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Der Albdruck der Bündnisse

Die Bündnisse des Kaiserreichs waren dicht verschlungen, ein vielmaschiges, schwer zu durchdringendes Netz: der Kanzler selbst hatte es gesponnen, der Kanzler allein wußte mit ihm umzugehen. Seit er das Reich geschaffen, verfolgte er das eine Ziel, ihm den Frieden zu erhalten. Er hatte Österreich aus Deutschland hinausgedrängt, hatte es 1866 weder vernichtet, noch gedemütigt. Schon damals hatte er gewußt oder geahnt, daß Königgrätz nicht Preußens letzte Entscheidung war. Der Gegner von gestern war morgen vielleicht wertvoll als Freund. Ihm hatte er wesentliche Dienste auf dem Berliner Kongresse geleistet, hatte ihm dort selbst einen Weg gewiesen, auf dem er Trost und Entschädigung für den verlorenen Einfluß in Deutschland und Italien finden konnte. Es war dann nur natürlich gewesen, daß die Reiche der Hohenzollern und Habsburger sich ausgesöhnt wieder aneinanderschlossen, nicht nur, weil die Vermächtnisse gemeinsamer Geschichte und verwandter Kultur sich nicht auslöschen ließen. Österreich-Ungarn stand auch nach seiner Erholung von der Niederlage nicht ohne Feinde, das Deutsche Reich nach seinen glänzenden Siegen nicht ohne Neider und Gefahren da. Der Zweibund mit Österreich-Ungarn konnte dem Kanzler indes nicht genügen. Sicher war das Deutsche Reich nur dann, wenn in ganz Europa ein System und eine Lage geschaffen war, die alle Mächte zur Ruhe zwang.

Dem Kanzler gelang das große Versöhnungswerk, Italien in den Dreibund mit Österreich-Ungarn und dem eigenen Reiche einzufügen. Er hatte einen großen Block geschaffen, der Rußland im Wege stand, wenn es sich kriegerisch regen wollte, und Frankreich die Lust benahm, wenn Rachegelüste es aufstachelten. Ruhe sah Bismarck in Europa nur, wenn keiner angriff, Bündnisse hatten Wert und Berechtigung nur dann, wenn sie der Abwehr galten. Er wollte niemand ermuntern, neue Taten zu versuchen, alle wollte er abhalten, an dem Bestehenden zu rühren. Allerdings gab es zwei Mächte in Europa, unberechenbar, von ihm unabhängig und von ihm nicht lenkbar: England und Rußland. Das eine galt ihm als unzuverlässig, als zu demokratisch, zu selbständig und unbeeinflußbar, das andere fürchtete er als nächsten, unter Umständen gewalttätigen Nachbar. Gering waren seine Besorgnisse, wenn er nach Frankreich hinübersah, und die Stimme der Leidenschaft, die französische Sehnsucht nach Revanche ließ ihn kühl, ob sie von dem Hitzkopf Boulanger oder irgendeinem anderen empfunden und genährt wurde. Ein neuer Krieg mit Frankreich ließ sich ertragen, wenn es ihn haben wollte. Nicht ertragen ließ sich, daß der neue Krieg sich sehr leicht in eine allgemeine Auseinandersetzung verwandeln konnte, in der so gewaltige Stimmen wie die Rußlands und Englands vielleicht die Lust hatten mitzureden. Unsicher war, ob sie für Deutschland und seinen Anhang sich erheben würden, wahrscheinlich war – wenigstens was Rußland betraf – das Gegenteil, denn eben gegen den russischen Koloß hatte er den Dreibund gebaut.

Er hatte alles getan, um Rußland durch das Bündnis nicht zu reizen. Er hatte den Bund mit Österreich-Ungarn sogar so geschlossen, daß die Monarchie selbst nur schwer Verwicklungen solcher Art mit Rußland schaffen konnte, daß es zu ihrer Bereinigung den Krieg mit Rußland aufnehmen mußte. Bismarck wußte, daß jeder Waffengang zwischen Österreich-Ungarn und dem Zaren – wenn er für Österreich-Ungarn überhaupt Aussichten haben sollte – von dem Bundesgenossen so begonnen werden mußte, daß die Heere Kaiser Franz Josephs angriffen. Wartete das ungleich kleinere und schwächere Donaureich so lange, bis der Zar nur die Hälfte seiner Truppen versammelt hatte, so wurde es erdrückt. Österreich-Ungarn war in jedem Krieg gegen Rußland der Angreifer, ob es nun so vermessen war, selbst einen russischen Krieg zu wollen, oder ob Rußland es bis zur Verzweiflung reizte. Der Kanzler wußte also, daß er allein es in der Hand hatte, ob es einen Krieg des Donaureiches mit Rußland gab oder nicht. Denn nur dem angegriffenen Bundesgenossen hatte er seine Hilfe verbürgt: ein von Rußland angegriffenes Österreich gab es nie. Wenn Bismarck von allen Mächten auf dem Kontinent die Ruhehaltung ersehnte, – vom Bundesgenossen verlangte und erzwang er sie. Die heikle Lage, in der Österreich-Ungarn aus militärtechnischen Gründen sich Rußland gegenüber befand, baute er sogar noch aus.

Englands Mittelmeerabkommen mit Italien, nach dem die beiden Mächte sich die Unversehrtheit der bestehenden Verhältnisse im nahen Orient verbürgten, unterstützte er mit seinem ganzen Gewicht. Dem Beitritt Österreich-Ungarns redete er solange das Wort, bis das Mittelmeerabkommen wirklich zum Vertrage der drei Mächte wurde. Jetzt erst hatte der Dreibund, vor allem der Bund mit Österreich-Ungarn, einen Sinn. Wurde Deutschland von Rußland angegriffen, so mußte Kaiser Franz Josephs zu Unrecht unterschätzte Armee marschieren. Gegen Rußland konnte die Monarchie aus eigenem Entschluß nichts unternehmen. Auf dem Balkan durfte sie nach dem Mittelmeerabkommen keinen einzigen Schritt tun. Der Bundesgenosse war abhängig von Bismarcks Wort – sein Wesen und Sinn für Bismarck: ein Kriegsinstrument, eine Drohung gegen Rußland. Wenn der Fürst das Mittelmeerabkommen begünstigte, so wanderten seine Gedanken in gleicher Richtung. Auch dieses Abkommen war eine Drohung gegen den Zaren. Er mußte bei jedem Spaziergange im Orient bedenken, daß England, Österreich-Ungarn und Italien gleichzeitig dagegen aufmarschieren konnten. Es lag dann ausschließlich bei dem Fürsten Bismarck, ob er mitgehen wollte oder nicht. Der Augenblick konnte dann so sein, daß er mitmarschierte, auch wenn Rußland angegriffen wurde. Oder daß er zu Hause blieb, weil der Bundesgenosse einen Angriffskrieg unternahm, den die Unterzeichner des Mittelmeerabkommens allein austragen mußten. Beim Verharren in der Neutralität hatte er vielleicht doppelten Gewinn. Eines blieb immer bestehen bei Dreibund und Mittelmeerabkommen: die Drohung gegen den Zaren.

 

Rußland fürchtete er. Nicht nur, weil er wußte, daß der von ihm zusammengerufene Berliner Kongreß mit einem Siege Englands und Österreichs über den Zaren geendet hatte. Er fürchtete Rußlands Unruhe und ›Überheblichkeit‹, die unberechenbaren Grundlagen seiner Politik, die ganz auf das Gutdünken des Zaren und das Wesen der Männer gestellt waren, die ihn gerade beherrschten. Unruhe schaffte das Vermächtnis Peters des Großen, das nach Konstantinopel drängte, Unruhe schaffte die Selbstsuggestion der Orthodoxen, die aus der Religion Politik schlugen. Unruhe schaffte das Allslawentum, das auf dem Balkan bis zu den griechisch-katholischen Bulgaren wanderte und dort Einspruchsrechte verlangte. Es konnte sehr gut sein, daß Österreich-Ungarn, festgehämmert in den ihm von Bismarck bestimmten Rahmen, sich überhaupt nicht rühren konnte. Dies schloß nicht aus, daß Rußland sich rührte. Wenn Rußland in einen Krieg mit Deutschland geriet, ob Österreich-Ungarns wegen oder aus einem anderen Grunde, dann war es sicher, daß Deutschland auch mit Frankreich zu rechnen hatte. Zweifellos war es auch richtig in jedem Falle, wenn eine Verbindungsmöglichkeit zwischen Frankreich und Rußland von vornherein durchschnitten wurde. Die Dreibunddrohung und das Mittelmeerabkommen waren gut. Aber sie genügten dem Kanzler nicht. Gelang gleichzeitig eine Annäherung an Rußland selbst, so war dies noch besser. Ein Frühstück mit dem russischen Botschafter in Berlin, Grafen Schuwalow, ließ die ersten Gedanken an ein freundschaftliches Abkommen auch zwischen Rußland und Deutschland im Mai 1887 aufflattern. Tatsächlich kam im Geheimen, dennoch mit voller Verpflichtung, eine Abmachung am 18. Juni 1887 zustande. Es war eine Art ›Rückversicherungsvertrag‹, den das Deutsche Reich mit Rußland schloß.

Der Kanzler wollte Rußlands Wünsche ehrlich fördern. Eine Atmosphäre guter, friedliebender Gesinnung sollte in Zukunft zwischen Deutschland und Rußland bestehen. Zwar hatte er Österreich-Ungarn jeden Vormarsch auf dem Balkan verbarrikadiert, aber er sah keinen Grund, weshalb Rußland – wenn ihm dies ein Herzenswunsch war – nicht nach Konstantinopel gehen sollte. Auch in Bulgarien wollte ihm der Kanzler, wenn dort endlich ›legitime‹ Zustände geschaffen werden sollten, alle guten Dienste leisten, die erlaubt waren. Was das immer drohende Kriegsgespenst betraf, so versprach der Kanzler die deutsche Neutralität, wenn irgendeine Macht mit Rußland im Kriege läge. Der Zar übernahm Deutschland gegenüber die gleiche Verpflichtung. Eine einzige Ausnahme gab es, daß Deutschland nicht untätig kriegerischen Auseinandersetzungen Rußlands zusehen konnte: wenn Österreich-Ungarn angegriffen wurde. Der Kanzler war in seinen Absichten, Europa zu befrieden, ein gutes Stück weitergekommen. Er konnte an Frankreich denken, das jetzt mit seinen Plänen für ›Revanche‹ auch fast ausschaltete. Rußland hatte sich ein wenig verstrickt. Es konnte nicht mehr ganz frei handeln, wie es wollte. Auch Rußland hatte sich bis zu gewissem Grade festgefahren. Nicht alle verstanden, selbst wenn sie vollkommen eingeweiht wurden, was der Kanzler eigentlich wollte. Auch der deutsche Botschafter in London, Graf Hatzfeldt, durch seine an Menschen und Erlebnissen gereifte Klugheit, durch seinen überlegenen Geist und Überblick weit mehr ein Staatsmann als ein Diplomat, fand sich in Bismarcks Gedankengängen nicht zurecht. Ihm schien, daß das neue geheime Abkommen mit Rußland in geradem Widerspruch zu dem Bündnis mit Österreich stand.

»Beruhigen Sie sich,« antwortete ihm der Kanzler, »wenn ich nicht mit Österreich gehen will, so kann ich die Sache leicht so drehen, daß die Österreicher angegriffen haben und nicht die Russen. Und dann helfe ich den Österreichern nicht« – –

Es war so, daß selbst Deutschlands klügster Botschafter Bündnisse mit Moral verwechselte. Fürst Bismarck tat es nicht. Natürlich konnte nicht jeder die letzten Feinheiten wirklicher Staatskunst begreifen. Darum war es auch ganz gut, daß das neue Abkommen völlig geheim blieb. Sowohl in Petersburg, wie auch in Berlin. Drei oder vier Personen wußten im ganzen davon. Schon dem alten Kaiser hatte der Fürst mit dem vollen Einsatz seiner Kanzlerverantwortlichkeit verboten, je ein Wort davon, wenn er ihn in Gastein traf, dem Kaiser Franz Joseph gegenüber verlauten zu lassen. Erschreckt versiegelte der alte Herr seine Lippen in Befangenheit vor dem Kaiser. Friedrich III. starb ohne Ahnung von dem Bestehen des Vertrages. Dem Zaren wurde mitgeteilt, daß Prinz Wilhelm die Abmachung kenne. Aber auch dem ›jungen Herrn‹ erzählte Fürst Bismarck in Wahrheit nichts davon. Denn die Behandlung und den Ausbau von Bündnissen beanspruchte er als sein eigenstes und ausschließliches Recht.

Von den beiden großen Grundlinien, die einem Staate in der Lage Deutschlands für seine Bündnispolitik vorgezeichnet waren, wollte er dabei nichts wissen. Er spann mit den Verträgen nur sein Netz, das ihm nützlicher erschien, als eine wirkliche Entscheidung. Er konnte sich Rußland verbünden als konservativem Freunde, auf Leben, Gedeihen oder Tod. Er konnte dann das große europäische Machtproblem, zugleich das immer krankende Balkanproblem durch Österreich-Ungarns Aufteilung lösen. Empfindsamen Anwandlungen gab er niemals nach. Er hätte, statt mit halbem Verrat die Rückversicherung zu schließen, die Ordnung Europas offen begehren können. Den Bundesgenossen an der Donau sah er dem Zerfall geweiht, aber vor der Operation schreckte er dennoch zurück. Er konnte auch noch einen anderen Weg beschreiten: den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen so stark wie möglich zu machen, ihm jede Entwicklungsgelegenheit zu immer stärkerer Großmacht zusichern, die dann für ihn ein wirklich wertvoller Mitsprecher wurde. Er konnte die Linie, die von England über Österreich-Ungarn und Italien zu ihm zurückführte, selbst aufnehmen und an einem Machtblock arbeiten, der alle vier Staaten zu einer Einheit verband. In Wahrheit schwankte der Kanzler immer zwischen Ost und West, zwischen England und Rußland. Dem großen Grundgedanken wich er aus. Österreich-Ungarn legte er lahm. Gegen Rußland, dem er Unterstützung auf dem Balkan versprach, förderte er die Unterzeichner des Mittelmeerabkommens, die keine Änderung auf dem Balkan dulden wollten. Wenn Rußland dort dennoch zu Verwicklungen trieb, wenn es darum Österreich-Ungarn mit Krieg überzog, wenn die Garanten des Mittelmeervertrages zu Hilfe kamen, so lag für Deutschland und seine Bündnisse der Fall so, daß es gleichzeitig Krieg führen und neutral bleiben mußte. Für Österreich-Ungarn und Italien hatte es an der russischen Front zu fechten. Standen dort auch englische Truppen, so hatte es nach dem Rückversicherungsvertrage die Waffen zu senken. Der Kanzler glaubte, daß solche Verwirrung niemals eintreten würde. Dennoch förderte er ihre Voraussetzungen. Ungefährlicher als die Problemlösung größten Stils erschien ihm ein Bündel von Abmachungen, die alle eine einzige Sicherheit anstrebten: daß das Deutsche Reich Schutz und wohlwollendes Verständnis fände, wenn irgendwer es angriffe, daß es selbst aber in jedem Falle neutral bleiben könne, wo immer es Krieg gäbe. Selbst wenn der nächste Bundesgenosse Österreich-Ungarn ihn führen mußte. Alles ließ sich nach den abgeschlossenen und ineinander gestimmten Verträgen so drehen, daß Deutschland der anderen wegen, von denen es Schutz und Förderung verlangte, zu den Waffen selbst nie greifen mußte. Er glaubte daran, daß er einen Wall mit dem Dreibund gegen Rußland bauen, weiter eine Angriffskolonne von England und Italien her gegen den Zaren aufmarschieren, daß er Österreich-Ungarn gegen Rußland trotzdem im Stiche lassen, gegen das gleiche Rußland im nahen Osten England ausspielen und dennoch, niemals persönlich gefährdet, ruhig in der Mitte aller wohnen könne. Daß er auf die Dauer eine Bündnispolitik treiben könne, bei der Deutschland nur zu empfangen, niemals zu zahlen hätte. Erst in allerjüngster Zeit, erst unter der Herrschaft des neuen Kaisers, gab es mancherlei Zwischenfälle, die den Kanzler nachdenklich stimmten.

 

Er stutzte über die Mitteilungen des Prinzen Reuß, des deutschen Botschafters in Wien, den er zu dem Außenminister der Monarchie, zu dem Grafen Kálnoky, eines Tages mit dringenden Ratschlägen geschickt hatte. Der Kanzler riet unter dem Einfluß von russischen Wünschen von allen österreichisch-ungarischen Unternehmungen auf dem Balkan ab. Er dachte gar nicht mehr daran, daß er selbst dem Kaiser Franz Joseph sein Einverständnis zu der Eroberung Salonikis zugesagt hatte. Der Außenminister Graf Kálnoky ließ dem Kanzler antworten, daß er wohl das Jahr 1866 vergessen haben müsse. Die Monarchie hätte ihre Bewegungsfreiheit in Italien verloren. Sie sprach in Deutschland nicht mehr mit. Irgendeine Auswirkung ihrer Kräfte mußte ihr gewährt werden: so blieb nur der Balkan. Daß Bismarck den Russen ihren Einfluß in Bulgarien zugebilligt hatte, konnte eine Angelegenheit zwischen Bismarck und Rußland sein. Aber dies änderte nichts an der Tatsache, daß Bulgarien, ohne jede geographische Verbindung mit Rußland, weit entfernt von ihm, unmittelbar an die Donau grenzte. Die ganzen östlichen Zusammenhänge – selbst seine nächsten Räte merkten es – schienen ihm nicht mehr ganz so übersichtlich und ganz so leicht aufeinander abstimmbar, wie er bisher geglaubt hatte. Wenn er auch trotz Kaiser Franz Josephs Widerspruch, trotz der Förderung des Mittelmeerabkommens nichts gegen Rußlands Anspruch auf Konstantinopel hatte, schon deshalb nicht, weil er die Russen dort für angreifbarer durch die Engländer hielt, als etwa in der Krim: die Russen mußten doch erst, wenn sie nach Konstantinopel marschierten, durch Rumänien ziehen. Nur einem verbündeten Rußland gestattete Rumänien den Durchzug. Das Königreich aber – das natürlich vom Rückversicherungsvertrage nichts wußte – sollte den Dreibund allmählich ergänzen – –

Die Unruhe, die den Kanzler zum erstenmal beschlich, verflog nicht, wenn er die Haltung des neuen Freundes Rußland abwog. Er hatte – mit dem Rückversicherungsvertrag im Schreibpult – keine Ursache, den Alarm tragisch zu nehmen, den zu jeder Zeit über russische Kriegsvorbereitungen der Chef des Generalstabes schlug. Gewissen Eindruck konnte damit Graf Waldersee auf den Kaiser machen, der seit seinem Besuch in Brest-Litowsk trotz der Herzlichkeit, mit der man ihn nach der Thronbesteigung in Petersburg empfangen hatte, doch alles Russische mit Vorsicht aufnehmen wollte. Den Kaiser konnte Fürst Bismarck bisher immer wieder beruhigen, sogar ohne daß er es nötig hatte, den geheimen Vertrag vorzulegen. Aber unzweifelhaft war, daß die Russen, trotz des Rückversicherungsvertrages, Rüstungen betrieben. Daß sie eine große Anleihe auflegten. Es war kein Trost für den Reichskanzler, daß sie dies in Deutschland taten. Da er kein Mittel hatte, den Banken die Beleihung russischer Werte zu verbieten, ließ er öffentlich gegen die Anleihe warnen. Der Reichsbank verbot er die Beleihung unmittelbar. Aber die Russen stellten in Wahrheit weder die Rüstungen ein, noch ließen sie sich in ihren Geldgeschäften entmutigen.

Nicht zu allen Stunden sah der Kanzler sein Verhältnis zu Rußland geordnet und zu manchen Stunden befielen ihn Gedanken, die nach England wanderten. Mit England hatte es tatsächlich die Möglichkeit gegeben, zu einer Verständigung, vielleicht sogar zu einem Bunde zu kommen. Lord Salisbury hatte im Zusammenhang mit dem Mittelmeerabkommen bei dem Kanzler gewisse ›Beruhigung‹ für die Zukunft erbeten. Der Lord hatte in Gesprächen mit dem Londoner Botschafter Grafen Hatzfeldt stets aufs neue angefragt, in jenen unbestimmten aber inhaltsschweren Umrissen, die die glänzendste Kunst britischer Staatsmänner von jeher ausmachte. Der Kanzler hatte die verdeckte Sprache sofort verstanden. Englands ›Beruhigung‹ war groß, wenn Deutschland ihm Beistand versprach, sollte es einmal zu einem Krieg mit Rußland kommen. In solchem Falle wurden die Umrisse fest und England zahlte den vollen Preis. Sein Bündnis mit Deutschland war dann in stetiger Entwicklung zu haben: der Riesenblock von vier Mächten konnte gezimmert werden, vor dem Rußland – Rußland und Frankreich – und alle machtlos waren. Aber der Kanzler hatte den Rückversicherungsvertrag mit Rußland geschlossen. Die Unehrlichkeit gegen Österreich-Ungarn rächte sich. Eine Abmachung mit England war unmöglich ohne den Betrug an Rußland. So war sie ganz und gar unmöglich. Fürst Bismarck antwortete Lord Salisbury in einer Note, die in jedem Satz, in jeder Prägung die gewaltige, klare Bismarcksche Sprache trug. Dennoch vermochte er nur eine Tugend aus der Not zu machen. Deutschland könne nur Kriege führen, die sein Volk um eigener Lebensinteressen willen auf sich nehme. Es gab keine Söldnerkriege mehr. Doch die Wahrheit blieb: der Kanzler konnte der Russen wegen nicht annehmen. Er konnte sich nicht rühren. Die Nachbarn, sie alle im weiten Europa, hatte er festhämmern wollen auf ihren Plätzen. Aber sich selbst hatte er festgeschmiedet.

Wenn Lord Salisbury von sich aus, mit einer unaufgeforderten Anregung gekommen war, daraus sich Ersprießliches für ein Zusammengehen beider Mächte nach seiner Ansicht ergeben konnte, so war es doch vielleicht möglich, mit England wenigstens zu einer gewissen Verständigung zu kommen, wenn schon die große Einigung nicht möglich war. Im Netz der deutschen Verträge stellte die Sicherung gegen Frankreich die einzige, nicht völlig übersponnene Lücke dar. Bismarck fürchtete Frankreich nicht. Nach dem Geheimvertrage mit Rußland schon gar nicht. Aber für den Versuch einer neuen Unterhaltung mit England und um das ganze Bündnissystem zu vervollständigen, da er einmal bei dem System bleiben mußte, waren seine Sicherungswünsche gegen Frankreich ein willkommener Anlaß. Er schlug, kurze Zeit nach dem Briefwechsel mit Lord Salisbury, England ein Abkommen vor. Frankreich konnte England so gut angreifen, wie es aus Rachsucht Deutschland anfallen konnte. Beide Staaten sollten sich verpflichten, dem Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. England lehnte ab. Denn das Angebot des Kanzlers war ungleich. Wenn es irgendeine Aussicht für Frankreich gab, sich an Deutschland zu rächen, so war der Krieg sicher. Daß das gleiche Frankreich jemals den Krieg mit England wagen, gegen die von allen Flottenplätzen zusammengerufenen Geschwader Englands durchdringen und die Phantasie einer Landung auf sich nehmen sollte, glaubte selbst der Kanzler nicht. Er wollte es England glauben machen. Von Lord Salisbury wollte er alles. Er selbst bot nichts. Die große Lösung, die Zukunftssicherung für das Reich hatte er versäumt. Nach rechts und links. Nach Osten und Westen. Er saß wie die Spinne in seinem System von Verträgen, das nach allen Richtungen ausstrahlte. Aber er konnte sich nicht rühren. Er kam mit ihnen in Konflikt, auch wenn sie zunächst nur gegeneinander standen. Alle hatte er gegeneinander ausgespielt. Aber sich selbst hatte er eingekreist.

»Le Prince de Bismarck a le cauchemar des coalitions!« stellte Peter Graf Schuwalow fest, Rußlands Botschafter in London.

»Nécessairement!« erwiderte der Kanzler, als man ihm das Wort erzählte.

Der Botschafter hatte von Bismarcks neuen Bemühungen um England gehört. Er wußte durch seinen Bruder ohne Zweifel, wenigstens in Andeutungen, von des Fürsten Rückversicherungsvertrag. Es gab außerdem einen Dreibund, den Bismarck geschaffen hatte. Es gab einen Mittelmeervertrag, um dessen Zustandekommen der Fürst sich mehr bemüht hatte, als irgendwer – –

Der Albdruck der Verträge lastete auf dem Kanzler drückender, als der Botschafter ahnte. Der Fürst schlief schlecht in dieser Zeit. Er litt an Nervenschmerzen. Die Bündnisse standen noch. Aber sie standen nicht gut.


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