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Zehnter Abschnitt.
Ästhetik oder Philosophie des Schönen.

Ein Anspruch auf Wahrheitrecht, d. h. Allgemeingültigkeit der Vorstellungen wird in der Tatsache der Wissenschaften unabweisbar dokumentiert. Auch der Anspruch auf Moralität der Handlungen ist als solcher ein stets erlebter, mögen auch Handlungen, die in sich das Prinzip der Moralität vollgültig erscheinen lassen, in der Wirklichkeit nicht angetroffen werden. Die Ästhetik hat den Rechtsanspruch auf Gültigkeit von Urteilen, die über etwas behaupten, es sei schlechthin schön, zu prüfen und in diesen Urteilen den gemeinsamen Grund, d. h. den Grund der Einheit aller dieser Urteile festzustellen.

Die Aufgabe der Ästhetik ist keineswegs so in die Augen springend, wie die der Logik und der Ethik, die einem steten Bedürfnisse des Lebens Rechnung tragen. Gerade in dem Urteil, durch das von etwas behauptet wird, es sei schön, dem Geschmacksurteil, scheint bei flüchtiger Beobachtung individuellsten Stimmungen und Empfindungen Ausdruck gegeben zu sein; der subjektive Anspruch scheint nicht durchweg erhoben zu werden, das als schön Bezeichnete über alle subjektiven Bedingungen schön genannt zu wissen. Die Unübersetzbarkeit von verschieden begründeten Schönheitsurteilen und die Unermeßlichkeit von Schöpfungen, die mit dem Ansprüche, schön zu fein, ins Leben treten, scheinen dem alten Satze Recht zu verleihen »de gustibus non est disputandum«, ein Satz, der für die Wirklichkeit unbedingte Geltung haben mag, gegenüber bestehenden ästhetischen Forderungen aber sein Recht nachweisen müßte. Aber nur, wenn in den Kunstschöpfungen und Geschmacksurteilen, in den Wertungen, die aus der Empfindung, aus der Rezeptivität oder Produktivität eines Empfindungszustandes kommen, die Tendenz zur Einheit lebt, wenn sich in der Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit gemeinsame, auf eine Einheit hindeutende Richtungen verspüren lassen, hat die Philosophie die Möglichkeit einzusetzen. Diese Tendenz zur Einheit besteht trotz aller gegensätzlichen Wirklichkeit in dem Anspruche, mit dem Geschmacksurteile und die Kunstschöpfungen auftreten.

Man darf, um die Besonderheit, die Individualität der Geschmacksrichtungen gegen die Philosophie als die zur Einheit strebende Wissenschaft zu verteidigen, keineswegs auf die ebenfalls in der Wirklichkeit feststellbare Individualität und Subjektivität moralischer Urteile Hinweisen. Wie wir sahen, wird dieser vorhandene Individualismus sittlicher Bewertungen mit Gewalt durch die Forderung nach allgemeingültigen Wertmaßstäben durchbrochen. Wenn sich diese Forderung zunächst in den Kodices relativ allgemeiner Normen (Recht und Sitte) erhärtet, so bleibt der stets lebendige Anspruch auf eine darüber hinausliegende schlechthin allgemeine moralische Gesetzgebung immerdar bestehen. Diese Forderung greift als lebendiger Maßstab auch auf die wirklichen Verhältnisse des Lebens unmittelbar über.

Machen wir uns, um den Schein der geltend gemachten Subjektivität und Individualität der Geschmacksrichtungen, die sich berufen auf eine unübersehbare Spezifikation des Geschmackes, zu erkennen, klar, was ein Geschmacksurteil bedeuten will. Dann bleibt immer noch die andere Frage zu erörtern, ob die gewollte Bedeutung in der Wirklichkeit erlebt, historisch dargestellt, logisch, philosophisch zu rechtfertigen ist.

Bei dem Geschmacksurteil oder der Schönheitsbehauptung zeigt sich dieselbe Doppelheit der Form, wie beim ethischen Urteil. Das Urteil: »Dies oder jenes ist schön« erscheint erstens in der Form der Sprache als kritische Wertung eines vorgefundenen, eines erlebten, eines nachempfundenen Zustandes, zweitens konkretisiert es sich in Kunstschöpfungen, in absichtlich hervorgebrachten Kunstwerken, Kunstleistungen. Prinzipiell ist der Unterschied zwischen dem in der Sprache Gestalteten und dem in die Wirklichkeit durch die Tat des Kunstwerkes projizierten Kunsturteile folgender: In dem kritischen Urteile »dies oder jenes ist schön« wird ein nacherlebter Empfindungs- oder Wirklichkeitszustand auf einen besonderen Einheitsgrund der Beurteilung, auf einen Wert bezogen, von dem aus der betreffende Erlebniszustand nicht etwa als allgemein wahr oder als moralisch, sondern als schön behauptet wird. In der Kunstleistung dagegen wird der Wert, auf den mögliche Erlebnis- und Empfindungszustände bezogen werden, als konstituierendes Moment gebraucht, aus der Sphäre des erlebenden Ich in die dem Ich fremde Wirklichkeit hinausprojiziert und mit den Mitteln der Verwirklichung zum Werk gestaltet. Für beide Arten der ästhetischen Beurteilung, der rein denklich-sprachlichen und der verwirklichten bleibt als Gemeinsamkeit, daß eine Fülle von Empfindungs- und Erlebniszuständen auf einen Wert bezogen werden, der eben diese Empfindungs- oder Erlebniszustände zu einem Schönheitswerte sich verdichten läßt.

Man muß, um überhaupt die Fragen der Ästhetik als einer philosophischen Wissenschaft zu verstehen, sich ganz deutlich gemacht haben, daß in dem Urteile »dies oder jenes ist schön« etwas völlig anderes behauptet wird, als in den Urteilen »dies oder jenes ist wahr«, »dies oder jenes ist gut«, »dies oder jenes ist fromm« usw. Der Künstler – er sei Dichter, Maler, Bildhauer, Schauspieler usw. – leistet in seinen Schöpfungen etwas völlig anderes, als daß er eine nach Regeln der Logik und der Naturerkenntnis von jedem wiedererlebbare Wirklichkeit im Werk wiederholt. Der Kunstkritiker behauptet mit dem Urteile »dies oder jenes ist schön« etwas anderes als einen von jedem nach den Regeln der Naturerkenntnis wiederholbaren Vorstellungsprozeß. Zu welcher Ansicht indessen man sich über die Art des Wertes bekennen mag, auf den der Ästhetiker oder der Künstler die Mannigfaltigkeit der Erlebnis- und Empfindungszustände beziehen soll, ist völlig gleichgültig, um die Aufgabe, den Sinn der Ästhetik zu erfassen. – Nur das eine muß man neben der Besonderheit des ästhetischen Urteiles, als einer bewußten Wertbeziehung, im Auge behalten, nämlich mit welcher Tendenz der in dem Kunsturteile »das ist schön« oder im Kunstwerke hervortretende Behauptungsanspruch auftritt. Besagt dieser Anspruch in der Tat etwas anderes als: Ich empfinde, ganz in meiner Subjektivität verharrend, diesen oder jenen Zustand als schön, ich projiziere eine von mir erlebte als schön empfundene Mannigfaltigkeit mit meinen Mitteln der Gestaltung in die Wirklichkeit? Offensichtlich! Ich behaupte nicht, daß dies oder jenes von mir angenehm empfunden wird, der Künstler macht nicht nur den Anspruch, den der Kunsthandwerker machen muß, daß seine Werke ihm, etwa zur Erlangung ökonomischer Werte, Liebhaber werben. In dem Urteil »das ist schön« oder in dem mit dem Anspruche »Schönheit gestaltet zu haben« geschaffenen Kunstwerk nimmt der Behauptende den Streit mit denen auf, die dagegen behaupten würden, »dies ist nicht schön«. Im Kunstwerk stellt der Künstler ein Stück der Wirklichkeit, der in fließenden Grenzen erlebten Welt dar, von dem er will, daß es gegenüber der wahren Wirklichkeit schön sei, absolut schön, d. h. schlechthin schön, wie etwas als wahr gesetzt werden mag. Was könnte es wohl für einen Sinn haben, Schönheitsideale der Vergangenheit als große Schönheitsmuster hinzustellen, gegen Künstlichkeit und Bagatellengestalterei an große Kunstformen zu erinnern, als den, daß es eine letzthin große und wahrhafte Schönheitsidee geben müsse, einen letzten Grund echter Schönheit? Ob von diesem oder jenem Schönheitsprinzip mit unbestreitbarem Anrechte behauptet worden ist, es sei der letzte Grund aller Schönheit, ist eine andere Frage, durch die zunächst die einfache Tatsache nicht berührt wird, daß zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte über Schönheitswerte gestritten worden ist, und im Laufe der Geschichte der Kulturen die Menschheit als wertendes Ganze großen Kunstleistungen in Opfern ungeheurer Natur Wertungen entgegenbrachte. Also: wie auch immer die Entscheidung darüber ausfallen mag, von welcher Art der letzte Wert sei, auf den als Grund der Einheit Empfindungs- und Erlebnisinhalte bezogen werden müssen, um schön genannt zu werden, die allgemeine Tendenz zeigt sich in ästhetischen Urteilen und Schöpfungen lebendig, etwas Allgemeingültiges zu behaupten und zu gestalten, die unübersehbare Erlebnis- und Empfindungsmannigfaltigkeit nach einem Prinzip der Einheit geformt zu wissen.

Diese Tendenz zur Allgemeingültigkeit des in Schönheitsurteilen Behaupteten oder im Kunstwerk Gestalteten gibt der Philosophie den ersten sicheren Fingerzeig, daß hier der lebendige Geist, ebenso wie in der Wissenschaft und in den moralischen Forderungen, zur Einheit aufzusteigen, einen letzten einheitlichen Grund der Geltung zu erreichen, zu erleben, zu gestalten, zu schauen, bestrebt ist. Diese Tendenz, zur Einheit und Allgemeingültigkeit zu gelangen, den Geist auf einem besonderen Wege in der Wertung des Schönen sich formen, sich ausdrücken zu sehen und zu begreifen, ist der eigentliche Sinn aller Ästhetik als einer philosophischen Wissenschaft. Diese Tendenz zu ergründen, den Einheitspunkt zu erfassen, von dem aus die individuell und subjektiv gestalteten Erlebnisse, Empfindungen und Urteile den zugleich behaupteten Allgemeingültigkeitswert bekommen, ist eine spezifisch philosophische Aufgabe, zu deren Lösung der Kunstphilosoph in die ganze unübersehbare Fülle von Kunstschöpfungen, Kunsturteilen, Kunstanschauungen, Kunstprinzipien hinabsteigen und über sie hinaus zu ihrem allgemeinen Charakter gelangen muß. Die erlebbare und gestaltbare Wirklichkeit, die Verwirklichung und Lebendigwerdung des auf Schönheit gerichteten Geistes ist der einzig fruchtbare Ausgangspunkt einer die Mannigfaltigkeit begreifenwollenden Kunstphilosophie.

An dieser Mannigfaltigkeit scheiden sich aber auch bei gleicher allgemeiner Tendenz des philosophischen Denkens die Wege von selbst. Ihr Widerstreit, ihre niemals aufhebbare Gegensätzlichkeit ist kein Beweisgrund für die Aussichtslosigkeit kunstphilosophischer Forschungen; sie ist es ebensowenig, wie die vielen Wege der Logik und Erkenntnistheorie Instanzen gegen das Recht und die Notwendigkeit dieser Wissenschaften oder die zahllosen und die Menschheit z. T. verheerenden Irrwege der Medizin ein Beweisgrund gegen die wahre Tendenz der medizinischen Wissenschaft wären. Gerade aber an der Ästhetik zeigt es sich mit vollster Deutlichkeit, wie scharf notwendigerweise am gleichen Erlebnis- und Empfindungsinhalte anhebende einzelwissenschaftliche von philosophischen Forschungen zu sondern sind.

Werfen wir, um uns diese Verschiedenartigkeit einzelwissenschaftlicher und philosophischer Forschungen über Gegenstände der Kunst deutlich zu machen und daraus das wahre Wesen der Ästhetik zu erkennen, einen kurzen Blick auf die spezialwissenschaftlichen Nachbargebiete der Kunstphilosophie, auf Kunstpsychologie und Kunstgeschichte. Kunstgeschichte und Kunstpsychologie sind beides Gebiete, die gerade in den letzten Jahrzehnten eine hervorragende Entwicklung durchgemacht haben und stolz auf die erlangten Erfolge der Kunstphilosophie oft nicht mehr zu bedürfen meinen.

Was tut und will der Psychologe, wenn er in das Zentrum seiner Betrachtung das als schön Gestaltete oder Behauptete einstellt? Er nimmt diese Wertung als Wirkung einer Ursache, die im Umkreise der als daseiend, unabhängig vom wertenden Ich lebendigen Welt aufzufinden sein muß. Ihm ist die vorgefundene Wertung ein mit besonderen Daseinsqualitäten umsponnener Zustand, der nur als notwendige Folge eines Zustandes oder Zustandsaggregates von gleicher Qualität gedacht werden kann. Den Psychologen interessieren in einem Werturteil mit dem Prädikate »schön« allein die genetischen Vorgänge. Ein unermeßliches Forschungsgebiet tut sich für ihn bei der Frage nach diesen genetischen Vorgängen einer als schön bezeichneten Wirklichkeit auf. So interessieren ihn an einem lyrischen Gedichte all die Gefühlsqualitäten, die sich verdichten zur Stimmung, sich zusammenfinden, verschieden verursacht werden, nach besonderen Mitteln des Ausdruckes drängen, um aus der Sphäre des Bewußtseins als abgelöste Wirkung hervorzutreten. Jedes Wort, jede Wortverbindung, jeder Reim und jeder Klang geben dem Psychologen Anlaß, von da aus als greifbarer Wirkung zurückzutasten nach den in der Psyche oder über der Psyche liegenden Ursachen. So unterscheidet man mit vollem Recht, von der Mannigfaltigkeit der Kunstschöpfungen ausgehend, Tonpsychologie, Farbenpsychologie usw., wissenschaftliche Forschungsgebiete, die den Grund des künstlerischen Produktes nach ganz bestimmten kausalen Gesetzen untersuchen. Für den Kunstpsychologen zerspaltet sich die im Kunstwerk vorgefundene Einheit in eine Fülle einzelner kausaler Reihen; er vermag wohl auf Grund fester Methoden kausale Einzelheiten festzustellen, er kann wohl das Zusammentreffen kausaler Reihen in Kunstwerk oder Kunsturteil verstehen, er kann die individuelle Struktur eines Kunstwerkes aus Analogien zu erklären unternehmen; aber worauf als Rechtsgrund die Behauptung beruht, daß dies oder jenes schön, schlechthin schön sei, kann er aus der Addition all dieser kausalen Einzelheiten nicht herausbekommen; es ist von psychologischen Untersuchungen aus immer unverständlich und liegt ganz jenseits der Erklärungsmittel der Psychologie. Für den Psychologen ist jedes Werk, von dem – mit oder ohne Recht – behauptet wird, es sei ein Kunstwerk, in der Tat ein solches, auch das Widerwärtige und Häßliche, das Groteske und Abscheuliche ist ihm nach Gesetzen natürlichen Geschehens erklärlich, voll begreiflich und als Gegenstand der Untersuchung gleichwertig. Er fragt nicht, auf welchen letzten Wertbeziehungen das Schöne und das Häßliche beruhen, wie überhaupt ein Rechtsanspruch auf Schönheit möglich ist, sondern unter welchen Wirklichkeitsbedingungen das als schön oder häßlich Empfundene steht. Für die Frage, warum etwas schön oder nicht schön ist, für die Feststellung und Prüfung des erhobenen Anspruches auf Schönheit ist die Frage nach der Genesis des entsprechenden Gefühls- oder Wirklichkeitszustandes völlig irrelevant. Die besonderen und eigentlich wesentlichen Fragen: »Was ist über alle subjektive Bedingtheit schön, was ist das schlechthin Schöne?«, sind eben Fragen, die dem Kunstpsychologen seine ganze Wissenschaft mit vollster Wertschätzung lassen, selbst aber auf anderen Wegen liegen und andere Mittel der Auflösung erfordern. Auch der Ethiker und der Richter lassen ja dem Naturwissenschaftler ohne Überhebung ihre Spekulationen über einen gleichen, auch ihnen vorliegenden Gegenstand.

Natürlich wird es für den Ästhetiker, der eben jene Fragen zu erörtern hat, lehrreich sein, vom Kunstpsychologen über die subjektiven Bedingungen des Auftretens und der Verwirklichung ästhetischer Ideen belehrt zu werden. Der Kunstphilosoph wird es dankbar begrüßen, vom Psychologen über die individuellen oder in der Natur der Menschen gelegenen Beschränkungen, Sonderbarkeiten, kausalen Verhältnisse Aufschluß zu bekommen. Jedoch, indem ich den Boden prüfe, um Bedingungen zu erforschen, unter denen ein Samenkorn keimen, eine von mir vorgestellte Blume Blüten treiben kann, erkenne ich doch nicht etwa den Wert des Samenkornes selber oder den Grund der Schönheit der erwarteten Blüte! Die Blume dünkt mich aus besonderen Gründen schön. Um die Idee dieser Schönheit in der nach allerlei Gesetzmäßigkeiten eingerichteten Wirklichkeit hervorzubringen, flüchte, taste, greife ich nach all den möglichen Bedingungen und befrage den subjektiven Boden, auf dem sie wachsen soll. Ist es denn nicht auch denkbar, daß auf dem von der Psychologie so sorgfältig mit ihren Mitteln untersuchten Boden der menschlichen Seele von ihr selbst nicht gewollte, sondern eben nur getragene Schönheitswerte wachsen, wie auf der Erde Gottes die Bäume und Blüten emporstreben? – Mögen also die wissenschaftlichen Ansprüche der sich mit den Kunsturteilen und Kunstwerken abmühenden Psychologie noch so berechtigt und ihre Resultate von noch so weitgehender Bedeutung für besondere Zwecke unserer Erkenntnis sein, sie berühren das Gebiet der Ästhetik oder Kunstphilosophie auf keine Weise, die eben nach dem letzten Grunde des schlechthin Schönen zu fragen hat.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Kunstgeschichte. Sie ist die Wissenschaft, die darzustellen und zur allgemeinen Kenntnis zu bringen hat, was in aller Welt als schön gewertet und was für Schönheitswerte im zeitlichen Verlauf der Geschehnisse verwirklicht worden sind. Der Kunsthistoriker wird versuchen müssen, das einzelne von ihm aufgefundene Kunstwerk in Beziehung zu setzen zu anderen Kunstwerken und anderen historisch feststellbaren Leistungen der Menschen. Dafür hat er seine bestimmten, ihn zu dem erwarteten Ziele führenden Mittel der Forschung. Natürlich wird der Historiker in sich einen subjektiven Wertmaßstab des Schönen tragen müssen, mit dem er über Werke der Kunst und deren Zugehörigkeit zu Kunstrichtungen, deren Stellung innerhalb der Entwicklung bestimmter Kunstschulen, entscheiden mag. Aber dieser subjektive Wertmaßstab läßt sich durch die Historie nicht begründen, sondern ist selbst der Grund geschichtswissenschaftlicher Wertmaßstäbe über Gegenstände der Kunstbildung. Diese subjektive Kunstanschauung als Grund kunsthistorischer Urteile wird für die kunsthistorische Arbeit an Wert gewinnen, je mehr sie sich einer nur auf dem Wege der Philosophie feststellbaren objektiven Anschauung von dem, was schlechthin schön sei, nähert. Die subjektive Kunstanschauung bleibt für den Kunsthistoriker von sekundärer Bedeutung gegenüber den Forschungsmitteln, die ihn zu seinem Erkenntnisziele führen. In diesem Sinne kommen ihm die exakten Feststellungen über die in den verschiedenen Zeiten der Geschichte vorhandenen Kunsthandwerksmittel und die Materialien zu Hilfe, aus denen sich das Kunsthandwerk formte. Für den Kunsthistoriker zerteilt sich die ganze Welt in Zeiten bestimmter Kunstanschauungen, die zu umgrenzen er viele Schwierigkeiten zu überwinden hat. Die Frage aber, weshalb etwas »schön« genannt werden muß, oder wie es überhaupt möglich sei, daß von etwas behauptet werden kann, es sei schlechthin schön, steht jenseits aller Kunstgeschichte. – Die Kunstgeschichte, das große Reich der Verwirklichung des Schönen, nach bestimmten Erkenntnisprinzipien umgrenzt, ist der Boden, auf dem die Kunstphilosophie steht, um über die unübersehbare Mannigfaltigkeit der wirklich gewordenen Kunstprinzipien zur Erkenntnis des allgemeinen Schönheitsprinzips emporzusteigen.

Was soll ausgedrückt werden durch alle die ins Leben getretenen Schönheitswerte, die sich, wie der Kunsthistoriker darstellt, keineswegs ins Leben hineinschleichen und hineinfinden, sondern gewaltsam, zum Teil mit Vernichtung der künstlerischen Existenz hineindrängten in die erlebbare Wirklichkeit? In welchem Einheitsgrunde finden sich alle die Schönheitsideale zusammen, für die von der Gesamtmenschheit sowohl wie vom einzelnen Künstler Lebenswerte geopfert wurden, um die sich zeitenweise, wie beispielsweise in Griechenland, das Leben der Völker gruppiert hat? Wo liegt über allen subjektiven Formen der Schönheit, von denen die Kunstgeschichte zu berichten hat, der Grund objektiver Schönheit, von dem aus allein der immer wieder im Urteil und in der Kunsttat auftretende Anspruch auf Allgemeingültigkeit behaupteter Schönheitswerte gerechtfertigt erscheinen kann?

In der Beantwortung dieser sich neben Kunstpsychologie und Kunstgeschichte stellenden spezifisch philosophischen Frage sind die Wege weit auseinandergegangen. Die Geschichte der Ästhetik gibt davon das lebendigste Exempel. Daß unter den historisch so bezeichneten ästhetischen Theorien auch viele auftauchen, die im Grunde nichts mit Philosophie zu tun haben, darf uns, nachdem wir den Begriff der Philosophie und den der Kunstphilosophie uns haben deutlich werden lassen, nicht beirren; zu allen Zeiten haben kunstphilosophische Anschauungen existiert, die sich teils mit kunstpsychologischen, teils mit kunsthistorischen Forschungen vermischten. Der Name »Ästhetik« selbst ist noch keineswegs ein seit langem für das Gebiet der Kunstphilosophie ausschließlich verwandter. So sträubte sich beispielsweise noch Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« gegen Baumgartens Versuch, diesen Begriff ausschließlich für das Gebiet der Philosophie des Schönen in Anspruch zu nehmen. Doch das sind terminologische Erinnerungen, die keine erhebliche Bedeutung haben. Viel wichtiger ist es, die mannigfachen möglichen Wege der Ästhetik aus sachlichen, prinzipiellen Erwägungen sich scheiden zu sehen, ohne dabei für oder gegen irgendeinen bestimmten ästhetischen Versuch Partei zu ergreifen. Denn hier kommt es ja nur darauf an, in das Gebiet der Ästhetik überhaupt, nicht aber in eine bestimmte, erst zu begründende ästhetische Anschauung einzuführen.

Die Wege, welche die kunstphilosophische Spekulation aller Zeiten gegangen ist, um den letzten Grund der einheitlichen Geltung zu untersuchen und festzustellen, scheiden sich vor allem an einem Punkte, von dem aus am zweckmäßigsten eine Überschau über mögliche Lösungen ästhetischer Fragen versucht werden kann. Es ist dies die Frage nach der Bedeutung von Form und Inhalt bei der Bestimmung des ästhetischen Wertes einer Kunstleistung und der Richtigkeit eines Kunsturteiles. Von der völligen Negierung eines inhaltlichen Grundes der Schönheit, der als bestimmter Bewußtseinsinhalt im Kunstwerk in individueller oder allgemeingültiger Form gestaltet werden soll und dadurch als Kunstwerk verwirklicht wird, gehen die Wege bis zur hartnäckigen Forderung bestimmter inhaltlicher Werte, die teils in der Ethik, teils in der Religion ihren Grund haben. Und ebenso weichen die tiefsinnig und mit allen Mitteln des Beweisens begründeten Anschauungen über die Art eines formalen Prinzipes ab, wo dieses als das alleinige Schönheit konstituierende Moment gesetzt wird.

Die drei verschiedenen Fragestellungen in bezug auf die Ästhetik, die auf dasselbe Erkenntnisziel hinführen sollen, nämlich den allgemeinen Grund der Schönheit zu finden, lauten von diesem Differenzpunkte über den Wert von Form und Inhalt als konstituierende Momente der Schönheit aus folgendermaßen: 1. Wie kann ein beliebiger, individuell geborener, geschaffener, erlebter Inhalt so geformt werden, daß er als schlechthin schön erscheint? 2. Welcher allein zur Schönheitsform gelangende Inhalt ist in seiner Erscheinung eben seines Gehaltes wegen notwendig an die schlechthin zu behauptende Schönheitsform gebunden und tritt nur in der Form des Kunstwerkes zutage? 3. Wie ist es möglich, daß sich mit einem bestimmten Inhalte als Materie der künstlerischen Gestaltung eine bestimmte Form so verbindet, daß etwas schlechthin Schönes gestaltet wird?

Diesen drei nebeneinander auftretenden ästhetischen Kardinalfragen, auf die sich völlig entgegengesetzte ästhetische Anschauungen gründen, geht eine andere Fragestellung parallel. Sie läuft darauf hinaus, festzustellen, ob es zum Wesen der ästhetischen Schöpfung gehört, den als Grund der Schönheit feststehenden inhaltlichen oder formalen Wert bewußt oder unbewußt auf die erlebte Mannigfaltigkeit von Empfindungs- oder Wahrnehmungselementen zu beziehen. Wie wir uns erinnern, spielt diese Frage auch in der Logik, mehr aber noch in der Ethik eine wichtige Rolle. – Wie man sich aber auch über die Bedeutung von Form und Inhalt als Grundwert möglicher ästhetischer Beziehung und über Bewußtheit oder Unbewußtheit dieser Beziehung entscheiden mag, es bleibt als wesentliches Merkmal des eigentlich künstlerischen Wertens die Beziehung eines Empfindungs- oder Erlebnisinhaltes auf einen letzten formalen oder inhaltlichen Wert in der Weise, daß dieser konstituierendes Moment für eine als schön erscheinende Mannigfaltigkeit wird.

Rein auf diese Beziehung gerichtet und ohne Rücksicht darauf, ob im Kunsturteil oder im Kunstwerk diese Beziehung zutage tritt, bekommt die Ästhetik ein rein formales Gepräge, wenn sie an erster Stelle die Frage erörtert: Wie ist überhaupt die Beziehung eines subjektiv erlebten Zustandes auf einen allgemeingültigen also überindividuellen formalen oder inhaltlichen Wert möglich, so daß durch diese Beziehung der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Behauptung, etwas sei schön, gerechtfertigt wird? Eine solche rein formale Erörterung kann man in strenger Analogie mit den ersten Teilen der Logik und Ethik als eine Logik des ästhetischen Urteilens bezeichnen. Wie wir sahen, hat die Logik des Erkenntnisurteiles die Frage zu untersuchen, wie die Beziehung einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, Eindrücken, Wahrnehmungen auf einen allgemeinen Grund der Einheit möglich sei, um dadurch eine mit dem Anspruch auf Wahrheit auftretende Erkenntnis zu begründen. Die Logik des ethischen Urteiles prüfte den Anspruch der Beziehung von subjektiven Bestimmungsgründen auf einen einheitlichen allgemeinen Bestimmungsgrund moralischen Handelns. Die Ästhetik fragt zunächst nach der Möglichkeit der Beziehung subjektiver Empfindungs- und Erlebniszustände auf einen objektiven Wert als Grund der allgemeinen Geltung des Urteiles: »Dies oder jenes ist schön.« In diesem Sinne sucht der Logiker auf dem Gebiete der Ästhetik nach einer bestimmten, allen ästhetischen Urteilen gemeinsamen Struktur.

Man braucht nur einen flüchtigen Blick in das ästhetische Hauptwerk der Kantischen Philosophie zu werfen, um sich deutlich zu machen, mit welcher Fülle von Problemen es der Logiker zu tun hat, der lediglich auf diese Beziehung achtet. Die Erörterungen in Kants »Kritik der Urteilskraft« sind um so bemerkenswerter und zur Illustration dieses Teiles der Ästhetik um so interessanter, je weniger sie abhängig sind von dem unendlichen Reiche wirklicher Kunstschöpfungen, das Kant ganz und gar verschlossen gewesen ist. Aus den rein formalen Erwägungen fließen schon in den allerersten ernsthaften Versuchen dazu Ergebnisse, die auch für alle an der lebendigen Kunst orientierten ästhetischen Untersuchungen von ausschlaggebender Bedeutung sind.

Gegenüber der rein formalen Wissenschaft einer Logik des ästhetischen Urteilens oder Beurteilens hat die Metaphysik des Schönen zu der Bestimmung des möglichen allgemeinen Wertes als Grund der ästhetischen Schätzung aufzusteigen. Sie hat die Gesamtheit der als »schön« bezeichneten Erscheinungen nach dem zu befragen, was in ihnen zum Ausdruck gelangt oder gelangen soll. Bei der Begründung dieses ästhetischen Wertes kommt es auf die Tauglichkeit an, die Fülle lebendiger Erscheinungen darunter befaßt zu sehen; der Ästhetiker kann deshalb im zweiten Teile seiner Wissenschaft keineswegs der Kenntnis der ganzen Fülle vom Kunsthistoriker gesammelter Schätze entbehren. In jeder Kunstart wird dieser letzte Wert unter besonderen Bedingungen auftreten, anders gefaßt sein und auf andere Weise konstituierendes Moment einer immer wieder anderen Empfindungs- und Erlebnismannigfaltigkeit sein. In der Bewertung der in der Wirklichkeit erscheinenden Kunstarten wird die Ästhetik je nach ihren Standpunkten verfahren: Sie wird in ihnen Stufen des einen Schönen oder ebensoviele adäquate durch die Ausdrucksmittel bedingte Darstellungen des letzten Schönheitswertes sehen.

Die Ästhetik wird endlich zur angewandten Schönheitslehre werden, dort, wo sie die Verwirklichungsmittel des Schönen auf ihre Brauchbarkeit hin, das Schöne darzustellen, prüft. Bestimmte Kunstanschauungen, in denen sich die Idee der Schönheit noch ganz verborgen zeigt, werden ihr bedingt durch die allgemeinen oder besonderen menschlichen Verhältnisse erscheinen. Als angewandte Ästhetik wird die Kunstphilosophie zu einem Kanon von Gesetzen für das unter besonderen Bedingungen auftretende Kunstschaffen. Sie darf den aus der Logik des ästhetischen Urteiles und der Metaphysik der Kunst völlig abgetrennten einzelwissenschaftlichen Gebieten, Kunstgeschichte und Kunstphilosophie, wieder die Hand reichen, um von ihnen zu lernen und ihnen zu geben. – Die Grundfrage der Ästhetik aber bleibt auf allen Stufen dieselbe: welches der letzte Wert als Grund ästhetischer Wertung sei und welche die nun einmal in der erlebbaren Welt vorhandenen Bedingungen seien, diesen Wert in Wirklichkeit zu setzen.


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