Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.
Das Füllen in Gefahr

Auch Hauptmann Kinloch fand es überraschend, daß er in Begleitung eines landfremden jungen Mädchens den Heimweg nach Nieder-Barton antrat, und noch mehr, daß ihm diese Gesellschaft gar nicht lästig war. Weder schwatzte noch lachte sie viel, wie er halb und halb erwartet hatte, vielmehr schien sie viel Talent zum Schweigen zu haben. Das Körbchen, das sie ihn nicht tragen ließ, leise schwingend, ging sie ruhig neben ihm her und schien seine Nähe mitunter ganz vergessen zu haben.

»Was für ein herziges altes Nest,« bemerkte er, als sie die Höhe erreicht hatten und, einen Augenblick stillstehend, auf das Dorf zu ihren Füßen hinunterblickten.

Ein heißer Abendwind bewegte die frischgrünen Zweige der Ulmen, Buchen und Nußbäume, zwischen denen der Dachreiter der Kirche und rote und schwarze Dächer neugierig hervorlugten. Rundum welliges Hügelland mit saftigen Wiesen und kaum grün angeflogenem Wald; Kuhglocken und der mißtönende Schrei des Wiesenläufers unterbrachen allein die tiefe Sabbathstille. Jahrhundertelang angesammelte Ruhe schien über dem weltfernen Oertchen zu liegen.

»Ja, es ist hübsch; alle drei Bartons sind hübsch,« stimmte sie bei, als ob von einer töchterreichen Familie die Rede wäre.

»Nur ein bißchen verschlafen?« sagte er fragend.

»Mir kommt's nicht so vor,« versetzte sie mit herzhaftem Lachen. »Die Bartoner stehen ja im Ruf, besonders hell und aufgeweckt zu sein!«

»Ein Ruf, der nicht sehr weit zu dringen scheint.«

»Es ist gar nicht so langweilig bei uns, als Sie sich's vielleicht vorstellen. Nächsten Sonntag haben wir eine Blumenausstellung mit Gartenfest und am Freitag Ball im alten Jagdschloß.«

»Und Sie werden daran teilnehmen?«

»Am Gartenfest gewiß – ob am Ball, weiß ich noch nicht,« sagte sie mit einem leisen Seufzer.

»Und ohne Zweifel wäre Ihnen der Ball lieber? Sie sehen aus, als ob Sie gern tanzten!«

»So finden Sie also nicht, daß ich so aussehe, als ob ich mich lieber mit dem Zuschauen begnügte, wie meine Schwester mir einreden will.«

»Ich glaube nicht, daß die Zuschauerrolle für Sie abfallen wird!«

»Ach, an Tänzern würde mir's freilich nicht fehlen,« sagte sie leichthin. »Aber, sehen Sie, es ist eben ein ländlicher Ball, und meine Schwester will nicht, daß ich mich unter die Dorfmädchen rechne. Mein Schwager dagegen ist sehr gegen diese Sonderstellung, und ich weiß nicht recht, was ich thun soll,« setzte sie achselzuckend hinzu.

»Aber die Entscheidung steht bei Ihnen?«

»Ja, so ziemlich.«

»Dann werden Sie hingehen und tanzen bis der Morgen tagt!«

»Ne – ein – ich möchte wohl. – aber – ich werde nicht ...«

»Doch, doch, Sie werden hingehen! Ich spür's in allen Gliedern.«

»Dann haben Sie ahnungsvollere Glieder, als ich,« sagte sie lächelnd.

»Wenn Sie gehen, so machen Sie mehr Menschen ein Vergnügen, dem Schwager und sich und – den Tänzern, wenn Sie daheim bleiben, nur der Schwester.«

»Sehr richtig, nur ist mir meine Schwester das Liebste und Wichtigste auf der Welt.«

Nach dieser Bemerkung schwiegen sie eine Weile.

»Im Winter muß es aber sehr einsam hier sein?« bemerkte der Hauptmann.

»Ich habe noch keinen Winter hier verlebt, weil ich in Pension war. Den nächsten aber darf ich die Jagden mitmachen und das ist herrlich.«

»Sie waren wohl froh, der Schule zu entrinnen?«

»Nein, ich mußte mich von so vielen Freundinnen trennen.«

»Waren Sie in London?«

»Ach, du liebe Zeit – nein! Ich war in einer ganz altmodischen kleinen Anstalt in Bridgeford. Wir haben da, was man so sagt, einen guten Grund gelegt, aber wir mußten auch viel Langweiliges lernen.«

»Was war Ihnen denn so besonders langweilig?«

»Geschichtstabellen, Geologie und Bruchrechnungen – Rechnen überhaupt, darin bin ich furchtbar dumm! Ich kann nie die größere Summe von der kleineren abziehen – in Schillingen, Sie werden schon verstehen, wie ich's meine.«

»Leider kann ich auch keine größere Summe von einer kleineren abziehen, so sehr mir's zu statten käme!«

»Ach, Sie können's ganz gewiß! Sie können ganz gewiß die schwersten Rechnungen machen,« sagte sie, ihn ernsthaft ansehend, um dann plötzlich rot zu werden: »Ach, Sie meinen's so ... jetzt halten Sie mich gewiß für dumm!«

»Das wäre gerade nicht sehr logisch! Erzählen Sie mir nur noch mehr von Ihrer Schule. Was war Ihnen denn außer dem Rechnen so besonders unangenehm?«

»Zwei und zwei spazieren zu gehen, bei bitterer Kälte im Winter früh um sechs Uhr aufzustehen und dann die Tanzlehrerin; dagegen schwärmte ich für meine Musikstunden, für Feiertage und für Geschichte. Die kann so unterhaltend sein wie Märchen.«

»Geschichte ist häufig genug ein Märchen!«

Sie blickte unter dem breiten Hutrand prüfend zu ihm auf.

»Die Geschichte, die Barton umspinnt,« entgegnete sie, »ist aber ganz wahr, die kann aus dem Domesday-Buch Das unter Wilhelm dem Eroberer verfaßte Lehensbuch. Anm. d. Uebers. bewiesen werden. Nieder-Barton war in alten Zeiten ganz bedeutend, hatte ein Schloß, einen Wildpark, eine Abtei und sogar einen eigenen Heiligen.«

»Und jetzt gebricht's ihm an allem, an Heiligen und an besonderen Kennzeichen?«

»Ja, das heißt Frau Parry behauptet, es zeichne sich durch Schlechtigkeit aus! Das ist nämlich eine Französin, bei der ich einmal in der Woche französisch lese. Sie wohnt in Mittel-Barton und sagt immer, es sei ein ganz verkommenes Dorf, wo die Männer trinken, rauchen und ihre Frauen schlagen. ›Zolaisch‹ nennt sie's, ich weiß nicht recht, was das heißt.«

»Das wundert mich,« erwiderte Kinloch, die Wortdeutung umgehend. »Ich hätte darauf geschworen, es wäre das reine Arkadien!«

Sie gingen jetzt die Anhöhe hinunter, an einer Reihe verwitterter Weiber vorbei, die Steine aus der Wiese lasen und die gekrümmten Rücken streckten, um dem Paar nachzusehen.

»So so, jetzt hat Fräulein Peggy eine Bekanntschaft und eine feine dazu,« lautete ihre Ansicht. »Ja, ja, das hat man sich denken können, daß die nicht lang auf einen Liebsten zu warten braucht. Bildhübsch ist sie ja, und er sieht auch aus wie ein Graf – da kann Hanna Travenor zufrieden sein!«

»Sie kennen wohl all die Leute hier herum?« bemerkte Kinloch, dem die beobachtenden Blicke nicht entgangen waren.

»Ja, so vom Sehen. Ich habe ja vom sechsten Jahr an hier gelebt, mit Ausnahme der Schulzeit. Meine Schwester hätte mich gern noch nach Brüssel geschickt zum feineren Schliff, aber mein Schwager war dagegen, und ich glaube, daß er recht hatte. Aber – o sehen Sie doch nur!« rief sie, aufgeregt voraneilend und sich mit aller Wucht gegen das Gatterthor einer Wiese werfend.

Diese lag an der Rückseite des Dorfes, war in der Mitte durch den im Schatten hoher Erlen dahinströmenden Bach geteilt und mit einer hohen Dornhecke eingefaßt.

»Was ist? Was soll ich sehen?« fragte Kinloch.

»Der abscheuliche schwarze Hengst wieder! O bitte, bitte, machen Sie mir doch das Thor auf,« rief Peggy, ungeduldig daran rüttelnd.

Kinloch sah wohl, daß ein schöner, etwa dreijähriger Rappe wie toll herumjagte und ein Füllen, das nicht sehr sicher auf den Beinen war, seine Sprünge vergnügt nachahmte. Mitten in der Wiese stand eine braune Stute, die zu lahmen schien und vergebens die Nase nach ihrem Sprößling ausstreckte.

»Lassen Sie mich nur hinein! Ich erklär's Ihnen nachher!« rief Peggy in höchster Aufregung.

Kinloch öffnete das Thor und sie flog, den Strohhut in der Hand, von ihrem kläffenden Hund gefolgt, wie ein Pfeil dahin, nicht minder gelenkig und lebhaft als der Hengst, dem die Sache Spaß zu machen schien und der toll ausschlagend fast den Kopf des Füllens getroffen hätte. Kinloch begriff jetzt, um was es sich handelte, und scheuchte mit ausgebreiteten Armen den Rappen, der aber immer wieder frech das Füllen umkreiste.

»Warum paßt denn die Mutter nicht besser auf?« fragte er Peggy, die ihren Hut schwang, um das Tier zu erschrecken.

»Die ist ja blind! Haben Sie denn keine Augen für den hilflosen Jammer auf ihrem Gesicht? Auch ist sie gar nicht an die Weide gewöhnt ... So, jetzt haben Sie ihn ... jagen Sie ihn über den Bach – ich laufe voran und mache das Gitter auf.«

Dabei setzte sie schon samt Hund und Hut wie ein Reh über den Bach und mit vereinten Kräften trieben sie den mutwilligen Hengst in sein eigenes Revier zurück.

»So, jetzt bist du sicher,« sagte Peggy, als er hinter seinem Gehege stand und wehmütig auf den kleinen Spielgefährten zurückblickte. »Du hast's mit Absicht gethan! Man kennt dich! – Sie werden mich wohl für verrückt halten,« wandte sie sich jetzt zu dem hilfreichen Begleiter, »aber der abscheuliche Kerl drückt das Gatterthor mit der Nase auf und kommt übers Wasser, um das arme Füllen zum Unfug zu verleiten. Letztes Jahr ist der blinden Stute eins ertrunken, und dieses kommt sicher durch seine Hufe zu Schaden!«

»Sie nehmen warmen Anteil an Tieren,« sagte Kinloch, ihr Körbchen haltend, während sie das wundervolle, lichtbraune Haar aufsteckte, das wie ein Glorienschein um das feine von der Anstrengung und der Aufregung gerötete Gesichtchen floß.

»Ja, das thu' ich,« versetzte sie, den Hut aufsetzend und nach ihrem Körbchen greifend. »Ich habe alle Tiere lieb – bis auf die Ratten, und wenn man auf dem Land lebt, muß man Dinge mit ansehen, die einem das. Herz zerreißen.«

»Zum Beispiel?« sagte Kinloch, dem ihr traurig ernster Blick den Wunsch erregte, sie möge von noch persönlicherem Herzweh verschont bleiben.

»Ja, wenn mir zum Beispiel im Wald ein Kaninchen über den Weg läuft und ich ein paar Sekunden drauf ein. Wiesel seiner Fährte folgen sehen muß, oder wenn ich mitten im Feld ein Gewinsel höre und einen armen, hilflosen Hasen in der Schlinge finde. Ach, und nicht nur die wilden Tiere müssen leiden! Gestern ging ich an der ›Krone‹ vorbei und da stand ein Karren mit einem herzigen weißen Kalb, das ganz kläglich dreinschaute. Gleich steckte es seine Nase in meine Hand und war so vergnügt, als ich mit ihm sprach – das Tierchen war an Liebe gewöhnt! Eine ganze Stunde mußte es noch warten und der Gaul am Karren war eingeschlafen. Als ich dann abends beim Fleischer etwas bestellen mußte, da« – sie schluckte heftig – »da hingen vier schneeweiße kleine Kalbsfüßchen an der Wand.«

Kinloch hatte nie eine Schwester gehabt; der Zauber solch arglosen, warmherzigen Mädchengeplauders war ihm neu.

»Da haben Sie gewiß kein Kalbfleisch bestellt,« bemerkte er lächelnd.

»Wie Sie da noch lachen können!« sagte sie, ihn aus thränenfeuchten Augen zornig« anfunkelnd. »Die Welt ist recht grausam.«

»Ich hätte gedacht, in Ihrem Alter könnte man mit ihr zufrieden sein.«

»Ach, ich kann mich nicht über sie beklagen und Toby auch nicht,« sagte sie auf ihren schwarzen Aberdeen-Terrier deutend, der mit unendlichem Selbstgefühl vor ihnen her spazierte, »aber andre haben's nicht so gut als wir beide. – So, da wären wir,« setzte sie hinzu, indem sie ein Gartenthor öffnete, das auf einen schönen Grasplatz mit Ulmen und Nußbäumen führte.

Am entgegengesetzten Ende des Grasgartens stand ein unregelmäßig gebautes, mit Schlingpflanzen bewachsenes, strohgedecktes Haus. Ein fröhlicher Blumengarten umgab den schlichten Bau und darin saß im Schaukelstuhl eine Dame mit einer Zeitung. Jenseits des Hauses erhoben sich hohe geschwärzte Scheunen und langgestreckte Stallgebäude, Arbeitspferde wurden zum Brunnen geführt, Hühner und ein paar Lämmer trieben sich auf der Wiese herum und drei rote Kälber rieben ihre Nasen am Zaun des Blumengartens und schielten verlangend hinein. Der ganze Hof machte den Eindruck von Gedeihlichkeit und emsiger Arbeit, der noch durch das Pusten einer von hier aus nicht sichtbaren Dampfmaschine erhöht wurde.

»Hier bin ich zu Hause,« erklärte das junge Mädchen, »und wenn Sie jetzt quer über die Wiese gehen und durchs große Einfahrthor hinaus, sind Sie im Nu am ›Weißen Hund‹.«

Sie blieb stehen, offenbar, um ihn zu entlassen.

»Meinen verbindlichen Dank,« sagte er.

»Wofür? Ich habe Ihnen zu danken! Sie haben ja unsres Schäfers Jungen aus dem Wasser gezogen und mir geholfen, den Hengst zu verscheuchen!«

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?« sagte er, sich jetzt erst dieser Pflicht erinnernd.

Sie sah halb kindlich, halb mit mädchenhafter Würde zu ihm auf.

»Kinloch ... Hauptmann Kinloch.«

»Peggy ... vielmehr Margaret Summerhayes ... ich hoffe, das kalte Bad wird Ihnen nicht schaden ... leben Sie wohl.«

Mit einer etwas ungelenken Verbeugung, über die sie selbst errötete, ließ sie ihn stehen und ging aufs Haus zu.

Kinloch schlug den ihm angegebenen Weg ein, in Gedanken ganz von der Wegweiserin erfüllt. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie behend und anmutig mit wallendem Haar über die Wiese gelaufen war, sah die süßen, ausdrucksvollen Augen, die raschen entschiedenen Bewegungen und rief sich ihr argloses, zutrauliches Geplauder zurück. Dabei kam ihm unaufhörlich der Gedanke: »Wenn doch Goring nie den Namen Peggy Summerhayes gehört hätte!«

Daß es für Hauptmann Kinlochs Gemütsruhe besser gewesen wäre, auch er selbst hätte sie nicht kennen gelernt, war ihm noch nicht bewußt.


 << zurück weiter >>