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Einundzwanzigstes Kapitel.
In Todesangst

Lizzie, die sich den Schlaf überhaupt abgewöhnt zu haben schien und vermutlich mit einem zierlichen Mützchen auf die Welt gekommen war, brachte ihre Gebieterin auf ihr Zimmer.

»Sie müssen ein paar Stunden ruhen,« erklärte sie bestimmt. »Ihre Sachen packe ich, um halb sechs Uhr werde ich Sie wecken und Ihnen guten heißen Thee bringen. Dann soll alles fix und fertig sein.«

Thee war für Lizzie zum Beginn und zum Schluß jeglichen Thuns die Hauptsache! Peggy legte das festlich fröhliche Kleid ab und ging zu Bett. Sie sah wohl, daß sie ihre Kraft zusammenhalten und womöglich Schlaf finden mußte, sollte sie morgen leistungsfähig sein. Was es nur bei Hanna sein mochte? Ohne Zweifel ihr Herzleiden, das den Ihrigen schon so viel Angst bereitet hatte. Wenn's am Ende wieder mit der Angst abginge? Ueber solchen Gedanken schlief sie wirklich ein.

Ihr Mann indes spielte die ganze lange Winternacht hindurch. Lizzie löschte die Lampen aus, gönnte sich ein Nickerchen auf dem Sofa, fachte dann das Küchenfeuer an und ging ans Packen, umsichtig die warmen Kleidungsstücke und derben Stiefel wählend, allen Putz, alle großen Federnhüte zurücklassend – sie war wirklich unvergleichlich! Ihr allein hatte es Hauptmann Kinloch zu danken, daß er früh um halb sieben Uhr eine wohl eingehüllte Frauengestalt mit richtig geschnürtem und adressiertem Gepäck schon in der Halle stehend vorfand.

Es war natürlich stockfinstere Nacht, als sie zur Bahn kamen.

»Ein Retourbillet – dritte Klasse für die Bahn, erste fürs Schiff,« sagte Peggy, ihm ihre Börse zuschiebend.

»Dann müßten Sie auf den nächsten Zug warten, dieser hat keine dritte.«

»Nicht? Und muß ich lang warten?«

Sie war doch das helle Kind! Stillschweigend nahm er eine durchgängige Fahrkarte erster Klasse bis London und folgte ihr in den Zug, der sie rasch dem Meeresufer entlang trug. Es war so dunkel, daß man die See nicht sah, um so deutlicher hörte man sie aber! Die Sturmsignale waren aufgezogen, eine ganze Anzahl von Schiffen hatte sich am Abend vorher in den Hafen von Kingstown geflüchtet, und jetzt toste der Sturm. Die Zahl der Passagiere war sehr klein, was immer bedenklich ist, und als sie über die nassen, schlüpfrigen Planken ins Schiff gingen, konnte man beim Laternenschein wohl sehen, wie ungemütlich sie sich fühlten. Der Postdampfer muß ja fahren, mögen sich gleich die Elemente gegen ihn verschwören. – Wer sich über eine Verzögerung von zehn Minuten erbost, sollte lieber bedenken, welche Abenteuer die ersehnten Briefe oft zur See durchmachen müssen! Die weißen schaumgekrönten Wogen prallten donnernd gegen den Hafendamm. Selbst hier im gesicherten Bett tanzte die »Irland« wie eine Nußschale, wie mochte es erst draußen sein? Peggys Gepäck wurde hinuntergeschafft und die gefällige Stewardeß stellte dem einzigen weiblichen Fahrgast alle Salonkabinen zur Verfügung – wieder ein bedenkliches Anzeichen!

»Wird es gräßlich werden?« stammelte Peggy. »O bitte, sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Die könnt' ich auch nicht wohl verheimlichen, Fräulein! Ja, wir kriegen eine böse Ueberfahrt, aber es dauert ja nur dreieinhalb Stunden. Wenn Sie aber ängstlich sind, könnten Sie nicht bis Abend warten?«

»Nein, nein, fort muß ich um jeden Preis!«

Eben kam Kinloch an die Kabine und fing diese Worte auf.

»Sind Sie ängstlich?« fragte er.

»Ich habe eine entsetzliche Angst vor dem Wasser!«

»Der Wind springt um, und der Seegang wird bald nachlassen.«

Das war eine kühne Behauptung!

»O, Herr Kinloch, ich schäme mich ja meiner Feigheit, aber ich kann mir nicht helfen, ich bin halbtot vor Angst und Grauen. Aber aufs Abendschiff warte ich nicht – denken Sie, wenn ich mir sagen müßte, daß ich meine Hanna nicht mehr angetroffen hätte aus elender Feigheit. Da – die Glocke – Sie müssen ans Land – wie soll ich Ihnen nur danken für all Ihre Güte!«

»Das wäre reine Zeitverschwendung,« sagte er beinahe barsch. »Machen Sie sich keine Gedanken und vertrauen Sie sich ganz der Stewardeß an; es wird ja vorübergehen.«

Und mit einem kurzen Kopfnicken war er verschwunden. Sobald man den Schutz des Landes hinter sich hatte, wurde die »Irland« umhergeworfen wie ein Spielzeug der Wellen, aber sie hielt ihren Kurs, obwohl sie eines ihrer Boote einbüßte, sowie verschiedene Stücke der Reling, und im Speisesaal alles kurz und klein geschlagen wurde. Bei jedem Stoß glaubte Peggy, es müsse der letzte sein. Das Tosen des Sturms war derart, daß sie nicht einmal hören konnte, wie ihr die gelassene Stewardeß Mut einsprach. An einen Tisch geklammert, saß sie aufrecht da, denn an Liegen war bei dem Schlingern des Schiffs nicht zu denken.

Um zwölf Uhr kam Holyhead in Sicht. Das Schlimmste war überstanden! Peggy sandte im stillen ein inbrünstiges Dankgebet gen Himmel, nahm ihren Schirm und ihre Handtasche und trat auf den Gang hinaus, wo zu ihrem maßlosen Erstaunen Hauptmann Kinloch stand.

»Sind Sie nicht mehr rechtzeitig an Land gekommen?« fragte sie ganz erschrocken.

»Nein, ich fuhr mit herüber, um im Notfall für Sie zu sorgen.«

»Und müssen Sie jetzt in ein paar Stunden die Fahrt wieder machen?« fragte sie schaudernd.

»Natürlich, wenn ich nicht für Urlaubsüberschreitung bestraft werden will!«

»Ich bin Ihnen so dankbar und doch sehr böse!«

»Ersparen Sie sich beiderlei Gemütsbewegungen. Ich werde Sie in den Zug setzen und für Ihr Gepäck sorgen, betrachten Sie mich einfach als Ihren Kurier.«

Endlich wurden sie im tanzenden Boot ans Land geschafft, wo der Zug schon bereit stand, und gleich darauf saß Peggy in einer wohl durchwärmten behaglichen Abteilung erster Klasse.

»Ich fahre ja nicht erster,« wandte sie ein.

»In dem Fall ist Zeit wertvoller als Geld,« erklärte Kinloch bestimmt, »und dieser Zug hat wieder keine dritte Klasse, überdies wäre es auch viel zu kalt. Ich werde das mit Goring ins Reine bringen.«

Damit drückte er ihr die Fahrkarte in die Hand, ließ einen Fußwärmer herschaffen, brachte ihr Zeitungen und legte ihr seine Reisedecke über die Kniee, denn sie hatte keine bei sich. Der Widerspruch, den sie dagegen erhob, war trotz aller Entschiedenheit fruchtlos.

»Auf dem Schiff lass' ich mir eine geben,« erklärte Kinloch, »und in Dublin habe ich eine zweite. Machen Sie keine Geschichten! Ihr Kleid ist dünn und Sie müssen die Decke haben. Sie kennen Ihren Reiseplan – in London müssen Sie zum Waterloobahnhof fahren, von dort geht sieben Uhr dreißig Minuten ein Bummelzug ab. Versäumen Sie ja nicht, in Crewe etwas zu genießen – wenden Sie sich nur an den Schaffner.«

»Essen kann ich schwerlich, aber ich danke Ihnen!«

»Danken ist lange nicht so nötig als Essen! Wenn Sie mir aber eine Freude machen wollen, so schreiben Sie mir ein paar Zeilen, damit ich erfahre, wie Sie angekommen sind und wie Sie Ihre Schwester gefunden haben – im günstigen Fall bitte ich, mich ihr zu empfehlen.«

»Gewiß ... leben Sie wohl!«

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und das hübsche bleiche Gesichtchen entschwand Kinlochs Blick. Sie war ja viel zu jung und unerfahren – wie konnte man dieses Kind allein reisen lassen! Kinloch hatte sich zwar mit dem Schaffner angefreundet und ihm eine halbe Guinea zugesteckt.

»Wollen Sie der Dame für eine Droschke nach dem Waterloobahnhof sorgen und ihr in Crewe etwas zu essen bringen?«

»Ich werde mein Möglichstes thun, gnädiger Herr ... Ihre Frau Gemahlin soll gut bedient werden.«

Seine Frau Gemahlin!

Der Postsack von Nieder-Barton beförderte bald darauf zwei Briefe nach Dublin. Der eine lautete:

 

»Geliebtester!

Ich bin gestern abend ganz gut hier angekommen und fand Hanna Gott sei Dank etwas wohler. Es war wieder ein Anfall ihres Herzleidens und sie ist noch nicht außer Gefahr. Hoffentlich kannst Du mich vierzehn Tage entbehren, bis sie wieder aufstehen kann? Die Ueberfahrt war gräßlich, richtiger Sturm. Hauptmann Kinloch fuhr mit herüber – ich werde nie vergessen, wie gut und sorglich er war. Er bestand darauf, daß ich bis London erster Klasse fuhr, weil's so furchtbar kalt war. Hoffentlich ärgerst Du Dich nicht darüber, Liebster! Ich war vor Angst und Seekrankheit zu schwach, um mich lang zu widersetzen – bitte, bezahle ihm den Mehrbetrag gleich! Natürlich fuhr ich von London hierher dritter Klasse, kam aber allerdings halb erfroren an. Hier hat sich rein gar nichts verändert, und die Leute sind alle sehr freundlich und freuen sich, mich zu sehen. Die meisten fragen auch nach Dir!

Ich hoffe, daß ich Dir nicht zu sehr fehlen werde, das heißt, ich hoffe doch, Du werdest mich ein wenig vermissen! Du darfst Dich darauf verlassen, daß ich in der Stunde, wo Hanna mich entbehren kann, heimkomme! Lizzie wird Dir sagen, wo all Deine Sachen sind; Socken und wollene Leibchen liegen, gezeichnet und gut gelüftet, in der obersten Schublade meines Schranks am Fenster. Bitte, geh' abends nie ohne Deinen dicken Mantel aus! Gib hübsch acht auf Dich und – ›amusez-vous bien‹, würde Frau Parry sagen. Schreibe mir jeden Tag – wenn Du Zeit hast!

Deine Peggy.«

 

Der zweite Brief lautete:

 

»Lieber Herr Kinloch!

Ich habe meine Reise vollends ohne Schwierigkeiten und Abenteuer zurückgelegt und fand meine Schwester wohler, als ich zu hoffen gewagt hatte. Sie war selig über meine Ankunft und mir that es so wohl, wieder bei ihr zu sein. Dorf und Haus sind so unverändert, daß ich mir einbilden könnte, nur ein Weilchen geschlafen zu haben! In Pollmarks Schaufenster lagen noch die nämlichen Neuheiten, und die Anschlagzettel von der Heuversteigerung hängen jetzt im Januar noch da! Rory, mein Hund, hat graue Haare und Rheumatismen bekommen, drückte aber seine Freude, mich wiederzusehen, auf eine für so einen alten Herrn unziemlich stürmische Weise aus!

Ihre Reisedecke schicke ich mit der Paketpost zurück und danke Ihnen nochmals für Ihre große Güte. Meine Schwester sendet freundliche Grüße. Ihre ergebene

Nieder-Barton.

Peggy Goring.«

 

Frau Travenor war in der That selig, ihr Schwesterchen wieder bei sich zu haben, und wollte sie keinen Augenblick von ihrer Seite lassen. Sie wurde nicht müde, sich von Dublin und seinen Herrlichkeiten, Gesellschaften, Rennen und so weiter berichten zu lassen, und wollte unendliche Einzelheiten über Peggys Haus, ihre Freunde, ihre Kleider und ihre Dienstboten hören. Von Goring zu sprechen, ohne das Wort »Spiel« zu nennen, war ein Kunststück, das seine Frau aber glänzend fertig brachte, denn die fromme Lüge von ihrem »unsäglichen Glück« war die beste Arznei für Hannas krankes Herz.

Hauptmann Kinnlochs Ritterdienst auf der Reise bildete natürlich auch einen wichtigen Gesprächsgegenstand.

»Ich hatte ihn immer gern,« sagte Hanna, schwer und mühsam atmend, »und ich muß dir sagen, mir wäre es lieber gewesen, du hättest ihn gewählt!«

»Das Wählen wäre doch seine Sache gewesen,« hielt ihr Peggy lachend entgegen.

»Hat er nicht merkwürdig viel Einfluß auf deinen Mann?«

»Was du dir nicht einbildest! Nicht den allergeringsten,« sagte Peggy mit Ueberzeugung.

Hanna lächelte in sich hinein – das wußte sie besser!

Von allen Seiten strömten die Bekannten herbei, um Frau Goring zu begrüßen. Sie war mager geworden und hatte ihre frischen Farben verloren, ja, man fand, daß sie »abgesponnen« habe, aber sie wußte zu plaudern und sich zu kleiden wie die richtige Offiziersfrau, und die schlichten Dorfleute thaten sich etwas zu gut auf die feine Dame, die aus ihrer Mitte hervorgegangen war. Frau Banner kam natürlich auch und lud Peggy dringend ein, doch all die Verbesserungen einzusehen, wozu sich der »Weiße Hund« für seine fischenden Gäste aufgeschwungen hatte. – Sogar zwei Zimmer waren angebaut worden! Während Peggy sich in gebührenden Lobsprüchen über diese Neuerungen erging, zog Frau Banner einen zerknitterten Brief aus der Tasche und sagte in geheimnisvollem Flüsterton: »Ich wollte Ihnen nur im Vertrauen etwas sagen – es ist wegen des Herr Hauptmanns Rechnung. Er hat das letzte Mal, als er hier war, nicht bezahlt, und wenn ich auch sehr gut mit ihm stehe, Geschäft ist eben Geschäft! Und ein reicher, vornehmer Herr. wie er will ja gewiß von unsereinem nichts geschenkt!«

»Natürlich nicht!« versicherte seine Frau, dunkle Röte im Gesicht.

»Ich habe zweimal an ihn geschrieben, aber keine Antwort erhalten; da hab' ich mir gedacht, ich gebe jetzt Ihnen die Rechnung und Sie bereinigen's, damit ich mein Buch abschließen kann. Neun Pfund, neunzehn Schilling und sechs Pence macht's.«

»Ganz schön, Frau Banner ... ich werde es besorgen ...« stammelte Peggy, nach Fassung ringend.

»Ich weiß ja, Sie bleiben niemand einen Heller schuldig.«

Die gute Frau Banner ahnte nicht, was sie damit der jungen Frau aufgeladen hatte. Tag und Nacht verfolgte sie der Gedanke an diese Rechnung, die sie nicht bezahlen konnte, ohne von ihren eigenen Sachen etwas zu verkaufen, denn die flehentliche Bitte, Charlie solle Geld schicken, blieb natürlich unbeantwortet.

Frau Travenor lebte indessen mühsam dahin, eine Woche kräftiger, in der nächsten wieder sehr schwach. Peggy war eine andre Pflegerin geworden als früher, sorglich, umsichtig, geduldig wie nie, und die beiden Schwestern fühlten sich inniger verbunden als je. Hanna war glücklich, ihre Liebe endlich so voll erwidert zu sehen und Peggy so befriedigt in ihrer Ehe zu wissen! Sie lebte ein wenig auf und konnte sogar an einem besonders milden Februartag im Garten auf und ab gehen, das war aber das letzte Aufflackern. Erschöpft kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, ließ sich in einen Lehnstuhl betten und schloß die Augen. Travenor und Peggy saßen bei ihr und sprachen leise, um ihren Schlummer nicht zu stören, es war aber der Schlummer, den keine menschliche Stimme stört. Die rastlose, unbefriedigte Hanna hatte Frieden gefunden.


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