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Die Bismarcks

Längst sah Fürst Bismarck nur mehr auf die Erhaltung des Gewordenen, das Körper und Einheit der Kraft von ihm erhalten hatte. Die Zukunft des Reiches lag nach seiner Überzeugung in unbestimmten, undurchsichtigen Nebeln, die zu durchdringen kein Staatsmann groß genug war. Er glaubte nicht, daß das Schicksal irgendeiner Macht auf dem Kontinent, eingebettet oder angelehnt an andere Mächte, sich auf längerer Wegstrecke als etwa über fünf oder zehn Jahre hinaus übersehen und auch nur mit einiger Sicherheit vorbestimmen ließe. Selbst das Bestehende erkannte der Fürst nur mehr, wenn es grell und schreierisch an ihn sich herandrängte, wenn es sein Werk zu bedrohen schien, so daß er sich in seiner ganzen, furchtgebietenden Gestalt zur Abwehr erhob. Sein Blick hatte nicht mehr den in einsamer Kälte strahlenden, von keinem Wesen, von keiner Empfindung abgelenkten, schöpferischen Glanz von einst. Noch trug er den gebieterischen Ausdruck der gewaltigen Persönlichkeit, die Bismarck immer war, und das Bewußtsein der Macht, einem einzigen Menschen in solchem Ausmaß selten gegeben. Noch hatten seine Augen dämonisches Feuer: im Zorn oder in Verachtung. Noch konnte Fürst Bismarck kämpfen mit harten und grausamen Waffen, die auch tödlich trafen, wenn er wollte. Aber er führte sie nicht mehr für eine vorwärtsstürmende Idee. Er führte sie nicht mehr für das Werden eines Staates. Der Staat war geschaffen. Er kämpfte nur noch um die eigene Macht. Auch hier nur um die Erhaltung. Er kämpfte um die eigene Kanzlerherrschaft: um die Macht und für die Persönlichkeit des Major Domus.

Der unmittelbaren Berührung mit den Geschäften des Reiches entzog er sich, obwohl er alle Geschäfte selbst entschied oder wenigstens entscheiden wollte. Schon ein Jahr nach der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. kam er nach der Reichshauptstadt nur selten. Er blieb auf seinem Schlosse Friedrichsruh in der Abgeschlossenheit seines Sachsenwaldes. Alles Wissenswerte, alle Berichte kamen schriftlich aus Berlin, alle Weisungen diktierte er seinen Räten. Der Staatssekretär Graf Herbert Bismarck, der ihm Vorträge hielt, reiste unablässig zwischen der Hauptstadt und dem Kanzlersitze hin und her. Umgeben von seinen Nächsten, die gewohnt waren, dem Genie widerspruchslos zu dienen und es zu vergöttern, verliefen in Friedrichsruh die Tage des Kanzlers fast in ungestörter Harmonie.

Er hatte seinen Sohn Herbert, schon als der Graf zwanzig Jahre zählte, ohne Übergang von der Knabenzeit her als Mann und Kameraden genommen. Nie hatte es ernsten Gegensatz oder gar Auflehnung gegen den Vater gegeben. Jetzt nahm der Kanzler ihn als Mitarbeiter und Staatssekretär, der den Fürsten in seiner Abwesenheit ganz vertrat, mit den Ministern und Diplomaten verhandelte, ihm Vorschläge machte, die Bismarck annahm, verbesserte, ablehnte oder abänderte. Alle Konzepte des Staatssekretärs, der auch die Schriftstücke und Reden des Kaisers zu entwerfen begann, zeigten geschickte, vorsichtige Stilisierung und mehr Zurückhaltung, als dem Worte des Grafen zu eigen war. Der Reichskanzler hoffte, daß Graf Herbert, vertraut mit allen Einzelheiten seines Aufbaus und seiner Technik, ihn selbst einst als Kanzler ersetzen könnte. Dem jungen Kaiser war er fast befreundet, schon in der Prinzenzeit ihm von dem Fürsten als »Mentor« beigegeben, damit er ihm im Auswärtigen Amte Einblick in die Staatsgeschäfte verschaffe. Noch mehr erhoffte für ihn die Kanzlerschaft Fürstin Johanna Bismarck, die Mutter des Grafen, die ihn, wo immer es anging, mitunter auch gegen das Gefühl des Gatten, in den Vordergrund zu stellen suchte. Gewiß war ihr Bestreben menschlich, dem Sohne die Zukunft des Vaters zu sichern. Aber manche Anregung, den Grafen mit besonderen Dingen an erhöhter Stelle zu befassen, kam übereifrig von der Mutter. Oft setzte der Kanzler unbehaglich sein Ansehen für den Sohn nicht aus eigenem Wollen und aus eigener Überzeugung ein, vielmehr nur um der Fürstin willen. Nie mischte sich Fürstin Johanna Bismarck unmittelbar in politische Dinge. Die lebhafte, dunkelhaarige Frau mit den großen grauen Augen hatte immer gewußt, daß ihre stärkste Macht ihre große Natürlichkeit, ihr frauliches Temperament und vor allem ihr ausgezeichneter Humor war, der das Lachen des Fürsten erhielt. Ihr Instinkt richtete sich ausschließlich nach Anhängerschaft oder vermuteter Feindseligkeit gegenüber dem Gatten ein. Sie haßte, wen der Fürst haßte, und sie verabscheute den, der gegen ihn stand. Dann freilich liefen ihre Worte spitz und scharf, ohne Rücksicht auf Gaste und Diener, nicht ganz ohne Einfluß auf den Fürsten. Sie beschäftigte sich nur mit den Personen, nicht mit der Politik. Hauspolitik allein war ihr oberster Gedanke und der spätere Eintritt des Grafen Herbert in die Kanzlerschaft war eine Hoffnung, die in dem Kanzler die Mutter erst erweckt und bestärkt hatte. Wenn wirklich im Kreise des Fürsten etwas von der Haltung »einer Dynastie Bismarck« lag, so war es weniger der Kanzler selbst als Fürstin Johanna, die an den großen Ahnherrn sogleich die Tradition knüpfen wollte. Bismarck sah sein Werk. Bismarck sah seine Macht. Werk und Macht erfüllten ihn. Die von ihm angebetete Frau suchte darüber hinaus, wie die Familie auf so überragender, so beispielloser Höhe verbleiben sollte.

 

So unantastbar Fürst Bismarcks gewaltige Leistung für Deutschlands Einigung und Stellung in der Welt war, so tief sich jeder vor ihm neigte: der Verehrung des Genies hatte sich allmählich doch die Furcht vor der Gewalt gesellt, die Kanzler und Kanzlerhaus, der ganze Kanzleranhang ausstrahlten und besaßen. Es gab keine wirklich wichtige Stellung im Königreich Preußen, vielleicht sogar im Reiche ohne Fürst Bismarcks Entscheidung. Er berief und schickte fort. Es gab keine Angelegenheit von wahrhafter Bedeutung, deren Führung anders verlief, als der Fürstes bestimmte. Den verwegenen Gedanken, sich gegen eine Entscheidung des Kanzlers zu stellen, hatte niemand bisher gehabt. Jeder spürte den Druck, der von der überlebensgroßen Gestalt dieses einen Mannes ausging: der Gegendruck der vielen, die nach oben wollten und nicht durften, blieb vorläufig unterirdisch.

Anekdoten, die über die ›Dynastie‹ erzählt wurden, Erfundenes und Gefärbtes schufen Stimmungen um den Kanzler und sein Haus, die auch der Staatssekretär Graf Herbert Bismarck durch sein Wesen nicht besserte. Dem Fürsten gehorchte Graf Herbert bedingungslos. Bismarck hätte seine Autorität, die an sich nirgends Widerspruch duldete, dem Sohne gegenüber nie ausspielen müssen. Graf Herbert sah von selbst den Vater nicht als Menschen an: der Kanzler war ihm ein Halbgott. Oder wenigstens eine Art Michelangelo. So war auch seine Haltung dem Kanzler gegenüber Huldigungskult oder halb Gottesdienst.

Von vielen wurde Graf Herbert Bismarck in der Nebeneinanderstellung mit dem Vater unterschätzt. Er arbeitete mit Gründlichkeit, er arbeitete auch gern. In lebhaftem Gegensatz darin zu seinem Bruder Bill, der als der Klügere galt. Das Wissen des Staatssekretärs war nicht ohne Umfang. Er sprach fremde Sprachen mit Geläufigkeit, wenngleich ohne die Meisterschaft des Vaters, dessen Beherrschung des Französischen, Englischen, Russischen alle Ausländer überraschte. Mehr als vom Vater, an den er in reckenhafter Erscheinung erinnerte, hatte er vom Wesen der Fürstin Johanna. Er übersprudelte mit seinem tiefen Baß im Erzählen, der Humor der Mutter war auf ihn übergegangen. Obzwar er leidenschaftlich und zu verwickelten Intrigen stets bereit war, voll von Bewegung und immer geneigt zu witziger Verfärbung der Dinge, betrachtete er manches doch nüchterner als der Vater. Den Kanzler konnte er im Handwerk ersetzen, ohne seinen Geist zu erreichen. Schlimm war an ihm das allzu betonte Bewußtsein seiner Abkunft und die Hemmungslosigkeit, mit seinem Krafttum alle neben ihm zu überbieten. Er zeigte früh, daß er es mit Anspruch würdigte, wer die Bismarcks waren. Er forderte Achtungsvolle ohne Not heraus. Er war dann rauh und ungezügelt im Ton, überheblich in den Worten, stets schlagfertig, aber im Ausdruck wenig geschmackvoll. Die Ungeniertheit des märkischen Junkers, die manchen Gast merkwürdig und unbehaglich berührte im Hause des Vaters, übertrug er, der die Rücksicht und Zartheit selbst daheim war, schroff auf alle Umgangsformen außer Haus. Er warf die Kraftausdrücke hin, wie Fürst Bismarck von der Tafel eine Kotelette seinen Hunden über die Schulter zuwarf. Indes hatte der große, starke Mann empfindliche Nerven. Er stellte sie, Genüssen nie abhold, auf harte Proben. Kleinigkeiten konnten ihn verstimmen. Vom Wetter war er in hohem Grade abhängig. Er liebte mehr die Kameraden als die Freunde, denen er – wenn sie ihm wirklich nahegekommen waren – treu blieb. Häufig verletzte er freilich auch sie. Im Verkehr mit fremden Diplomaten gönnte er sich, wenn er vom Vater genaue Anweisungen hatte oder Menschen und Situationen ihm lagen, auch zu leichterem, verbindlichem und vermittelndem Ton zwingen. Aber auch vor den Diplomaten fanden ihn seine Mitarbeiter in der Regel zu heftig, zu brüsk durch Machtbewußtsein. Vor dem Kaiser war er geschmeidig und voll guter Einfälle. Dennoch schlug auch hier mitunter seine Selbstherrlichkeit durch. Bei der Einfahrt in die Dardanellen, als er im Gefolge des Kaisers nach Konstantinopel fuhr, überholte er selbständig und gegen alle Anordnungen des Admirals, der das Geschwader befehligte, das Flaggschiff des Monarchen, der erstaunt nach der Bedeutung des Vorgangs fragte. Der Kapitän des Lloyddampfers »Danzig«, auf dem der Staatssekretär sich befand, meldete an Bord, daß Graf Bismarck vor dem Monarchen in Konstantinopel einzutreffen und dort noch vor seiner Ankunft Besprechungen zu haben wünsche. Der Kaiser befahl das Schiff auf seinen Platz zurück. Der Staatssekretär liebte die schnellen selbständigen Entscheidungen auch über den Kopf des Souveräns hinweg und verärgert, wenn ihm dies durchkreuzt oder überhaupt seine Stellung vor anderen nicht besonders betont wurde, trug er persönliche Verletztheit in die Akten und Berichte. Die ganze türkische Reise fand er verfehlt. Nicht nur wegen des Zwischenfalls in den Dardanellen. Er hatte sich vom Sultan einen bestimmten Orden erhofft. Er bekam ihn nicht. Die ganze Lage in der Türkei schilderte er nach der Rückkehr dem Kanzler düster. In allen Geschäften, die seine Person oder seine Eitelkeit nicht unmittelbar trafen, war der Staatssekretär tüchtig ohne das Genie des Vaters, auf dessen Oberhoheit er ständig verwies. Er tat manches, nicht weil der Staatssekretär es als wichtig ansah, sondern weil der Sohn des Fürsten Bismarck sich dies erlauben durfte. Wenn er Verwunderung darüber bemerkte, betonte er die ihm selbstverständliche Tatsache erst recht. Dem Vater half er als Mitarbeiter gewissenhaft. Der Stellung des Vaters half er wenig. Auch er nahm, gleich der Mutter, viel von den Vorzugsrechten der »Dynastie« für sich in Anspruch. Den Großen umdrängten Neid, Mißgunst und Haß. Die Hauspolitik und ihre Ausstrahlungen milderten die Atmosphäre nicht. Sie verschärften sie.

 

Fürst Bismarck kämpfte um seine Machtstellung als Major Domus von Kaiser und Reich damals mit ungleichmäßigen Nerven. Nie hatte sie der riesengroße Mann, wenn es sich nicht um kriegerische Austragungen oder um anderen hohen geschichtlichen Einsatz handelte, in engem Kreise völlig beherrscht. Schon seit Jahren war es so, daß starke Erregung ihm die Tränendrüsen löste, so daß er häufig vor dem alten Kaiser in Tränen ausbrach, ohne in Wirklichkeit zu weinen. In Zornesausbrüchen war er allen furchtbar, denen er so sich zeigte, unbeherrscht und mit einem Beben, das den ganzen Körper durchschütterte. Nach Art und Anlage fast aller Menschen mit feinen, auf jeden Reiz sogleich wirkenden und ausstrahlenden Nerven hatte er dann wieder, im Augenblick höchster Spannungen, die sicher eingesetzte und völlig beherrschte Kraft, sich ganz und gar zu einer unerhörten Ruhe zusammenzufassen, keinem Muskel seines Gesichts auch nur die leiseste Bewegung zu gestatten und eine Unnahbarkeit um sich zu breiten, der gegenüber niemand wußte, woran er war und was überhaupt zu erwarten sei.

Der Hüne war anders, wenn er mit dem alten Kaiser oder mit dem widerstrebenden Kronprinzen Friedrich sprach. Es schien oft, als hätte er hier die schlechten Nerven des großen Meisters, der zugleich ein Star war. Er war wiederum anders, wenn er im Ministerrat saß, darin er stark und starr jeden Widerstand zu brechen wußte, oder wenn er Untergebene empfing. Immer war es die Frage der Macht, die ihn wie den geborenen Herrscher bewegte. Vielleicht hatte er nur ein einziges Mal, seit er der Mächtige war, seinen Willen nicht durchzusetzen vermocht: 1871 in den Tagen von Versailles, als er mit dem Feldmarschall von Moltke in Widerspruch geriet. Kronprinz Albert von Sachsen war damals von der Front in dem Versailler militärischen Hauptquartier eingetroffen und vor dem Hause auf und ab gegangen, in dem der Rat der obersten Führer zusammensaß, als plötzlich der Generalfeldmarschall von Moltke aus dem Torbogen trat. Der Generalissimus sah merkwürdig aus: das Gesicht war hochgerötet, der Helm saß ihm schief auf dem Kopfe. Er schritt an dem Kronprinzen vorbei, ohne zu sehen, ohne ihn zu grüßen, bis der Erstaunte mit hörbarem, überlautem Zusammenschlagen der Hacken vor ihm Front machte. Jetzt sah der Feldmarschall auf:

»Sie hier, Königliche Hoheit? Was gibt es Neues bei Ihrer Armee?«

Aber der Kronprinz fragte gleich:

»Ja, um Gotteswillen, Exzellenz, was ist denn da drin los? So habe ich Sie ja noch nie gesehen!«

»Königliche Hoheit,« brach Moltke los, »wären Sie nur mit dabei gewesen! Jetzt will Bismarck, daß der Generalstab und das Heer unter seinen Befehl gestellt werden! Ich reiche meinen Abschied ein.«

Nirgends auf deutschem Boden, nirgends in deutschem Umkreis gab es Grenzen der Macht, deren Überschreiten der Kanzler sich verwehrt hätte. Was auf deutscher Erde aufgerichtet stand: dies alles war er selbst. Sein Werk und seine Persönlichkeit flossen ihm in eins. Wer sich auflehnte, betrieb Aufruhr. Da die Vorsehung ihn so Gewaltiges hatte schaffen lassen, glaubte er an sie in religiös empfundener Hingabe, wie er – der Preuße stärkster und edelster Prägung – an das Gottesgnadentum seiner Könige glaubte. Das Gottgewollte über den Königsthronen bezeichnete Grenzen, die man auch vor ihm aufrichten konnte. Aber er war es gewohnt, daß er als mächtiger Paladin sie überschreiten durfte. Daß die Könige es ihm von selbst erlaubten. Daß sie sich gleichfalls daran gewöhnten. Seine Nerven versagten sogleich, wenn die von Gott eingesetzten Herren sich auch einmal der Macht des Gottesgnadentums besannen. Da er es nicht brechen, mit Gewalt nicht niederdrücken konnte, da er kein Kondottiere war und nicht Wallenstein, waren hier allein Hemmung und Schranken der Macht. Neurasthenie ergriff dann den Koloß. Er brach in Tränen aus. Er tat es vor dem alten Kaiser oft. Er hatte es 1866 vor dem Kronprinzen getan, als König Wilhelm auf den Marsch nach Wien nicht verzichten wollte. Auch dies entsprach dem Format des Fürsten Bismarck, daß er nur vor Königen weinte.

Im Ausgange der achtziger Jahre quälten ihn seine Nerven schwer. Sie peinigten ihn mit unablässigen Schmerzen, sie erschöpften ihn oft gänzlich. Er litt an Neuralgien des Gesichts, von denen sein Hausarzt Schwenninger nicht wußte, ob sie von den Zähnen oder von anderer Ursache kämen. Der Fürst hatte ein prachtvolles, trotz seines hohen Alters ganz unversehrtes Gebiß. Schwenninger erklärte, daß man dem Kanzler den Kiefer ausbrechen müßte, wollte man auch nur einen Zahn entfernen, so fest, so riesenhaft standen die Zähne noch alle. Der Fürst schränkte die Geselligkeit ein, der Hausarzt verbot alle Weine. Manchmal fiel der Kanzler aus der Rolle und schickte den Kammerdiener nach einer Flasche fort. Aber Schweninger stand vom Tische auf und erklärte kategorisch:

»Ich dulde nicht, daß der Fürst Wein trinkt.«

Dann gab der Kanzler nach. Es war die Zeit, da seine Nervenschmerzen und seine Schlaflosigkeit einen Grad annahmen, daß der Fürst auf Tage hinaus unfähig zu jeder Arbeit wurde. Dem Kaiser gestand Schweninger, daß er dem Kanzler in solchen Fällen, wenn es mit den Schmerzen gar nicht mehr ging, kleine Mengen von Morphium gab. Schweninger bemühte sich, jede unnötige Anstrengung und jede Aufregung von Bismarck fernzuhalten. Er sprach dafür, daß der Fürst überhaupt in der Stille von Friedrichsruh verbleiben solle:

»Lassen Sie sich die Leute doch herkommen, Durchlaucht!«

Aber der Fürst selbst hatte jetzt manchmal das Gefühl, daß er sich nicht ganz in Friedrichsruh einspinnen dürfe, daß doch die Vorträge des Staatssekretärs und die schriftlichen Berichte nicht genügten, um die Geschäfte zu übersehen. Dem Grafen Waldersee, der ihn in Friedrichsruh aufsuchte, um sich mit ihm auszusprechen, gestand der Kanzler offen, daß die Zurückgezogenheit vielleicht nicht richtig sei. Von Berlin her kam das Echo herumgetragener Geschichten und Gerüchte nur ganz schwach oder gar nicht, der Staatssekretär aber hatte nicht die Art, Verstimmungen und Spannungen auszugleichen, die während der langen Abwesenheit des Kanzlers bei allen einsetzten, denen er unbequem war. Der Fürst selbst litt nicht nur an Nervenschmerzen. Noch schwerer drückte ihn die Lage des Reichs und die Sorge um das Reich. Er wußte oder glaubte alles im Innern in seiner Hand. Die Minister beherrschte er. Er hatte sie nach eigener Prüfung und Entscheidung gewählt. Der deutsche Botschafter am russischen Hofe General von Schweinitz gab zu, »daß seit mehr als zwanzig Jahren in Preußen kein Minister ernannt worden sei, welcher nicht durch den Fürsten Bismarck Minister geworden sei. Die Minister, mit denen sich in dieser langen Reihe von Jahren der Reichskanzler umgeben hatte (und unter denen sicherlich Männer von einer ganz hervorragenden Begabung und Leistungsfähigkeit zu finden sind) trugen schon als Folge der Art und Weise ihrer Ernennung mehr den Charakter von »clerks«, von »Kommis« – als jenen von Ministern an sich.« Fürst Bismarck konnte damit rechnen, daß nur sein Wille geschah, daß nur in seinem Sinne von den Männern gearbeitet würde, die er sich ausgesucht hatte. Er band sie durch seine Macht an sich. Er zwang sie durch seinen Geist in seinen Gehorsam. Er griff in ihre persönlichen Angelegenheiten ein, um sie vollends an sich zu ketten. Er bezahlte ihre Schulden. Er hatte den Vizepräsidenten des Staatsministeriums von Bötticher nicht nur aus drückenden materiellen Verhältnissen herausgehoben. Er hatte seine Angehörigen auch vor bürgerlichem Zusammenbruch bewahrt. Der Kanzler beherrschte nicht bloß in der Politik die große und schwere Kunst, alle vor alle zu schieben, alle dann gegeneinander auszuspielen und allein im Hintergrunde zu bleiben. Er verstand es auch wie kaum ein zweiter, jeden um sich in vollständiger Abhängigkeit zu halten und jeden auszuschalten, der die Abhängigkeit nicht annahm. Er übte die große Politik ohne Moral. Wenn er an Deutschland dachte, an das einzige Ziel und an die letzte Liebe, die ihn bewegte, so galt ihm der Satz, den oft seine Umgebung von ihm hörte:

»Mein Gewissen ist auf mich gerichtet wie eine gespannte Pistole« – –

Aber wenn er die Mittel überlegte, um Deutschland zu dienen, – und Deutschland war er selbst und seine Macht –, so war ihm jedes Mittel recht, wenn es nur mit Erfolg sich anwenden ließ. Er ging zunächst den klaren Weg der selbstbewußten Kraft. Doch gab es Nebenwege, wenn Kraft allein nicht ausreichte oder gar nicht anzuwenden war, um wichtige Zwecke zu erreichen.

»Ich lüge ungern. Aber wenn ein indiskreter Botschafter mich dazu zwingt, so fällt die Lüge auf ihn zurück« – –

Auch im Verkehr mit Botschaftern und Ministern kannte er nur Zweckmäßigkeit und nicht Moral. Er hatte dem Kurfürsten von Hessen in den Tagen des Zollvereins hunderttausend Taler geschickt, um ihn gefügig zu machen. Der Kurfürst hatte die Taler angenommen. Er gehorchte. Der Kanzler kannte den Wert des Geldes genau: als Kampfmittel und als Besitz.

»Sie haben doch auch Schweine,« erklärte er dem Fürsten Hatzfeldt, der ihn aufgesucht hatte, um einem weiteren Hinaufgehen der Preise zu steuern, »und kein Interesse daran, daß sie möglichst billig werden!«

Die Minister befehligte er. Er beriet nicht, er gab seinen Willen kund. Sie waren entweder durch sein Genie besiegt. Oder durch die Furcht um ihre Stellung. Oder er hatte bedingungslose Gefolgschaft erkauft. Ohne die Sozialdemokratie gab es überhaupt kein inneres Problem. Es gab nur eine Macht. Sie hörte auf, wo Deutschlands Grenzen waren. Nur Deutschlands Stellung zwischen den Mächten, nur Deutschlands Antastbarkeit bedrückte ihn.

 

Er war seiner Bündnisse, des Werts der vielfachen Abmachungen nicht mehr ganz so sicher, wie zu der Zeit, da er den Rückversicherungsvertrag mit Rußland abgeschlossen hatte. Die Antwort des Grafen Kálnoky an den Botschafter Prinzen von Reuß war es nicht allein, die ihn aufgescheucht hatte. Mit dem Grafen Waldersee, der jeden Tag dem Kaiser den Krieg mit Rußland an die Wand malte, der jeden Tag die Rüstungen herzählte, die Rußland betrieb, mochte er in Feindseligkeit und harter Spannung leben, die alle Welt wußte und die Graf Waldersee – auch wenn er zu Besuch nach Friedrichsruh kam – ehrgeizig und hinterlistig noch vertiefte. Der Kanzler mochte gegen den Chef des Generalstabs alle seine Zeitungen in Bewegung setzen, ihn offen als Kriegsgeneral und Unruhestifter hinstellen. Wahr blieb doch, daß unablässig Unruhe unter den russischen Truppen war und die Russen, kaum daß sie eine Anleihe aufgenommen hatten, eben wieder eine Konvertierung größerer Werte versuchten, Geldmittel großen Umfanges also um jeden Preis aufzubringen strebten, die ihre Unternehmungslust nur steigern konnten. Es kam hinzu, daß der Fürst mit Lord Salisbury einen nicht zu verkennenden Mißerfolg erlebt hatte. Natürlich hatte er dem Lord in der Art etwa geantwortet, daß Deutschland keine Söldnerdienste für England leisten könnte. Aber wenn er aufrichtig war, so mußte er sich eingestehen, daß die große Gelegenheit »der Annäherung« an England eben jenes Rückversicherungsvertrages wegen nicht mehr möglich war, für dessen Wert er zu bangen anfing. So stark drückten Sorgen und Zweifel auf ihn, daß er Neuralgien und Nervenschmerzen vollständig vergaß, daß er sogleich wieder die alte Spannkraft und die ganze dämonische Kampfgewalt, mit der er Geister und Seelen fing, in dem Augenblick wieder zu besitzen glaubte, da Zar Alexander III. im Oktober 1889 zu Besuch bei Kaiser Wilhelm eintraf.

Der Kanzler gab für ein paar Tage die Stille von Friedrichsruh auf. Er sprach den Zaren in langer Unterredung. Er bot alles auf, um die Bedenken des russischen Kaisers über feindliche Stimmungen zu zerstreuen, die der Zar in der Haltung Deutschlands und in seinen Bemühungen um England sah. Der Kanzler kämpfte um den Sinn seines Rückversicherungsvertrages, der nicht nur auf dem Papier stehen sollte. Er hoffte ihn im kommenden Jahr zu erneuern. Er nahm ihm den Albdruck der langen, ungeschützten Grenze. Es schien, daß der Zar den Versicherungen des Kanzlers wirklich glaubte. Wenigstens hatte der Fürst das Gefühl. Die Unterredung wurde wärmer, als Bismarck erwartet hatte. Er kam noch einmal auf die »Bulgarischen Fälschungen« zu sprechen, auf jene angebliche Korrespondenz des Prinzen Ferdinand von Koburg mit der Gräfin von Flandern und andere Briefschaften, aus denen sich Fürst Bismarcks Unterstützung des Prinzen ergab. Hier war das Kapitel angeschlagen, vor dem alles Mißtrauen des Zaren gegen Kanzler und Reich sich verhärtet hatte. Der Kanzler glaubte, dem Zaren diesmal endgültig nachgewiesen zu haben, daß er mit der ganzen Angelegenheit in gar keine Beziehung zu bringen war. Tatsächlich war der gesamte Briefwechsel gefälscht. Mitteilung des Zaren Ferdinand von Bulgarien an den Autor:
»18. September 1929. Ich erkläre hiermit, daß ich niemals mit der Gräfin von Flandern in Korrespondenz gestanden bin. Wer meinen politischen Gedankengang nur einigermaßen kennt, wird sofort erkennen, daß diese ganze Korrespondenz ein klägliches Falsifikat ist. Zu bedauern sind diejenigen, die in Berlin im Herbste 1887 an die Echtheit der Briefe glaubten. Ferdinand.«
Der Fürst hatte den Eindruck, daß der Zar jedes Mißtrauen fallen ließ und nunmehr ganz gewonnen war. Die Sorgen des Kanzlers verschwebten. Er fühlte sich frei, wie seit den Tagen des Berliner Kongresses nicht.

Nach der Abreise des Zaren fuhr er mit dem jungen Kaiser vom Bahnhof zurück. Kaiser Wilhelm stellte einen Gegenbesuch beim Zaren für nahe Zeit in Aussicht. Der Kanzler riet ab. Alles war ohnehin in Ordnung. Es war nicht gut, wenn Souveraine selbst politische Gespräche miteinander führten. Auch glaubte der Fürst nicht an wahre Sympathien des Zaren für den Kaiser. Er dachte an Graf Hatzfeldts Londoner Bericht über den Besuch in Peterhof. Noch lag der Bericht in seinem Schubfach. Inzwischen hatte ihn niemand widerlegt. Kaiser Wilhelms neuer Besuch war ganz überflüssig. Der Rückversicherungsvertrag war auch so gerettet. Erst jetzt bekam er seinen wahren Inhalt und Segen. Die Schlappe mit England war nun weniger wichtig. Aufgeräumt und fast jugendlich frisch, übermütig kam er ins Reichskanzlerpalais zurück. Der Kaiser hatte zum Schluß geschwiegen. Er hatte den Kanzler an sein Haus gebracht und fuhr ins Schloß. Der Fürst stürmte ins Zimmer zu seinen Frühstücksgästen.

»Also: was wollen wir trinken?« Schweninger war nicht da, nur Fürstin Johanna. Er diktierte ausgelassen:

»Einen roten Aßmannshäuser!«

Der Diener lief und kam gleich zurück. Es war kein roter Aßmannshäuser vorhanden. Seit zwei Jahren hatte der Fürst diesen besonderen Wein nicht mehr verlangt.

»Eben deshalb hätten Sie dafür sorgen müssen, daß welcher da ist!«

Aber es gab kein Gewitter, wie sonst so oft, wenn der Fürst tafelte und die Gerichte ihn enttäuschten. Wenn es nicht auf Hauspolitik ankam, in der sie zäh und tapfer war, wenn sie den Gatten nicht durch ihre Scherze und ihre witzigen Einfälle zum Lachen brachte, hatte Fürstin Johanna schreckliche Angst vor ihm. Aber diesmal störte es dem Fürsten die Freude nicht, daß Hasenbraten und Wurst nicht eigens aus Varzin geschickt, sondern eilig in der Stadt besorgt waren.

Der Kanzler fuhr auch in strahlender Laune nach Friedrichsruh zurück. Auf den jungen Kaiser und seine Verstimmung hatte er nicht geachtet. Er hatte sie gar nicht bemerkt. Die Tage verliefen, wie sie alle Monate bisher verlaufen waren. In Bismarcks Arbeitszimmer, das er mit merklicher Absicht so eingerichtet hatte, wie die Kanzleistube eines mittleren Beamten, zwischen den Kaiserbildern in den Holzrahmen, vor dem kahlen Schreibtisch mit Briefbeschwerern, Schere und zwei Bleistiften, standen wieder die Räte, denen der Fürst diktierte. Der vortragende Rat Graf Rantzau mußte dabei nicht mehr so flink den Worten folgen, wie zu der Zeit, da der Fürst ihm in einer einzigen Nacht den Text des Dreibundvertrages diktiert hatte. Häufiger und stärker begann, indes die Arbeit der schmerzenden Nerven wegen aufgeschoben werden mußte, das Echo Berliner Begebenheiten nach Friedrichsruh zu dringen. Aber der Fürst spann sich weiter in seine Einsamkeit, unberührt von dem Echo, fern dem Lärm des Tages. Auch der Staatssekretär kam eine ganze Weile nicht. Graf Herbert hatte den Kaiser auf seiner Reise nach Konstantinopel begleitet. Als er wieder vor dem Vater stand, konnte auch er berichten, daß sich freilich vieles in den Stimmungen der Reichshauptstadt inzwischen verändert hätte. Der Chef des Generalstabes Graf Waldersee arbeitete gegen den Kanzler noch lebhafter als sonst. Offen beriet man in allen Zirkeln, wer allmählich den alten Fürsten in der Kanzlerschaft ablösen würde. Der junge Kaiser, allein in der Reichshauptstadt, tat manches, das nicht im Sinne Bismarcks war. Noch vernehmlicher als etwa in den Wochen des Bergarbeiterstreiks sprachen aus ihm die Ideen einer neuen Zeit. Wer den Kanzler kannte, mußte zugeben, daß er Ansichten und Wünsche des Kaisers gar nicht teilen konnte. Der Staatssekretär erkannte nüchtern die bestehende, nur noch nicht ausgesprochene Disharmonie. Vielleicht war der Zeitpunkt wirklich gekommen, den jungen Kaiser mit seinen Ideen sich selbst zu überlassen und an den eigenen Rücktritt zu denken – –

Da erst horchte der Reichskanzler auf. Es war im Dezember 1889. Vor kurzem war eine neue Streikbewegung in Deutschland aufgeflammt. Aber die Sozialdemokratie war dem Fürsten ein Problem, mit dem er auf alle Fälle fertig würde. Fertig werden wollte. Auffassungen des Kaisers waren keinerlei Entscheidung. An Mißgunst und Zwischenträgereien war er gewöhnt.

»Wegen solcher Lappalien«, erwiderte der Kanzler dem Staatssekretär, »kann ich nicht gehen!«

Bismarck dachte an Deutschlands Verträge, an die schwere Kunst, sie zu halten und zu nützen. Vor allem dachte er an Rußland. Das Vertrauen des Zaren hatte er zurückgewonnen. Dies war die Ruhe und Sicherheit. Alles andere wog leicht im Vergleich dazu.

Der Kanzler blieb über Weihnachten in Friedrichsruh. Auch den Anfang des neuen Jahres 1890 verbrachte er dort. Endlich überraschte ihn am 23. Januar die Botschaft, daß der Kaiser einen Kronrat für den nächsten Tag angesetzt hätte. Mit der Ankunft des Kanzlers rechne er so, daß sie am Mittag des Kronratstages erfolge – –

Mehr neugierig als unruhig, dabei ein wenig gereizt, weil ihm die Ankunft knapp zu Beginn des Kronrats befohlen war – in Wahrheit sollte es Rücksicht für den von der Reichskanzlei dem Kaiser krank gemeldeten Fürsten sein – fuhr jetzt der Altreichskanzler nach Berlin.


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