ›Internationalen Konferenz‹ rücke näher. Es war kein Zweifel, daß sie zustande kam. Kein Arbeiter wäre töricht genug, sich unter solchen Umständen zu Unüberlegtheiten hinreißen zu lassen.

»Majestät!« rief der Kanzler aus, »geben Sie mir vierundzwanzig Stunden Zeit und ich arrangiere Ihnen in Berlin einen Aufstand, mit dem alles sofort erledigt sein wird! Da können Sie die Leute niederkartätschen« – –

Der Kaiser schüttelte den Kopf. Er wehrte sich heftig. Alle seine Gedanken in der Arbeiterfrage waren davon ausgegangen, daß er auch die Arbeiter als deutsche Untertanen ansah, wie jede andere Schicht im Volke. Er war verpflichtet, alles zu versuchen, um auf gesetzgeberischem Wege zu einer Ordnung zu kommen. Wenn er dem Vorschlag des Fürsten nachgab, so galt doch er, wenn es zum Blutvergießen kam, dem Volk als der Urheber. Niemand glaubte ihm dann, daß der Vorschlag vom Reichskanzler, nicht aber von ihm gekommen war. Selbst wenn das Volk dies wußte und glaubte: verantwortlich blieb dem Volksgefühl doch nur der Kaiser –

»Wenn alle anderen Mittel erschöpft sind«, war seine Erwiderung, »dann mache ich den Appell an die Waffe. Dann rasiere ich auch, wenn es sein muß, einen ganzen Stadtteil. Aber vor meinem Gewissen muß ich es verantworten können.«

Der Kanzler ließ das Thema fallen. Er kam auf den neuen Reichstag. Es war zu erwarten, daß seine Haltung ungefügig sein werde. Die Notwendigkeit, ihn aufzulösen und heimzuschicken, werde sich kaum vermeiden lassen. Er beabsichtigte, dem Hause abermals ein neues, noch wesentlich verschärftes Sozialistengesetz vorzulegen. Der Reichstag werde seine Annahme verweigern. Auch die neue, ziemlich hohe Militärvorlage, die einhundertdreißig Millionen Mark für Rüstungszwecke vorsah, wäre ein Mittel, um den Reichstag zum Widerstand zu reizen, der zugleich seine Verabschiedung bedeutete. Auch war die Möglichkeit zu erwägen, daß man den Reichstag immer wieder mit solchen Vorlagen auflöste, bis er gefügig würde –

Der Kaiser hörte in großer Erregung zu. Er pflichtete den Vorschlägen des Kanzlers weder bei, noch lehnte er sie ab. Sie waren nicht spruchreif. Die Arbeiterschutzgesetzgebung war im Werden. Sie mußte heilwirkende Folgen haben. Die Pläne des Kanzlers zerfielen dann von selbst. Außerdem war der Kanzler darin an seine bestimmte Entscheidung gebunden. Noch war es nicht so weit. In seinen Gedanken kam er von der Straßenschlacht nicht los, die der Kanzler befürwortete. Ein Argwohn stieg in ihm auf. Noch war er keine zwei Jahre an der Regierung: seine Herrschaft war gezeichnet für alle Zeit, wenn er jetzt durch Blut watete. Er begann, eine Falle zu wittern. Alles fiel auf ihn allein zurück. Er selbst nahm das Thema nochmals auf. Wenn »ultima ratio« ihm die Waffe in die Hand drückte, so werde er nicht zurückweichen. Aber nie gebe er ein Blutbad ohne schwersten Zwang zu. Er wisse, was dies bedeute: Soldaten auf das Volk schießen zu lassen – –

Aber der Kanzler ließ ihn nicht zu Ende reden. Er nahm plötzlich eine aufgebrachte Haltung an.

»Zum Schießen müsse es doch einmal kommen und daher je eher desto besser, und wenn der Kaiser nicht wollte, so nehme er hiermit seinen Abschied« – –

Die Audienz war für ihn zu Ende. Er nahm seine Mappe und ging. Dem Kaiser hatte er zum drittenmal seinen Rücktritt mitgeteilt. Dem Staatsministerium versicherte der Kanzler, daß der Kaiser von seinem Wunsch zur Milde zurückkomme. Er sei bereit, mit ihm »zu fechten«. Die Losung sei: »No surrender« – »Nicht nachgeben!«

 

Obgleich Fürst Bismarck davon sprach, daß Kaiser Wilhelm in einigem Sinne mit ihm die Dinge betrachte, verschärfte sich seine Kampflust doch noch gerade gegen ihn. Am Tage der ersten Staatsratssitzung, vierundzwanzig Stunden nach seiner Audienz, erschien er für kurze Zeit bei der Beratung. Er hielt eine scharfe Rede. Seine Kritik entlud sich über die Arbeiterreformpläne des Kaisers, der den Vorsitz im Staatsrate führte. Seine Worte streiften hart die Grenze selbst der Höflichkeit. Kaum hatte er seine Ausführungen beendet, so erhob er sich und verließ die Sitzung, ohne die Erwiderung irgendeiner Seite abzuwarten.

Minister und Teilnehmer am Staatsrate saßen in Verlegenheit da. Der Kaiser tat, als wäre nichts geschehen. Später wandten sich die Minister an den Chef des Zivilkabinetts von Lucanus. Sie baten ihn, sie bei dem Kaiser zu entschuldigen, weil sie zu den Ausführungen des Kanzlers geschwiegen hätten. Sie dankten ihm, daß er es zu keiner weiteren Szene hatte kommen lassen. Die tiefste Bestürzung zeigte der Staatsminister von Boetticher. Seit Wochen fühlte er sich als Sündenbock in allen Zerwürfnissen zwischen Kaiser und Kanzler. Der Fürst überhäufte ihn mit Vorwürfen und Anschuldigungen. Er ließ ihn fühlen, daß er in ihm, der nur zur Vertretung des Kanzlers und seiner Wünsche im Staatsministerium bestellt war, einen Verräter sah. Er dränge sich an den jungen Herrn. Bismarck hatte ganz vergessen, daß er selbst ihn mit dem Kaiser zusammengebracht, selbst Aussprachen des Ministers mit dem Monarchen gewünscht hatte. Der Reichskanzler war der Chef des Staatsministers. Oft hatte Bismarcks Stellvertreter dem Kaiser geantwortet, wenn er mit Ideen und Plänen kam, deren Brauchbarkeit der Minister begriff:

»Majestät, ich möchte ja so gern! Aber ich darf ja nicht« – –

Der Staatsminister konnte nicht leugnen, daß der Kaiser, auch wenn er selbst dem Reichskanzler zunächst untergeben war, doch unter allen Umständen eben der Kaiser blieb. Er litt unter schwerer Depression. Er sah sich hin und her gestoßen. Jeder neue Zwischenfall erschwerte seine Stellung.

Seinen Standpunkt über die Bedeutung der Fürstenstimmen im Bundesrat ließ Bismarck in einem Schreiben an die Staatssekretäre des Innern und der Justiz festlegen. Es sollte dabei bleiben, daß die Fürsten den Bundesrat darstellten, nicht ihre Staaten. Er legte das Schreiben am ersten Märztage dem Kaiser vor. Er brachte es ihm als eine staatsrechtliche Aufklärung wie andere auch. Was heute mit dem Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen passierte, konnte morgen in einem anderen Bundesstaate eintreten. Die Frage mußte im Grundsatz geregelt werden. Der Kaiser nahm die Regelung zur Kenntnis, ohne ein Wort daran zu knüpfen. Der Kanzler ließ sich in keinerlei Besprechung oder auch nur in Andeutungen darüber ein, welche Ausblicke oder Möglichkeiten sich mit dem Falle unter Umständen verbanden. Das Schreiben ging den Staatssekretären zu – mit dem Ersuchen: »sich, auch abgesehen von der Schwarzburgschen Erbfolgefrage, eintretenden Falles von der vorstehenden Auffassung leiten zu lassen« – –

Deutlicher sprach sich der Reichskanzler vor den Ministern am zweiten Märztage aus. Er verlas das Schreiben an die Staatssekretäre, mit dessen Inhalt der Kaiser einverstanden sei, und fügte hinzu:

»Übrigens würde man, um der fortgesetzten Opposition eines Reichstages, in welchem die oppositionellen Elemente die Mehrheit hätten, zu begegnen, auch andere Mittel anwenden können, der König von Preußen sei befugt, die deutsche Kaiserwürde niederzulegen. Ohne aber dieses äußerste Mittel anzuwenden, könne er dadurch, daß er z. B. keine preußischen Minister und keinen Reichsbeamten in den Bundesrat delegiere, die Oppositionslust im Reichstage abschwächen, da es den Parteiführern auf die Dauer nicht gefallen werde, ihre Reden gegen anonyme Majoritäten des Bundesrates zu halten. Auch der Reichskanzler brauche nicht Mitglied des Bundesrates zu sein, nur dessen Vorsitzender.«

Die Minister wußten nicht, woran sie waren. Was der Fürst hier vortrug, dies war – so viel begriffen sie – der Weg zum reinen Staatsstreich und Verfassungsbruch. Da Deutschland immer noch in Frieden und Ordnung lebte, konnten es nur theoretische Erwägungen sein, die sein stets bewegter Geist offenbar von einem besonderen Falle fortspann. Seit der Fürst aus Friedrichsruh in der Hauptstadt wieder eingetroffen war, schienen seine Gedankengänge unberechenbar. Auch seine Haltung den Ministern gegenüber ließ sich nie vorhersagen. In der Regel behandelte er sie seither schlecht. Er ließ sie fühlen, daß er ihnen mißtraute. Es konnte nur darum sein, daß er sie mit größerer Betonung als je zuvor an seine Macht erinnerte. Gleich am Beginne des Ministerrates hatte er ihnen eine alte »Allerhöchste Order vom 8. September 1852« vorgelesen, nach welcher die Herren Ressortchefs ihre Immediatvorträge »nach vorheriger Rücksprache mit dem Ministerpräsidenten halten sollten – –

Diese Order bestehe auch heute noch zu Recht, solange sie nicht durch eine neue aufgehoben werde, und es sei notwendig, daß der Ministerpräsident von Immediatvorträgen, bei welchen die allgemeine Verantwortlichkeit desselben für die Gesamtpolitik des Ministeriums mit im Spiele sei, vorher informiert werde.«

Der Ministerrat verlief abwechslungsreich genug. Seine Teilnehmer fanden sich in der unklaren, drückenden Atmosphäre nicht zurecht. Fern am Horizont erschienen die Möglichkeiten von Umsturz und Verfassungsbruch. Es war von Umständen die Rede gewesen, unter denen der Kaiser die Krone niederlegte. Der Monarch sollte die Minister fortan nur sprechen, wenn der Fürst damit einverstanden war. Nur der Reichskanzler Fürst Bismarck sah und wußte ganz klar, was all dies bedeutete. Er hatte sein Einverständnis mit dem Kaiser betont. Den Ministern setzte er auseinander, daß man in gewissen Zeitläuften das Reich zu besserer Wiedergeburt auch auflösen konnte. Dem Kaiser hatte er kein Wort davon gesprochen. Von den Ministern schnitt er ihn jetzt ab. Wie immer die Entwicklung ging, der Fürst selbst konnte damit rechnen, daß er der Herr der Lage blieb. Ob er Ernst machte, ob er nur mit Gedanken spielte. Gedanken oder Ernst waren ein gleich dämonisches Schauspiel. Seine Flammen drohten freilich mit neronischer Färbung. Der Troß der Minister hatte ihm ohne Widerstand zu helfen. Sie hatten dabei zu schweigen. Was er befahl, geschah für sie in Abkunft mit seinem Herrn. Die Minister hatte er niedergeduckt. Den Kaiser hatte er isoliert – –

Bedrohlich war der ganze Horizont, wenn der Kanzler keinen andern Ausweg wußte. Aber es war die Größe des Fürsten Bismarck, daß er in allen Angelegenheiten stets zwei Wege sah.


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