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Schlußwort.
Über moderne philosophische Bestrebungen.

Logik, Ethik und Ästhetik sind und bleiben die drei Hauptgebiete der philosophischen Spekulation. Sie beziehen sich nach der stets neu belebten Vorstellung von den Grundfunktionen der menschlichen Psyche auf die Resultate des Denkens, des Fühlens und des Wollens. Sie umspannen damit die Gebiete der Rezeptivität und Produktivität, des Daseins und der Gestaltung der gesamten, zum Erleben kommenden Erscheinungswelt. Denken, als das Vermögen Vorstellungen zu bekommen, zu gestalten und zu verbinden; Fühlen oder Empfinden, als das Vermögen bestimmter, durch das Ganze der Seele bedingter Zustände; Wollen, als das Grundvermögen, das Bedingung des Handelns ist, machen den gesamten Begriff der Funktionen aus, in denen der subjektive Geist zur Einheit, zum Grund der Mannigfaltigkeit emporsteigen kann und den objektivgewordenen Geist in der Erscheinungswelt finden mag.

Diese drei Gestaltungsgebiete lassen sich, wenn auch nur in abstracto, in ihren funktionellen Besonderheiten und in ihren spezifischen Produkten deutlich unterscheiden. Alle anderen Tendenzen des Geistes aber, von irgendeinem besonderen Punkte der unübersehbaren Erlebnismannigfaltigkeit zum Grunde der Einheit zu gelangen, erscheinen notwendig in diesen drei Gruppen von Grundfunktionen verankert und begründet. Alle Einzelgebiete der Philosophie, die über Logik, Ethik und Ästhetik hinausgehen, werden von besonderen Bedingungen des Erkennens, Wollens und Fühlens zu Einheitsgründen aufsteigen müssen. Für jedes einzelne Moment der Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeit gehen die spekulativen Wege von den besonderen Bedingungen aus rückwärts in die durch Logik, Ethik und Ästhetik zu findenden Bedingungen überhaupt, um gleichsam die einzelnen Elemente der unübersehbaren Erlebniswelt in einem von diesen drei Gebieten, in mehreren oder in dem gemeinsamen Grunde aller zu lokalisieren. In diesem Sinne sind die Ausgangspunkte und damit auch die Einzelgebiete philosophischen Spekulierens unübersehbar.

Es gibt deshalb für eine »Einführung in die Philosophie« keinen anderen Rechtsgrund, aus der Fülle der Problemkreise, die durch Einzelgebiete der Philosophie abgeteilt werden, eine Auswahl zu treffen, als den, sich an die Wichtigkeit und historische Bedeutsamkeit zu halten, die Einzelgruppen von Problemen in der Entwicklung des Denkens oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gewonnen haben. Diese in der Geschichte erhärtete Bedeutsamkeit ist einerseits darin begründet, daß sich das philosophische Denken überhaupt, gerade an diesen besonderen Problemgruppen in seiner Einheitstendenz versucht, andererseits aber darin, daß das Leben, und zwar aus Gründen des Erlebens, aus Weltanschauungsbedürfnis, sich an sie besonders hängt und von Einzelwissenschaft und Philosophie gerade von da aus die Erfüllung immer neuer Hoffnungen erwartet.

Es ließen sich in Rücksicht auf die Bedeutung für die von uns erlebte Gegenwart aus diesen Einzelgebieten zu eingehender Erörterung vor allen Dingen drei herausgreifen, um sie neben, aber auch zugleich unter die bleibenden Hauptgebiete der Philosophie zu stellen: Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Naturphilosophie. Alle drei Einzelgebiete, in hervorragender Weise das Denken der Gegenwart beschäftigend, entspringen einer Eigenheit des Zeitgeistes, der seit dem Aufblühen des Rationalismus in der Aufklärung und in der Kantischen Philosophie bis auf unsere Tage lebendig zu sein scheint. Diese Eigenheit besteht im Gegensatz zu früheren Zeiten in einem intensiven, in alle Formen des Wissens und der Wissenschaft eindringenden Kulturbewußtsein. Dieses Kulturbewußtsein lebt in der gefühls- und lebensmäßigen Einsicht, daß neben den Ewigkeitswerten und zeitlosen Gültigkeiten (Sittengesetz, Naturgesetz, Schönheitsgesetz, Denkgesetz) auch Zeitwerte zu Recht bestehen, Werte, die ihre Eigenart, ihre Besonderheit und ihre Werthaftigkeit in der Einmaligkeit ihrer Erscheinung haben. Dieses intensive Kulturbewußtsein für erlebte und gestaltete Werte wird einzelwissenschaftlich dokumentiert durch das Aufblühen von Geschichtsschreibung und Psychologie. Philosophisch zeigt sich dieses Kulturbewußtsein darin, daß die besondere Werthaftigkeit besonderer Kulturformen Gegenstand der Spekulation wird.

So tritt die Religionsphilosophie mit dem Bewußtsein kultureller Werthaftigkeit einzelner noch so gegensätzlicher religiöser Systeme an die historisch dokumentierten Religionen heran und läßt den Gedanken fallen, daß nur eine historisch gegebene Religionsform im eigentlichen Sinne religiös sei. Die Religionsphilosophie trägt dem Bewußtsein Rechnung, daß sich die letzten Werte einbürgern in viele zur historischen Erscheinung werdende kulturelle Formen. Neben diesem Verständnis für die Mannigfaltigkeit religiös-historischer Formen braucht und darf allerdings der Gedanke nicht verloren gehen, daß über allen historischen Religionen etwas Substanziell-religiöses gelegen ist.

Zum gewaltigen Prinzip der Spekulation wird dieses Kulturbewußtsein in der Geschichtsphilosophie. Zwischen den ausgesprochenen Mannigfaltigkeitssinn des Historikers – Fichte nennt ihn mit Unrecht den bloßen Chronikenmacher des Jahrhunderts – und den Einheitssinn der letzten und eigentlichen Philosophie tritt das Bewußtsein von der unverlierbaren Eigenart und Eigenwertigkeit empirischer Erscheinungen. Mächtig drängt das geschichtsphilosophische Denken den puren Mannigfaltigkeitscharakter der historischen Erscheinungen beiseite, um einen Wertcharakter, ein Wertgebilde, einen in der Einzelheit in besonderer Form ausgeprägten Werttypus repräsentiert zu sehen. Nicht mehr die gewaltsame Konstruktion eines überhistorischen, metaphysischen Weltplanes, demgegenüber die einzelne historische Erscheinung alles an Bedeutsamkeit verliert, ist die eigentliche Tendenz der modernen Geschichtsphilosophie, dort, wo sie den Rahmen rein methodologischer Forschungen verläßt. Das Ideal einer metaphysischen Geschichtsspekulation, wie es noch weit über Fichtes »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« hinaus lebendig war und zum Teil die eigentliche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beherrschte, ist dem Kulturbewußtsein von dem Eigenwert kultureller Erlebnisse gewichen. Es handelt sich vielmehr um die Feststellung von Werten, die auf dem Wege historischer Verwirklichung zur Erscheinung geworden sind. So entstehen in voller Rücksicht auf die historische Mannigfaltigkeit Wertbegriffe, wie Griechen tum, Römer tum, Deutsch tum, Zeitalter, Kulturströmung usw., alles Begriffe, zu der die Historie selbst nie gelangen kann, die in sich die Abstraktion von der Fülle anerkannter Einzelerscheinungen zugunsten allgemeiner Begriffe dokumentieren. In ihnen ist die Einzelerscheinung nicht aufgelöst, sondern in sie ist die Einzelerscheinung aufgenommen und bleibt der Beleg für den Wahrheitsgehalt der Abstraktion. Das intensive Kulturbewußtsein warnt davor, die ganze Individualität der erlebten Welt versinken zu lassen im bodenlosen Abgrunde eines konstruierten Weltenplanes. – Diese Tendenz allerdings, sich zu befreien von der verarmenden Schematisierung einer Schulmetaphysik durch einen gegenwartsfrohen Kultursinn, schlägt in ihr unphilosophisches Gegenteil um dort, wo sie sich verkrümelt in die Einzelheiten und jeder Erscheinung nicht nur ein Recht und nicht nur einen relativen, sondern auch einen absoluten Wert zuerkennt. Dies führt zur Anarchie im Reiche der Spekulation, zur Umkehrung der Einheitstendenz in die Mannigfaltigkeitstendenz beschreibender Disziplinen. Sichtbar drängt aus dieser Gefahr heraus das geschichtsphilosophische Denken nach einem Grunde der Einheit der Bewertung kultureller Einzelheiten, nach einem System der Werte, in das die Mannigfaltigkeit kultureller Erscheinungen sich einstellen läßt. Ein solches System der Werte, aufgebaut über die Mannigfaltigkeit historischer Gegebenheiten, wäre der feste Ausgangspunkt und Maßstab, um dem Werte der »Bewegungen« in der historischen Welt nachzuspüren, die konstanten, unverlierbaren Faktoren von den sekundären und relativen Werten abzusondern. Durch dieses »System unverlierbarer historischer Werte« würde die feste Grenze geschaffen gegen die soziologische Betrachtung historischer Erscheinungen und dem leeren Beginnen ein Ziel gesetzt, die Beschreibung mit der Rechtfertigung ökonomischer Bewegungen gleichzustellen. Das intensive Kulturbewußtsein als Grund der modernen Geschichtsphilosophie wird von einem solchen »System konstanter Werte« aus deutlich zu erkennen bestrebt sein und fähig werden, um welche festen Punkte das Geschick der Völker und der Menschheit sich dreht. Wie die Tür der Angel, so bedarf die Geschichtsphilosophie der festen Verankerung in einem System der Werte.

Auch die Naturphilosophie der Gegenwart steht unter dem beherrschenden Einfluß eines intensiven Kulturbewußtseins. Die Begriffe der modernen Naturphilosophie greifen längst auf die Kulturereignisse und Kulturformen über. Die Naturphilosophie kann sich schon lange nicht mehr damit begnügen, ein Gebiet der Herrschaft von Naturgesetzen für sich gegen das Reich der Kultur und Geschichte abzugrenzen. Ihr ist es eine neue Aufgabe, die Kultur mit allen ihren Verzweigungen von ihren Prinzipien aus zu verstehen, sie hineinzuziehen in ihr Bereich oder sie als besonderes Gebiet in ihrem Eigenwert anzuerkennen. Die Naturgesetzlichkeit der Geschichte ist ein viel erörtertes Problem gerade der neuesten Zeit. Das Bewußtsein von der besonderen Art der Kulturbewertung gegenüber der Naturbetrachtung der Dinge steht als neues belebendes Prinzip im Mittelpunkt auch der Naturphilosophie.

So entstehen, vom Kulturbewußtsein geboren, auch in der Gegenwart neue philosophische Aufgaben. Teils wenden sich die Versuche, sie zu lösen mit aller Energie gegen den Rationalismus der eigentlichen Blütezeit »kritischen« Denkens, indem sie hinweisen auf die unleugbare Irrationalität der Kulturerlebnisse. Teils streben sie dahin, alles in Rationalität aufzulösen, eine Auflösung, die oftmals dem tiefsten Zustande einer »Philosophie des gesunden Menschenverstandes« der Aufklärung gleicht (Pragmatismus). Teils halten diese Versuche dem Forschen nach Gesetzen des Geistes Wertgesichtspunkte entgegen, teils leugnen sie Werte oder lösen alle absoluten Werte in die Relativität wirtschaftlicher Werte auf. –

Auch unsere Zeit, so stolz und selbstbewußt sie auf ihre Errungenschaften sein mag, ist nur ein Moment in der Zeitlosigkeit; ob sie in sich zeitlose Werte schuf, wird erst der wertende Kritiker entscheiden. Auch die gegenwärtige Zeit ist, philosophisch genommen, ein Chaos von Problemen, wie dies alle Zeiten waren, ein Chaos, in dem hin und wieder ein Stern emporsteigt, der leuchten zu können die Hoffnung erregt, ein Chaos, aus dem vielleicht wieder einmal ein »tanzender Stern« geboren wird, der weite Räume bestrahlt: In diesem Chaos sich zurechtzufinden, ist mehr als schwierig.


Graphische Kunstanstalten J. J. Weber, Leipzig.

 


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