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Siebenter Abschnitt.
Der Nutzen der Philosophie.

Immer wieder wird mit dem Brustton der Überzeugung auf die Frage nach dem Wert und dem Nutzen der Philosophie darauf hingewiesen, daß der Wert aller Wissenschaft unabhängig von ihrem Nutzen, von der Nützlichkeit ihrer Resultate, daß ihr Erkenntniswert der alleinige Zweck und niemals Mittel zu irgendeinem Zwecke sei. Tatsache aber ist es, daß die Frage nach dem Nutzen und dem Werte der Philosophie zwar nicht von den Philosophen, auch nicht von den Einzelwissenschaften, aber von einer andern sehr gewichtigen Seite stets von neuem gestellt und auch beantwortet wird: das Leben wirft diese Frage auf und löst sie auf eigene Weise.

Schauen wir einmal hin auf dieses Leben, so werden wir bemerken, daß es die Wissenschaft keineswegs mit so hohen Wahrheitsansprüchen mißt, wie sie dies selbst vielleicht tut, sondern daß es den Wissenschaften den Boden bereitet oder entzieht je nach dem Nutzen, dem Werte, den es sich aus ihnen verspricht. Wir brauchen nur acht zu haben auf den allgemeinen Wissenschaftsbetrieb unserer deutschen Hochschulen und wir erkennen leicht, von welchen Wissenschaften das Leben sich mit Bestimmtheit Nutzen verspricht und von welchen es keinerlei lebensfördernden Vorteil erwartet. Für welche Wissensgebiete opfert die gegenwärtige Zeit Millionen, welche stehen dagegen unbedacht im Winkel und werden oft nur aus traditionellen Gründen geduldet und mit mäßigen Mitteln erhalten? Wir werden unter den ersteren schwerlich in irgendeinem Lande die Philosophie entdecken. Wo wäre wohl ein Beispiel zu nennen, daß jemand für Sachen der Philosophie Kapitalien aufwandte, wie für Dinge der Lebensförderung? Ist nicht geradezu der »arme Philosoph« sprichwörtlich geworden und Deutschland, das Land der Wissenschaft und der Philosophen als das »arme Land« gegenüber anderen Ländern belächelt? Nach was denn sollte die Bewertung der Wissenschaften stattfinden, als nach dem verschiedenen Nutzen, den das Leben und die Allgemeinheit aus ihnen erwartet und nach den verschiedenen Begriffen, die man sich über einen solchen Nutzen zu machen pflegt? Und wenn wir uns gegen die Tatsache nicht verschließen, daß das Wachstum und das Gedeihen aller Lebenserscheinungen, damit auch der Wissenschaften, abhängig ist von den Opfern, die das Leben ihnen bringt, dann werden wir wohl verstehen, daß die Frage nach dem Nutzen und dem Werte der Philosophie, nach der Stellung der Philosophie innerhalb der allgemeinen Kulturgüter, eine Lebensfrage für die Philosophie selbst ist, die abgewendet von der Erörterung ihres Wesens zu beleuchten ist. Wer wollte leugnen, daß der Quell der Wahrheit klarer und voller bei Spinoza, bei Kant, bei Fichte geflossen wäre, wenn das Leben ihnen opferwilliger und verständnisreicher entgegengekommen wäre, anstatt sie gewaltsam in den Hintergrund zu schieben! Trägt etwa eine besondere, dem Wesen der Philosophie nicht entsprechende Auffassung einen Teil der Verantwortung mit, daß die Philosophie so oft gegenüber den sonstigen Wissenschaften eine so auffallend dürftige Stellung einnimmt?

Schiller hat einmal gesagt, daß sich der Mensch und daß sich die einzelnen Völker in ihren Göttern malen, und Fichte war es wohl, der meinte, man könne die Menschen danach bemessen, zu welchem System der Philosophie sie sich bekennen. Es ist ebenso richtig zu behaupten, daß man ein Volk seinem Wesen und seiner kulturellen Entwicklung nach von seinem Verhältnis, von seinen Opfern für die Philosophie aus beurteilen mag. Denn eben in diesem Verhältnisse offenbart sich die Ansicht über das, was für allgemeinnützlich, d. h. Über allem einzelnen Nutzen für schlechthin nützlich angesehen wird.

Ist die Philosophie die Wissenschaft von den letzten Gründen der Einheit des Erlebens und des Wissens, so brauchen wir nur herumzufragen, in welchem der lebenden Völker ihr mit Opfern der Allgemeinheit Stätten der Entfaltung bereitet werden, und wir können schließen, daß die Wahrheit, eben das Wissen dieser letzten Gründe dort als nützlich, als mittelbar oder unmittelbar wertvoll erachtet wird. Wandern wir in Gedanken durch die Kulturvölker der Erde, dann werden wir wohl Hallen der Kunst, Tempel der Religion, Paläste des Geldes, auch Schulen angewandter und reiner Wissenschaft finden, aber Stätten der Philosophie sind wohl kaum als das Kulturbild kennzeichnend und bestimmend aufzuweisen. In allen diesen Schöpfungen der Kultur, die von Opfern der Allgemeinheit leben, offenbart sich der Geist der Völker.

Von Griechenland hat man mit Recht oftmals behauptet, daß von dem bewußten und unbewußten Glauben an Kunst und Schönheit sein ganzes Wesen getragen sei; die Kunstwerke Griechenlands lassen alles in den Hintergrund treten, was es sonst an menschlichen Gütern und Werten hervorbrachte; selbst die Staatengebilde des griechischen Insellandes zeigen die Gestaltung eines künstlerisch-harmonischen Prinzips. Schönheit galt hier als nützlich genug, um Opfer hervorzulocken, treibendes Prinzip der Geschehnisse und auch der Politik zu sein. Auch die Philosophie des größten vom griechischen Geiste durchdrungenen Philosophen, Platons, steht unter der Macht des künstlerischen Willens, während Aristoteles und seine Schule mit der schärferen und einseitigeren Ausprägung des eigentlichen Wahrheitsprinzipes schon der Periode des griechischen Verfalles, der Zeit der Verleugnung des echten Griechentums zugunsten eines internationalen Menschentums angehört. – Von Rom und dem italienischen Volke hat man auf Grund der historischen Quellen behauptet und glaubwürdig gemacht, daß ein mächtiger, religiös-erhabener Zug sein ganzes Wesen bestimmte. Die Tempel der Kirche bedeuten machtvolle Schöpfungen dieses Geistes, unendliche Opfer der Allgemeinheit des Volkes an diesem Geist. Keine Einrichtung, keine lebendige Tatsache des öffentlichen Lebens in Italien ist so reich bedacht worden, wie die Kirche, die Repräsentantin dieses religiös-erhabenen Kernes, mag sie sich im Laufe der Zeiten mohammedanisch oder katholisch genannt haben. Gewaltig, durch die Tat erklärt dieses Volk von Anfang an seiner Geschichte diese Opfer für nützlich, sein Wesen und seine wahre Existenz fördernd, trotzig gegenüber allen modernen, die Eigenwerte der Lebendigkeit negierenden rationalistischen Tendenzen.

Nirgends aber auf der mit Kulturwerten besetzten Welt dürfte man den Hang zur Wahrheit in so fester Form dargestellt sehen, nirgends sind, wie Platon das forderte, die Philosophen die Könige und die Machtfaktoren der Welt, wie es Tempel, Kirchen und Kunststätten gewesen. Völlig fremd, ja feindlich scheint die von der Philosophie zu ergreifende Wahrheit dem Leben und seinen Ansprüchen gegenüber zu stehen, nirgends scheint eine so lebendige Wirklichkeitsumprägung der Wahrheit möglich zu sein, wie beispielsweise die Umprägung von Schönheitssinn und religiösem Gefühl. Nirgends scheint sich ein Volk zu einem Nutzen der philosophischen Wahrheit so stark zu bekennen, daß es die Philosophie nach den Werten fragt, nach denen das Leben einzurichten ist.

Wir sind schon einmal dem Verhältnis von Philosophie und Leben begegnet, als wir die Frage zu erörtern versuchten, was Philosophie mit Weltanschauung zu tun habe, und wir sahen, daß alle Weltanschauung, die als Triebkraft hinter dem Leben steht, jenseits von wahr und falsch, unberührt von der in der Philosophie zu erfassenden Wahrheit lebendig und wirksam bleibt. Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß das lebendige Leben so selten die Philosophie nach den Lebenswegen fragt, daß die, die das Leben zu leiten berufen sind, nie oder nur vereinzelt mit philosophischem Sinn an die Lebensfragen herantreten, daß vornehmlich im modernen Leben Politik, und Philosophie völlig fremd zueinander stehen. Die Politik hat in ihren Entscheidungen Lebens- und Massenwerte zu gestalten, Machtfaktoren zu schaffen oder aneinanderzuhalten, die Philosophie dagegen hat Wahrheitswerte zu finden, Wahrheitswerte, die nicht bedingt sind durch zeitliche Bestrebungen, die jenseits aller zeitlichen Geltung liegen. Nur dort, wo Wahrheit und Lebenstat, wo lebendige Mannigfaltigkeit und Drang zur Einheit des Lebens und des Wissens zusammenfallen, würde Philosophie das Leben und Leben die Philosophie repräsentieren.

Wie wenig und selten dieser Zustand im Leben der Völker eingetreten ist, wo gleichsam aus einem lebendig empfundenen und bewußten Grunde der Einheit die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens geflossen, beobachtet, beurteilt und von den dazu Berufenen geleitet wurde, lehrt die Geschichte aller Völker. Immer sind es greifbare, immer scheinen es wenigstens einem Augenblick angehörige Nützlichkeitsüberlegungen gewesen zu sein, die den Gedanken eines Nutzens der Philosophie für das Leben in den Hintergrund drängten. Immer ist die Forderung Platons, daß die, die gleichsam über die täuschenden Augenblickbestimmungen hinfort zu den zeitlos treibenden allgemeinen Gründen hinüberblicken, die Staatsmänner und Führer der Völker sein sollten, ein oft verhöhntes und verspottetes Ideal geblieben. Und doch ist es ein Ideal voll Lebensmöglichkeit und Wirklichkeitssinn. Warum sollte nicht der Leiter politischen Lebens, gerichtet auf das innerste Wesen aller politischen Bewegungen, die Substanz, das Wesen, den Grund all dieser Bewegungen ins Auge fassend, hinter den lauten Erklärungen und Forderungen des Tages das verspüren, was nicht ausgesprochen wird und nicht ausgesprochen werden kann! Politik, Leben, Tat der Allgemeinheit und Philosophie sind in der Wirklichkeit der Gegenwart fremd, einander entgegengesetzt, aber es muß Zeiten geben können, wo der täuschende und das Leben nach unendlich vielen Gründen drängende Gegenwartssinn dem Sinn für die Einheit der Gründe nicht mehr feindlich ist. Soll erst der Historiker und Geschichtsphilosoph den nationalen Grund der Einheit in der Entwicklung der Völker aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der fragmentarisch überlieferten Tatsachen festzustellen unternehmen und die Tragik zum Erlebnis machen, daß dieser Grund in der Lebendigkeit der Gegenwart nicht gewußt und im Unwissen zerstört wurde? Warum soll nicht der Politiker, geschärft durch philosophischen Geist, den nationalen Grund eines Volkes und einer Zeit lebendig ahnen und wissen können? Warum soll nicht ein Volk diesem lebendigen Wissen Verständnis entgegenbringen können, um die Geschicke danach einzurichten und zu lenken?

Gerade in der Gegenwart, wo sich alle Wissenschaften und wo sich das ganze Leben ins Unendliche zerteilt, wo die Technik mit ihren Erfindungen und Möglichkeiten das äußere Leben nach tausend Richtungen differenziert und das innere Leben zu zerstören droht, wird die Notwendigkeit immer dringender, über die Einzelheit des Wissens und über der Mannigfaltigkeit der Zwecke nicht den Gedanken der Einheit des Wissens und des Wertes der letzten Wahrheit zu verlieren. Gerade in der gegenwärtigen Zeit, wo das Leben gleichsam aus seinem Zentrum gelockt wird, wo unendliche Möglichkeiten den Lebensgeist nach außen ziehen, wo alles Gefühl der Verantwortlichkeit zu erlöschen droht im Vertrauen auf die technischen Vollkommenheiten, wird es immer erforderlicher, sich des einigen Lebensgrundes wieder bewußt zu werden, die Ansprüche auf Wahrheit wieder höher zu schrauben.

Selbst, ja gerade, wenn wir glauben sollten, daß alle zeitlichen Unternehmungen, daß alle bewußten Staatsleitungen darauf abzielen, das Glück, die irdische Glückseligkeit der Menschen zu schaffen und zu fördern, müssen wir die Forderung immer dringlicher erheben, aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Lebens den Grund dieser Mannigfaltigkeit sichtbar und lebendig zu machen. Es ist doch schließlich der menschliche Geist, der diese Forderungen nach Glück, nach einer erreichbaren Ruhe stellt. Der menschliche Geist ist es, der im Prozeß des Erkennens, wie wir sahen, den Aufstieg zu diesem Grunde der Einheit immer wieder unternimmt, ein Prozeß, der im Erkennen doch nur von einer Seite erscheint, den das lebendige Leben von vielen Seiten aus mitmacht. Was ist es denn anders, wenn wir um Welt- und Lebensanschauung betteln, wenn wir große Persönlichkeiten bewundern, wenn wir vor einem Kunstwerk stehen, wenn wir in einer religiösen Gemeinschaft die Zwiespältigkeit unserer selbst vergessen, als eben jener gewaltige Trieb zur Einheit, sie liege in uns oder über uns. Elementar und ungedämmt bricht dieses Drängen zur Einheit gegenüber dem Zuge aus der Mitte des Lebens immer wieder hervor und schiebt das »Leben« in sein Zentrum zurück. Mögen immerhin Tausende von einzelnen Lebenszwecken des Lebens eigentlichen Kern verschleiern und den immer lebendigen Trieb zur Einheit verdunkeln, die Sehnsucht um ihr eigentliches Ziel bringen, mögen sich »Bewegungen« und Parteien mit wirtschaftlichen, die sinnliche Existenz scheinbar befriedigenden Gründen breitmachen, es bleibt die erstaunliche Heimatbedürftigkeit der menschlichen Seele, die sich im Gebet, in der Kunst, im Wissen und in der Philosophie zeigt. Diese Heimatbedürftigkeit des menschlichen Geistes, die sich über den Wolken einen Himmel malt, die von einem endlich zu erreichenden Frieden der Völker träumt, die in aller Unendlichkeit den Prinzipien der Wirklichkeit nachspürt, ist ein Grund unendlich intensiverer Bedürfnisse, von deren Erfüllung das »Glück« abhängt, als die Mannigfaltigkeit sinnlicher Begehrungen.

Wenn wir also von einem »Nutzen« der Philosophie reden, so liegt er auf der Seite der sich überall ausprägenden, in den verschiedenen Zeiten schwächer oder stärker hervortretenden Bedürfnisse des menschlichen Geistes, für die jede Wissenschaft ein Documentum ist. Dieser Wert und Nutzen wird nur bewußt werden in Zeiten, wo der allgemeine Sinn sich nicht ausschließlich verkrümelt in die Mannigfaltigkeit äußerer Zwecke, wo der eigentliche Lebensgrund des menschlichen Geistes gefühlt und an ihn geglaubt wird. Nur in solchen Zeiten wird man der Philosophie Opfer bringen und darauf drängen, daß der von sich selbst abgezogene Geist im Erkennen der letzten Gründe zu sich selbst zurückkehre.

Es ist also wohl richtig, daß man den Geist der Völker und der Zeiten messen könne an der Lebendigkeit der Philosophie innerhalb der Gesamtheit der Kultur, an den Opfern, die man ihr von feiten der Allgemeinheit bringt, an dem Nutzen, den sich die Völker von der Philosophie als Wissenschaft versprechen. Nur darf man nicht glauben, daß der Mangel an Philosophie oder ihre zeitweise stiefmütterliche Stellung im Ganzen einer Kultur mit absoluter Sicherheit auf den Mangel an lebendiger Erfassung des Einheitsgrundes überhaupt hindeuten. Denn die Philosophie ist nur der eine Weg, diesen Einheitsgrund zur Darstellung zu bringen, der Weg, der vom Erkennen ausgeht und sich auf Erkenntnisgründe stützt. Auf vielen anderen Wegen aber ist es dem menschlichen Geiste gegeben, zur lebendigen Erfassung des Einheitsgrundes vorzudringen: durch Kunst, durch Religion, durch Weltanschauung, durch Wissenschaft. Nur wer zum Wissen dieses Einheitsgrundes Vordringen will, wird die Philosophie zu befragen haben, nur wer im Wissen der Wahrheit überhaupt, nicht nur im Wissen einer bestimmten, durch besondere Erkenntnisziele differenzierten Wahrheit, den Zweck der Erkenntnistätigkeit erblickt, wird aus der Philosophie Nutzen und Wert zu ziehen erhoffen dürfen.

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Damit dürfen wir den ersten allgemeinen Teil dieser »Einführung in die Philosophie« abschließen. Er sollte über das Wesen der Philosophie handeln und es in allen seinen Beziehungen klarzustellen versuchen. Wir können in einen zweiten, speziellen Teil eintreten, der von den »Spezialgebieten der Philosophie« zu lehren hat. Auch in diesem speziellen Teile haben wir uns nur allgemeine Tendenzen, aber nicht Resultate vor Augen zu führen.


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