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Arbeiter und Sozialdemokraten

Um die gleiche Zeit, da der Zwischenfall in der Schweiz heftig den Kanzler erregte, brach unerwartet, ohne Ansage für die Bevölkerung, ein großer Kohlenarbeiterstreik in den Bergwerken der Rheinprovinz und Westfalens aus.

Noch waren Art, Ausmaß und Heftigkeit der Bewegung damals neu für Deutschland. Vereinzelte Versuche von Lohnkämpfen hatte in bescheidenerem Umfange, ohne wesentliche Störung oder gar sichtbare Folgen für Wirtschaft und Staat, nur die ›Gründerzeit‹ anderthalb Jahrzehnte vorher erlebt. Schon die Unruhe, die von jenen ersten Streiks auf die Öffentlichkeit und ihre überkommenen Begriffe von Ordnung zurückstrahlte, die neue, bis dahin nirgends im Reiche gewagte Haltung und Sprache der Sozialdemokratie hatte dem Kanzler genügt, um im Herbst 1887 im Reichstage ein Sozialistengesetz einzubringen und auch durchzusetzen. Monarchie und Besitzende sollte es ›gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‹ schützen. Dreimal wurde das Ausnahmegesetz erneuert. Obgleich die Streiks der Gründerzeit rasch verflackert waren, obgleich für die Handhabung des Ausnahmegesetzes nicht gerade übergroße Milde beabsichtigt war: die Sozialdemokratie wuchs stetig. Die Stellung Deutschlands zwischen gefährlichen und kriegrüstenden Nachbarn bereitete dem Kanzler bisweilen unruhige Nächte. Aber mit Erbitterung erfüllte ihn jede Stunde, jeder Augenblick, in denen er an das Aufkommen und die immer wachsende Verbreitung einer Weltanschauung oder Staatsauffassung dachte, die ihre Propheten und Apostel schon im Reichstag hatte und dort ihre Plätze noch zu vermehren begann. Die schweren durch ›Blut und Eisen‹ geordneten Probleme von 1864, 1866 und 1870 waren einfach gegenüber den Aufgaben, die seit dem Berliner Kongreß die Innenentwicklung im Deutschen Reich an den Kanzler stellte. Er war gewohnt zu herrschen. Nicht nur an Deutschlands Freundschaften und Bündnissen baute er selbständig, ohne viel zu fragen. Auch im Innern war er gewohnt, allein zu befehlen. Ludwigs XIV. Wahlspruch: »L'État c'est moi!« verstärkte er noch in der Umkehrung:

»Moi, je suis l'État.«

Der Kanzler sah den Erzfeind in dieser neuen ›Sozialdemokratie‹, die gegen seinen Willen, gegen seine Erlaubnis aufstrebte, in ihrer Zukunft lag für ihn das Ende der Monarchie, allen Besitzes, jeder Gesellschaft und jeder Gesittung. Er bestimmte und verschwor ihr den Untergang. Schon bei den ersten Anzeichen ihrer Macht erhob er sich in seiner ganzen Gewalt. Er wollte sie nicht als Partei überwinden oder gar in Verfassung und Reich eingliedern. Er beschloß sie niederzuschlagen. Wenn dies nicht gelang, so wollte er ihr einen regelrechten Krieg ansagen. An den Grenzen war Rußland vielleicht ein Gegner. Frankreich war es bestimmt. Die Sozialdemokraten aber waren der gehaßte, tödliche Feind. Die Folge der ersten Auflehnungsversuche von Arbeitern und Arbeitergruppen, die sich mit unerlaubten Forderungen zusammengerottet hatten, war das Sozialistengesetz gewesen. Arbeiter oder Sozialisten, – wenn auch nicht der gleiche Begriff – konnten doch beide durch das Ausnahmegesetz, wenn ihre böse Gesinnung in Tat, Wort oder Schrift erwiesen war, durch Haft bestraft und aus ihrem Wohnort abgeschafft werden. Das Sozialistengesetz hielt widerstrebende Arbeiter, hielt die Sozialdemokraten und Revolutionäre kräftig im Zaum, gegen sie alle erdacht, gegen sie alle anwendbar in jedem Augenblick; denn sie alle waren für den Kanzler von gleicher, nur staatsfeindlicher Sucht nach Umtrieben und nach Umsturz gelenkt. Völlig geschützt hatte Bismarck, im eigenen Hause ein unnachsichtiger Herr, längst das Reich und die Herrschaft gesehen. Plötzlich aber begannen neue Funken aufzusprühen. Wenn deutsche Polizei auf Schweizer Boden arbeitete, so spürte sie Unterirdischem nach. Der Grimm des Kanzlers ließ sie vor Verstecken und geheimen Nestern nicht haltmachen, die mühsam aufzustöbern ihr eigentlich verboten war. Aber der Polizeikampf gegen Aufruhr und Sozialdemokratie mußte gar nicht erst auf gewagten, fremden Boden getragen werden. Offene Brandherde waren näher. Denn die Funken im Rheinland und in Westfalen knisterten und sprühten nicht nur. Sie schlugen als Flammen an allen Ecken und Enden Deutschlands, wo immer es Arbeiter gab, hoch auf im nächsten Augenblick.

 

Schlepper und Pferdetreiber hatten den Streik in den ersten Maitagen 1889 im Gelsenkirchner Bergrevier eröffnet. Wenige Tage darauf feierten hunderttausend Bergarbeiter in der ganzen Ruhr. In Dortmund, Witten, Bochum lagen die Zechen still. Der Ausstand griff auf den Kreis Hamm über. Er sprang nach Essen. Im ›Königreich Krupp‹ klopfte kein Hammer. Aber noch ehe die Kohlenarbeiter im rheinischen Kohlenrevier und an der Saar die Haue hinlegten, streikten auch schon die Knappen in den Steinkohlengruben in Oberschlesien. Im Aachener Revier wurde keine Kohle mehr gefördert, von den Kohlengrubenbesitzern in Sachsen forderten die Belegschaften Lohnerhöhung. Alle forderten Lohnerhöhung. Vierundzwanzig Mark und weniger in der Woche genügten keinem für den Unterhalt von Weib und Kind. Die Knappschaften lehnten sich auch gegen eine Arbeitsschicht von zehn Stunden am Tage auf. Acht Stunden im Stollen waren allen genug. Überall hatten die Bergarbeiter diese Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährung möglicher Lebensbedingungen seit vielen Wochen begehrt. Die Grubenbesitzer hatten zu den Forderungen geschwiegen. Sie dehnten die Zeit, vielleicht kapitulierten die Störrischen. Schließlich hatten die Bergarbeiter noch vierzehn Tage gewartet. Dann verweigerten sie endlich die Einfahrt in den Schacht.

Nur die ungewohnte Stille änderte das Aussehen der Reviere. Die Knappschaften standen herum, die man sonst nicht sah. Die Zwischenfälle aller Streiks meldeten sich. Streikbrecher wollten sich um die Kameraden nicht kümmern. Gegen den Verrat rotteten die Feiernden sich zusammen. Ihren Kampf wollten sie nicht durchbrechen lassen. Zechenleiter und Grubenherren riefen nach militärischem Schutz. Den Standpunkt der Reichskanzlei kannten die Behörden: sie schickten Ulanen und Infanterie. Gewehre gingen los. Zum erstenmal gab es Bajonettstiche und Salven mitten im Frieden. Keiner wußte, wie die Zwischenfälle entstanden waren. Aber Tote blieben auf vielen Plätzen. Irgendwo wurde eine Schildwache überfallen und erstach den Angreifer. Irgendwo wurden Beamte ergriffen und mißhandelt. Die Erbitterung wuchs. Auf allen Seiten. Der Verkehr stockte. Die Bahnen liefen unregelmäßig. Polizei und Militär übten Sperrstunde und Straßenfreiheit als Belagerungszustand. Zweifellos war, daß die Polizei und das Militär, von kampflustigen Offizieren geführt, selbst Aufruhr aus dem Aufstand machten. Verstimmt befahl der Kaiser, daß im Ausstandsgebiet der kommandierende General selbst für die Herstellung der Ruhe, für kaltes Blut bei den Soldaten sorge. Er forderte Bericht über die wirkliche Lage. Lakonisch depeschierte der im Streikgebiet stehende Husarenoberst von Michaelis zurück:

»Alles ruhig, mit Ausnahme der Behörden« – –

Die Schüsse hörten auf. Der Kaiser setzte die schuldigen Beamten ab. Unfähige schickte er fort. Aber der Ausstand ging weiter. Er griff über in das Reich. An allen möglichen Orten feierten jetzt Handwerker und Arbeiter: in Leipzig die Schmiede, in Bremerhaven die Maurer, in Hamburg die Brauer, in Thüringen die Gerber, in Langensalza die Zimmerleute, in Bergedorf die Glasmacher. In der Reichshauptstadt wollten die Maler, die Kürschner, die Tischler nicht mehr arbeiten. Die Streikwut ging um als Fieber, als neue Krankheit, die alle ergriff, als plötzliche Manie, als Heilsbotschaft und Weltverbesserungsmethode. Endlich schickten die Bergarbeiter eine Abgesandtschaft zum Kaiser. Er empfing sie in Anwesenheit des Innenministers von Herrfurth im Berliner Schloß.

»Wir fordern, was wir von unseren Vätern ererbt haben,« trug ihm der Sprecher der Abgesandtschaft vor, nachdem er dem Kaiser »den allergetreuesten Gruß der Knappen« überbracht hatte, »nämlich die achtstündige Schicht. Auf die Lohnerhöhung legen wir nicht den Wert. Die Arbeitgeber müssen mit uns in Unterhandlung treten; wir sind nicht starrköpfig. Sprechen Eure Majestät nur ein Wort, so würde es sich gleich ändern und manche Träne würde getrocknet sein.«

»Jeder Untertan,« erwiderte der Kaiser den Abgesandten, »wenn er einen Wunsch oder eine Bitte vorträgt, hat selbstverständlich das Ohr seines Kaisers. Das habe ich dadurch gezeigt, daß ich der Deputation gestattet habe, hierher zu kommen und ihre Wünsche persönlich vorzutragen. Ihr habt euch aber ins Unrecht gesetzt, denn die Bewegung ist eine ungesetzliche, schon deshalb, weil die vierzehntägige Kündigungsfrist nicht innegehalten ist, nach deren Ablauf die Arbeiter gesetzlich berechtigt sein würden, die Arbeit einzustellen. Infolgedessen seid ihr kontraktbrüchig. Es ist selbstverständlich, daß dieser Kontraktbruch die Arbeitgeber gereizt hat und sie schädigt. Ferner sind Arbeiter, welche nicht streiken wollten, mit Gewalt oder durch Drohungen verhindert worden, ihre Arbeit fortzusetzen. Sodann haben sich einzelne Arbeiter an obrigkeitlichen Organen und fremdem Eigentum vergriffen und sogar der zu deren Sicherheit herbeigerufenen militärischen Macht in einzelnen Fällen tätlichen Widerstand entgegengesetzt. Endlich wollt ihr, daß die Arbeit erst dann wieder gleichmäßig aufgenommen werde, wenn auf allen Gruben eure sämtlichen Forderungen erfüllt sind.

Was die Forderungen selbst betrifft, so werde ich diese durch Meine Regierung genau prüfen und euch das Ergebnis der Untersuchung durch die dazu bestimmten Behörden zugehen lassen. Sollten aber Ausschreitungen gegen die öffentliche Ordnung und Ruhe vorkommen, sollte sich der Zusammenhang der Bewegung mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so würde ich nicht imstande sein, eure Wünsche mit Meinem königlichen Wohlwollen zu erwägen. Denn für Mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind. Merke ich daher, daß sich sozialdemokratische Tendenzen in die Bewegung mischen und zu ungesetzlichem Widerstande anreizen, so würde ich mit unnachsichtlicher Strenge einschreiten und die volle Gewalt, die Mir zusteht – und dieselbe ist eine große – zur Anwendung bringen.

Fahrt nun nach Hause, überlegt, was ich gesagt, und sucht auf eure Kameraden einzuwirken, daß dieselben zur Überlegung zurückkehren. Vor allem aber dürft ihr unter keinen Umständen solche von eueren Kameraden, welche die Arbeit wieder aufnehmen wollen, daran hindern.«

Unmittelbar nach den Bergarbeitern empfing der Kaiser eine Abgesandtschaft der Bergherren.

»Ich habe Ihnen die Audienz gestattet,« erklärte ihnen der Kaiser, »weil es selbstverständliche Sache des Monarchen ist, daß beide Parteien gehört werden. Was die Ursache des Streiks betrifft und die Mittel zur Beseitigung desselben, so erwarte ich darüber noch eingehend Bericht meiner Behörden. Mir kommt es hauptsächlich darauf an, möglichst bald dem großen westfälischen Streik ein Ende zu machen. Ich spreche meine Anerkennung aus für das Entgegenkommen, das Sie den Arbeitern gezeigt haben, wodurch die Grundlage für eine Verständigung gewonnen worden ist. Ich werde mich freuen, wenn auf dieser Basis sich Arbeitgeber und Arbeiter vereinigen werden. Ich möchte von Meinem Standpunkt aus noch eins betonen: wenn die Herren etwa der Ansicht sind, daß die von mir gehörten Deputierten der Arbeiter nicht die maßgebenden Vertreter der Kreise waren, die dort streiken, so macht das nichts. Wenn sie auch nur einen Teil der Arbeiter hinter sich haben, so wird doch immer der moralische Einfluß des Versuchs einer Verständigung von hohem Wert sein.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen Beteiligten dringend empfehlen, daß die Bergwerksgesellschaften und ihre Organe sich in Zukunft stets in möglichst naher Fühlung mit den Arbeitern erhalten, damit ihnen solche Bewegungen nicht entgehen. Denn ganz unvorbereitet kann der Streik sich unmöglich entwickelt haben. Ich möchte Sie bitten, dafür Sorge zu tragen, daß den Arbeitern Gelegenheit gegeben werde, ihre Wünsche zu formulieren, und sich vor allen Dingen immer vor Augen zu halten, daß diejenigen Gesellschaften, welche einen großen Teil meiner Untertanen beschäftigen und bei sich arbeiten lassen, auch die Pflicht dem Staat und den beteiligten Gemeinden gegenüber haben, für das Wohl ihrer Arbeiter nach besten Kräften zu sorgen und vor allen Dingen dem vorzubeugen, daß die Bevölkerung einer ganzen Provinz wiederum in solche Schwierigkeiten verwickelt werde. Es ist ja menschlich natürlich, daß jedermann versucht, sich einen möglichst günstigen Lebensunterhalt zu erwerben. Die Arbeiter lesen Zeitungen und wissen, wie das Verhältnis des Lohnes zu dem Gewinn der Gesellschaften steht. Daß sie mehr oder weniger daran teilhaben wollen, ist erklärlich. Deshalb möchte ich bitten, daß die Herren mit größtem Ernst die Sachlage jedesmal prüfen und womöglich für fernere Zeiten dergleichen Dingen vorzubeugen suchen. Ich kann Ihnen nur ans Herz legen, daß das, was der Vorsitzende Ihres Vereins am gestrigen Tage mit Erfolg begonnen hat, möglichst bald zu einem guten Ende geführt wird.«

Keine der Abgesandtschaften verließ das Schloß befriedigt. Jedem hatte Kaiser Wilhelm seinen Wunsch nach Verständigung ausgedrückt, seinen mächtigen Willen, die Verständigung zu fördern. Aber keine der streitenden Gruppen konnte behaupten, daß sich der Kaiser – zu dem sie ja deshalb gekommen waren – auf ihre Seite gestellt hätte. Von den Bergknappen hatte er Anerkennung und Einhaltung von Recht und gesetzlicher Bindung verlangt. Die Bergherren hatte er auf das ungeschriebene Recht von Menschlichkeit und Billigkeit verwiesen. Beide mußten weiter verhandeln. Endlich kam eine Einigung zustande. In den ersten Junitagen war der Streik beendet, und die Ruhe kehrte überall in die erregten Gemüter zurück. Nicht abgetan war das Erlebnis für den Kaiser. Er begann die ausführlichen Berichte über die Bewegung zu studieren, die er aus allen Streikgebieten hatte einholen lassen. Für ihn hatte der Ausstand, der eine völlig neue Sorge in das Reich getragen und die Aufmerksamkeit der Welt wachgerüttelt hatte, das Problem im Kern aufgerollt. Er begann sich mit dem Kanzler darüber auszusprechen.

 

Aber zu seiner Überraschung zeigte sich, daß Fürst Bismarck den Kern und die Umrisse der ganzen Frage vollständig anders sah, als er selbst. Er wußte, daß der Kanzler in der Sozialdemokratie den Todfeind des Staates bekämpfte, daß keine Härte ihm hart genug war, die Verhaßten niederzuringen. Über die Sozialdemokratie dachte der Kaiser kaum viel anders als der Fürst. Dennoch war der Unterschied in den Auffassungen von Kaiser und Kanzler groß, denn der Herrscher vertrat die Ansicht, daß die überwundene Bewegung in den Bergwerksgebieten mit sozialdemokratischen Absichten oder Zielen gar nichts zu tun gehabt hätte. Der Fürst aber konnte keinen Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Arbeitern entdecken. Er ließ gerade noch gelten, daß Sozialist, Arbeiter und Anarchist nicht immer identisch waren. Umstürzler sah er in allen. Indes sprach der Kaiser nur von den Arbeitern und sah nur sie, losgelöst von aller Politik, die den Ausstand nicht gefärbt hatte. Politisch wichtig und gefährlich waren Massen nur, wenn lange Dauer sie in Gärung hielt, wenn in den Kampf um Brot und Entwicklung von außen her Schlagworte und Aussichten getragen wurden, die sie bisher gar nicht kannten. Wenn der Kanzler sich innerlich auf die Seite der Grubenherren schlug, wenn er gegen Streik und Streikende war, so kämpfte er nur seinen alten Kampf gegen die Sozialdemokratie weiter. Der Kaiser aber behauptete, daß die Bergarbeiter bei der Sozialdemokratie noch gar nicht angelangt wären. Gerade von der Sozialdemokratie wollte er sie fortleiten. Er wollte nicht, daß Forderungen um Brot und Lebensrechte, die er natürlich nannte, in den großen Strom politischer Arbeitsprogramme einmündeten. Noch hatte es für die Ausständischen keine straffe Organisation gegeben. Noch diktierten nicht Verbände und Gewerkschaftsbeschlüsse die Haltung des Einzelnen. Noch ging jeder, wohin ihn der Magen trieb. Der Kaiser sah in seinem Reiche nur Staatsbürger, die alle für ihn – so war die Überlieferung: niemals hatten selbst die Betoner des Mannesstolzes vor Königsthronen auch nur den leisesten Einspruch dagegen erhoben – gleichberechtigte Untertanen waren. Für sie hatte er in gerechter Unparteilichkeit zu sorgen. Ihnen allen hatte er Lebensbedingungen zu schaffen, die sie am Reiche hielten. Dazu war er von Gott in sein Herrscheramt eingesetzt. Dafür war er – Monarch und Diener am Staate – verantwortlich. Die Arbeiter litten. Sie litten schwer. Sie hausten in Wohnungen, die keine waren. Sie arbeiteten in Fabriken und Werkstätten zwischen Dämpfen und Gasen, die an ihren Körpern fraßen, sie arbeiteten in Gefahren unter der Erde, lichtfern und mit bedrohten Lungen, für deren Säuberung vom Kohlenstaub kaum Zeit war, wenn sie die Sonne wiedersehen durften. Sie hatten alle ein ungewisses Alter. Sie wurden an den Straßenrand geworfen, wenn ihre Kraft versagte. Keinen drückte ihre Zukunft, wenn sie von einem Unglück geschlagen waren. Er sah sie fortgeschickt für den Rest eines kümmerlichen Daseins; kaum für eine Brotkruste reichte ihre Entschädigung. In ihren Gedanken mußten sie nicht allein die Grubenherren verantwortlich machen, die den Gewinn aus ihrer Arbeit fortnahmen, um sich Villen und Schlösser zu bauen. Sie mußten zuletzt bei der Kritik an einer Staatsordnung ankommen, die einen großen Teil der Bevölkerung solchem Schicksal auslieferte.

Der Kaiser dachte an Hinzpeter zurück. Er war ein trockner Pedant gewesen. Er hatte so ziemlich alles in ihm ertötet und durch pädagogischen Eigensinn zerstampft, was er zum Erblühen und zur vollen Reife hätte erwecken und bilden sollen. Seine Ideen über Monarchenverpflichtung am Menschentum hatte er stets mehr mit dem Verstande als mit dem Herzen und weitumspannender Güte entwickelt. Er predigte sie mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der er den kleinen Prinzen reiten lernen ließ. Aber jetzt zeigte sich, daß ihm dennoch ein Verdienst gutzuschreiben war: der Kaiser kannte Thema, Ursache und Folge. Er sah die Arbeiterwohnungen im Geiste wieder, in deren Dunst der Lehrer ihn einst einzutreten gezwungen hatte. Er sah die Enge und das Elend. Die Fabriken und Fronkasernen standen wieder da, die er als Kind durchwandert hatte. Er brauchte keine Kampfschriften zu lesen, um ganz genau zu wissen, daß die Arbeitgeber die Arbeiter ausnutzten, wie sie konnten, wo sie konnten, daß sie es taten, solange es nur ging, ehe sie die Ausgepreßten fortwarfen. Er selbst hatte all das gesehen, hatte als Prinz schon erkannt, daß mitleidlose Ungerechtigkeit hier in voller Willkür schaltete. Wenn die Grubenherren, wenn die Industriellen den Arbeitern die Kräfte und die Leistung ihres Lebens nahmen, so war es nur Pflicht und Schuldigkeit, daß sie den Arbeitern als die Stärkeren Lebensmöglichkeit, Schutz vor Gefahren oder ihren Folgen, Gesundheit und Lebensfreude schufen. Solche Selbstverständlichkeit hatte mit Politik gar nichts zu tun. Erst unmenschliche Verweigerung trieb die Arbeiter als Enterbte des Schicksals in Radikalismus und Staatsfeindlichkeit. Er wollte Arbeiterstädte, Arbeiterschulen, Hospitäler und Ferienheime. Er wollte Arbeiter, die Bürger wurden. Ihre Kinder sollten das Lachen kennen, wie andere Kinder auch, wenn sie nicht gerade eine Prinzenjugend hinter sich hatten, wie er selbst. Dem Kanzler trug er alle seine Gedanken vor. Aber der Kanzler sah nur Schwärmereien.

Der Kanzler hatte für Menschlichkeit keinen Platz in der Politik. Dort duldete er auch nicht Moral. In einem geordneten Staat hatte niemand ein Recht zu murren. Niemals, unter gar keinen Umständen, auch wenn er litt. Im Staate war es stets nur die Macht, die entschied, und an die Macht kam zuletzt, wer nicht daran gehindert wurde, ihr nachzustreben. Den ganzen Streik führte Bismarck auf das Hungermotiv gar nicht zurück. Auch wenn Professor Hinzpeter, den der Kaiser während des Streiks in das Kampfrevier geschickt hatte, mit der Meldung zurückkam, daß alles noch schlimmer sei, als je zuvor. Der Kanzler hörte auch den Professor ruhig an. Hungern mochten vielleicht die Arbeiter. Aber wesentlich für den Kanzler war, daß er sie aufgehetzt glaubte. Der Kaiser wollte, daß Keime gesundeten, die gut waren. Der Kanzler stimmte für Ausrottung. Der Monarch sprach von Arbeitern. Der Kanzler wetterte gegen die Sozialdemokraten. So übergroß hatte Bismarck die Ausmaße des Streiks übrigens gar nicht gefunden. Weit lieber hätte er es gesehen, wenn sozialdemokratischer Aufruhr offen ganz Deutschland ergriffen hätte. Gegen die Revolution von 1848 war geschossen worden. Aber nicht gründlich genug. Der Kanzler war für die unverhüllte, meuterische und vollständige Erhebung der Sozialdemokratie. Was 1848 versäumt worden war, konnte 1889 so gründlich nachgeholt werden, daß man sich das Schießen in aller Zukunft ersparen konnte.

»Ich übernehme die Regierung«, hielt ihm entsetzt der Kaiser vor, »nach einer langen Friedenszeit. Es hat seit 1848 nie etwas gegeben, alles ist eingeordnet. Alles läuft gut und friedlich. Da soll ich damit beginnen, in Berliner Straßen schießen zu lassen? Wissen Sie denn, Durchlaucht, was das heißt?«

Das Erschrecken des Kaisers ließ den Kanzler kühl.

»Ich übernehme dafür jede Verantwortung« – –

Der Kaiser sah, die alte Generation war wieder aufgestanden – auch Bismarck gehörte zu ihr. Der Dreißigjährige hatte den Weltverbesserungsdrang der Jugend. Der Kanzler hatte die Menschenverachtung des Alters. Aber dem Fürsten schien die ganze Frage im Augenblick nicht von brennender Schärfe. Das Sozialistengesetz, dessen Rechtskraft im Jahre 1890 erlosch, wurde ohne Zweifel erneuert. Da wieder Ruhe im Lande herrschte, war kein dringender Anlaß vorhanden, mit dem jungen Kaiser über Probleme zu sprechen, die er vor allem romantisch sah. Der Kanzler reiste nach Friedrichsruh. Er begann sich dort für dauernden Aufenthalt einzurichten. Staatsgeschäfte fanden zu ihm auch in Akten ihren Weg. In der Reichshauptstadt vertrat ihn vollinhaltlich sein Sohn, der Staatssekretär. Der Kaiser aber studierte weiter an seinen Berichten über den Streik. Wenn auch im Lande Ruhe herrschte, er war um seine Ruhe gebracht.

Alle Meldungen bestätigten, daß der Ausstand der Arbeiter mit politischen Unterströmungen gar nichts zu tun gehabt hatte. Alle Darstellungen und alle Ziffern, die sie nannten, ließen nur die Ausnutzung der Arbeiter durch die Industriellen erkennen. Es ging nicht, daß der Kanzler in Friedrichsruh davon gar keine Kenntnis nehmen wollte. So groß war Bismarck, so klar sein Geist vor allen wirklichen Problemen, daß der Kaiser ihn umzustimmen hoffte. Der Fürst selbst hatte ihm den Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, seinen getreuen Helfer von Boetticher in seinem Hause vorgestellt. Er hatte ihn dem Kaiser als seinen besten Vertreter bezeichnet und den Vertrauten absichtlich häufig eingeladen, wenn er den Kaiser zu Tisch erwartete. Der Kanzler legte Wert darauf, daß der Kaiser den Vizepräsidenten nicht achtlos übersah. Dem Staatsminister von Boetticher war der Monarch dann bei vielen Gelegenheiten, auch bei Jagden begegnet. Er wollte dem Fürsten seinen nächsten Mitarbeiter mit Anregungen schicken. Er hatte die Überzeugung, daß er den Kanzler um jeden Preis für ein Reformwerk gewinnen müsse, das die Lage der Arbeiterschaft in Deutschland verbessern sollte. Der Staatsminister sollte auf Bismarck einwirken.

»Der Fürst muß mir dann Vorschläge machen«, erklärte der Kaiser. Überrascht aber hörte er die Antwort des Ministers:

»Ach, das tut er nie! Ich habe es so oft schon versucht, ihm auch jetzt wieder klargemacht, daß auf die Berichte hin absolut etwas geschehen müsse. Aber er lehnt alles ab! ›Kanonen und Gewehre genügten.‹ Ich will gern Euerer Majestät Anregung Bismarck nach Friedrichsruh überbringen. Aber es wird gar nichts nützen. Er wird einen Wutanfall bekommen, Eure Majestät einen Phantasten und mich einen Intriganten und Oppositionsmacher nennen – und ablehnen. Heraus kommt nichts dabei! Er will eben nicht, da kann man nichts machen!«

Dem Kaiser war neu, daß der Kanzler ›Wutanfälle‹ bekam. Er mußte gestehen, daß er mit dem Fürsten immer auf die verbindlichste Art hatte verhandeln können. Immer hatte der Kanzler alles getan, um jede Frage im besten Einvernehmen mit ihm zu regeln. Da er sich darum sogar sichtlich zu bemühen schien, war es vielleicht gut, wenn sein Helfer von Boetticher auf ihn – den Kaiser – sich unmittelbar berief. Er fragte:

»Wenn aber die Anregung – beziehungsweise Aufforderung – direkt von mir, dem König, kommt: dann muß er doch darauf eingehen!«

Er gab dem Minister den formellen Befehl, den Kanzler in Friedrichsruh aufzusuchen. Der Abgesandte kam schneller zurück, als der Kaiser erwartet hatte. Vom Kanzler war er genau so empfangen worden, wie er erwartet und vorausgesetzt hatte. Die Vorschläge des Fürsten Bismarck für den Kaiser blieben aus. Nur in seltenen Gesprächen kam der Kanzler, wenn er gerade in der Reichshauptstadt weilte, in beiläufiger Art auf das Thema zurück. Als beste Lösung der Arbeiterfrage empfahl er die Einführung einjähriger Dienstpflicht in den Bergwerken. Das Reich hätte nur hohen Gewinn davon: ›ein Armeekorps Kohle‹ – –

In unüberbrückbarem Gegensatz standen Kaiser und Kanzler mit ihren Auffassungen gegeneinander. Keiner verstand, wie denn der andere in der ganzen Frage so denken konnte. Der Kanzler schob die Ideen des Kaisers auf die neue Zeit. Der Kaiser sah bedrückt das Alte. Der Kaiser sorgte sich um die Arbeiter. Der Kanzler wegen der Sozialdemokraten.


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