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Die suchende Mutter

Die Nacht vorüber, und im Osten
Hellstrahlend auf die Sonne geht,
Der Donner und der Sturm vertosten,
Die Luft voll Duft und Liedern weht.

Der Himmel mit den Lenzgewittern
Der Erde wohl zum Herzen drang,
Weil ihr von allen Zweigen zittern
So süßer Duft und Morgensang.

An Helena vorübergleiten
Des Waldes Hauch und Freudenton,
Sie späht und ruft in alle Weiten
Umsonst nach dem verlornen Sohn.

Schnell zu des Walds geheimsten Stämmen
Die sorgenvolle Mutter dringt,
Wo Fels und Strom die Schritte hemmen,
Am wirrsten sich der Strauch verschlingt.

Nicht schreckt sie nun der Räuberrotte
Weithin verrufner Hinterhalt,
Sie schreitet durch die dunkle Grotte,
Durchforschend jeden Felsenspalt.

Rastlos bis zu der Sonne Neigen
Fragt sie umher nach seiner Flucht,
Sie ruft den Straßen und den Steigen:
»Ihr Trägen, macht euch auf und sucht!«

Oft, wenn sie auf entfernten Wegen
Herschreitend einen Wandrer sieht,
Dem winkt sie, eilt sie froh entgegen,
Bis ihrem Aug' die Täuschung flieht.

Dann zürnet sie des Manns Gebärden
Und jedem Zug im Angesicht,
Daß sie, je näher, fremder werden,
Daß dies sein teures Antlitz nicht.

Sie ruft hinaus in offne Felder:
»Mein lieber Sohn! wo bist du? wo?«
Und in die Wildnis dunkler Wälder:
»O komm zurück, Girolamo!«

Wie einen Stein das Meer, verschlinget
Das weite Feld den bangen Schall,
Und nicht den Sohn der Wald ihr bringet,
Nur seines Namens Widerhall.

Nikolaus Lenau.


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