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Die Mutter denkt:

Jeden Abend, wenn wir Lichter löschen,
Ruft's aus meines Jüngsten naher Kammer:
»Mutter, komm, ich kann nicht schlafen, Mutter!«
Geh ich dann, zieht er mit beiden Händen
Meinen Kopf zu sich ins Kissen nieder,
Preßt die warme Wange an die meine,
Herzt mich still und ohne süße Worte;
Dennoch weiß ich, was er sagen möchte:
»Mutter, gelt, ich bin ein wilder Knabe,
Und ich tu dir manchmal weh tagsüber? ...
Weiß es wohl, doch kann ich es nicht ändern.
Trotzdem lieb' ich, Mutter, dich unendlich.«
Alsdann drückt er innig seinen Blondkopf
Gegen meine früh ergrauten Schläfen,
Und sein Atem geht in sanften Zügen.
Nur ein Weilchen, und er murmelt schon im Schlummer:
»Gelt, die Nacht währt kurze Zeit nur, Mutter?«
Alsdann schaudert kühl mein Herz zusammen
Und der schmerzliche Gedanke löst sich:
Ach, er ahnt die lange Nacht der Trennung,
Der kein fröhliches Erwachen nachfolgt
Und kein Wiederfinden in dem Licht des Tages.
Heute, dacht' ich: – soll ich's nicht bekennen? –
Möcht' ich, lieber Knabe, nur so lange
Noch dein Wachstum doch behüten können,
Bis die treue Liebe einer andern
Nächtlich dir dein wildes Herz zur Ruh' bringt;
Denn der Schlaf ist eine süße Gabe,
Und es ruht sich wohl im Arm der Liebe.

A. Vögtlin.


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