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Das taubstumme Kind

Von dichter Kinderschar umgeben,
Pausbäckig alle und gesund,
Schien wolkenlos der Mutter Leben,
Und alles stand auf sicherm Grund.

Nur eins von all den Glücksgewinnen,
Ein Mädelchen im lustigen Schwarm,
War taubstumm und von blöden Sinnen,
Lag täglich fast dem Tod im Arm.

Verdreifacht hält der Liebe Posten
Vor ihrem Stübchen seine Wacht,
Und keine Mühe, keine Kosten
Erschüttern seine Heldenmacht.

Und weiter atmet, lebt die Kranke,
Nun ist sie dreizehn Jahre schon,
Doch immer bleibt dieselbe Schranke,
Versagt ist ihr der Menschenton.

Der Mutter heißeste der Bitten,
Der Wünsche heißester ist nur,
Bevor ihr Liebling ausgelitten,
Eh' abgelaufen ihre Uhr:

Daß sie ein einzig Mal nur sage,
Ein einzig Mal das eine Wort
»Mutter« – und wegfegt alle Klage,
Und alle Trübsal ist verdorrt.

Das Mädchen starb. Mit reinem Herzen
Sank oben sie an Gottes Brust,
Die Mutter blieb im Land der Schmerzen
Und gab sich schwer in den Verlust.

Dann starb auch sie nach vielen Jahren,
Nach Plag' und Arbeit, wie's so geht,
Wir alle müssen's ja erfahren,
Wie scharf der Wind auf Erden weht.

Als sie nun schritt auf Himmelswegen,
Bei Gottes Thron am heiligen Ort,
Trat ihr das Töchterchen entgegen,
Und – »Mutter« jauchzt ihr erstes Wort.

Detlev von Liliencron.


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