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Vierter Abschnitt.
Die Methode der Philosophie.

Es ist nicht verwunderlich, daß bei der Aufgabe, die die »Geschichte der Philosophie« in jeder der verschiedenen Formen zu lösen unternimmt, häufig, und zwar gerade von der Geschichte der Philosophie selbst, der Anspruch erhoben worden ist, die »Geschichte der Philosophie« sei die eigentliche Lehrmeisterin der Philosophie. In der Tat sind die Lehrbücher der Geschichte der Philosophie, die darzutun unternehmen, was in aller Welt an philosophischen Systemen gewachsen ist, treffliche »Einführungen« in die Philosophie und dort, wo sie den Gesichtspunkt der Auswahl erkennen lassen, die besten Rechtfertigungen für die unleugbare Tatsache, daß mannigfache philosophische Wege mit allem Nachdruck und mit allem Recht beschritten worden sind. Um sich aber das Wesen der Philosophie und ihrer Methode deutlich zu machen, genügt diese Rechtfertigung aus der Geschichte der Philosophie, die zunächst nur auf die Tatsache hinweist, nicht, sondern es muß im Begriffe der Philosophie, als einer notwendigen Wissenschaft selbst der Grund dafür gefunden werden können, daß ihre Wege mannigfaltig sind.

Wir erinnern uns, daß wir, als wir die Philosophie als Wissenschaft bezeichneten, uns bewußt wurden, daß Wissenschaft nicht nur eine Dokumentation des in der Menschheit lebendigen Wissenstriebes, sondern auch zugleich die vornehmste Dokumentation der Wissensgrenzen, der Bedingtheit des Wissens ist. Was von jeder Wissenschaft gilt, das gilt auch von der Philosophie als Wissenschaft. Auch die Philosophie als Wissenschaft von den letzten Prinzipien des Erlebens und des Wissens hat ihre Bedingungen, ihre Grenzen ihre letzten Annahmen. Ihre Wege, ihre Methoden sind ebenso wie in allen anderen Wissenschaften bedingt durch ihr Erkenntnisziel und durch die ihr verfügbaren Mittel, dieses Erkenntnisziel zu erreichen. –

Machen wir uns, um die Methode der Philosophie als einer besonderen Wissenschaft zu verstehen und die in ihr platzgreifende Mannigfaltigkeit von Wegen als in ihrem Wesen liegend zu erkennen, in aller Kürze die Verhältnisse gleicher Art in den drei anderen großen Wissenschaftsgruppen deutlich, in Mathematik, Naturwissenschaft und Geschichte. Was wollen Mathematik, Natur- und Geschichtswissenschaft, welche Mittel stehen ihnen zur Verfügung, um das Gewollte zu erreichen? Auf welchen Wegen erreichen sie ihre Erkenntniszwecke? Es sei erwähnt, daß die Klarstellung dieser besonderen Wege in den Einzelwissenschaften einen großen Teil der modernen philosophischen Spekulation einnimmt und daß wir – allerdings notgedrungen, um uns das Wesen der Philosophie deutlich zu machen – hier einmal vorausgreifen müssen, um zum ersten Ziel einer Einführung in die Philosophie zu kommen.

a)

Die Mathematik ist die Wissenschaft von den Größenverhältnissen. Als Geometrie untersucht sie die Verhältnisse räumlicher Größen, als Arithmetik die Verhältnisse aller möglichen nicht-räumlichen Größen überhaupt, die durch Zahlen bezeichnet werden. Das Erkenntnisziel der Mathematik ist also die Feststellung aller nur möglichen Verhältnisse und Beziehungen von Raumgrößen untereinander und von Größen überhaupt, für die die Zahl das Schema und [Symbol] ist. Das Mittel, vermöge dessen sie zu ihren Resultaten kommt, ist die Demonstration der Raumgrößen in einem möglichen Bewußtsein der Anschauungen und die synthetische Beziehung von Zahlengrößen aufeinander in einem das zeitliche Verhältnis der Folge, der Sukzession anerkennenden Bewußtsein. Um sich eines Erkenntnisfortschrittes und der allgemeinen Anerkennung seiner Resultate zu versichern, schafft sich der Mathematiker Gewißheit über das Vorhandensein, die Anerkennung und die besondere Art eines allgemeinen Raum- und Größenbewußtseins durch allgemeine, letzte, von allen Mathematikern anzuerkennende Grundsätze (Axiome.) Über diese Grundsätze hinaus geht die Spekulation und die wissenschaftliche Tätigkeit des Mathematikers nicht. Das eigentliche Gebiet seiner Tätigkeit sind die dem Raumbewußtsein und dem Größenbewußtsein überhaupt deutlich zu machenden Folgerungen aus diesen allgemeinen, notwendig anzuerkennenden und anerkannten Grundsätzen. Wer die Axiome der Mathematik anerkennt, muß auch die Folgerungen der mathematischen Lehrsätze zugeben. Wer die mathematischen Axiome nicht zugeben kann, steht jenseits aller Mathematik und dem von ihr vorausgesetzten Raum- und Größenbewußtsein. Zu diesen letzten Grundsätzen, in denen sich der Mathematiker des Vorhandenseins eines Raum- und Größenbewußtseins, auf dem allein er bauen kann, versichert, gehören beispielsweise für die Geometrie die Axiome: »Zwischen zwei Punkten in der Ebene ist nur eine gerade Linie möglich«, »zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie die kürzeste Verbindung«, »in jedem Dreieck sind nur drei Winkel möglich, die von drei Seiten eingeschlossen werden«. Für die Arithmetik sind solche Axiome beispielsweise: »a = a«, d. h. jede Größe ist sich selber gleich, »a+b>a«, d. h. jede Summe von Größen ist größer, als jede einzelne in ihr vorkommende Größe. In diesen Axiomen, wie gesagt, versichert sich der Mathematiker des vorhandenen Größen- und Raumbewußtseins, dessen er unbedingt bedarf, um weiterzufolgern; ist er dieses Größen- und Raumbewußtseins einmal gewiß, so genügt der ständige Appell daran, um alle Verhältnisse deutlich zu machen, die über Größen möglich sind. Das fruchtbare Mittel, den Erkenntnisfortschritt des Mathematikers zu unterstützen, ist in der Geometrie die Demonstration der Folgerung in der sinnlichen Anschauung. So folgt der Satz, daß im Dreieck die Summe der Winkel gleich zwei Rechten ist, nicht etwa aus dem Begriffe des Dreiecks und der logischen Analyse alles dessen, was in diesem Begriffe an Merkmalen gedacht ist, sondern aus der Raumanschauung# des Dreiecks oder doch aus dem Raumbewußtsein, das den Begriff des Dreiecks muß begleiten können, dessen sich der Mathematiker in den Axiomen der Geometrie versichert hat. So folgen die Sätze »3 + 4 = 7«, »3 x 3 = 9« nur dann mit aller Notwendigkeit, wenn das Größenbewußtsein der Arithmetik vorhanden ist, das in den Axiomen der Arithmetik fest umschrieben ist.

Also erstens: für ein Raum- oder Größenbewußtsein, das sich nicht auf die Axiome der Arithmetik festlegen kann, sondern andere Grundsätze als ihm eigen und sein Wesen bezeichnend anerkennen müßte, gilt die Mathematik nicht. Zweitens: um die Frage, ob die von der Mathematik geforderte Raum- und Größenanschauung absolut, d. h. auch ohne die Bedingungen des nun einmal vorhandenen menschlichen Bewußtseins gilt oder nicht, kümmert sich der Mathematiker ebensowenig wie um die Frage, woher die mathematische Anschauung kommt, ob sie aus der sinnlichen Erfahrung abgeleitet ist, oder ob sie eine im Gemüte bereitliegende Form und Grundbedingung aller sinnlichen Anschauung ist. Die Mathematik geht, seitdem sie sich ihrer Methode bewußt ist, unbeirrt von den Axiomen des Größenbewußtseins abwärts in alle Folgerungen, die niemals logische Folgerungen aus den Begriffen, sondern stets mathematische Folgerungen aus der Raumanschauung und dem Größenbewußtsein sind.

b)

Auch die Naturwissenschaft hat ihre eindeutigen Erkenntnisziele, ihre Erkenntnismittel und ihre Erkenntnismethoden. Das Ziel der Naturwissenschaft ist, die als außerhalb des Ich erlebte, die dem Ich gegenüber fremde Natur, die Erscheinungen, unter Regeln, unter bestimmte Gesetze zu bringen. Alles, was noch außerhalb der von der Naturwissenschaft festgestellten Gesetze steht, ist für den Naturwissenschaftler notwendige Aufgabe. Dabei handelt es sich genau so wie beim Mathematiker um eine ganz bestimmte, durch letzte Voraussetzungen umschriebene Gesetzgebung und um ganz bestimmte Bedingungen, die für den Naturwissenschaftler gelten, wenn überhaupt Naturwissenschaft als eine bestimmte Erkenntnisart existieren soll. Diese naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit hat darin ihre Eigentümlichkeit, daß alle Gesetze, alle Gründe der gesetzmäßigen Geltung im Umkreise der als Nicht-Ich erlebten, erfahrbaren und wahrnehmbaren Welt liegen. Die naturwissenschaftliche Gesetzgebung, unter die alle Erscheinungen zu bringen sind, behauptet axiomatisch: erstens, daß alle Erscheinungen der erlebbaren Welt in einem gegenseitigen Wechselverhältnis stehen; zweitens, daß alle erlebbaren Erscheinungen ursächlich durch andere erlebbare Erscheinungen bedingt sind; drittens, daß Ursache und Wirkung innerhalb der Erscheinungswelt stets gleichartig sind. Den Naturwissenschaftler interessiert nicht der Wert der Erscheinungen, sondern nur die Beziehung der Erscheinungen als Ursache und Wirkung untereinander. Den Naturwissenschaftler kann auch die Frage nicht beschäftigen, ob die Welt eine jenseits ihrer selbst gelegene Ursache habe; er würde seinen eigenen Boden, d. h. den Boden der naturwissenschaftlichen Forschung verlassen, wenn er jenseits der Erscheinungen eine letzte Ursache annähme; denn es ist ja gerade seine Aufgabe, auch die einmalige Ursache als bedingt durch gleichartige Wirkung zu erkennen. Wie der Mathematiker an das Anschauungs- und Größenbewußtsein ständig appellieren muß und dieses allein die Gründe der Geltung mathematischer Sätze hergibt, so appelliert der Naturwissenschaftler an das Bewußtsein einer an die Axiome der Naturwissenschaft, der Kausalität, der Wechselwirkung gebundenen Erkenntnisart. Räumt die Axiome der Mathematik fort und ihr räumt mit der Mathematik selbst auf! Schafft den Satz von der absoluten Geltung des Verhältnisses von gleichartiger Wirkung und Ursache beiseite und ihr negiert das gesamte Gebiet der Naturwissenschaften! Nur wer die Erkenntnis ausnahmslos geltender bestimmter Verhältnisse von gleichartiger Ursache und Wirkung will, will naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Woher aber die Geltung kausaler Verhältnisse oder des Kausalgesetzes kommt, ist eine Frage, die weit die gewollte Erkenntnis des Naturwissenschaftlers überschreitet. Selbst dort, wo der Naturwissenschaftler das Verhältnis von Ursache und Wirkung, wie z. B. in der Psychologie, zum Gegenstände seiner Untersuchung zu machen scheint, wendet er bereits den Grundsatz der Kausalität an, um bestimmte ursächliche Verhältnisse festzustellen. Das Erkenntnisziel der Naturwissenschaft besteht also darin, die Gesamtheit der dem Erleben zugänglichen Erscheinungen unter bestimmte ursächliche Gesetzmäßigkeiten zu bringen – wobei die Geltung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung als Axiom vorausgesetzt ist – jeden scheinbar noch so abnormen Fall unter geltende bestimmte Gesetze einzuordnen oder in ihm immer wieder feststellbare, hier zum erstenmal sichtbar gewordene Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Die Erkenntnisbedingung ist die Geltung der naturwissenschaftlichen Axiome. Die Erkenntnismethode ist einerseits das Experiment, als das künstliche Mittel die Erscheinungen in eine gewollte Beziehung zu bringen, aus denen eine gesetzmäßige Beziehung demonstriert werden kann, anderseits die Hypothese, die der wirklichen Beziehung von Erscheinungen vorausgreift, um sie später experimentell zu wiederholen und zu belegen. Das Erkenntnis gebiet ist die ganze, dem Ich fremd gegenüberstehend erlebte und empfundene Welt.

c)

Weniger klar ist trotz der vielfachen Bemühungen in neuerer Zeit die innere Struktur der Geschichtswissenschaft, einer, wie schon erwähnt, jüngeren Erkenntnisart der menschlichen Geistesgeschichte. Den Naturwissenschaftler – wir reden natürlich nicht vom Spezialisten, sondern von der Idee des Naturwissenschaftlers oder der möglichen Gesamtheit aller Naturwissenschaftler – interessiert das ganze Gebiet der Naturerscheinungen und jede darin vorkommende Einzelheit von dem Gesichtspunkte aus, sie unter Naturgesetze zu bringen. Selbst in den Teilen der eigentlichen Naturwissenschaft, wo es sich offensichtlich darum handelt, den Ablauf einer Entwicklungsreihe aufzuweisen, wie in den entwicklungsgeschichtlichen Teilen der Anthropologie, der Biologie, der Geologie usw. ist die eigentliche Tendenz nicht die Feststellung eines einmaligen Ablaufes, sondern die Feststellung von Entwicklungsgesetzen, die an dem einmaligen Ablauf sichtbar werden und deutlich hervortreten. Die eigentlichen historischen Teile der Naturwissenschaft sind nur glückliche Illustrationen einer immer wieder von neuem aufzuspürenden naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. – Man hat in Hinsicht auf diese in der Naturwissenschaft lebendige und ihr eigentliches Wesen bestimmende Tendenz die Naturwissenschaft glücklich eine nomothetische Wissenschaft genannt und dagegen der Geschichtswissenschaft die Bezeichnung einer idiographischen Wissenschaft gegeben, d. h. sie als Wissenschaft bezeichnet, die das Einzelne, das Einmalige, die einzelne Entwicklungsreihe als einmal gewesen und nie wiederkehrend festzustellen und zu beschreiben hat.

Es ist zweifellos, daß jeder einzelne Naturwissenschaftler vermöge der Begrenztheit des menschlichen Erkennens immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Erscheinungen naturwissenschaftlich behandeln kann. Prinzipiell aber unterliegt jede Erscheinung einer naturwissenschaftlichen Behandlungsart und prinzipiell besteht die Forderung, daß jede einzelne Erscheinung in der Natur unter naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu bringen ist. Die Naturwissenschaft hat ihre Erkenntnisaufgabe als solche erfüllt, wenn einmal der Zeitpunkt kommen sollte, wo jede Einzelheit der erlebbaren Mannigfaltigkeit eingestellt ist in den Gesetzeskanon der Naturwissenschaft. Wertgesichtspunkte als Auswahlprinzipien aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit kommen also innerhalb der Naturwissenschaft nur insofern in Betracht, als der einzelne Naturwissenschaftler, durch die im menschlichen Wissen liegende Begrenztheit bedingt, innerhalb eines bestimmten Gebietes und für ein bestimmtes Erkenntnisziel seiner Interessen eine Auswahl in der unübersehbaren Mannigfaltigkeit treffen kann und muß, um in ihr einseitig die Momente zu ergreifen, die er unter ein bestimmtes Gesetz bringen will, an denen er ein bestimmtes Gesetz als geltend zu demonstrieren versucht. So interessieren beispielsweise den Chemiker nur die Momente innerhalb der ganzen Fülle der Naturbegebenheiten, die seinen chemischen Experimenten und Hypothesen Nahrung geben, den Geologen interessiert die Pflanzenwelt, das eigentliche Gebiet des Botanikers, nur, soweit als er in ihr Aufschlüsse über den Entwicklungsgang, das Alter und die Abfolge der Gesteinsarten usw. bekommt; die ganze Fülle von sonstigen Problemen, die dem Botaniker die Pflanzenwelt bietet, scheidet für ihn völlig aus. – So können wir, von außen die Naturwissenschaften betrachtend, aus subjektiven, allgemein kulturellen oder sonstigen Gesichtspunkten Wertunterschiede für die einzelnen Gebiete oder für die einzelnen Resultate machen, Wertungen, die jenseits des Forschungsganges und der Methoden der Naturwissenschaft selbst gelegen sind. Wir können nach den Beziehungen der naturwissenschaftlichen Ergebnisse zur Medizin, als der Heilwissenschaft der Menschen, fragen, wir können nach Wertgesichtspunkten unterscheiden zwischen den kleinen Spezialgebieten und den Forschungen, die ein großes Zentrum schaffen, aus dem uns Tausende von Erklärungen kommen. Alle diese subjektiven Gesichtspunkte aber und Wertungen innerhalb und außerhalb des wirklichen, menschlich bedingten Betriebes der Naturwissenschaft haben mit dem Wesen der naturwissenschaftlichen Forschung nichts zu tun. Sie sind Zeichen von dem langsamen, allmählichen, nach vielen Richtungen hin bedingten und gebundenen Fortgange unserer Naturerkenntnis, sie verschwinden als unwesentlich gegenüber den letzten Zielen der Naturerkenntnis.

Ganz anders steht es mit der Geschichtswissenschaft, die wir deshalb in immerwährendem Rückblick auf die viel ältere Naturwissenschaft betrachten müssen, weil ihr infolge ihrer Jugend stets von neuem gerade von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung her der Anspruch auf die Möglichkeit, Wissenschaftliche, d. h. allgemeingültige und notwendige Resultate zu erzielen, bestritten wird. Was will die Geschichtswissenschaft als Ganzes, ihren Idealen, ihrem Begriffe, ihrem letzten Ziele nach? Und was hat der einzelne Historiker, soweit er Wissenschaftler ist, zur Verwirklichung dieses Begriffes beizutragen? Welcher Mittel und welcher Methoden bedient sich der Historiker, um sein Erkenntnisziel zu erreichen?

Die Geschichtswissenschaft ist, im Gegensätze zu Mathematik und Naturwissenschaft, die Wissenschaft, die den Menschen als eine besondere Gattung und als einen, vom Menschen selbst als dem wissenschaftlich tätigen Individuum aus gesehenen, höheren und wertvolleren Typus der Unermeßlichkeit der Natur gegenüber in die Mitte wissenschaftlicher Betrachtung stellt. Nur was sich auf menschliche Verhältnisse bezieht, gilt dem Historiker als wertvoll genug und als Ziel, es der Unkenntnis zu entreißen und zum Wissen zu machen. Die Grundvoraussetzung, das Axiom aller Geschichtswissenschaft ist, daß der Mensch und die im Menschen repräsentierte Menschheit ein Wert sei, dessen Verhältnisse im einzelnen wissenswert sind. Das ist die Grundvoraussetzung, ohne sie gibt es keine Geschichtsforschung. Ob sie richtig oder falsch, ist dem Geschichtsschreiber, ebenso gleichgültig, wie dem Naturwissenschaftler die Frage nach dem Rechte der Geltung des Kausalgesetzes und dem Mathematiker die Frage nach dem Woher der Raumanschauung und des Größenbewußtseins.

Aber was heißt es, die menschlichen Verhältnisse zum Gegenstände, zum Erkenntnisziel einer Wissenschaft erheben? Macht nicht auch der Mediziner, der vergleichende Anatom, der unter allen Tiergattungen gerade auch die Menschengattung betrachtet, der Anthropologe, der in die Entwicklungsreihe aller Organismen auch die Menschheit als eine organische Einheit einstellt, den Menschen und die Menschheit zum eigentlichen Inhalte seiner Forschung? Gewiß, aber eben wie er dies tut, beleuchtet das Wesen der Geschichte und ihren Gegensatz zur Naturwissenschaft. Für den Naturwissenschaftler ist und bleibt der Mensch ein beliebiges Moment innerhalb der Naturerscheinungen, das, um naturwissenschaftliche Erkenntnis zu werden, unter Naturgesetze zu bringen ist. Der einzelne Mensch und die Gattung Mensch sind nur Glieder einer Kette und alles »Besondere«, »Einzelne« am Menschen interessiert den Naturwissenschaftler nur so weit, als es auf die Gesetze bezogen werden kann, die er in der Natur geltend weiß, oder Grund zur Erkenntnis neuer Gesetze gibt. Der Mensch »Goethe« z. B. löst sich in naturwissenschaftlicher Betrachtung in lauter Gesetzmäßigkeiten auf, die in jedem einzelnen Menschen und in der gesamten Natur repräsentiert sind; was an dem vom Gesichtspunkte der Naturwissenschaft aus betrachteten Menschen »Goethe« nicht in jedem einzelnen Menschen vertreten ist, gilt dem Naturwissenschaftler als abnormal, zugleich aber als Aufgabe, in ihm Gesetze geltend zu sehen. Der Mensch »Goethe« ist für den Naturforscher überhaupt kein eigentliches Problem; er will, wenn irgendwo der Mensch »Goethe« in eine naturwissenschaftliche, medizinische, pathologische Betrachtung eingestellt worden ist, nicht wissen, was spezifisch goethisch an diesem Menschen ist, sondern im Gegenteil das, was dem Laien oder sonst einem Betrachter besonderer Natur zu sein scheint, auflösen in die allgemeine naturwissenschaftliche, überall geltende Gesetzmäßigkeit.

Ganz anders der Historiker. Sein eigentliches Gebiet ist offenbar gerade die Besonderheit, die Einmaligkeit der Erscheinungen innerhalb des von ihm in das Zentrum seiner Betrachtung gestellten Werttypus »Mensch«. Ihn interessiert nicht, was jeder Mensch mit allen Menschen oder mit der gesamten Gattung lebender Wesen gemeinsam hat, sondern eben das, was er für sich Besonderes hat oder, besser gesagt, welche menschlichen Besonderheiten in ihm sichtbar werden. Ihn interessiert es nicht, die feststellbaren Besonderheiten in Abnormitäten umzudeuten, die noch unter das feste Schema von geltenden Gesetzen zu bringen sind, sondern er sucht diese Einmaligkeiten allerdings aus besonderen historischen Gründen und in spezifisch historischer Bedeutung mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln festzuhalten, darzustellen und zum historischen Wissen zu machen. Gehen hier die Wege von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft weit auseinander, indem der Naturwissenschaftler überall die im Nicht-Ich geltenden naturwissenschaftlichen Gesetze festzustellen unternimmt, der Geschichtswissenschaftler sich für diese Gesetzmäßigkeiten nicht interessiert, sondern unter bestimmten historischen Gesichtspunkten nach Einmaligkeiten und Besonderheiten sucht, so wird der Unterschied erst recht deutlich, wenn wir einsehen, daß nicht nur auf diesem rein methodischen Gebiete, d. h. in der Art und Weise der Behandlung ein und desselben Stoffes, sondern schon im Inhalte, im Gegenstand der Forschung, im Erkenntnisgebiet selbst der Grund absoluter Verschiedenheit beider Wissenschaften liegt.

Wir erinnern uns daran, daß wir die Naturwissenschaft nach ihrem Erkenntnisgebiete die Wissenschaft von der Natur, d. i. die Wissenschaft von der als dem »Ich« fremd gegenüberstehend erlebten Welt, nannten. Hat in der Tat die Geschichtswissenschaft das gleiche Erkenntnisgebiet nur nach anderen Gesichtspunkten zu durchforschen? Hat sie das in diesem Erkenntnisgebiet vorkommende Einmalige festzuhalten und zur Darstellung zu bringen? Wäre sie dann wohl, von der Naturwissenschaft aus gesehen, etwas anderes, als eine Spezialwissenschaft von den abnormen pathologischen Zuständen der Menschheit? Die Geschichte als Wissenschaft wäre alsdann ein Gebiet der Naturwissenschaft, das dem Naturforscher nur den Stoff zuführen würde, seine auf Gesetzmäßigkeiten abzielenden Methoden zur Anwendung zu bringen.

In der Tat liegen die Verhältnisse ganz anders. Während der Naturwissenschaftler die erlebbaren Zustände des Nicht- Ich zu beschreiben und zu erklären hat, setzt der Historiker bei den Leistungen an, die aus dem Erleben oder der lebendigen Idee einer ihrem Leistungsgrunde nach prinzipiell überall und jederzeit gleichen Menschheit stammen. Die Idee eines » Ich«, an der jeder einzelne Mensch teilnimmt, teilnehmen kann, zu dem sich jeder einzelne Mensch und die gesamte gewesene, lebende und kommende Menschheit bekennen kann, das sich, aus welchen Gründen nur immer, in alle einzelnen erlebbaren Gruppen und Personen spaltet, umschreibt, begrenzt und bestimmt das Erkenntnisgebiet der eigentlichen Geschichtswissenschaft. Die historische Forscherarbeit setzt also axiomatisch, als letzten unumstößlichen Grundsatz, voraus, daß der als besonderer Werttypus gewertete Mensch einer der Gesamtheit der Menschheit gemeinsamen Idee des Ich entstammt, aus der alle seine Leistungen und die Leistungen der Gesamtmenschheit stammen, soweit sie spezifisch menschlich und für den Geschichtswissenschaftler von Interesse sind. Das Leistungsgebiet dieser ihrer Idee nach identischen Menschheit ist das eigentliche Gebiet des Historikers, während der Naturwissenschaftler, wenn er die Menschheit oder den Menschen zum Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung macht, nicht die spezifisch menschliche Leistung, sondern die physische, anderen Wesen gemeinsame Organisation betrachtet, die Menschheit als dem Nicht-Ich zugemessen wissenschaftlich zerlegt. Die Idee eines Ich, das die gesamte Menschheit betrifft, eines gemeinsamen Leistungsgrundes, der jenseits und über allen natürlichen, den Menschen mit allen anderen Organismen gemeinsamen Erklärungsgründen steht, ist der ideale Grund, auf dem die Geschichte als Wissenschaft sich erhebt. Es ist der Grundsatz, auf dem sie steht, genau wie die Mathematik auf dem Grundsatz eines allgemein geforderten oder vorhandenen Größenbewußtseins und die Naturwissenschaft auf ihrer Forderung nach einem gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen ihre Forschungen aufbaut. Schafft diese Idee eines für alle Menschen geltenden Leistungsgrundes, der nicht im Nicht-Ich gelegen ist, beiseite, und ihr negiert das gesamte Gebiet der Geschichtswissenschaft!

Den Historiker also interessiert aus der übersehbaren Mannigfaltigkeit des Geschehens und des Erlebens nur die spezifisch menschliche Leistung und alles das, was mit dieser Leistung, sei es als Grund oder als Folge, in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang steht. Alles in der Geschichtswissenschaft ist nur Mittel zu dem Zweck, menschliche Leistungen, Handlungen, Versuche und Erfolge, die spezifische menschliche Betätigung, die sich über der physischen Natur der Menschen erhebt und jenseits der naturwissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten steht, festzustellen und zu beschreiben. Den Historiker kümmert also aus dem unübersehbaren Reichtum der Gegebenheiten die ganze Fülle von Problemen, die den Naturwissenschaftler in seiner Tendenz fördern, zur Gesetzmäßigkeit, zur Naturnotwendigkeit innerhalb der Erscheinungen zu gelangen, nicht oder doch nur so weit, als sie auf spezifisch menschliches Leisten und Erleben Bezug haben. Ihn interessiert auch nicht der etwa herzustellende und hergestellte Zusammenhang zwischen diesem vom Naturwissenschaftler ergriffenen Nicht-Ich, der Natur, und der menschlichen Leistung, sondern die Art und Weise, die Besonderheiten dieser menschlichen Betätigung sind sein Gebiet. Und wie sich der einzelne Naturforscher aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit naturwissenschaftlicher Möglichkeiten seine Probleme nach subjektiven Gründen auswählt, so tut es auch der einzelne Historiker auf dem großen Gebiete historischer Möglichkeiten. Prinzipiell aber ist ebenso, wie für den Naturwissenschaftler das ganze Gebiet der Natur, so für den Historiker die ganze weite Welt menschlicher Tätigkeit das Feld seiner eigentlichen Forschung. Innerhalb dieses Gebietes, das durch den feststehenden Grundsatz abgegrenzt wird, daß die spezifisch menschliche Handlung des Wissens wert sei, hat der Historiker seine bestimmten ihn zum Erkenntnisziel führenden methodischen Mittel, die ihn Wahrheit, in Form von historischer Wahrheit finden lassen. Diese methodischen Mittel sind ebenso exakt für kleine Problemkreise wie für große anzuwenden.

Machen wir uns das wiederum an dem Beispiele von »Goethe« deutlich. Goethe ist, wie wir sahen, für den Naturwissenschaftler kein spezifisches, kein irgendwie wichtiges Problem. Eine gewisse Wichtigkeit bekommt Goethe für den Naturwissenschaftler höchstens durch das historische Interesse, das mit seinem Namen verbunden ist. Wie gewaltig dagegen sind die Probleme und die Aufgaben, die mit dem gleichen Namen »Goethe« verbunden sind, für den Geschichtswissenschaftler! Ihn interessiert die menschliche Leistung, für die Goethe der Repräsentant ist; sein Werk ist, diese Leistung darzustellen und nach allen Seiten hin zu verstehen. Er sucht nach all den Zusammenhängen und Anregungen, die für diese Leistung bestanden und von dieser Leistung ausgingen. Ihn interessiert Goethes Persönlichkeit und Goethes Leben, weil er der Repräsentant und der Träger menschlicher Betätigungen und Handlungen gewesen ist und weil er aus der Darstellung der Persönlichkeit und des Lebens Goethes diese Leistungen verständlich zu machen hoffen darf. Keine Biographie Goethes wird sich damit ernstlich befassen, die physischen, normalen oder abnormalen Zustände Goethes aufzusuchen. Nur soweit sie Aufschluß geben können über die an die physische Erscheinung gebundene menschliche Leistung, sind sie einigermaßen von historischem Interesse begleitet. Für die Erfassung der ganzen Goetheschen Erscheinung, die durch besondere menschlich potenzierte Leistungen wertvoll geworden ist, bietet die Geschichtsforschung mannigfache methodische Mittel. Der Historiker hat nach ganz bestimmten Regeln die etwa vorhandenen Berichte über Goethe zu prüfen und darin Irrtum und Wahrheit zu entdecken. Der Historiker hat nach ganz bestimmten Prinzipien die wichtigsten Momente innerhalb der feststellbaren und überlieferten Tatsachen aufzugreifen, die das Wesen Goethes als einer menschlich wertvolle Leistungen schaffenden Persönlichkeit verständlich machen. Die Erhebung Goethes aber zum Gegenstand historischer Forschung ist bedingt lediglich durch ein subjektives historisches Prinzip, wie es überhaupt völlig der subjektiven Wertung überlassen bleibt, was der einzelne Historiker der Darstellung für Wert erachtet, was er im einzelnen durch die Benutzung historischer Quellen zur Darstellung bringen will. Das Interessenzentrum, in das die historische Darstellung hineinführen soll, greift der Historiker willkürlich auf oder schafft es aus sich selbst. Ob ihm von anderen, die historische Darstellung Beurteilenden, Beifall gezollt wird, ob seine Darstellung von jenseits der historischen Forschung Stehenden bewertet wird, ist eine ganz andere, für die Wissenschaft selbst völlig gleichgültige Frage. Es ist, vom geschichtswissenschaftlichen Standpunkte aus gesehen, ganz irrelevant, ob ein Historiker für seine Darstellung aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Überlieferung das Leben Goethes oder das Leben seiner Putzfrau herausgreift; es kommt bei der geschichtswissenschaftlichen Bewertung nur darauf an, daß in seiner Darstellung die Idee der spezifisch menschlichen Leistung und Betätigung als Grundidee der Darstellung lebendig ist und daß von dieser Idee geleitet die für die Erlangung historischer Wahrheit feststehenden methodischen Mittel der Geschichtsforschung mit aller Exaktheit angewendet werden.

Es ist nicht Sache des Historikers und liegt jenseits seiner Wissenschaft, die schon allein wegen der Lückenhaftigkeit der Überlieferung keine Möglichkeiten dafür bieten kann, das einzelne historische Moment im gesetzmäßigen Zusammenhang mit allen übrigen historischen Erscheinungen zu begreifen; es kann ihm darum zu tun sein, einen Zusammenhang – unter der Idee der Einheit aller menschlichen Tätigkeit – im einzelnen festzustellen. Es ist ebensowohl eine historische, geschichtswissenschaftliche Aufgabe, das einzelne abgerundete Ganze als Ganzes und einmalige Einheit zu beschreiben, wie dieses Ganze als Produkt mannigfacher menschlicher Beziehungen zu verstehen. Es wird dem Historiker nie gelingen, die große menschliche Leistung und den Leistungsträger als Produkt aller menschlichen Beziehungen zu erklären; er wird sich damit zu bescheiden haben, die Einmaligkeit und die Art und Weise des hervorragenden Wertes zur Darstellung zu bringen. Je reicher aber die aufgefundenen Beziehungen der einzelnen menschlichen Tätigkeit zu der Mannigfaltigkeit menschlicher Leistungen sind, umsomehr wird die historische Arbeit sich dem letzten Ziele aller Geschichtsschreibung nähern, das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit mit geschichtswissenschaftlicher Exaktheit zu umschreiben.

Man darf also nicht glauben, daß der Kulturwert einer historischen Darstellung, der jenseits ihrer selbst liegt, auch nur das allergeringste mit dem geschichtswissenschaftlichen Werte, d. h. dem Erkenntniswerte, den der Historiker geschaffen haben will, zu tun hat. Dies ist ebensowenig der Fall, wie der kulturwissenschaftliche Wert einer mathematischen Erfindung mit dem mathematischen Werte in irgendwelchem Zusammenhange steht. Ob sich die Büchergestelle der Bibliotheken mit Einzeldarstellungen über das Leben und das Leisten einzelner Menschen füllen und damit gleichsam mosaikmäßig das ganze Gebiet menschlichen Leistens zusammengesetzt wird, ist dem Historiker, der nach der geschichtswissenschaftlichen methodischen Exaktheit der einzelnen Arbeiten zu fragen hat, völlig gleichgültig. Daß sich die Geschichte als Wissenschaft in großen zusammenfassenden Darstellungen schneller ihrem Ziele nähert, als in kleinen Abhandlungen über einzelne für die Allgemeinheit uninteressante Dinge, wird damit nicht bestritten, nur wird der geschichtswissenschaftliche auf die Exaktheit der Methode gerichtete Wert der Einzelarbeit in keiner Weise dadurch berührt, daß nur eine Einzelheit behandelt wird. Auch das ist unbestreitbar, daß vom kulturellen Standpunkte aus große, ganze Zeitalter zusammenfassende Darstellungen einen größeren Wert haben, als kleine Mosaikarbeit, die auf die Dauer infolge der Begrenztheit der menschlichen Forschungszeit nicht überschaut werden kann. Auch die große naturwissenschaftliche Erkenntnis ist kulturell wertvoller, als die wissenschaftliche Kleinarbeit, obwohl sie bei gleicher Exaktheit der Forschung vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus gleichwertig sind. Man darf deshalb auch nicht glauben, so sehr die Idee von der Gleichheit und dem Werte der menschlichen Leistung die leitende Grundidee der Geschichtswissenschaft ist, daß im einzelnen Historiker eine bestimmte Kulturidee oder eine bestimmte Auffassung über das Wesen und den Begriff der Menschheit vorherrsche, sondern die Idee von der Gemeinsamkeit und der prinzipiellen Gleichheit aller menschlichen Leistung ist ebenso unbewußt in ihm lebendig, wie im Mathematiker das Größenbewußtsein und im Naturwissenschaftler die Grundanschauung von der gesetzmäßigen Beziehung aller Erscheinungen untereinander. Kein Begriff von der Gleichheit, von der Identität der Menschheit und aller menschlichen Leistungen, sondern eine lebendige Idee ist der substantielle Grund der Geschichtswissenschaft, aus dem, ohne daß eine Rechtfertigung vom Historiker darüber verlangt werden kann, alle Erkenntnisse herfließen, auf die alle seine Erkenntnisse abzielen.

Ist man sich dieses vollkommen von Mathematik und Naturwissenschaft abweichenden Erkenntnisgrundes und des damit gesteckten aber auch begrenzten Erkenntniszieles der Geschichtswissenschaft, das über alle Diskussion von Recht und Unrecht erhaben ist, bewußt, kann man ohne Gefahr, die nun einmal zwischen den Wissenschaften gezogenen Grenzen zu verwischen, auch kurz auf die mannigfaltigen Beziehungen hinsehen, in welchem gerade die methodischen Unterschiede deutlich werden. Wir können diese Beziehungen hier natürlich nur in der Form von Andeutungen behandeln, um das Verhältnis der Wissenschaften uns in der Weise zu verdeutlichen, daß neben ihnen die Philosophie als eine besondere Wissenschaft wiederum auf besonderem Erkenntnisgrunde beruhende Erkenntnismittel und eine für das Erkenntnisgebiet eigene spezifische Methode hat. –

Auch in der Geschichtswissenschaft ist ebenso, wie in der Naturwissenschaft, die Grundanschauung von der Wechselwirkung und der kausalen Bedingtheit aller historischen Erscheinungen vorherrschend und methodisches Prinzip. Aber diese Anschauung ist von besonderer Art und man spricht deshalb mit Recht gegenüber der natürlichen Kausalität von historischer Kausalität. In der Geschichte herrscht vor allen Dingen, verbunden mit der kausalen Grundanschauung, die Einsicht in die zeitliche Bedingtheit der Zustände. Für den Mathematiker und den Naturwissenschaftler hat die Zeit keine oder nur untergeordnete Bedeutung. Für den Historiker ist die Zeit, der Grundsatz von der notwendigen Abfolge aller Dinge, die Hauptfunktion wissenschaftlicher Unterscheidung. Der Historiker durchmißt mit dem ihm gegebenen oder von ihm geschaffenen Zeitmaßstab die von ihm vorgefundene und erlebte Welt menschlicher Beziehungen. Alles ist für den Historiker in der Zeit und hat zeitliche Bestimmtheit, alle Werte, die er feststellt und beschreibt, sind zeitliche und nicht zeitlose Werte. Für den Naturwissenschaftler verschwindet alle Zeitlichkeit und wird sinnlos; das ganze Gebiet der Geschichte, das der Historiker in unendlich viel Zeiträume einteilt, ist für den Naturwissenschaftler nur ein Moment in der Zeitlosigkeit, und seine Gesetze haben keine Beziehung zu zeitlicher Wertung. Für den Historiker gilt der Grundsatz, woher er auch immer sein Recht nehmen mag, daß alles in der Zeit geschieht, daß alles nur einmal existiert und in dieser Einmaligkeit seinen Wert hat, mit völliger Absolutheit. Für den Mathematiker hat der Grundsatz der Zeit keinen für die mathematischen Urteile wesentlichen Sinn. Der Historiker, der den Ablauf der menschlichen Leistungen zeitlich erlebt und aus diesem Erleben sein Leistungsgebiet macht, ist an den Grundsatz der Zeit gebunden, mit dem Radius einer Zeit umschreibt er sein wissenschaftliches Gebiet. – Die Methode der Geschichtsschreibung besteht also darin, nach bestimmten Mitteln zu suchen, die zeitlich festlegbaren Momente menschlicher Leistungen zu ergreifen und sie zur Erkenntnis, d. h. frei von aller subjektiven Überlieferung zu machen. Um die Frage, was Zeit ist und mit welchem Rechte er den Wert der spezifisch menschlichen Leistungen setzt und postuliert, hat sich der Historiker nicht zu kümmern.

d)

Das spezifische Erkenntnis gebiet der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften ist aus den früheren Erörterungen über ihr Wesen und ihren Begriff deutlich geworden. Wir sahen, daß die Mannigfaltigkeit des Gewußten und des Erlebten, die in den Einzelwissenschaften eine vorläufige Gestaltung durch die Beziehung auf besondere bestimmte Einheitsgründe bekommen, zur letzten Einheit des Wissens zu bringen ist. Es handelt sich also nur noch darum, die Methode der Philosophie als Wissenschaft in derselben Weise festzulegen, wie wir die Methoden der Einzelwissenschaften aus besonderen Erkenntnisgründen entspringen sahen.

Aus der Einsicht in die Art der Erkenntnisfortschritte der großen Einzelwissenschaftsgruppen ist klarer geworden, wie diese zu ihren spezifischen Erkenntnissen kommen und nach welcher Richtung hin diese Erkenntnisse bedingt sind und das große Gebiet möglicher Erkenntnisse beherrschen und zerteilen. Es ist deutlich geworden, in welcher Weise aus der Tätigkeit der Einzelwissenschaften ein Gebiet von übersehbarer Mannigfaltigkeit neuen Wissens entstanden ist. Jedes einzelne der großen Wissensgebiete steht auf besonderen Erkenntnisgründen, knüpft an bei besonderen Erkenntnisgrundsätzen, deren Begründung jenseits ihrer wissenschaftlichen Spekulation liegt, an denen die wissenschaftliche Tätigkeit ihren Anfang nimmt, um von ihnen aus, mannigfach befruchtet durch das Erleben, zu den Folgerungen abzusteigen. Jedes einzelne Wissensgebiet nimmt gleichsam einen besonderen Gesichtspunkt für sich in Anspruch, von dem aus sich der wissenwollende Geist nach bestimmten Gesetzen betätigt. Jedes Wissensgebiet setzt bestimmte Bedingungen voraus, unter denen der erkennende Geist Wahrheit schafft oder findet; die Wahrheit eines jeden einzelnen Wissensgebietes ist damit eine bedingte Wahrheit. Jedes der Einzelwissenschaftsgebiete schafft in sich Wissensmannigfaltigkeiten, in denen der Geist neue Gründe zu suchen hat, um zur letzten philosophischen Einheit des Wissens aufzusteigen.

Die beiden Wege der Philosophie, die wir früher miteinander besprochen haben, werden daraus ganz deutlich: Die Philosophie hat erstens die Bedingungen zu erkennen, unter denen der erkennende Geist Wahrheit findet, in der bedingten Wahrheit die Bedingung festzustellen und damit nach einer möglichen unbedingten oder absoluten Wahrheit zu suchen; sie hat das Wesen des erkennenden Geistes frei von den Bedingungen der besonderen Erkenntnis festzustellen, um damit die letzte Bedingung alles Erkennens, nämlich den Geist selbst, als den Einheitsgrund der Erkenntnis aufzufinden Die Philosophie hat zweitens das Prinzip, den Geist lebendig zu sehen in den einzelnen Wissensresultaten, in den einzelnen Dokumentationen, die die Einzelwissenschaften als ihre Resultate hinstellen. Sie erblickt in diesen Resultaten nicht, wie im ersten Sinne Dokumentationen des wissenden Geistes, sondern Dokumentationen eines in der von uns erlebten Welt lebendigen und tätigen Geistes oder sonstwie benannten Prinzipes; sie hat von den Einzeldokumentationen dieses lebendigen in seiner Gespaltenheit und Mannigfaltigkeit erlebten Prinzipes zum Prinzip selbst, zum Grunde der Einheit dieser Mannigfaltigkeit aufzusteigen.

So sind die beiden von der Mathematik als Einzelwissenschaft ausgehenden Wege der Philosophie folgende: Sie fragt erstens: Wie ist Mathematik als Wissenschaft möglich, unter welchen Bedingungen steht der erkennende Geist, um mathematische Erkenntnisse zu bekommen, wie spezifiziert sich der erkennende Geist in der Mathematik und mit welchen Ansprüchen auf Wahrheit kann der Mathematiker seine Erkenntnisresultate hinstellen? Welcher Erkenntnisart unterstehen die mathematischen Erkenntnisse? Sie fragt zweitens: Unter welche Einheit eines lebendigen und tätigen Prinzipes lassen sich die Resultate der mathematischen Erkenntnis bringen, zu welcher Einheit, zu welchem Ganzen gehören die von der Mathematik beschriebenen Momente einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit? Welches Prinzip ist tätig in der Mannigfaltigkeit, in die der Mathematiker die erlebte Welt geteilt sieht? Welches Prinzip ist immer wieder von neuem lebendig, indem mathematische Erkenntnisse für wahrhafte, die erlebte Welt beschreibende Erkenntnis genommen werden?

Bei der Naturwissenschaft sind die beiden von ihr aus für die Philosophie angebenden Wege folgende: Die Philosophie frägt erstens wiederum nach dem Grunde der Möglichkeit, nach dem Rechtsgrunde einer Naturwissenschaft als einer geltenden Erkenntnis, nach den Prinzipien und Gründen, nach den Spezifikationen und Modifikationen des erkennenden Geistes, nach dem Wesen und der Besonderheit der naturwissenschaftlichen Wahrheit, nach ihren im Wesen des Geistes oder jenseits desselben liegenden Bedingungen und Bestimmtheiten. Sie frägt zweitens nach dem in der Natur, die von dem Naturwissenschaftler durch die Erhebung zur Wissenschaft dem Erleben und Fühlen entrissen und zu einer höheren Naturmannigfaltigkeit erhoben worden ist, lebendigen Geist oder Prinzip. Die Grenzen und die Bedingungen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen geben vielleicht dem philosophischen Betrachter der naturwissenschaftlichen Ergebnisse Anlaß, das in der Natur erlebte Mannigfaltige aus anderen unbedingten Gründen zu erfassen, den Gesichtspunkt der Naturwissenschaft als einen spezifisch durch die menschliche Erkenntnis oder durch gewisse Richtungen der menschlichen Erkenntnis bedingten zu erkennen, in ihm aber auch das Unzureichende für eine letzte, absolute Erkenntnis zu erblicken. Die Wege der von der empirischen Naturerkenntnis aufsteigenden Naturphilosophie sind mannigfaltig und gegensätzlich, sie ergänzen teilweise die von der Naturwissenschaft eingeschlagenen Wege, teils negieren sie dieselben als Wege zur unbedingten, zur absoluten Wahrheitserkenntnis. Mit beiden Tendenzen fördern sie oftmals selbst die naturwissenschaftliche Spekulation und lenken das naturwissenschaftliche Experiment auf Wege, auf denen neue naturwissenschaftliche Erkenntnis erreichbar wird oder alte naturwissenschaftliche Wahrheiten revidiert werden.

Ebenso verhält es sich mit der Geschichtswissenschaft, über welche hinaus die Philosophie in einer Geschichts- und Kulturphilosophie zu eigenen Resultaten zu gelangen versucht. Alle Fragen nach dem Wesen der historischen Wahrheit und der Methode, auf Grund deren die Geschichtswissenschaft zu ihrer Wahrheit gelangt, nach dem letzten Erkenntnisgrunde und den Erkenntnisgrundsätzen der Geschichtswissenschaft, nach der besonderen Art der historischen Erkenntnis sind spezifisch philosophische Fragen, in denen es darauf ankommt, den erkennenden Geist in einer wesentlichen Richtung, hingeneigt an ein bestimmtes Erkenntnisziel zu erfassen und sein Verhältnis zum Wesen der Erkenntnis und zum Wesen der Wahrheit festzustellen. Alle die Fragen, die jenseits der historischen Begriffsbildung stehen, die den Historiker als solchen nicht kümmern, die den festen Grund zum Gegenstand der Spekulation machen, auf dem der Historiker ohne den geringsten Zweifel an seiner Festigkeit steht und stehen muß, sind philosophische Fragen im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie bevormunden den Historiker in seiner Forschung keineswegs, sie betrachten die historische Erkenntnis als eine geltende Erkenntnis. Sie können wohl dem Historiker zum Anlaß werden, seiner eigenen Methode sich bewußt zu werden, sie zu schärfen und zu revidieren. Der zweite Weg aber von der Geschichtswissenschaft aus, den die philosophische Spekulation zu gehen hat, ist völlig anderer Natur und setzt bei der unübersehbaren Mannigfaltigkeit ein, die der Historiker durch seine Darstellungen erst zum eigentlichen Bewußtsein gebracht hat. Wir wissen, daß der Historiker überall die menschlichen Leistungen, die menschliche Tätigkeit, aufzudecken, mit den Mitteln der Geschichte der Vergessenheit zu entreißen und zum Wissen zu machen hat. Ein weites unermeßliches und viele Schätze ans Tageslicht förderndes Geschäft der Geschichte! Eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von bestimmten Tatsachen ist das Resultat dieser Forschung innerhalb der unbestimmten Überlieferungen. Ohne Deutung, ohne vorgefaßte subjektive Meinung und ohne Hypothesen hat der Historiker, der nichts weiter als Historiker sein will, nach den Quellen historischer Überlieferung zu suchen, sie nach ihrem Wahrheitswert abzuschätzen und aus ihnen zu schöpfen. Gerade in der Mannigfaltigkeit, in der Fülle des Eigenartigen und Besonderen, in dem unübersehbaren Nebeneinander von Wirkungen und Ursachen hat der Historiker sein eigentliches Gebiet. Den Philosophen aber hat diese unübersehbare Mannigfaltigkeit menschlicher Betätigung zur Einheit des Prinzips, von der Leistung und der Tätigkeit zum Tun, zum Prinzip des Tuns zu leiten. Was dem Historiker als eine unbestimmte, irgendwoher empfangene, an irgendwelchem Erleben orientierte Idee von der Gemeinsamkeit und der Gleichartigkeit menschlicher Tätigkeit gewesen, muß der Philosoph als klares Prinzip, als lebendig erfaßten und zum Wissen gebrachten Grund aller menschlichen Tätigkeit deutlich zu machen bestrebt sein. Aus diesen Spekulationen über die in gewissen vom Historiker umschriebenen Mannigfaltigkeitszentren lautenden Tätigkeitsprinzipien erwächst eine Geschichts- und Kulturphilosophie, die in den einzelnen Tatsachen der Geschichte nach dem in ihnen lebendigen Prinzip sucht, von der Mannigfaltigkeit der Tatsachen zu der Mannigfaltigkeit der Prinzipien, zur Überwindung der Tatsachen und zur möglichen Erfassung eines Einheitsprinzips aufsteigt. So sucht der von der Geschichte ausgehende Philosoph in den Berichten über die Geschichte Griechenlands das Prinzip zu finden, das vielleicht als feststehend und unentfliehbar über allem Griechentum gelegen hat, um unter diesem Prinzip jede einzelne Handlung zu begreifen. So steigt der Philosoph von der Mannigfaltigkeit der historischen Tatsachen empor zu den Begriffen »Mensch«, »Menschheit« und »Menschengruppe«, die der Historiker nur unbewußt in sich lebendig fühlt. So verschmelzen die zum historischen Wissen gelangten Mannigfaltigkeiten wiederum zu Einheiten von tätigen lebendigen Prinzipien, von denen aus das Wissen geläutert, unter höhere Gesichtspunkte geschoben und dem erkennenden Geiste faßbarer erscheint. –

In dieser Weise wird der im Wesen der Philosophie liegende Aufstieg von den Einzelwissenschaften aus verständlicher dadurch, daß wir vorausgreifend das Wesen der in den Einzelwissenschaften herrschenden Methoden zu erfassen versuchten. Von da aus läßt sich das Wesen der Methode der Philosophie leichter umschreiben. Welches ist der Erkenntnis grund, auf dem die Philosophie als Wissenschaft steht, von dem aus ihr besonderes, uns bekanntes Erkenntnisziel erwächst? Welches sind die unentfliehbaren, aber auch nicht weiter begründbaren, nur aufweisbaren Erkenntnisprinzipien, Axiome, aus denen die Philosophie als Wissenschaft ihre Folgerungen zieht und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse bekommt? Worin liegt das Spezifische in den von der Philosophie eingeschlagenen Erkenntniswegen?

Der letzte Erkenntnisgrund der Philosophie ist der Wille zur Einheit, der sich im Glauben, im Fühlen und im Tun des Intellektes überall kundgebende Wille, zu einem letzten Grunde der Einheit zu gelangen. In diesem Willen zur Einheit liegt das Einheitsprinzip selbst als Ideal und als Tätigkeitsprinzip und zugleich als erreichbares, wenn auch vielleicht nicht ausdrückbares Ziel alles Einheitsstrebens. An diesen Willen zur Einheit appelliert alles philosophische Denken überall und jederzeit, und mit diesem Appell stellt es die letzte, äußerste Forderung, genau so wie der Mathematiker an das Größen- und Anschauungsbewußtsein immerdar seinen Appell richten muß, um den Grund seiner Folgerungen und Schlüsse deutlich und evident zu machen. Schafft diesen Willen, zum Prinzip der Einheit zu gelangen und nicht zu ruhen, bis dieses Prinzip auf Wegen und Umwegen durch Erleben und Einzelwissenschaft erreicht ist, beiseite, und Ihr räumt mit aller Philosophie auf, Ihr stellt Euch jenseits aller Philosophie!

Anders aber und von gewaltigerem Zwange ist dieses für die Philosophie geltende Grundprinzip der Erkenntnis, als es der für die Naturwissenschaft, die Mathematik und die Geschichte geltende Erkenntnisgrund ist. Während Mathematik, Naturwissenschaft und Geschichte bestimmte, festlegbare, aufweisbare, annehmbare oder abzulehnende Grundprinzipien aufweisen, ist der Erkenntnisgrund der Philosophie nur dann zu negieren, wenn überhaupt keine Erkenntnis, kein auf allgemeine Zustimmung aller Erkennenden mit Recht Anspruch erhebendes Wissen besteht. Räumt die Erkenntnisgründe jeder der drei Einzelwissenschaften beiseite und Ihr negiert jede einzelne Wissenschaft für sich, ohne das Wissen selbst zu negieren; räumt den Erkenntnisgrund fort, auf dem alle Philosophie steht und Ihr negiert jegliches Wissen überhaupt. Denn Erkennen heißt nichts anderes, als auf einen Einheitsgrund beziehen, der als Einheitsgrund allen Erkennenden gleich ist. Wo der Wille zur Einheit geleugnet wird, da wird jegliche denkbare Erkenntnismöglichkeit geleugnet, gleichgültig, ob das Wissen in uns hinein wandert, oder ob es aus dem erkennenden Geiste geboren wird. Das Vermögen, die Mannigfaltigkeit der nun einmal gegebenen Erlebnisse zum Zwecke des Wissens auf einen Einheitsgrund zu beziehen, ist das Erkenntnisvermögen selbst, die Vernunft und der Verstand in seinem wesentlichsten Merkmale. Diese Vernunft, die wir im Wissen jeglicher Art als den Willen und das Vermögen zur Einheit zu kommen, tätig sehen, ist in den Einzelwissenschaften auf bestimmte Erkenntnisprinzipien festgelegt; von diesen Erkenntnisprinzipien steigt der Forscher abwärts zu allen Folgerungen. Diese besonderen Erkenntnisgründe mögen besondere Funktionen der erkennenden Vernunft sein, sie mögen im erkannten Gegenstande liegen, alle Folgerungen, die aus ihnen fließen, mögen notwendige Folgerungen aus der Vernunft oder zufällige Folgerungen aus der Beziehung der Vernunft auf einen besonderen Gegenstand sein, es sind eben doch nur Spezifikationen der einen überall lebendigen Vernunft. In der Philosophie dagegen ist der Erkenntnisgrund, aus dem die philosophischen Folgerungen fließen, nicht ein bestimmtes Erkenntnisprinzip des auf Erkenntnis gerichteten Geistes, keine Spezifikation, keine Determination des Erkenntnisgrundes überhaupt, sondern der eigentliche, der letzte Erkenntnisgrund selbst, der Einheitsgrund alles Erkennens, die Vernunft selbst, das Vermögen zu erkennen, der Wille zur Einheit selbst. Der oberste Grundsatz, auf dem alle Philosophie zu stehen hat, wird also lauten: » Alles was dem letzten Erkenntnisgrund, was der Einheitsfunktion des Denkens, was dem Willen zur Einheit widerspricht, widerspricht dem Denken und Erkennen selbst.« Die Philosophie wird von diesem letzten Erkenntnisgrunde aus genau so, wie Mathematik, Naturwissenschaft und Geschichte Erkenntnisgrundsätze aufstellen müssen, die als Axiome unbedingte, absolute Geltung beanspruchen, in denen sie sich der Geltung des Rechtsbestandes ihrer Folgerungen und damit der Geltung des einheitlichen Denkens selbst versichert. Diese Axiome der Philosophie, die zugleich die Axiome des Erkennens überhaupt sind, werden in gleichem Maße, wie für die Philosophie selbst, auch für die Einzelwissenschaften, Naturwissenschaft, Mathematik und Geschichte gelten; denn was für das Erkennen, den erkennenden Geist an sich gilt, das muß auch für jedes besondere Erkennen und für jede auf besonderen Erkenntnisprinzipien sich aufbauende Einzelwissenschaft gelten. – Diese Axiome der Philosophie, in denen die Philosophie selbst immer wiederum an das Wesen des erkennenden Geistes appelliert, beschreibt die Philosophie in der Logik, der philosophischen Disziplin, die über die allgemeinsten Formen und Funktionen des Denkens und des Erkennens überhaupt handelt. Solche Axiome des Erkennens und der Philosophie, die auf ihnen fußend sie aufdeckt und beschreibt, sind z. B. der Satz des Widerspruches: A kann nicht zugleich non A sein, ein Begriff kann nicht zugleich ein Merkmal A und ein diesem Merkmal kontradiktorisch entgegengesetztes Merkmal B haben.

Wir würden im einzelnen den Resultaten der Philosophie vorausgreifen, würden wir es hier unternehmen, diese Axiome der Philosophie, vermöge deren sie immer wieder an ein für alle Erkennenden gleiches Erkenntnisvermögen appelliert, vollständig aufzuzählen, denn nichts anderes kann ja in bezug auf die erkennende Tätigkeit des erlebenden Individuums die Aufgabe der Philosophie sein, als eben unter ständigem Appell an die letzten lebendig erlebten Funktionen des Erkennens die Art dieser geltenden Prinzipien festzustellen und sie inmitten der Betätigung zur Klarheit des Bewußtseins, zum Wissen zu bringen. Hier gilt es vor allen Dingen einzusehen, daß aus der Einsicht in diesen, auch für die Einzelwissenschaften geltenden Erkenntnisgrund die Folgerungen der Philosophie abfließen, daß diese Folgerungen nur Rechtsbestand haben, wenn der Erkenntnisgrund für alle Denkenden gilt, daß aber auch andererseits alles mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit auftretende Erkennen aufgehoben ist, wenn dieser Erkenntnisgrund der Philosophie nicht gilt. Hier gilt es fernerhin zu verstehen, wie aus diesem einheitlichen, geltenden, von der Philosophie zum Wissen erhobenen Erkenntnisgrund so mannigfache Erkenntnisse kommen mögen, wie sie in den sich widersprechenden Systemen der Philosophie herrschen.

Diese gegensätzliche Mannigfaltigkeit innerhalb der philosophischen Resultate hat vornehmlich zwei Gründe: Erstens ist das überall feststellbare, überall erlebte Streben, über die Mannigfaltigkeit des Erlebens zur Einheit des Wissens zu kommen, das in den Einzelwissenschaften aus besonderen Erkenntnisgründen anhebt, selbst die lebendigste Dokumentation von der unendlichen Gespaltenheit dieser letzten Einheit des Erkennens. An unendlich vielen Punkten hat der Wille, zur Einheit des Wissens zu gelangen, anzusetzen und jeder Erkennende erlebt eine andere Mannigfaltigkeit. Von unendlich vielen Punkten aus wird diese Tendenz zur Einheit lebendig erlebt, empfunden und mit dieser Tendenz zugleich die Bedingtheit in der Erfüllung dieser Tendenz empfunden, erlebt und gewußt. So bietet die erlebte Mannigfaltigkeit und die im Erleben selbst liegende Bedingtheit selbst den Grund, daß sich durch das Lebendigsein der Tendenz zur Einheit Einheitszentren und Mannigfaltigkeitsgruppen bilden, in denen ein als Prinzip der Einheit erkanntes, gewußtes Prinzip als herrschend gelten muß. Mit dieser Begrenztheit des Erlebens ist auch die Bedingtheit der Geltung des Einheitsprinzipes gegeben. Immer wieder von neuem sind die als geltend behaupteten Erklärungsprinzipien unter dem Gesichtspunkte weiterer erlebter Mannigfaltigkeiten zu betrachten, ihr Bereich zu erweitern oder zu revidieren. Immer wieder ist die unübersehbare Mannigfaltigkeit unter die Herrschaft der geltenden Prinzipien zu ziehen. So wird das einzelne philosophische System, das mit einem als geltend hingestellten Prinzip der Einheit einen Umkreis um die erlebte, zum Wissen gebrachte Mannigfaltigkeit zieht, von unendlich vielen Gesichtspunkten aus zu prüfen sein und in die Mitte neuer Probleme gestellt. So ergibt sich für jedes System der Geschichte der Philosophie ein Ansatzpunkt und ein Ausgangspunkt der Kritik, die beginnt, um den gesetzten Grund der Geltung zu revidieren. So liegt in beidem, in dem Erkenntnisgrund der Philosophie, dessen Bewußtwerden selbst Aufgabe der Philosophie ist, und in dem Inhalte, auf den sich dieser Erkenntnisgrund bezieht, notwendig der Grund zu der Mannigfaltigkeit der philosophischen Versuche. Der Erkenntnisgrund selbst, die unaufhebbare Identität der Erkenntnisfunktionen aller erkennenden Wesen, der sich in der erlebten Tatsache des überall sichtbaren Willens zur Einheit dokumentiert, ist Aufgabe zugleich und Ausgangspunkt des philosophischen Erkennens; die notwendige Beziehung dieses Einheitsgrundes auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit, in welcher dieser Einheitsgrund als geltend festzustellen, ist der unentfliehbare Grund, stets vom einzelnen philosophischen Resultat zur Überwindung dieses Resultates von neuen Gesichtspunkten aus aufzusteigen.

Zweitens aber ist der von der Philosophie immer wieder neu geforderte und neu gemachte Versuch, als Wissenschaft von den letzten geltenden Prinzipien zu einem Ende des Wissens zu kommen, nicht nur ein Aufstieg von der erlebten Mannigfaltigkeit zu den geforderten Gründen der Einheit, sondern zugleich ein Aufstieg von der Subjektivität des Philosophen zur Objektivität geltender Prinzipien. Also der Aufstieg zum Wissen der geltenden Prinzipien aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit, dem Umkreise der vom Subjekt erlebten oder gewußten Mannigfaltigkeit, geht von der subjektiven Bedingtheit zur gewollten objektiven Geltung, von der bedingten Subjektivität zur gewollten und postulierten unbedingten Objektivität. – Während aber Naturwissenschaftler, Mathematiker und Historiker in allen ihren Erkenntnissen den nun einmal für sie feststehenden Erkenntnisgrund in ihren Resultaten sichtbar machen können, ist die Erhebung des Einheitsgrundes in der Philosophie selbst Aufgabe. Für die Einzelwissenschaft bildet der in den Axiomen festgelegte Erkenntnisgrund selbst den objektiven Boden, an dem keine Subjektivität etwas ändern mag, über dessen Rechtsgrund aber auch kein Mathematiker, kein Historiker, kein Naturwissenschaftler Erwägungen anzustellen hat. In der Philosophie ist die Erfassung dieses Einheitsgrundes selbst Aufgabe, die auf dem Wege von der Subjektivität zur Objektivität liegt. Der Philosoph hat also das Prinzip, auf dem er sein System aufbaut, in sich als denkendem Wesen mit steter Beziehung auf die von ihm als für alle erkennenden Wesen geltend geglaubten Funktionen des Erkennens zu einer Gewißheit zu bringen, die ohne Aufhebung seiner denkenden Natur nicht zu erschüttern ist. Mit dieser für den ganzen Umkreis seines subjektiven Denkens geltenden Gewißheit darf er hoffen, den höchsten Grad der Gewißheit für alle denkenden und gleiche Probleme betrachtenden Menschheit erreicht zu haben. – Dieser Weg aber von der Mannigfaltigkeit der erlebten Welt zu dem höchsten, immer wieder neu revidierten Grunde subjektiver Gewißheit ist der einzige, den die Philosophie als erkennende Wissenschaft einschlagen kann. Sie kann und muß sich von dem Wissen aller in gleicher Weise erreichten philosophischen Ziele selbständig zur Anerkennung einer vorhandenen oder zur Behauptung und Setzung eines eigenen Einheitsprinzipes von absoluter individueller, subjektiver Gewißheit erheben. In dem Umfang der überwundenen, in gleicher Weise angestellten subjektiven Versuche, wie sie die Geschichte der Philosophie lehrt, wird eine gewisse Garantie für den Fortschritt des Denkens von der Subjektivität zu höherer Objektivität liegen, aber die letzte Gewißheit eines jeden philosophischen Systemes bleibt notwendig eine subjektive. Subjektiv ist und bleibt sie, weil nur denkende Subjekte aus der Bedingung ihrer Subjektivität sich auf individuellen Wegen dem letzten Prinzip der Einheit nähern können, objektiv werden die Resultate dieses Aufstieges durch den steten Appell des denkenden Subjektes an die im Willen zur Einheit postulierte mögliche Einheit und Identität des Denkens und Erkennens überhaupt. Dieser Appell tut sich kund in der Evidenz und Konsequenz, mit der der Denkfortschritt geschieht und mit der aus dem gefundenen Prinzip der Einheit die Folgerungen für die erlebte Mannigfaltigkeit gezogen werden.

Von Punkt zu Punkt schreitet das aus subjektiven Gründen anhebende philosophische Denken zur Überwindung der entdeckten subjektiven Bestimmungen des Denkens. Dort, wo es in den vorhandenen Denkversuchen nach subjektiven Bestimmungen des Denkens forscht, die aus der Person des Denkers oder aus den Verhältnissen der Zeit kommen, ist die Philosophie eine historisch kritische Wissenschaft, dort, wo sie selbst die Wege zum Prinzip der Einheit geht, dieses zu formulieren und in der erlebbaren Mannigfaltigkeit lebendig wiederzufinden unternimmt, ist sie im eigentlichsten Sinne systematisch gerichtet. In beiden Fällen aber hat sie kein anderes Mittel, die Gewißheit ihrer Erkenntnis zu begründen, als die stete Beziehung auf den lebendig empfundenen und gewußten Einheitsgrund und den bei allen erkennenden Wesen notwendig vorauszusetzenden Willen, zu einem Einheitsgrunde des Wissens und der erlebten Mannigfaltigkeit zu gelangen. Die Axiome des Erkennens, wie sie die Logik aufstellt, sind nur das allgemeine Schema einer möglichen, zum Wissen zu bringenden letzten Einheit. Dort, wo das Prinzip der Einheit aller Mannigfaltigkeit als einziges Deutungsmittel mit aller Notwendigkeit und allem subjektiven Zwange empfunden wird und die Folgerungen konsequent hervorgehen, ist der Weg zur Erkenntnis der Einheit aller Mannigfaltigkeit eingeschlagen: nur dort ist Philosophie.

So finden wir in der Tat, die Geschichte der Philosophie betrachtend, in den großen, geschlossenen philosophischen Systemen, namentlich der Zeiten, wo das Denken selbst nach seinen Gründen und Funktionen suchte, um zunächst das Wesen des Erkennens zu erfassen, eine die subjektiven Ansprüche auf Weltanschauung vernichtende und ganz an die allen denkenden Wesen gemeinsame Form appellierende Tendenz. Gerade in der behaupteten, unumstößlichen Evidenz des gesetzten Einheitsprinzipes besteht die ganze Größe und die spezifisch philosophische Art eines philosophischen Systems und eines einzelnen philosophischen Gedankens. Indem das einzelne Denken sich identisch und als Repräsentant des Denkens überhaupt weiß, weiß es sich selbst zugleich mit allem Denken aufgehoben, wenn die behaupteten Folgerungen aus dem gewußten Prinzip der Einheit nicht gelten. In diesem Sinne hat man mit vollem Recht die Philosophie als die Wissenschaft von der sich auf ihre eigenen Prinzipien besinnenden Vernunft genannt. Diese Besinnung geschieht in allen einzelnen Fällen durch einzelne Persönlichkeiten, die subjektiv bestimmt sind; aber durch die stets gewollte und versuchte Vernichtung der subjektiven Bestimmungen wird diese Selbstbesinnung der Erfüllung, wenn auch in unendlicher Entfernung, genähert.

So wird begreiflich, wie sich auf der Einheit und – wenn auch nur durch das Denken postulierten – Identität des philosophischen Erkenntnisgrundes und bei der Einheit des Erkenntniszieles eine spezifisch philosophische Methode erheben kann, die in sich Mannigfaltigkeit birgt, Möglichkeiten in sich schließt, auf mannigfachen Wegen zur höchsten erreichbaren Gewißheit zu kommen. Diese Methode ist spezifisch unterschieden von den Methoden der Einzelwissenschaften. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit ihrer Resultate besteht ebenso zu Recht, wie der Anspruch eben dieser Einzelwissenschaften. Aber nur durch die Beziehung des Denkens und Erkennens auf den letzten Grund der Einheit wird die Philosophie zu einer eigentlichen spekulativen Wissenschaft, nur das Bewußtsein der Identität des einzelnen Philosophen mit dem Wesen und dem Sinne des Denkens, dem alle Denkenden unterstehen, gibt den Einzelresultaten der Philosophie festen, wissenschaftlichen Bestand. Die Philosophie als Wissenschaft ist damit die menschliche Erkenntnis, die zu der höchsten subjektiven Formung objektiver, d. h. für alle erkennenden Wesen geltender Resultate zu kommen die Möglichkeit hat. Dadurch, daß sie immer wieder von neuem den eigenen Erkenntnisgrund untersucht, schiebt sie die Bedingtheit der menschlichen Erkenntnis bis an die Grenze des Unbedingten, gelangt sie durch immerwährende Eliminierung der in der spezifisch menschlichen Erkenntnis liegenden Bedingungen zu den Formen und Funktionen, die das Wesen der Erkenntnis selbst ausmachen.

Diese Methode der Philosophie führt natürlich nicht nur von den eigentlichen Problemen der Erkenntnis aufwärts, sondern setzt, wie wir sehen, bei allen Problemen der erlebbaren Mannigfaltigkeit ein, nur daß die Philosophie immer Erkennen, d. h. Wissenschaft ist und dort, wo sie zu den letzten Werten gelangen will, ihre Behauptungen über die als geltend gefundenen Werte mit aller Strenge auf die letzten Erkenntniswerte beziehen muß. Sie will ja in dem Aufweis dieser Werte etwas Allgemeingültiges und Notwendiges behaupten. Nur dort, wo dieser Anspruch besteht und durch die Anwendung einer sicheren Methode erfüllt wird, kann von Wissenschaft die Rede sein. Philosophie als Wissenschaft muß eben auf ihrer Methode, auf ihrem Erkenntnisgrunde und auf ihrem Erkenntnisziele bestehen.


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