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Die Wirtin

*

Eine Novelle


Erster Teil

 

I

Ordynow entschloß sich endlich, seine Wohnung zu wechseln. Seine Wirtin, eine sehr arme, bejahrte Beamtenwitwe, bei der er als Untermieter wohnte, war infolge unvorhergesehener Umstände von Petersburg irgendwohin in die Provinz zu Verwandten gezogen, ohne den Ersten, den Ziehtermin, abzuwarten. Der junge Mann, der seine Zeit gern abgewohnt hätte, stand mit Bedauern und Verdruß vor der Notwendigkeit, sein altes Logis zu verlassen; er war arm und eine neue Wohnung voraussichtlich teuer. Gleich am andern Tage nach der Abreise seiner Wirtin nahm er seine Mütze und machte sich auf, um die Straßen Petersburgs zu durchwandern. Er musterte alle Mietszettel, die an den Haustoren angeschlagen waren, wobei er die gewöhnlichen, starkbevölkerten Mietskasernen bevorzugte, weil er da am ehesten hoffen konnte, das gewünschte Logis bei armen Mietsleuten zu finden.

Er hatte schon lange sehr eifrig gesucht; dann aber überkamen ihn neue Empfindungen, die ihm bisher fast unbekannt gewesen waren. Er begann um sich zu schauen, anfangs zerstreut und lässig, dann mit größerer Aufmerksamkeit und zuletzt mit starkem Interesse. Die Menschenmenge und das Straßenleben, der Lärm, die Bewegung, die Neuheit der Gegenstände, die Neuheit der Situation, dieses ganze kleinliche Leben und dieses mißtönige Alltagstreiben, das schon längst dem geschäftigen Petersburger langweilig geworden ist, der eifrig, aber erfolglos sein ganzes Leben lang nach der Möglichkeit sucht, sich still und ruhig in einem behaglichen Heim niederzulassen, das er sich durch seine Arbeit, durch seinen Schweiß und allerlei andere Mittel erworben hat – diese ganze gemeine Prosa und Langweiligkeit rief ganz im Gegenteil bei ihm eine Art von still-freudiger, heiterer Empfindung hervor. Seine blassen Wangen bedeckten sich mit einer leichten Röte; seine Augen glänzten wie von einer neuen Hoffnung, und er begann gierig mit voller Brust die kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm außerordentlich wohl zumute.

Er hatte immer ein stilles, völlig einsames Leben geführt. Vor drei Jahren, als er seinen akademischen Grad erlangt hatte und nach Möglichkeit ein freier Mensch geworden war, da war er zu einem alten Herrn gegangen, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatte, und hatte lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener sich bereitfinden ließ, ihn zum zweiten Male zu melden. Er trat dann in einen hohen, halbdunklen Saal, der den Eindruck größter Leere und Langweiligkeit machte, einen Saal von der Art, wie sie noch in altertümlichen, der Zeit trotzenden herrschaftlichen Familienhäusern vorkommen, und erblickte dort einen grauhaarigen, mit Orden behängten alten Herrn, seinen Vormund, einen früheren Freund und Amtsgenossen seines Vaters. Der alte Herr händigte ihm einen kleinen Geldbetrag ein. Es war nur eine sehr geringe Summe: das, was nach der schuldenhalber erfolgten Subhastation Zwangsversteigerung. – Anm.d.Hrsg. des noch vom Urgroßvater herstammenden Gutes übriggeblieben war. Ordynow nahm das Geld gleichmütig in Empfang, verabschiedete sich für immer von seinem Vormunde und trat auf die Straße hinaus. Es war ein kalter, trüber Herbstabend; der junge Mann war nachdenklich, und eine unbewußte Traurigkeit machte ihm das Herz schwer. Die Augen brannten ihm; er fühlte, daß er Fieber hatte, Hitze und Frostschauer abwechselnd. Er berechnete im Gehen, daß er von seinen Mitteln zwei bis drei Jahre leben könne, und wenn er einen Tag um den andern hungere, sogar vier. Es dunkelte, und es fiel ein feiner Regen. Ordynow mietete sich das erste beste möblierte Zimmer und zog eine Stunde darauf ein. Dort lebte er so abgeschieden wie in einem Kloster und hielt sich völlig von der Welt fern. Im Laufe zweier Jahre wurde er gänzlich menschenscheu.

Er wurde es, ohne es selbst zu merken; es kam ihm einstweilen gar nicht in den Sinn, daß es noch ein anderes Leben gab, ein lärmendes, tosendes, immer wogendes, immer wechselndes, immer lockendes Leben, dem er früher oder später doch nicht entgehen konnte. Er hatte, wie das nicht anders sein konnte, allerdings von diesem Leben gehört; aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf. Seit seiner Kindheit hatte er abgeschlossen gelebt; jetzt nahm diese Abgeschlossenheit eine feste Form an. Eine tiefe, unersättliche Leidenschaft verzehrte ihn, eine Leidenschaft, die das ganze Leben eines Menschen ausfüllt und solche Persönlichkeiten wie Ordynow auf dem Gebiete des praktischen Handelns auch nicht das kleinste Plätzchen einnehmen läßt. Diese Leidenschaft war die Wissenschaft. Sie fraß zunächst seine Jugend, raubte ihm mit ihrem langsamen, berauschenden Gifte die Nachtruhe, entzog ihm die gesunde Kost und die frische Luft, die niemals in sein stickiges Zimmerchen eindrang, und Ordynow wollte das im Rausche seiner Leidenschaft nicht bemerken. Er war jung und verlangte einstweilen weiter nichts. Die Leidenschaft machte ihn für das äußere Leben zum Kinde; sie machte ihn dauernd unfähig, andere gute Leute beiseite zu schieben, wenn das nötig wurde, um zwischen ihnen auch für sich wenigstens ein klein bißchen Raum zu erlangen. Für manche geschickten Leute ist die Wissenschaft ein Kapital, mit dem sie wirtschaften; Ordynows Leidenschaft dagegen war eine Waffe, die sich gegen ihn selbst richtete.

Sein Streben, zu lernen und zu wissen, war mehr die Folge eines unbewußten Dranges als verstandesmäßiger Überlegung; und so war das auch bei jeder anderen Tätigkeit, die ihn bisher beschäftigt hatte, auch bei der geringfügigsten. Schon in seiner Kindheit hatte er für einen Sonderling gegolten und war seinen Kameraden unähnlich gewesen. Seine Eltern hatte er nicht gekannt; von seinen Kameraden hatte er wegen seines sonderbaren, menschenscheuen Wesens oft lieblose, derbe Behandlung zu erleiden gehabt, infolge deren er erst recht menschenscheu und mürrisch geworden war und sich allmählich ganz der Einsamkeit ergeben hatte. Aber in seinen einsamen Beschäftigungen hatte niemals (und das war auch jetzt nicht der Fall) eine feste Ordnung, ein bestimmtes System gelegen; was ihn jetzt trieb, war nur das erste Entzücken, die erste Glut, das erste Feuer des Künstlers. Er schuf sich selbst ein System; dieses bildete sich bei ihm mit den Jahren, und in seiner Seele erstand allmählich das noch dunkle und unklare, aber wunderbar beglückende Bild einer Idee, die sich dann in neuer, leuchtender Form verkörperte, und diese Form drängte aus seiner Seele heraus und marterte diese Seele; er fühlte, wenn auch noch schüchtern, die Originalität und Richtigkeit und Selbständigkeit dieser Idee: sein Schaffensdrang bekundete sich schon; er entwickelte sich und gewann an Kraft. Aber der Zeitpunkt der wirklichen schöpferischen Tätigkeit war noch fern, vielleicht sehr fern, und vielleicht kam er überhaupt nie!

Jetzt ging er durch die Straßen wie ein Weltfremder, wie ein Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen Wüste in eine lärmende, tosende Stadt versetzt ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Aber er stand der Welt, die um ihn herum brandete und rauschte, so fremd gegenüber, daß er nicht einmal daran dachte, sich über seine sonderbare Empfindung zu wundern. Er schien sich seiner Menschenscheu gar nicht bewußt zu werden; vielmehr wuchs in ihm eine Art von freudigem Gefühl heran, eine Art von Berauschtheit, wie bei einem Hungrigen, dem man nach langem Fasten zu essen und zu trinken gibt. Allerdings war es seltsam, daß eine so geringfügige Neuheit der Situation, wie es ein Umzug ist, einen Einwohner Petersburgs, und mochte es auch ein Ordynow sein, dermaßen aufregen und der geistigen Klarheit berauben konnte; aber andrerseits fiel auch der Umstand ins Gewicht, daß es ihm bisher fast niemals begegnet war, in Geschäften auszugehen.

Er fand immer mehr Gefallen daran, in den Straßen umherzuschweifen. Er gaffte alles an wie ein Flaneur.

Aber auch hier las er, sich selbst treu bleibend, in dem Bilde, das sich hell vor seinen Augen auftat, wie in einem Buche zwischen den Zeilen. Alles setzte ihn in Erstaunen; er ließ sich keinen einzigen Eindruck entgehen und schaute mit denkendem Blicke auf die Gesichter der Vorübergehenden, betrachtete die Physiognomie der ganzen Umgebung und horchte liebevoll auf die Rede des Volkes, wie wenn er in alledem die Schlüsse, zu denen er in der Stille seiner einsamen Nächte gelangt war, auf ihre Richtigkeit prüfen wollte. Oft überraschte ihn irgendeine Kleinigkeit, erzeugte in seinem Kopfe eine Idee, und er ärgerte sich zum ersten Male darüber, daß er sich so lange in seiner Zelle gleichsam lebendig begraben hatte. Hier nahm alles einen schnelleren Gang; sein Puls ging voll und geschwind; sein Verstand, den sonst die Einsamkeit niedergedrückt und nur die angestrengte, exaltierte Tätigkeit angeregt und geschärft hatte, arbeitete jetzt lebhaft, ruhig und kühn. Auch erwachte in ihm unbewußt das Verlangen, auf irgendeine Weise sich selbst in dieses ihm fremde Leben hineinzudrängen, das er bisher nur durch den Instinkt des Künstlers gekannt oder, besser gesagt, richtig geahnt hatte. Sein Herz begann unwillkürlich in einem Gefühle der Liebe und Teilnahme lebhafter zu schlagen. Er betrachtete die Menschen, die an ihm vorübergingen, aufmerksamer; aber sie waren ihm fremd, mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt. Und nach und nach nahm unwillkürlich Ordynows Sorglosigkeit ab; die Wirklichkeit lastete schon auf ihm und flößte ihm eine Art von scheuem Respekt ein. Er wurde müde von der Fülle neuer, ihm bisher unbekannter Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig zum ersten Male von seinem Krankenlager aufgestanden ist, dann aber betäubt und schwindlig zusammensinkt, überwältigt von dem Lichte, dem Glanze, dem Wirbel des Lebens und dem Lärm und der Buntscheckigkeit der an ihm vorüberflutenden Menge. Es wurde ihm trüb und traurig zumute. Er fing an, für sein ganzes Leben, für seine ganze Tätigkeit und sogar für seine Zukunft zu fürchten. Ein neuer Gedanke raubte ihm seine Ruhe. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er sein ganzes Leben lang einsam gewesen war, daß ihn niemand geliebt hatte und es auch ihm selbst nicht gelungen war, jemanden zu lieben. Manche Passanten, mit denen er zu Anfang seiner Wanderung gelegentlich ein Gespräch anzuknüpfen suchte, sahen ihn in sonderbarer, unhöflicher Art an. Er merkte, daß sie ihn für einen Verrückten oder für einen originellen Kauz hielten, womit sie übrigens auch vollkommen recht hatten. Er erinnerte sich, daß alle Leute sich immer in seiner Gegenwart gewissermaßen unbehaglich gefühlt hatten, daß er schon in seiner Kindheit von allen wegen seines in sich gekehrten, eigensinnigen Wesens gemieden worden war, daß die in ihm liegende Teilnahme sich immer nur schwer und mühsam und für andere kaum merklich hindurchgearbeitet hatte, daß aber mit dieser Teilnahme niemals ein Gefühl seelischer Gleichheit verbunden gewesen war, und daß es ihn schon als Kind tief geschmerzt hatte, wenn er anderen, mit ihm gleichaltrigen Kindern so gar nicht glich. Jetzt erinnerte er sich an alles das und sagte sich, daß immer schon, zu jeder Zeit, alle sich von ihm abgewandt hatten und ihm aus dem Wege gegangen seien.

Unmerklich war er an ein vom Zentrum der Stadt weit entferntes Ende von Petersburg gelangt. Nachdem er in einem leeren Restaurant notdürftig zu Mittag gegessen hatte, setzte er seine Wanderung fort. Wieder durchschritt er viele Straßen und Plätze. Nun zogen sich lange gelbe und graue Zäune dahin; statt der prächtigen Häuser kamen ganz alte, dürftige Häuschen und gleichzeitig kolossale, schwarz gewordene Fabrikgebäude mit hohen Schornsteinen. Überall war es einsam und menschenleer; alles hatte ein mürrisches, feindseliges Aussehen; wenigstens kam es Ordynow so vor. Es war schon Abend. Durch eine lange Gasse trat er auf einen freien Platz hinaus, wo eine Pfarrkirche stand.

In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war soeben zu Ende; die Kirche war fast ganz leer, und nur zwei alte Frauen knieten noch beim Eingange. Der Kirchendiener, ein grauhaariger alter Mann, löschte die Kerzen aus. Die Strahlen der untergehenden Sonne ergossen sich in einem breiten Strome von oben durch ein schmales Fenster in der Kuppel und erhellten einen der Nebenaltäre mit einem Meere von Glanz; aber sie wurden immer schwächer und schwächer, und je dunkler die Finsternis wurde, die sich unter den Gewölben des Gotteshauses verdichtete, um so heller erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten Heiligenbilder, die von dem zitternden Lichte der Lämpchen und Kerzen rötlich beschienen wurden. In einer Anwandlung von Melancholie, die, bisher unterdrückt, ihn nun in tiefster Seele erregte, lehnte sich Ordynow in der dunkelsten Ecke der Kirche an die Wand und verlor für einen Augenblick das Bewußtsein für seine Umgebung. Er kam wieder zu sich, als der gleichmäßige, dumpfe Klang der Schritte zweier eintretender Kirchenbesucher unter den Gewölben des Gotteshauses ertönte. Er blickte auf, und eine unaussprechliche Neugier bemächtigte sich seiner beim Anblicke der beiden Ankömmlinge. Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hochgewachsen, noch aufrecht und rüstig, aber mager und von einer krankhaften Blässe. Seinem Äußern nach konnte man ihn für einen irgendwoher aus weiter Ferne zugereisten Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen, augenscheinlich festtäglichen Pelzrock, der vorn offen stand. Unter dem Pelzrock wurde ein anderer langschößiger Rock von russischer Fasson sichtbar; dieser war von oben bis unten fest zugeknöpft. Um den bloßen Hals war ein grellrotes Tuch nachlässig herumgebunden; in der Hand hielt er eine Pelzmütze. Ein langer, schmaler, halb ergrauter Bart fiel ihm über die Brust, und unter den überhängenden, finsteren Brauen funkelten seine stechenden, fieberhaft glühenden, hochmütigen, scharfen Augen hervor. Das Weib war etwa zwanzig Jahre alt und von wunderbarer Schönheit. Sie trug einen kostbaren, himmelblauen, mit Pelz gefütterten kleinen Mantel; ihr Kopf war mit einem weißseidenen Tuche bedeckt, das unter dem Kinn zusammengebunden war. Sie ging mit niedergeschlagenen Augen, und der gedankenvolle Ernst, der in ihrer ganzen Erscheinung lag, verlieh auch den lieblichen Zügen ihres kindlich zarten, sanften Gesichtes deutlich einen Ausdruck von Traurigkeit. Es lag etwas Seltsames in diesem überraschenden Paare.

Der Alte blieb mitten in der Kirche stehen und verbeugte sich nach allen vier Seiten, obgleich die Kirche vollständig leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin. Darauf ergriff er sie bei der Hand und führte sie zu dem großen Bilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war; dieses strahlte am Altar in dem blendenden Glanze der Lampen, die sich in dem mit Gold und Edelsteinen geschmückten Rahmen spiegelten. Der Kirchendiener, der als letzter in der Kirche geblieben war, verbeugte sich respektvoll vor dem Alten; dieser nickte ihm mit dem Kopfe zu. Das Weib verbeugte sich vor dem Heiligenbilde bis zur Erde. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Postamente des Bildes hing,und verhüllte damit ihren Kopf. Ein dumpfes Schluchzen ertönte in der Kirche.

Ordynow war von der Feierlichkeit dieser ganzen Szene überrascht und wartete mit ungeduldiger Spannung auf das Ende derselben. Nach etwa zwei Minuten hob die Frau den Kopf in die Höhe, und das helle Licht eines Lämpchens beleuchtete wieder ihr reizendes Gesicht. Ordynow fuhr zusammen und tat einen Schritt vorwärts. Sie hatte dem Alten bereits ihre Hand gereicht, und beide gingen still aus der Kirche. Tränen standen in ihren dunkelblauen Augen, die von langen, schwarzen, sich von dem milchweißen Gesichte scharf abhebenden Wimpern umsäumt waren, und rollten über die blaßgewordenen Wangen herab. Auf ihren Lippen zeigte sich ein flüchtiges Lächeln; aber auf dem Gesichte waren die Spuren einer Art von kindlicher Furcht und geheimer Angst bemerkbar. Sie schmiegte sich schüchtern an den Alten, und man konnte sehen, daß sie am ganzen Leibe vor Aufregung zitterte.

Betroffen und von einem so süßen, starken Gefühle getrieben, wie er es noch nicht gekannt hatte, ging Ordynow schnell hinter ihnen her und kreuzte in der Vorhalle ihren Weg. Der Alte warf ihm einen feindseligen, finsteren Blick zu; die junge Frau sah ihn ebenfalls an, aber interesselos und zerstreut, wie wenn sie mit einem anderen, weit abliegenden Gedanken beschäftigt wäre. Ordynow folgte ihnen, ohne selbst recht zu wissen warum. Es war schon ganz dunkel geworden; er hielt eine gewisse Entfernung ein. Der Alte und das junge Weib gingen eine große, breite, schmutzige Straße entlang, die voll von niedrigem Erwerbsleben,Mehlhandlungen und Fuhrmannsherbergen war und direkt nach einem Schlagbaume führte; von ihr bogen sie in ein schmales, langes Seitengäßchen ein, das auf beiden Seiten von langen Zäunen eingefaßt war und geradeswegs auf eine riesige, schwarz gewordene Mietskaserne zulief, deren Höfe aber als Durchgang nach einer andern, ebenfalls großen, belebten Straße dienten. Sie näherten sich schon dem Hause; auf einmal drehte der Alte sich um und blickte Ordynow unwillig an. Der junge Mann blieb wie angewurzelt stehen; sein impulsives Benehmen kam ihm selbst seltsam vor. Der Alte sah noch ein zweites Mal zurück, wie wenn er sich überzeugen wollte, ob auch sein Drohblick gewirkt habe, und dann gingen sie beide, er und das junge Weib, durch ein schmales Tor auf den Hof des Hauses. Ordynow ging zurück.

Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich selbst, da er sich sagte, daß er einen Tag unnütz verloren, sich unnütz müde gelaufen und obendrein zum Schluß eine Dummheit gemacht habe, indem er einen Vorgang der allergewöhnlichsten Art zu einem richtigen Abenteuer aufgebauscht habe.

Wenn er sich auch am Vormittag über seine Menschenscheu geärgert hatte, so lag es doch in seinem Instinkte, alles zu meiden, wodurch er in seinem äußeren (im Gegensatze zu seinem innerlichen, künstlerischen) Leben zerstreut, gestört und erschüttert werden konnte. Jetzt gedachte er mit Wehmut und einer Art von Reue seines gesicherten Stübchens; dann befiel ihn die verdrießliche Sorge wegen seiner unentschiedenen Situation und der ihm bevorstehenden lästigen Mühe, und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, daß eine solche Kleinigkeit ihn beschäftigen konnte. Es war schon spät, als er sich endlich, ermüdet und unfähig, zwei Gedanken miteinander zu verknüpfen, nach seiner Wohnung hinschleppte und mit Erstaunen gewahr wurde, daß er an dem Hause, in dem er wohnte, beinahe ohne es zu merken vorbeigegangen wäre. Verblüfft schüttelte er den Kopf über seine Zerstreutheit, die er der Ermüdung zuschrieb, stieg die Treppe hinauf und betrat endlich sein Dachstübchen. Dort zündete er ein Licht an – und einen Augenblick darauf stand das Bild der weinenden Frau mit überraschender Deutlichkeit vor seinem geistigen Blicke. Sein Gefühl war so glühend und so stark,und sein Herz reproduzierte mit solcher Liebe die sanften, stillen Züge dieses Gesichtes, das von einer geheimnisvollen Rührung und Angst zeugte und von Tränen frommer Begeisterung oder kindlicher Reue überströmt war, daß seine Augen trüb wurden und eine feurige Glut durch alle seine Glieder zu laufen schien. Aber die Vision dauerte nicht lange. Nach der Ekstase folgte das Nachdenken, dann der Ärger und dann eine Art von ohnmächtiger Wut; ohne sich auszuziehen, wickelte er sich in seine Bettdecke und warf sich auf sein hartes Lager …

Ordynow erwachte erst ziemlich spät am Morgen in gereizter, ängstlicher, gedrückter Stimmung. Eilig machte er sich zurecht, indem er sich beinah gewaltsam zwang, an seine gegenwärtigen materiellen Sorgen zu denken, verließ das Haus und schlug diejenige Richtung ein, die seiner gestrigen Wanderung gerade entgegengesetzt war; endlich fand er irgendwo eine Wohnung für sich, ein Giebelstübchen bei einem armen Deutschen namens Spieß, der mit seiner Tochter Tinchen zusammen wohnte. Nachdem Spieß eine Anzahlung erhalten hatte, nahm er sogleich den an der Haustür angeschlagenen, zum Mieten einladenden Zettel ab, lobte Ordynow wegen seiner Liebe zu den Wissenschaften und versprach, eifrig für ihn zu sorgen. Ordynow sagte, er werde am Abend einziehen. Von dort wollte er eigentlich nach Hause gehen, änderte aber seine Absicht und wandte sich nach einer andern Seite; seine geistige Frische kehrte wieder zurück, und er lächelte selbst innerlich über seine Neugier. Der Weg kam ihm bei seiner Ungeduld außerordentlich lang vor; endlich gelangte er zu der Kirche, in der er am vorhergehenden Abend gewesen war. Es wurde gerade Messe gelesen. Er wählte sich einen Platz aus, von dem er fast alle Betenden sehen konnte; aber diejenigen, die er suchte, waren nicht da. Nachdem er lange gewartet hatte, ging er errötend hinaus. Eigensinnig unterdrückte er ein unwillkürliches Gefühl in seinem Herzen und bemühte sich hartnäckig und gewaltsam, den Gang seiner Gedanken zu verändern. Indem er so an Dinge des Alltagslebens dachte, fiel ihm ein, daß es Zeit zum Mittagessen sei, und da er fühlte, daß er tatsächlich Hunger hatte, so ging er nach demselben Restaurant, in dem er tags zuvor gegessen hatte. Lange wanderte er darauf gedankenlos in belebten und unbelebten Straßen und Gassen umher und gelangte schließlich in eine öde Gegend, wo die Stadt aufhörte und sich das fahl gewordene Feld vor ihm ausbreitete; er kam zur Besinnung, als die Totenstille in ihm eine neue Empfindung hervorrief, die er seit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte. Es war ein trockener, kalter Tag, wie sie in Petersburg im Oktober nicht selten vorkommen. In geringer Entfernung von ihm stand ein kleines Haus, daneben zwei Heuschober; ein kleines Pferdchen, an dem man alle Rippen zählen konnte, stand mit gesenktem Kopfe und herabhängender Unterlippe unangespannt neben einem zweirädrigen Wagen und schien über etwas nachzudenken. Ein Hofhund nagte bei einem zerbrochenen Rade knurrend an einem Knochen, und ein dreijähriges Kind im bloßen Hemde kratzte sich seinen weißen Strubbelkopf und blickte erstaunt nach dem herankommenden einsamen Städter. Hinter dem Häuschen dehnten sich Felder und Gemüsegärten aus. Am Horizonte des blauen Himmels lagen schwärzliche Wälder; von der entgegengesetzten Seite aber rückten trübe Schneewolken heran und schienen eine Schar von Zugvögeln vor sich her zu treiben, die ohne zu schreien einer hinter dem andern am Himmel hinzogen. Alles war still; in allem lag eine Art von feierlicher Traurigkeit, eine beklemmende, heimliche Erwartung. Ordynow wollte eigentlich noch weiter und weiter gehen; aber die Einsamkeit bedrückte ihn. Er kehrte nach der Stadt zurück, aus der plötzlich vielfaches Glockengeläut erscholl, das zum Abendgottesdienste rief, verdoppelte seine Schritte und betrat nach einiger Zeit wieder die Kirche, die ihm vom vorigen Tage so wohlbekannt war.

Seine Unbekannte war bereits da.

Sie kniete dicht am Eingange unter einer Menge von Betenden. Ordynow drängte sich durch den dichten Schwarm von Bettlern, zerlumpten alten Frauen, Kranken und Krüppeln hindurch, die an der Kirchentür auf Almosen warteten, und ließ sich neben der Unbekannten auf die Knie nieder. Seine Kleider berührten die ihrigen, und er hörte den stoßweisen Atem, der von ihren Lippen kam, die ein heißes Gebet flüsterten. Ihre Gesichtszüge bekundeten wie früher ein Gefühl tiefster Frömmigkeit; aber die Tränen rannen wieder aus ihren Augen und trockneten auf ihren heißen Wangen, wie wenn sie irgendein schreckliches Verbrechen wegwaschen wollten. An der Stelle, wo sie beide knieten, war es vollständig dunkel, und nur von Zeit zu Zeit erhellte die matte Flamme eines Lämpchens, das der durch eine geöffnete schmale Fensterscheibe eindringende Wind aufflackern ließ, mit ihrem zitternden Scheine ihr Gesicht. Kein Zug dieses Gesichtes entging der Aufmerksamkeit des jungen Mannes; aber von dem, was er da sah, wurden ihm die Augen trübe, und das Herz krampfte sich ihm in unerträglichem Schmerze zusammen. Aber in dieser Qual lag ein eigenartiger rasender Wonnerausch. Schließlich konnte er es nicht länger aushalten; seine ganze Brust bebte und zersprang beinah in unaussprechlich süßem Drange, und aufschluchzend beugte er seinen glühenden Kopf auf das kalte Pflaster der Kirche hinab. Er vernahm und fühlte nichts als den Schmerz in seinem Herzen, das in süßen Qualen vergehen wollte.

Hatte sich diese hochgradige Sensibilität, diese nackte Schutzlosigkeit des Gefühls durch das einsame Leben herausgebildet? Hatte sich in dem qualvollen, bedrückenden, trostlosen Schweigen langer schlafloser Nächte, mitten zwischen unbewußten Trieben und ungeduldigen Gemütserregungen, diese Explosionskraft des Herzens entwickelt, die nun endlich hervorbrechen und einen Ausgang suchen wollte? Oder war einfach nur auf einmal der Zeitpunkt für dieses feierliche Begebnis gekommen, und war das der notwendige Gang der Dinge, gerade wie wenn plötzlich an einem heißen, schwülen Tage der ganze Himmel schwarz wird und der Gewitterregen unter Blitz und Donner sich auf die dürstende Erde ergießt, in Perlen an den smaragdgrünen Zweigen hängen bleibt, das Gras und das Getreide niederdrückt und die zarten Kelche der Blumen zur Erde beugt, damit dann bei den ersten Strahlen der Sonne alles, wiederauflebend, sich ihr entgegenhebe und, des neu gewonnenen Lebens sich freuend, feierlich seinen herrlichen, süßen Wohlgeruch zum Himmel sende … Aber Ordynow hätte jetzt nicht einmal denken können, was mit ihm vorging; er wußte kaum von sich selbst.

Er bemerkte es kaum, wie der Gottesdienst zu Ende ging, und kam erst wieder zu sich, als er sich hinter seiner Unbekannten her durch den dichten Haufen drängte, der sich am Eingange zusammenballte. Einige Male begegnete er ihrem erstaunten, hellen Blicke. Alle Augenblicke durch das hinausströmende Volk zum Stehenbleiben gezwungen, wendete sie sich wiederholt zu ihm um; es war deutlich, daß ihre Verwunderung immer mehr wuchs, und auf einmal übergoß eine dunkle Glut ihr ganzes Gesicht. In diesem Augenblicke tauchte plötzlich aus der Menge wieder der Alte vom vorhergehenden Tage auf und ergriff sie bei der Hand. Ordynow begegnete wieder seinem haßerfüllten, spöttischen Blicke, und eine seltsame Wut preßte ihm auf einmal das Herz zusammen. Schließlich verlor er in der Dunkelheit die beiden aus dem Gesichte; da drängte er sich mit größter Anstrengung vorwärts und trat aus der Kirche heraus. Aber die frische Abendluft vermochte nicht wohltätig auf ihn zu wirken: der Atem stockte ihm und preßte sich in seiner Brust zusammen, und das Herz begann langsam und stark zu schlagen, als ob es ihm die Brust zersprengen wollte. Endlich sah er, daß er seine beiden Unbekannten tatsächlich verloren hatte; sie waren weder auf der Straße noch in der Seitengasse zu sehen. Aber in Ordynows Kopfe war schon ein Gedanke entstanden, hatte sich bereits einer jener kühnen, seltsamen Pläne gestaltet, die zwar in solchen Fällen immer verrückt aussehen, dafür aber fast immer erfolgreich ausgeführt werden. Am andern Tage um acht Uhr morgens ging er durch die Seitengasse zu dem Hause und betrat einen kleinen, schmalen, äußerst schmutzigen Hinterhof, der für das Haus die Stelle einer Mistgrube zu vertreten schien. Der Hausknecht, der auf dem Hofe mit einer Arbeit beschäftigt war, hielt damit inne, stützte sich mit dem Kinne auf den Griff seiner Schaufel, musterte Ordynow vom Kopf bis zu den Füßen und fragte ihn, was er wolle.

Der Hausknecht war ein junger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sehr alt aussehendem, runzligem Gesichte, von kleiner Statur, seiner Herkunft nach ein Tatar.

»Ich suche eine Wohnung«, antwortete Ordynow ungeduldig.

»Was soll es für eine sein?« fragte der Hausknecht spöttisch. Er sah Ordynow so an, als sei ihm dessen ganze Angelegenheit bereits bekannt.

»Ich möchte einem Mieter etwas abmieten«, antwortete Ordynow.

»Auf dem andern Hofe gibt es nichts«, antwortete der Hausknecht rätselhaft.

»Aber auf diesem?«

»Auf diesem auch nicht.« Damit setzte der Hausknecht seine Schaufel wieder in Bewegung.

»Aber vielleicht läßt mir doch einer ein Zimmer ab«, sagte Ordynow und gab dem Hausknecht ein Zehnkopekenstück.

Der Tatar sah Ordynow an, nahm das Geldstück, griff dann wieder zu seiner Schaufel und erklärte, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte: »Nein, hier ist keine Wohnung.« Aber der junge Mann hörte nicht mehr nach ihm hin; er ging über die verfaulten, schwankenden Bretter, die über einer Pfütze lagen, zu dem einzigen Eingange, den der Seitenflügel des Hauses nach diesem Hofe zu hatte; dieser unsaubere Eingang führte geradezu in die Pfütze herein. Im unteren Stockwerk wohnte ein armer Sargtischler. Ordynow ging an seiner Werkstatt vorbei, stieg auf einer halbzerbrochenen, schlüpfrigen Wendeltreppe zum oberen Stockwerke hinauf, ertastete im Dunkeln eine dicke, plumpe, mit einer zerfetzten Bastmatte benagelte Tür, fand die Klinke und machte die Tür auf. Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm stand der ihm bekannte Alte und sah ihn in äußerster Verwunderung starr an.

»Was willst du?« fragte er kurz, beinah im Flüstertone.

»Ist hier ein Zimmer zu vermieten?« fragte Ordynow, der fast alles vergessen hatte, was er hatte sagen wollen.

Er erblickte über die Schulter des Alten weg seine Unbekannte.

Der Alte suchte schweigend die Tür zuzumachen und dadurch Ordynow hinauszudrängen.

»Ein Zimmer können wir abgeben!« ließ sich auf einmal die freundliche Stimme des jungen Weibes vernehmen.

Der Alte gab die Tür frei.

»Ich brauche nur einen kleinen Raum«, sagte Ordynow, trat eilig ins Zimmer herein und wandte sich an die Schöne.

Aber er blieb vor Erstaunen wie angenagelt stehen, als er seine künftigen Wirtsleute ansah; vor seinen Augen spielte sich eine stumme, überraschende Szene ab. Der Alte war leichenblaß, wie wenn er jeden Augenblick die Besinnung verlieren würde. Er sah das Weib mit einem gläsernen, starren, durchdringenden Blicke an. Auch sie war zuerst blaß geworden; aber dann schoß ihr alles Blut ins Gesicht, und ihre Augen fingen an seltsam zu glänzen. Sie führte Ordynow in den Nebenraum.

Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, recht geräumigen Zimmer, das durch zwei Scheidewände in drei Teile geteilt war; aus dem Flur kam man unmittelbar in ein schmales, dunkles Vorzimmer; geradeaus war in der Scheidewand eine Tür, die offenbar in das Schlafzimmer der Wirtsleute führte. Rechts gelangte man aus dem Vorzimmer in das zu vermietende Zimmer. Es war schmal und eng, da die mit den beiden niedrigen Fenstern parallele Scheidewand von ihnen nicht weit entfernt war. Alles war dicht vollgestellt mit Sachen, wie sie in jedem Haushalt unentbehrlich sind; es war ärmlich und eng, aber nach Möglichkeit reinlich. Das Mobiliar bestand aus einem einfachen weißen Tische, zwei einfachen Stühlen und zwei Wandbänken. Ein großes altertümliches Heiligenbild mit vergoldetem Strahlenkranze stand auf einem Regal in einer Ecke, und vor ihm brannte ein Lämpchen. In diesem zu vermietenden Zimmer und zum Teil im Vorzimmer stand ein gewaltig großer, ungeschlachter russischer Ofen. Es war klar, daß drei Personen in einer solchen Wohnung nur schwer wohnen konnten.

Sie begannen das Erforderliche miteinander zu verabreden; aber sie redeten unzusammenhängend und verstanden einander kaum. Ordynow hörte, obwohl er zwei Schritte von ihr entfernt stand, wie ihr das Herz klopfte; er sah, daß sie am ganzen Leibe vor Aufregung und, wie es schien, vor Furcht zitterte. Endlich kamen sie mit Not und Mühe überein. Der junge Mann erklärte, er werde sogleich einziehen, und blickte den Hausherrn an. Der Alte stand in der Tür; er war immer noch blaß; aber ein verstohlenes, stilles, ja melancholisches Lächeln lag auf seinen Lippen. Als er dem Blicke Ordynows begegnete, zog er wieder finster die Brauen zusammen.

»Hast du einen Paß?« fragte er plötzlich laut und kurz und öffnete ihm die Tür nach dem Flur.

»Ja«, antwortete Ordynow etwas befremdet.

»Wer und was bist du?«

»Wasili Ordynow, ein Adliger, nicht Beamter, Privatmann«, erwiderte er, den Ton des Alten nachahmend.

»Ich ebenfalls«, antwortete der Alte. »Ich bin Ilja Murin, Kleinbürger. Genügt dir das? Dann geh! …«

Eine Stunde darauf befand sich Ordynow schon in der neuen Wohnung, zu seiner eigenen Verwunderung und zur Verwunderung seines Deutschen, der mitsamt seinem gehorsamen Tinchen schon zu argwöhnen begann, daß der Mieter, der bei ihnen erschienen war, sie betrogen habe. Ordynow selbst verstand nicht, wie das alles zugegangen war, und wollte es auch gar nicht verstehen …

 

II

Sein Herz klopfte so heftig, daß es ihm vor den Augen grün wurde und der Kopf ihm schwindelte. Mechanisch machte er sich daran, seine geringe Habe in der neuen Wohnung unterzubringen; er band das Bündel auf, das allerlei notwendige Sachen enthielt, schloß den Kasten mit den Büchern auf und begann sie auf dem Tische aufzustellen; aber er mußte diese Arbeit bald aufgeben. Fortwährend glänzte vor seinen Augen das Bild des Weibes, dessen Anblick sein ganzes Wesen in Aufregung gebracht und in seinem tiefsten Grunde erschüttert und sein Herz mit einem so gewaltigen, krampfhaften Entzücken erfüllt hatte; in sein ärmliches Leben war auf einmal so viel Glückseligkeit hineingeströmt, daß seine Denkkraft sich trübte und sein Geist in Sehnsucht und Verwirrung beinah verging. Er nahm seinen Paß und trug ihn dem Wirte hin, in der Hoffnung, sie dabei zu sehen. Aber Murin öffnete die Tür nur so eben, nahm ihm das Papier ab, sagte zu ihm: »Gut, lebe in Frieden!« und schloß sich wieder in sein Zimmer ein. Eine unangenehme Empfindung bemächtigte sich Ordynow. Ohne daß er einen eigentlichen Grund hätte angeben können, war es ihm peinlich, diesen Alten anzusehen. Es lag in dem Blicke desselben etwas Geringschätziges und Boshaftes. Aber diese unangenehme Empfindung verflog bald. Dies war nun schon der dritte Tag, daß Ordynow in einer Art von Wirbel lebte im Vergleich mit dem früheren stillen Dahingleiten seines Lebens; aber zu überlegen war er nicht imstande; ja er fürchtete sich, es zu tun. Sein ganzes Wesen war in Unordnung und Verwirrung geraten; er fühlte unklar, daß sein ganzes Leben gleichsam in zwei Teile zerbrochen war; ein einziger Drang, eine einzige Erwartung hatte von ihm Besitz ergriffen, und kein anderer Gedanke vermochte ihn zu beunruhigen.

In verständnisloser Verwunderung kehrte er in sein Zimmer zurück. Dort war an dem Ofen, in dem das Essen kochte, eine kleine, gekrümmte alte Frau beschäftigt; sie war so schmutzig und in so häßliche Lumpen gekleidet, daß sie einen abstoßenden Anblick bot. Sie schien von sehr boshaftem Charakter zu sein, knurrte ab und zu und flüsterte mit den Lippen etwas vor sich hin. Das war die Magd der Wirtsleute. Ordynow machte den Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen; aber sie schwieg, offenbar aus Bosheit. Endlich war die Essenszeit herangekommen. Die Alte nahm die Kohlsuppe, die Pasteten und das Rindfleisch aus dem Ofen und trug es zu den Wirtsleuten hin. Dieselben Gerichte brachte sie auch dem neuen Mieter. Nach dem Mittagessen trat in der Wohnung eine Totenstille ein.

Ordynow nahm ein Buch in die Hand und wendete lange Zeit die Blätter um, bemüht, in dem, was er schon mehrmals hintereinander gelesen hatte, einen Sinn zu finden. Ungeduldig warf er das Buch hin und versuchte wieder, seine Habseligkeiten einzuräumen; schließlich ergriff er seine Mütze, zog den Mantel an und ging auf die Straße. Ohne auf den Weg zu achten, schlug er aufs Geratewohl irgendeine Richtung ein und strengte sich fortwährend an, sich nach Möglichkeit zu konzentrieren, seine wirren Gedanken zu sammeln und wenigstens ein bißchen über seine Lage nachzudenken. Aber dieses Bemühen wurde ihm nur zur Qual, zur Folter. Frostschauer und Fieberhitze überfielen ihn abwechselnd, und mitunter fing sein Herz so stark zu schlagen an, daß er sich an eine Mauer lehnen mußte. »Nein, lieber sterben«, dachte er; »lieber sterben!« flüsterte er mit heißen, bebenden Lippen, ohne recht zu wissen, was er sagte. So wanderte er sehr lange umher; endlich fühlte er, daß er bis auf die Haut durchnäßt war, und merkte nun erst, daß es in Strömen regnete; er kehrte nach Hause zurück. Als er nicht mehr weit vom Hause entfernt war, erblickte er seinen Hausknecht. Es schien ihm, daß der Tatar schon eine Weile aufmerksam und neugierig nach ihm hingesehen hatte, dann aber, als er sich bemerkt sah, seines Weges weiterging.

»Guten Tag«, sagte Ordynow, als er ihn eingeholt hatte. »Wie heißt du denn?«

»Man ruft mich ›Hausknecht‹«, antwortete dieser grinsend.

»Bist du schon lange hier Hausknecht?«

»Ja, schon lange.«

»Ist mein Wirt ein Kleinbürger?«

»Wenn er es gesagt hat, wird er es schon sein.«

»Was treibt er denn eigentlich?«

»Er ist krank; er lebt; er betet – weiter nichts.«

»Ist das seine Frau?«

»Wer soll seine Frau sein?«

»Die, die mit ihm zusammenwohnt.«

»Wenn er es sagt, wird sie es schon sein. Adieu, Herr!«

Der Tatar faßte an seine Mütze und ging in sein Kämmerchen am Eingang.

Ordynow ging nach seiner Wohnung. Etwas vor sich hin flüsternd und knurrend öffnete ihm die Alte die Tür, schloß sie wieder mit der Fallklinke und stieg auf den Ofen hinauf, auf dem sie ihre ganze Zeit verbrachte. Es dunkelte bereits. Ordynow wollte sich Streichhölzer holen, fand aber die Tür zum Zimmer der Wirtsleute zugeschlossen. Er rief die Alte an, die, auf den Ellbogen gestützt, mit scharfem Blicke vom Ofen aus sein Tun verfolgte und zu überlegen schien, was er wohl an dem Türschloß der Wirtsleute zu suchen habe; sie warf ihm schweigend ein Päckchen Streichhölzer hin. Er kehrte in sein Zimmer zurück und machte sich wieder zum hundertsten Male an seine Sachen und Bücher. Aber allmählich geriet er in einen seltsamen Zustand hinein, so daß er nicht wußte, was mit ihm geschah; er mußte sich auf eine Bank setzen, und es schien ihm, daß er einschlafe. Ab und zu kam er wieder zu sich und merkte, daß sein Schlaf kein wirklicher Schlaf, sondern eine Art von qualvoller, krankhafter Benommenheit war. Er hörte, wie an die Tür der Wohnung geklopft und wie sie geöffnet wurde, und erriet, daß da seine Wirtsleute von der Abendmesse zurückkehrten. Da fiel ihm ein, daß er ja zu ihnen gehen müsse, um etwas zu holen. Er richtete sich auf, und es schien ihm, daß er schon zu ihnen hingehe, aber stolpere und über einen Haufen Holz falle, den die Alte mitten im Zimmer hingeworfen habe. Nun verlor er vollständig die Besinnung, und als er nach langer, langer Zeit die Augen wieder öffnete, bemerkte er mit Erstaunen, daß er angekleidet, wie er gewesen war, auf derselben Bank lag, und daß ein wunderbar schönes, ganz von stillen, mütterlichen Tränen feuchtes Frauengesicht sich mit dem Ausdruck zärtlicher Sorge über ihn beugte. Er fühlte, wie ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben und er mit etwas Warmem zugedeckt wurde, und wie eine sanfte Hand sich auf seine glühende Stirn legte. Er wollte danken; er wollte diese Hand ergreifen, sie an seine ausgetrockneten Lippen führen, sie mit seinen Tränen benetzen und sie küssen, sein ganzes Leben lang küssen. Er wollte etwas sagen, sehr vieles sagen; aber was eigentlich, das wußte er selbst nicht; am liebsten wäre er in diesem Augenblicke gestorben. Aber seine Arme waren wie von Blei und ließen sich nicht bewegen; er schien stumm geworden zu sein und fühlte nur, wie ihm das Blut durch alle Adern jagte, als ob es ihn zwingen wollte, sich auf seinem Lager aufzurichten. Jemand reichte ihm Wasser … Zuletzt versank er in Bewußtlosigkeit.

Er erwachte am Morgen um acht Uhr. Die Sonne sandte ihre Strahlen wie eine goldene Garbe durch die grünlich angelaufenen Fenster seines Zimmers; ein wonniges Gefühl durchströmte alle Glieder des Kranken. Er war ruhig und still und unendlich glücklich. Es schien ihm, daß soeben jemand am Kopfende seines Bettes gestanden hatte. Eifrig suchte er um sich herum nach diesem unsichtbaren Wesen; es verlangte ihn so sehr, seinen Freund zu umarmen und zum erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: »Guten Morgen, mein Lieber!«

»Wie lange du geschlafen hast!« sagte eine zärtliche Frauenstimme. Ordynow blickte sich um, und das Gesicht seiner schönen Wirtin neigte sich mit einem freundlichen, sonnenhellen Lächeln zu ihm.

»Wie lange du krank gewesen bist!« sagte sie. »Aber nun laß es genug sein und steh auf; warum willst du dich selbst zum Gefangenen machen? Die Freiheit ist süßer als Brot, schöner als die Sonne. Steh auf, mein Lieber, steh auf!«

Ordynow ergriff ihre Hand und drückte sie kräftig. Er glaubte immer noch zu träumen.

»Warte, ich habe dir Tee gemacht; willst du Tee? Trink ihn; davon wird dir besser werden. Ich bin selbst krank gewesen und weiß das.«

»Ja, gib mir zu trinken!« antwortete Ordynow mit schwacher Stimme und stellte sich auf die Füße. Er war noch sehr schwach. Ein Frostschauer lief ihm über den Rücken; alle Glieder taten ihm weh und waren ihm wie zerschlagen. Aber in seinem Herzen war alles licht; es war, als ob die Sonnenstrahlen es mit einer Art von feierlicher, heller Freude durchwärmten. Er fühlte, daß ein neues, kräftiges, innerliches Leben für ihn begonnen hatte. Der Kopf war ihm ein wenig schwindlig.

»Du heißt ja wohl Wasili?« fragte sie. »Habe ich mich verhört? Ich meine, der Hausherr hat dich gestern so genannt.«

»Ja, ich heiße Wasili. Und wie heißt du?« fragte Ordynow, indem er sich ihr näherte; aber er konnte kaum auf den Beinen stehen. Er schwankte. Sie ergriff ihn bei den Händen und lachte.

»Ich heiße Katerina«, sagte sie und blickte ihm mit ihren großen, glänzenden, blauen Augen in die seinigen. Beide hielten einander an den Händen gefaßt.

»Willst du mir etwas sagen?« fragte sie endlich.

»Ich weiß nicht«, antwortete Ordynow, dem es trübe vor den Augen wurde.

»Nun sieh mal, was du für ein wunderlicher Mensch bist! Laß gut sein, mein Lieber, laß gut sein; gräme und härme dich nicht; setz dich hierher, in die Sonne, an den Tisch; sitz ganz stille und geh mir nicht nach!« fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann eine Bewegung machte, als ob er sie festhalten wolle; »ich werde gleich wieder bei dir sein; dann kannst du mich ansehen, soviel du willst.« Eine Minute darauf brachte sie den Tee, stellte ihn auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.

»Da, trink!« sagte sie. »Wie ist's? Tut dir der Kopfweh?«

»Nein, jetzt tut er mir nicht mehr weh«, erwiderte er; »ich weiß nicht, vielleicht tut er mir doch noch weh … ich will nicht … genug, genug! … Ich weiß nicht, was mit mir ist«, fuhr er, nach Luft ringend, fort; er hatte endlich ihre Hand gefunden. »Bleib hier, geh nicht von mir; gib mir wieder deine Hand! … Es wird mir dunkel vor den Augen; wenn ich dich ansehe, ist es mir, als sähe ich in die Sonne«, sagte er, wie wenn er die Worte aus dem tiefsten Herzen heraufholte und vor Entzücken verginge, während er sie aussprach. Ein Schluchzen schnürte ihm die Kehle zu.

»Du Armer! Du hast gewiß nie mit einem guten Menschen zusammengelebt, stehst wohl mutterseelenallein da. Hast du keine Verwandten?«

»Nein, keinen einzigen; ich bin allein … Das macht nichts, laß gut sein! Jetzt ist mir besser … jetzt ist mir wohl!« sagte Ordynow, als ob er irre redete. Er hatte eine Empfindung, als ob sich das Zimmer um ihn herumdrehte.

»Auch ich bin viele Jahre lang nicht unter Menschen gekommen. Du siehst mich so an …« sagte sie nach einem Stillschweigen, das wohl eine Minute gedauert hatte.

»Nun … wie sehe ich dich denn an?«

»Als ob meine Augen dich wärmten! Weißt du, wenn man jemand liebt … Ich habe dich gleich bei den ersten Worten, die ich von dir hörte, in mein Herz geschlossen. Wenn du krank wirst, werde ich dich wieder pflegen. Aber du darfst nicht wieder krank werden, nein. Wenn du erst wieder gesund sein wirst, wollen wir wie Bruder und Schwester miteinander leben. Willst du? Es ist ja schwer, eine Schwester zu bekommen, wenn Gott einem keine leibliche Schwester gegeben hat.«

»Wer bist du? Woher kommst du?« fragte Ordynow mit schwacher Stimme.

»Ich bin nicht von hier … aber das kann dir ja gleich sein! Weißt du, die Leute erzählen, es hätten einmal zwölf Brüder in einem dunklen Walde gewohnt, und da habe sich in diesem Walde ein schönes Mädchen verirrt. Sie sei zu ihnen gekommen und habe ihnen alles im Hause rein und nett gemacht, und alles mit rechter Liebe. Da seien die Brüder nach Haus gekommen und hätten gemerkt, daß ein Schwesterchen den Tag über bei ihnen zu Besuch gewesen sei. Sie hätten sie gerufen, und sie sei zu ihnen ins Zimmer getreten. Sie hätten sie alle Schwester genannt und ihr in allen Stücken ihren freien Willen gelassen, und sie sei gegen alle gleich freundlich gewesen. Kennst du das Märchen?«

»Ja, ich kenne es«, flüsterte Ordynow.

»Es ist doch schön, zu leben; bist du gern auf der Welt?«

»Ja, ja, ich möchte lange leben, ewig leben«, antwortete Ordynow.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Katerina nachdenklich. »Ich möchte auch sterben. Ist es nicht schön, zu leben? Zu lieben, gute Menschen zu lieben, ja … Sieh nur, du bist wieder so weiß wie Mehl geworden!«

»Ja, mir ist schwindlig …«

»Warte, ich will dir mein Federbett bringen und ein anderes Kopfkissen« (sie führte das sofort aus), »und nun werde ich dir hier das Bett machen. Wenn du schläfst, wirst du von mir träumen, und das Unwohlsein wird vergehen. Unsere Alte ist auch krank …«

Während sie noch redete, begann sie schon das Bett zu machen; aber ab und zu blickte sie lächelnd über die Schulter nach Ordynow hin.

»Was hast du für viele Bücher!« sagte sie, als sie den Kasten beiseite rückte.

Sie trat zu ihm, faßte ihn mit der rechten Hand an, führte ihn zum Bette, legte ihn hin und deckte ihn mit dem Deckbett zu.

»Man sagt, Bücher verdürben den Menschen«, sagte sie, nachdenklich den Kopf hin und her wiegend. »Liest du gern Bücher?«

»Ja«, antwortete Ordynow. Er wußte nicht, ob er schlafe oder wache, und drückte recht fest Katerinas Hand, um sich zu vergewissern, daß er nicht schlafe.

»Mein Hausherr hat viele Bücher.« (Sie holte schnell ein paar.) »Siehst du, solche! Er sagt, es seien göttliche Bücher. Er liest mir immer daraus vor. Ich werde sie dir später alle zeigen. Wirst du mir künftig das erzählen, was er mir jetzt aus ihnen immer vorliest?«

»Ja«, flüsterte Ordynow, sie unverwandt ansehend.

»Betest du gern?« fragte sie nach einem längeren Stillschweigen. »Weißt du was? Ich fürchte mich immer, ich fürchte mich immer …«

Sie sprach nicht zu Ende und schien über etwas nachzudenken. Ordynow führte endlich ihre Hand an seine Lippen.

»Warum küßt du meine Hand?« (Ihre Wangen überzogen sich mit einer leisen Röte.) »Da, küsse sie!« fuhr sie lachend fort und reichte ihm ihre beiden Hände; dann machte sie die eine frei und legte sie auf seine glühende Stirn; dann begann sie ihm das Haar zurechtzulegen und glatt zu streichen. Sie errötete immer mehr; zuletzt kauerte sie sich neben seinem Bette auf den Fußboden und legte ihre Wange an die seine; ihr warmer, feuchter Atem strich säuselnd über sein Gesicht … Auf einmal fühlte Ordynow, daß heiße Tränen stromweis aus ihren Augen brachen und wie geschmolzenes Blei auf seine Wangen fielen. Er wurde immer schwächer; er konnte den Arm nicht mehr bewegen. In diesem Augenblick erscholl ein Klopfen an der Flurtür, und der Riegel kreischte. Ordynow konnte noch hören, wie der Alte, sein Wirt, eintrat und hinter die Scheidewand ging.

Dann nahm er noch wahr, daß Katerina ohne Hast und ohne Verwirrung aufstand, ihre Bücher nahm und ihn beim Weggehen bekreuzte; dann schloß er die Augen. Plötzlich brannte ein heißer, langer Kuß auf seinen glühenden Lippen; es war ihm, als würde ihm ein Messer ins Herz gestoßen. Er schrie leise auf und verlor das Bewußtsein …

Dann begann für ihn ein seltsames Leben.

Manchmal huschte in einem Moment unklaren Bewußtseins der Gedanke durch seinen Kopf, daß er dazu verurteilt sei, in einem langen, endlosen Traume voll seltsamer, fruchtloser Aufregungen, Kämpfe und Leiden zu leben. In seiner Angst versuchte er sich gegen das verhängnisvolle Geschick, das auf ihm lastete, zu empören; aber im Augenblicke des angestrengtesten, verzweifeltsten Kampfes überfiel ihn wieder eine unbekannte Macht, und er merkte und fühlte deutlich, wie er von neuem das Bewußtsein verlor, wie von neuem ein undurchdringliches, bodenloses Dunkel sich vor ihm auftat und er mit einem Schrei der Angst und Verzweiflung hineinstürzte. Manchmal kamen flüchtige Momente einer unerträglichen, vernichtenden Glückseligkeit, wo die Lebensfähigkeit sich im ganzen Wesen des Menschen krampfhaft steigert, die Vergangenheit klar wird, der gegenwärtige helle Augenblick wie ein frohes Triumphlied klingt und die unbekannte Zukunft einem in wachem Traume erscheint; wo eine unaussprechliche Hoffnung wie ein belebender Tau auf die Seele fällt; wo man aufschreien möchte vor Entzücken; wo man fühlt, daß das Fleisch ohnmächtig ist gegenüber der gewaltigen Wucht der Empfindungen, und daß der ganze Faden des Daseins abreißt; und wo man sich gleichzeitig selbst zu der Erneuerung des ganzen Lebens und zu dieser Auferstehung beglückwünscht. Manchmal versank er wieder in Betäubung, und dann spielte sich alles, was sich mit ihm in den letzten Tagen zugetragen hatte, noch einmal ab und zog in trübem, wildem Schwarm vor seinem geistigen Auge vorüber; aber die Vision erschien ihm in einer sonderbaren, rätselhaften Gestalt. Manchmal vergaß der Kranke, was mit ihm geschehen war, und wunderte sich, daß er sich nicht in seiner alten Wohnung bei seiner alten Wirtin befand. Er begriff nicht, warum die alte Frau nicht, wie sie es sonst immer in der späten Dämmerstunde tat, zu dem Ofen kam, dessen Glut niedergebrannt war und mit schwach flimmerndem rotem Scheine das ganze dunkle Zimmer übergoß, und nicht nach ihrer Gewohnheit, auf das Erlöschen des Feuers wartend, ihre knochigen, zitternden Hände an der ersterbenden Glut wärmte, wobei sie immer vor sich hin zu reden und zu flüstern und ab und zu ihn, ihren wunderlichen Mieter, anzusehen pflegte, von dem sie die Meinung hatte, er sei durch das lange Sitzen bei den Büchern verrückt geworden. Ein andermal erinnerte er sich, daß er in eine andere Wohnung umgezogen war; aber wie das zugegangen war, was sich mit ihm begeben hatte, und warum er hatte umziehen müssen, das wußte er nicht, obgleich sein ganzer Geist in ununterbrochenem, unaufhaltsamem Drange vergehen wollte. Aber wohin dieser Drang ihn trieb, und was ihn quälte, und wer in sein Blut diesen unerträglichen Feuerbrand geschleudert hatte, der ihn erstickte und verzehrte, das wußte er wieder nicht, darauf konnte er sich nicht besinnen. Oft griff er begierig mit den Händen nach einem Schatten; oft hörte er das leise Geräusch naher, leichter Schritte neben seinem Bette und freundliche, zärtlich geflüsterte Worte, die süß wie Musik klangen; jemandes feuchter Atem glitt über sein Gesicht, und sein ganzes Wesen wurde von inniger Liebe durchschüttert; jemandes heiße Tränen brannten auf seinen glühenden Wangen, und plötzlich drückte ihm jemand einen langen, zärtlichen Kuß auf die Lippen; da schwand sein Leben in unauslöschlicher Qual dahin; es war ihm, als käme alles Dasein, die ganze Welt zum Stillstande, als stürbe alles um ihn herum für ganze Jahrhunderte, und als breite sich lange, tausendjährige Nacht über alles aus …

Dann wieder war es ihm, als kehrten ihm die schönen, sorglosen Jahre der ersten Kindheit zurück mit ihrer hellen Freude, mit ihrer unauslöschlichen Glückseligkeit, mit dem ersten wonnevollen Staunen über das Leben. Ganze Schwärme freundlicher Geister flogen aus jeder Blume heraus, die er pflückte; sie spielten mit ihm auf dem üppigen Grün der Wiese vor dem kleinen, von Akazien umgebenen Häuschen; sie lächelten ihm aus dem kristallhellen, unübersehbaren See zu, an dem er stundenlang saß und horchte, wie eine Welle über die andere schlug; und sie schwebten mit leisen Flügeln um ihn herum und schütteten liebevoll heitere, bunte Träume auf seine kleine Wiege herab, wenn seine Mutter sich über ihn beugte, ihn bekreuzte, küßte und ihn in den langen, stillen Nächten mit einem leisen Wiegenliede in Schlaf sang. Aber nun erschien plötzlich ein Wesen, das ihn mit einer Angst erfüllte, die keine bloße Kinderangst mehr war; dieses Wesen goß das erste, langsam wirkende Gift des Kummers und der Tränen in sein Leben; er fühlte undeutlich, wie der unbekannte Alte alle seine künftigen Lebensjahre in seiner Gewalt hatte; er zitterte vor ihm, konnte aber seine Augen nicht von ihm abwenden. Der böse Alte folgte ihm überallhin. Hinter jedem Strauche im Wäldchen schaute er hervor und nickte ihm tückisch zu; er verspottete und neckte ihn, indem er sich in jedes Spielzeug des Kindes verwandelte und dann in seinen Händen Grimassen schnitt und kicherte wie ein boshafter, häßlicher Zwerg; er hetzte jeden seiner grausamen Schulkameraden gegen ihn auf, oder er setzte sich mit den Kindern auf die Schulbank und blickte ihn, Grimassen schneidend, aus jedem Buchstaben seiner Grammatik an. Dann setzte sich, wenn er schlief, der böse Alte an das Kopfende seines Bettes. Er verscheuchte den Schwarm lichter Geister, die mit ihren goldfarbenen und blauen Flügeln seine Lagerstätte umflatterten, führte seine arme Mutter für immer von ihm fort und flüsterte ihm ganze Nächte lang ein langes, seltsames Märchen ins Ohr, das für sein Kinderherz unverständlich war, aber ihn peinigte und ihn in eine nicht kindliche Furcht und Aufregung versetzte. Aber der boshafte Alte kümmerte sich nicht um sein Schluchzen und um seine Bitten und redete immer weiter, bis er in Betäubung und Bewußtlosigkeit versank. Dann erwachte der Kleine plötzlich als Erwachsener; ganze Jahre waren ihm unvermerkt vergangen. Er wurde sich auf einmal seiner jetzigen Lage bewußt, begriff auf einmal, daß er ein einsamer Mensch sei, der ganzen Welt fremd gegenüberstehe, allein in einer fremden Wohnung sei, unter geheimnisvollen, verdächtigen Menschen, unter Feinden, die immer zusammenkämen und in den Ecken seines dunklen Zimmers flüsterten und einer alten Frau zunickten, die am Ofen beim Feuer hockte und ihre mageren, alten Hände wärmte und den andern, auf ihn hinweisend, Zeichen machte. Er geriet in Unruhe und Verwirrung; er wollte durchaus erfahren, was das für Menschen seien, warum sie hier seien, warum er selbst sich in diesem Zimmer befinde; und er erriet, daß er, durch eine unbekannte Macht verlockt, in eine dunkle Räuberhöhle hineingeraten sei, ohne vorher ordentlich zugesehen zu haben, was da im Hause für Leute wohnten, und wer namentlich seine Wirtsleute seien. Ein Verdacht begann ihn zu quälen, – und auf einmal hob wieder mitten in der nächtlichen Dunkelheit das geflüsterte lange Märchen an, und zwar war es eine alte Frau, die es leise, kaum verständlich vor sich hin erzählte und dabei vor dem erlöschenden Feuer traurig ihren grauen Kopf hin und her wiegte. Aber von neuem befiel ihn ein Schreck: das Märchen verkörperte sich vor seinen Augen in Personen und Gestalten. Er sah, wie alles, von seinen unklaren Kinderträumen angefangen, alle seine Gedanken und Phantasiegebilde, alles, was er in Wirklichkeit erlebt, alles, was er in Büchern gelesen, alles, was er schon längst vergessen hatte, wie das alles sich belebte, sich gestaltete, sich verkörperte, in kolossalen Formen und Gebilden vor seinen Augen aufstand, sich um ihn herumbewegte, um ihn herumschwärmte; er sah, wie sich herrliche Zaubergärten vor ihm ausbreiteten, wie ganze Städte vor seinen Augen entstanden und wieder zusammenstürzten, wie ganze Kirchhöfe ihm ihre Toten heraussandten, die dann wieder von neuem zu leben begannen, wie ganze Rassen und Völker vor seinen Augen auf die Welt kamen, wuchsen und vergingen, wie endlich jetzt um sein Krankenlager herum jeder seiner Gedanken, jeder seiner wesenlosen Träume sich fast im Augenblicke des Entstehens verkörperte, wie endlich sein Geist nicht wesenlose Gedanken erzeugte, sondern ganze Welten, ganze Schöpfungen, wie er, einem Stäubchen gleich, in dieser ganzen endlosen, seltsamen Welt ohne die Möglichkeit eines Entrinnens umhergetragen wurde, und wie dieses ganze Leben mit seinem rebellischen Despotismus ihn bedrängte und bedrückte und mit steter, endloser Ironie verfolgte; er fühlte, wie er starb und in Staub und Asche zerfiel, auf ewig, ohne Auferstehung; er wollte entfliehen; aber es gab im ganzen Weltall keinen Winkel, wo er sich hätte verbergen können. Zuletzt strengte er in einem Anfall von Verzweiflung all seine Kraft an, schrie auf und erwachte.

Er erwachte, ganz in kaltem Schweiß gebadet. Um ihn herum herrschte Totenstille; es war tiefe Nacht. Aber doch schien es ihm immer, als nehme das seltsame Märchen irgendwo seinen Fortgang, als trage eine heisere Stimme tatsächlich eine lange Erzählung von etwas vor, das ihm bekannt vorkam. Er hörte, daß von dunklen Wäldern gesprochen wurde, von bösen Räubern, von einem kühnen jungen Manne, einer Art von Stenka Rasin, von vergnügten Trunkenbolden, von Schiffsknechten, von einem schönen Mädchen und von dem Mütterchen Wolga. War das nicht ein Märchen? Hörte er es im Wachen? Eine ganze Stunde lag er so mit offenen Augen in qualvoller Erstarrung da, ohne ein Glied zu rühren. Endlich richtete er sich behutsam auf und spürte mit Freude, daß seine Kraft durch die grausame Krankheit doch nicht ganz erschöpft war. Das Phantasieren war vorüber; die Wirklichkeit begann wieder. Er bemerkte, daß er noch so gekleidet war wie zur Zeit des Gespräches mit Katerina, und daß somit seit dem Morgen, wo sie von ihm weggegangen war, nicht allzu viel Zeit vergangen sein konnte. Das Feuer der Entschlossenheit lief durch seine Adern. Mechanisch mit den Händen umhertastend fand er einen großen Nagel, der zu irgendwelchem Zwecke oben in der Scheidewand eingeschlagen war, neben der man ihm sein Bett zurechtgemacht hatte; er erfaßte ihn, und sich mit dem ganzen Körper daranhängend, hob er sich mit Not und Mühe zu einer Spalte empor, durch die ein kaum bemerkbarer Lichtschein in sein Zimmer drang. Er legte das Auge an die Öffnung und blickte hindurch; vor Aufregung konnte er kaum Atem holen.

In der einen Ecke des Zimmers der Wirtsleute stand ein Bett, vor dem Bette ein Tisch; er war mit einer Decke bedeckt und mit Büchern von großem, altertümlichem Format bepackt, in Einbänden, die an religiöse Bücher erinnerten. In einer Ecke stand ein ebensolches altertümliches Heiligenbild wie in seinem eigenen Zimmer; vor dem Heiligenbilde brannte ein Lämpchen. Auf dem Bette lag der alte Murin unter einer Pelzdecke; er war krank und durch sein Leiden entkräftet und sah blaß wie Leinwand aus. Auf seinen Knien hatte er ein aufgeschlagenes Buch liegen. Auf einer Bank neben dem Bette lag Katerina; sie hielt den Alten mit dem einen Arm umschlungen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie sah ihn aufmerksam mit kindlich erstaunten Augen an und schien mit unersättlichem Interesse, fast vergehend vor Spannung, anzuhören, was Murin ihr erzählte. Mitunter hob sich die Stimme des Erzählers; auf seinem Gesichte kam eine gewisse Lebhaftigkeit zum Ausdruck; er zog die Brauen zusammen, seine Augen begannen zu funkeln, und Katerina schien vor Angst und Aufregung blaß zu werden; dann erschien auf dem Gesichte des Alten etwas, was wie ein Lächeln aussah, und Katerina begann leise zu lachen. Manchmal traten ihr die Tränen in die Augen; dann strich ihr der Alte wie einem Kinde zärtlich über den Kopf, und sie umschlang ihn noch fester mit ihrem nackten, schneeweißen Arme und drückte sich noch liebevoller an seine Brust.

Zeitweilig glaubte Ordynow, daß das alles noch ein Traum sei; er war sogar davon überzeugt; aber das Blut strömte ihm nach dem Kopfe und pochte ihm heftig, ja schmerzhaft in den Schläfen. Er ließ den Nagel los und stand vom Bette auf; schwankend, wie ein Nachtwandler schleichend, ohne seine Aufregung zu verstehen, die wie Feuer in seinem Blute brannte, begab er sich zu der Tür der Wirtsleute und stieß mit aller Kraft dagegen; der verrostete Riegel flog sofort ab, und unter diesem Gekrach und Gepolter stand Ordynow auf einmal mitten im Schlafzimmer der Wirtsleute. Er sah, wie Katerina erschrocken in die Höhe fuhr und am ganzen Leibe zitterte, wie die Augen des Alten unter den grimmig zusammengezogenen Brauen hervor funkelten, und wie ein plötzlicher Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. Er sah, wie der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, mit umhertastender Hand eilig nach einer an der Wand hängenden Flinte suchte, und wie der Lauf der Flinte glänzte, den derselbe, vor Wut zitternd, mit unsicherer Hand gerade auf seine Brust richtete. Der Schuß krachte; darauf erscholl ein wilder Schrei, welcher klang, als ob er nicht aus einer menschlichen Kehle käme, und als der Rauch verflogen war, wurde Ordynow von einem schrecklichen Anblick überrascht. Am ganzen Leibe zitternd beugte er sich über den alten Mann. Murin lag auf dem Fußboden; er wand sich in Krämpfen; sein Gesicht war qualvoll verzerrt, und Schaum stand auf seinen schiefgezogenen Lippen. Ordynow erkannte, daß der Unglückliche einen schrecklichen epileptischen Anfall durchmachte. Im Verein mit Katerina bemühte er sieh ihm zu helfen …

 

III

Die ganze Nacht verging in arger Unruhe. Am andern Tage ging Ordynow frühmorgens aus, trotz seiner Schwäche und trotz des Fiebers, das ihn doch noch nicht ganz verlassen hatte. Auf dem Hofe traf er wieder den Hausknecht. Diesmal lüftete der Tatar schon von weitem seine Mütze und sah ihn neugierig an. Dann griff er, wie wenn er seine Gedanken sammelte, wieder zu seinem Besen und schielte nur von der Seite nach dem langsam näher kommenden Ordynow hin.

»Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?« fragte Ordynow.

»Doch, ich habe etwas gehört.«

»Was ist das für ein Mensch? Wer ist er?«

»Du hast selbst gemietet; da mußt du es selbst wissen. Ich kenne ihn nicht.«

»Wirst du endlich einmal reden!« schrie Ordynow außer sich in einem Anfalle krankhafter Reizbarkeit.

»Was habe ich denn getan? Du hast unrecht getan, hast die Mieter erschreckt. Unten wohnt der Sargtischler; er ist taub, aber er hat alles gehört; auch seine Frau ist taub, aber auch die hat es gehört; und auf dem andern Hofe haben sie es auch gehört, obgleich es weit ist – so ist das. Ich werde zum Polizeiinspektor gehen.«

»Ich werde selbst zu ihm gehen«, antwortete Ordynow und ging auf das Tor zu.

»Wie du willst; du hast selbst gemietet. Herr, Herr, warte mal!« Ordynow sah sich um; der Hausknecht berührte höflich seine Mütze.

»Nun?«

»Wenn du da hingehst, gehe ich zum Hauswirt.«

»Nun, und?«

»Zieh lieber aus!«

»Du bist ein Dummkopf«, erwiderte Ordynow und wollte wieder weitergehen.

»Herr, Herr, warte mal!« Der Hausknecht berührte wieder seine Mütze und grinste. »Höre mal, Herr: du solltest dich beherrschen; wozu schimpfst du einen armen Menschen? Einen armen Menschen darf man nicht schimpfen; das ist eine Sünde; Gott hat es verboten; hörst du?«

»Na, höre auch du: da, nimm das! Nun, was ist er für ein Mensch?«

»Was er für ein Mensch ist?«

»Ja.«

»Das will ich dir auch ohne Geld sagen.«

Hier griff der Hausknecht nach seinem Besen, fuhr ein paarmal damit hin und her; dann hielt er inne und sah Ordynow aufmerksam und ernst an.

»Du bist ein guter Herr. Wenn du aber nicht mit einem guten Menschen leben willst, dann nicht; das wollte ich bloß sagen.«

Hier blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller an und machte sich, wie wenn er sich gekränkt fühlte, wieder mit seinem Besen zu schaffen. Dann tat er, als sei er mit seiner Arbeit fertig, trat geheimnisvoll an Ordynow heran, machte eine sehr ausdrucksvolle Geste und sagte:

»Er ist so … du verstehst?«

»Was? Wie?«

»Er hat keinen Verstand.«

»Was?«

»Der ist weg. Ja! Der ist weg!« wiederholte er in noch geheimnisvollerem Tone. »Er ist krank. Er hatte ein Frachtschiff, ein großes Frachtschiff, und noch ein zweites und ein drittes; die fuhren auf der Wolga; ich bin selbst von der Wolga. Und dann hatte er auch noch eine Fabrik; die ist abgebrannt, und da ist ihm der Kopf kaputt gegangen.«

»Er ist geistesgestört?«

»Nein! … Nein! …« antwortete der Tatar in einzelnen Absätzen.«Gestört ist er nicht. Er ist ein kluger Mensch. Er weiß alles; er liest viel in Büchern, er liest und liest, immer liest er und sagt anderen wahr. Wenn jemand zu ihm kommt, verlangt er zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel; wer's nicht will, läßt's bleiben. Dann sieht er im Buche nach und sagt einem die ganze Wahrheit. Aber erst Geld auf den Tisch, gleich auf den Tisch; ohne Geld ist nichts!«

Der Hausknecht, der hierin von Herzen Murins Partei nahm, lachte bei diesen Worten sogar vor Freude.

»Also er weissagt und verkündigt die Zukunft?«

»Hm …« brummte der Hausknecht und nickte mit dem Kopfe. »Er sagt die Wahrheit. Er betet, betet viel. Aber manchmal überkommt ihn das so.«

Hier wiederholte der Tatar von neuem seine ausdrucksvolle Geste.

In diesem Augenblicke rief jemand den Hausknecht vom andern Hofe her, und gleich darauf erschien ein kleiner, gebückt gehender, grauhaariger Mann in einem Schafpelz.

Er ächzte und stolperte beim Gehen fortwährend, blickte auf die Erde und flüsterte etwas vor sich hin. Man konnte denken, daß sein Geist schon altersschwach geworden sei.

»Der Hauswirt, der Hauswirt!« flüsterte der Hausknecht hastig, nickte Ordynow schnell zu und eilte, die Mütze abreißend, dem Alten entgegen, dessen Gesicht Ordynow bekannt vorkam; wenigstens glaubte er ihm vor sehr kurzer Zeit irgendwo begegnet zu sein.

Er sagte sich übrigens, daß dabei nichts Wunderbares sei, und verließ den Hof. Den Hausknecht hielt er für einen Gauner und Frechling erster Güte.

»Der Taugenichts hat mich ja ordentlich an der Nase herumführen wollen!« dachte er. »Gott weiß, was da dahintersteckt!«

Als er das zu sich sagte, befand er sich schon auf der Straße.

Allmählich bemächtigten sich seiner andere Gedanken. Das Wetter machte ihm einen unangenehmen Eindruck: es war ein grauer, kalter Tag, und es flatterten einzelne Schneeflocken in der Luft. Der junge Mann fühlte, daß ihn wieder ein Frostschauer befiel; er hatte auch eine Empfindung, als ob die Erde unter seinen Füßen zu schwanken begönne. Auf einmal wünschte ihm eine bekannte, unangenehm süßliche Stimme, ein knarrender Tenor, Guten Morgen.

»Jaroslaw Iljitsch!« sagte Ordynow.

Vor ihm stand ein forscher, rotbackiger Mensch, dem Ansehen nach ungefähr dreißig Jahre alt, von kleiner Statur, mit grauen, öligen Augen, mit einem süßen Lächeln, gekleidet, wie Jaroslaw Iljitsch eben immer gekleidet war, und streckte ihm in liebenswürdigster Weise die Hand entgegen. Ordynow war mit Jaroslaw Iljitsch gerade vor einem Jahre bekannt geworden, und zwar ganz zufällig, beinah auf der Straße. Zu dieser sehr leicht zustande gekommenen Bekanntschaft hatte, abgesehen vom Zufall, Jaroslaw Iljitschs besondere Neigung mitgewirkt, sich überall brave, anständig denkende Leute herauszusuchen, Leute, die vor allen Dingen eine gute Bildung besaßen und wenigstens durch ihre Gaben und ihr feines Benehmen zur höchsten Gesellschaft zu gehören verdienten. Obgleich Jaroslaw Iljitsch eine überaus süßliche Tenorstimme hatte, so lag doch, selbst wenn er mit aufrichtigen Freunden sprach, im Klange seiner Stimme etwas sehr Bestimmtes, Kräftiges, Befehlshaberisches, was keinerlei Einwendungen duldete; das war bei ihm vielleicht eine Folge der Gewohnheit.

»Wie kommen Sie hierher?« rief Jaroslaw Iljitsch mit dem Ausdruck aufrichtigsten, freudigsten Entzückens.

»Ich wohne hier.«

»Schon lange?« fuhr Jaroslaw Iljitsch fort und sprach dabei in immer höherem Tone. »Und ich habe es gar nicht gewußt! Aber da bin ich ja Ihr Nachbar! Ich wohne jetzt ebenfalls in diesem Stadtteil. Ich bin schon vor einem Monat aus dem Gouvernement Rjasan zurückgekommen. Da habe ich Sie nun erwischt, mein alter, teurer Freund!« Und Jaroslaw Iljitsch lachte auf die gutherzigste Weise, die man sich denken kann. »Sergejew!« rief er in seiner Begeisterung. »Erwarte mich bei Tarasow; ehe ich nicht da bin, soll kein Mehlsack angerührt werden! Und treibe Olsufis Hausknecht an und sag ihm, er soll sich sofort auf dem Kontor einfinden! Ich komme in einer Stunde hin …«

Nachdem er jemandem eilig diesen Befehl gegeben hatte, nahm der feinfühlige Jaroslaw Iljitsch seinen Freund Ordynow unter den Arm und führte ihn in das nächste Restaurant.

»Ich habe keine Ruhe, ehe wir nicht nach einer so langen Trennung ein paar Worte miteinander unter vier Augen gesprochen haben. Nun, was machen Ihre Studien?« fügte er beinah ehrfurchtsvoll hinzu und senkte geheimnisvoll die Stimme. »Widmen Sie sich immer noch den Wissenschaften?«

»Ja, wie früher«, antwortete Ordynow, dem ein heiterer, lichter Gedanke durch den Kopf ging.

»Das ist edel von Ihnen, Wasili Michailowitsch; das ist edel von Ihnen!« Hier drückte Jaroslaw Iljitsch ihm kräftig die Hand. »Sie werden eine Zierde unserer Gesellschaft sein. Gott gebe Ihnen in Ihrer Laufbahn ein glückliches Fortschreiten … O Gott, wie freue ich mich, daß ich Sie getroffen habe! Wie oft habe ich an Sie gedacht, wie oft habe ich gesagt: wo mag er jetzt sein, unser guter, hochherziger, geistvoller Wasili Michailowitsch?«

Sie ließen sich ein besonderes Zimmer geben. Jaroslaw Iljitsch bestellte einen Imbiß nebst verschiedenen Schnäpsen und blickte Ordynow gefühlvoll an.

»Ich habe, während ich von Ihnen fern war, viel gelesen«, begann er in schüchternem, etwas einschmeichelndem Tone. »Ich habe den ganzen Puschkin durchgelesen …«

Ordynow sah ihn zerstreut an.

»Die Darstellung der menschlichen Leidenschaften ist bei ihm bewundernswert. Aber vor allen Dingen erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Sie haben mir einen so großen Dienst damit erwiesen, daß Sie mich zu einer richtigen Denkweise hingeleitet haben …«

»Aber ich bitte Sie!«

»Nein, erlauben Sie! Ich lasse immer einem jeden gern Gerechtigkeit widerfahren und bin stolz darauf, daß wenigstens dieses Gefühl in mir nicht erstorben ist.«

»Aber ich bitte Sie, Sie sind ungerecht gegen sich selbst; ich weiß wirklich nicht …«

»Nein, ich bin durchaus gerecht«, erwiderte Jaroslaw Iljitsch mit besonderer Wärme. »Was bin ich denn für ein Mensch im Vergleich mit Ihnen? Nicht wahr?«

»Ach, mein Gott!«

»Ja, gewiß.«

Hier trat ein kurzes Stillschweigen ein.

»Indem ich Ihren Ratschlägen folgte, habe ich viele ungebildete Bekanntschaften abgebrochen und meine rohen Gewohnheiten zum Teil verfeinert«, begann Jaroslaw Iljitsch von neuem, wieder in etwas schüchternem, einschmeichelndem Tone. »In meiner dienstfreien Zeit sitze ich größtenteils zu Hause; abends lese ich irgendein nützliches Buch und … ich habe nur einen Wunsch, Wasili Michailowitsch, dem Vaterlande nach Kräften zu nützen …«

»Ich habe Sie immer für einen edeldenkenden Menschen gehalten, Jaroslaw Iljitsch.«

»Sie träufeln einem immer Balsam in die Wunden, edler junger Mann …«

Jaroslaw Iljitsch drückte Ordynow warm die Hand.

»Aber Sie trinken ja nicht?« bemerkte er, als er seine Erregung ein wenig bemeistert hatte.

»Ich kann nicht; ich bin krank.«

»Krank? Ja, wirklich? Schon lange? Und wie ist denn das zugegangen? Wenn es Ihnen recht ist, so werde ich … welcher Arzt behandelt Sie? Wenn es Ihnen recht ist, werde ich sofort meinem eigenen Arzte Mitteilung davon machen. Ich will selbst zu ihm eilen, persönlich. Er ist ein äußerst geschickter Mann!«

Jaroslaw Iljitsch griff schon nach seinem Hute.

»Ich danke ergebenst. Ich lasse mich nicht behandeln und kann die Ärzte nicht leiden …«

»Aber was sagen Sie da? Wie kann man nur so denken? Aber er ist wirklich ein äußerst geschickter Mann«, fuhr Jaroslaw Iljitsch im Tone flehentlicher Bitte fort. »Neulich (erlauben Sie, daß ich Ihnen das erzähle, teurer Wasili Michailowitsch!), neulich kam ein armer Schlosser zu ihm. ›Ich habe mir da‹, sagte er, ›die Hand mit meinem Werkzeuge verletzt; behandeln Sie mich!‹ Semjon Pafnutjitsch sah, daß der Unglückliche in Gefahr war, den kalten Brand zu bekommen, und traf alle Anstalten, um das beschädigte Glied zu amputieren. Er führte die Operation in meiner Gegenwart aus. Aber er führte sie so aus, in einer so vornehmen, ich meine in einer so entzückenden Art und Weise, daß ich bekennen muß: hätte ich nicht ein solches Mitleid mit einem leidenden Mitmenschen gehabt, so wäre es ein Genuß gewesen zuzusehen, einfach aus Interesse an der Sache. Aber wo und wie haben Sie sich denn Ihre Krankheit zugezogen?«

»Beim Umzuge in die neue Wohnung … Ich bin eben erst wieder aufgestanden.«

»Sie sehen auch noch sehr angegriffen aus und hätten noch nicht ausgehen sollen. Also Sie wohnen nicht mehr da, wo Sie früher wohnten? Was hat Sie denn zum Umzuge veranlaßt?«

»Meine Wirtin ist von Petersburg weggezogen.«

»Domna Sawischna? Wirklich? Es war eine gute, wahrhaft anständige alte Frau! Wissen Sie was? Ich empfand ihr gegenüber beinah den Respekt eines Sohnes. Es lag über diesem beinah ausgelebten Leben gewissermaßen der erhabene Glanz der Zeiten unserer Urgroßväter, und wenn man sie anschaute, sah man gleichsam eine Verkörperung unserer grauen, großartigen Vorzeit vor sich … Das heißt so etwas … wissen Sie, sie hatte so etwas Poetisches an sich! …« schloß Jaroslaw Iljitsch, der ganz verlegen und bis über die Ohren rot geworden war.

»Ja, sie war eine gute Frau.«

»Aber gestatten Sie die Frage: wo haben Sie sich denn jetzt niedergelassen?«

»Nicht weit von hier, im Hause eines Herrn Koschmarow.«

»Mit dem bin ich bekannt. Ein prächtiger alter Mann! Ich kann sogar sagen, wir sind beinah gute Freunde. Ein vortrefflicher alter Mann!«

Jaroslaw Iljitschs Lippen zitterten ordentlich vor freudiger Rührung. Er ließ sich noch ein Glas Schnaps und eine Pfeife geben.

»Haben Sie eine eigene Wohnung gemietet?«

»Nein, ich habe einem Mieter ein Zimmer abgemietet.«

»Was ist es denn für ein Mieter? Vielleicht kenne ich ihn auch.«

»Der Kleinbürger Murin; ein hochgewachsener alter Mann …«

»Murin, Murin; ja, erlauben Sie, das ist auf dem hinteren Hofe, über dem Sargtischler?«

»Ja, ganz richtig, auf dem hinteren Hofe.«

»Hm … wohnen Sie da ruhig?«

»Ich bin eben erst eingezogen.«

»Hm … ich wollte nur sagen, hm … aber Sie haben nichts Besonderes bemerkt?«

»Ich wüßte wirklich nicht …«

»Das heißt, ich bin überzeugt, daß Sie bei ihm ganz gut wohnen werden, wenn Sie mit der Räumlichkeit zufrieden sind … das kann ich Ihnen vorhersagen; ich meinte es anders. Aber da ich Ihren Charakter kenne … Welchen Eindruck hat Ihnen dieser alte Kleinbürger gemacht?«

»Er scheint ein ganz kranker Mensch zu sein.«

»Ja, er ist sehr leidend … Aber Sie haben weiter nichts bemerkt? Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Nur sehr wenig; er ist sehr menschenscheu und cholerisch.«

»Hm …« Jaroslaw Iljitsch dachte nach.

»Ein unglücklicher Mensch!« sagte er nach einem kurzen Stillschweigen.

»Ist er das?«

»Ja, ein unglücklicher und zugleich unglaublich seltsamer, merkwürdiger Mensch. Übrigens, wenn er Sie nicht stört … Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen solchen Gegenstand gelenkt habe; aber ich interessierte mich dafür …«

»Wirklich, Sie haben auch mein Interesse erweckt … Ich würde gern erfahren, wie es eigentlich mit ihm steht. Ich wohne ja nun einmal bei ihm …«

»Sehen Sie: es heißt, der Mann sei früher sehr reich gewesen. Er war Kaufmann, wie Sie wahrscheinlich bereits gehört haben. Aber infolge verschiedener Unglücksfälle verarmte er; in einem Sturme gingen mehrere ihm gehörige Frachtschiffe mitsamt der Ladung zugrunde. Eine Fabrik, die er, glaube ich, einem lieben nahen Verwandten zur Verwaltung anvertraut hatte, verfiel gleichfalls einem unglücklichen Schicksal und brannte ab, wobei auch der Verwandte selbst in den Flammen umkam. Ein schrecklicher Verlust, sagen Sie selbst! Da versank Murin, wie man erzählt, in eine bedauerliche Niedergeschlagenheit; man fürchtete für seinen Verstand, und bei einem Streite mit einem andern Kaufmann, der ebenfalls Frachtschiffe besaß, die auf der Wolga fuhren, benahm er sich tatsächlich in einer so sonderbaren, überraschenden Weise, daß man alles, was er dabei tat, nur auf eine starke geistige Störung zurückführen konnte, was ich denn auch gern glauben will. Ich habe noch allerlei Einzelheiten über mehrere Sonderbarkeiten des Mannes gehört; zuletzt trug sich ein sehr seltsames, sozusagen verhängnisvolles Ereignis zu, das man schon nicht anders erklären kann als durch die feindliche Einwirkung des erzürnten Schicksals.«

»Was war denn das?« fragte Ordynow.

»Er soll in einem krankhaften Anfall von Irrsinn ein Attentat auf das Leben eines jungen Kaufmanns gemacht haben, den er vorher sehr liebgehabt hatte. Als er nach dem Anfall wieder zu sich kam, war er so erschrocken, daß er sich das Leben nehmen wollte; so wird wenigstens erzählt. Ich weiß nicht genau, was nachher geschah; aber es ist bekannt geworden, daß er mehrere Jahre lang Kirchenbuße getan hat … Aber was ist Ihnen, Wasili Michailowitsch? Meine harmlose Erzählung ermüdet Sie doch nicht?«

»O nein, durchaus nicht … Sie sagen, er habe Kirchenbuße getan; aber wohl nicht er allein?«

»Ich weiß es nicht. Man sagt, er allein. Wenigstens ist sonst niemand in diese Sache verwickelt gewesen. Indessen habe ich nichts Weiteres gehört; ich weiß nur …«

»Nun?«

»Ich weiß nur … das heißt, ich wollte eigentlich nichts Besonderes hinzufügen … ich will nur sagen, wenn Sie an ihm etwas Ungewöhnliches finden, etwas, was aus dem gewöhnlichen Rahmen der Dinge heraustritt, so ist das alles nur eine Folge der Unglücksfälle, die einer nach dem andern über ihn hereingebrochen sind …«

»Ja, er ist ein sehr gottesfürchtiger Mensch, ein arger Frömmler.«

»Das letztere glaube ich nicht, Wasili Michailowitsch; er hat sehr viel gelitten; ich glaube, er hat ein reines Herz.«

»Aber jetzt ist er doch nicht mehr geistesgestört, sondern gesund.«

»O gewiß, gewiß; das kann ich Ihnen verbürgen; das möchte ich beschwören; er ist im vollen Besitze all seiner geistigen Fähigkeiten. Er ist nur, wie Sie richtig andeuteten, außerordentlich wunderlich und gottesfürchtig. Er ist sogar ein sehr kluger Mensch. Er spricht gewandt, energisch und sehr schlau. Auf seinem Gesichte sind noch die Spuren seines früheren stürmischen Lebens sichtbar. Ein interessanter Mensch und außerordentlich belesen.«

»Ich glaube, er liest immer religiöse Bücher?«

»Ja, er ist ein Mystiker.«

»Was?«

»Ein Mystiker. Aber das sage ich Ihnen nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Gleichfalls im Vertrauen sage ich Ihnen noch, daß er eine Zeitlang unter scharfer Aufsicht gestanden hat. Dieser Mensch hatte einen gewaltigen Einfluß auf diejenigen, die zu ihm kamen.«

»Wieso?«

»Sie werden es kaum glauben; sehen Sie, er wohnte damals noch nicht in diesem Stadtviertel; da kam eines Tages ein gewisser Alexander Ignatjewitsch aus Neugier zu ihm, ein Ehrenbürger, ein vornehmer Mann, der sich der allgemeinen Achtung erfreute; in seiner Begleitung befand sich noch ein Leutnant. Sie kamen also zu ihm, wurden angenommen, und der sonderbare Mensch begann ihnen ins Gesicht zu sehen. Er sah gewöhnlich den Leuten prüfend ins Gesicht, ehe er sich bereitfinden ließ, ihnen Dienste zu erweisen; fiel diese Prüfung ungünstig aus, so schickte er die Betreffenden wieder weg, und zwar sogar, wie man sagt, in sehr unhöflicher Weise. Er fragte die beiden also: ›Was steht zu Ihren Diensten, meine Herren?‹ ›Soundso,‹ antwortete Alexander Ignatjewitsch, ›das werden Sie ja bei Ihrer Gabe von selbst wissen, auch ohne daß wir es Ihnen sagen.‹ ›Dann kommen Sie, bitte,‹ sagte er, ›mit mir in das andere Zimmer!‹ und dabei zeigte er gerade auf denjenigen von ihnen, der ein Anliegen an ihn hatte. Alexander Ignatjewitsch hat nicht erzählt, was mit ihm dann vorgegangen ist; aber als er von ihm wieder herauskam, war er blaß wie Leinwand. Ebendasselbe trug sich auch mit einer vornehmen Dame aus der höchsten Gesellschaft zu; auch sie war, als sie von ihm herauskam, blaß wie Leinwand, ganz in Tränen aufgelöst und erstaunt über seine Weissage- und Redegabe.«

»Seltsam. Aber jetzt gibt er sich nicht mehr damit ab?«

»Es ist ihm aufs strengste verboten worden. Es sind wunderbare Beispiele vorgekommen. Ein junger Kornett, die Blüte und Hoffnung einer hohen Familie, konnte sich einmal bei seinem Anblicke des Lächelns nicht erwehren. ›Was lachst du?‹ sagte der Alte zornig; ›in drei Tagen wirst du selbst so aussehen!‹ und dabei legte er die Arme auf der Brust kreuzweise übereinander, um durch diese Gebärde einen Leichnam darzustellen.«

»Nun, und?«

»Ich möchte es kaum glauben; aber man sagt, die Prophezeiung sei eingetroffen. Er besitzt eben diese Gabe, Wasili Michailowitsch … Sie lächelten über meine treuherzige Erzählung. Ich weiß, daß Sie mir, was Aufklärung anlangt, weit voraus sind; aber ich glaube an ihn: er ist kein Scharlatan. Auch Puschkin erwähnt in seinen Werken etwas Ähnliches.«

»Hm! Ich will nicht mit Ihnen streiten. Sie sagten, glaube ich, er lebe nicht allein?«

»Ich weiß es nicht; ich glaube, er hat eine Tochter bei sich.«

»Eine Tochter?«

»Ja, oder ich glaube, seine Frau; ich weiß, daß irgendein weibliches Wesen mit ihm zusammenwohnt. Ich habe sie flüchtig gesehen, ohne sie weiter zu beachten.«

»Hm! Seltsam. …«

Der junge Mann versank in Nachdenken. Jaroslaw Iljitsch überließ sich angenehmen Empfindungen. Er war gerührt, daß er einen alten Freund wiedergesehen, und erfreut, daß er eine interessante Geschichte in wohlgelungener Weise erzählt hatte. Er saß da, ohne die Augen von Wasili Michailowitsch abzuwenden, und zog an seiner Pfeife; aber auf einmal sprang er auf und geriet in unruhige Bewegung.

»Es ist schon eine ganze Stunde vergangen, und ich habe es gar nicht gemerkt! Teurer Wasili Michailowitsch, ich danke noch einmal dem Schicksal dafür, daß es uns zusammengeführt hat; aber ich habe keine Zeit mehr. Gestatten Sie mir, Sie einmal in Ihrer gelehrten Behausung zu besuchen?«

»Haben Sie die Güte; ich werde mich über Ihren Besuch sehr freuen. Auch ich werde Sie besuchen, sobald ich Zeit habe.«

»Darf ich dieser erfreulichen Ankündigung Glauben schenken? Sie werden mir eine Freude, eine unaussprechliche Freude damit machen! Sie glauben gar nicht, in welches Entzücken Sie mich versetzt haben!«

Sie verließen das Restaurant. Sergejew eilte ihnen bereits entgegen und berichtete Jaroslaw Iljitsch hastig, daß William Jemeljanowitsch angefahren komme. Und wirklich erschienen am Ende der Straße zwei flinke Braune vor einem leichten Wägelchen. Besondere Beachtung verdiente das vorzügliche Beipferd. Jaroslaw Iljitsch preßte seinem teuersten Freunde die Hand in den seinigen wie in einem Schraubstock zusammen, faßte an den Hut und eilte dem herankommenden Wagen entgegen. Im Laufen drehte er sich noch ein paarmal um und nickte Ordynow zum Abschiede zu.

Ordynow fühlte eine solche Müdigkeit und Schwäche in allen Gliedern, daß er kaum die Füße zu heben vermochte. Nur mit Mühe schleppte er sich nach Hause. Im Tore traf er wieder den Hausknecht, der seine ganze Abschiedsszene mit Jaroslaw Iljitsch aufmerksam beobachtet und ihm schon von weitem ein einladendes Zeichen gemacht hatte. Aber der junge Mann ging an ihm vorbei. An der Tür der Wohnung stieß er fast mit einem kleinen, grauhaarigen Männchen zusammen, das mit niedergeschlagenen Augen von Murin herauskam.

»Allmächtiger, verzeih mir meine schweren Sünden!« flüsterte das Männchen und sprang mit der Elastizität eines Pfropfens zur Seite.

»Bin ich Ihnen zu nahe gekommen?«

»Nein, ich danke ergebenst für Ihre Aufmerksamkeit … O mein Gott, mein Gott!«

Das stille Männchen stieg ächzend, stöhnend und fromme Worte vor sich hinflüsternd behutsam die Treppe hinab.

Dies war der Hauswirt, vor dem der Hausknecht einen solchen Schreck bekommen hatte. Erst jetzt erinnerte sich Ordynow, daß er ihn zum erstenmal an dieser selben Stelle, bei Murin, gesehen hatte, als er in die Wohnung einzog.

Er fühlte, daß sein Nervensystem gereizt und schwer erschüttert war; er wußte, daß seine Einbildungskraft und seine Sensibilität aufs äußerste angespannt waren, und nahm sich vor, gegen sich mißtrauisch zu sein. Allmählich versank er in eine Art von Erstarrung. Er hatte das Gefühl, als lege sich eine schwere, drückende Last auf seine Brust. Das Herz schmerzte ihn, als ob es ganz von Wunden bedeckt wäre, und seine ganze Seele war voll lautloser, nicht versiegender Tränen.

Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht hatte, und begann von neuem zu horchen. Er hörte das Atmen zweier Menschen: das eine schwer, krankhaft, oft unterbrochen, das andere leise, aber ungleichmäßig und anscheinend ebenfalls aufgeregt, als schlage dort ein Herz in demselben Verlangen und in derselben Leidenschaft wie das seinige. Er hörte mitunter das Rascheln ihrer Kleider, das leichte Geräusch ihrer leisen, weichen Schritte, und sogar dieses Geräusch ihrer Füße erweckte eine Art von Widerhall in seinem Herzen, einen dumpfen, aber qualvoll wonnigen Schmerz. Schließlich unterschied er ein Schluchzen, ein aufgeregtes Seufzen und hörte sie zuletzt wieder beten. Er wußte, daß sie vor dem Heiligenbilde auf den Knien lag und in entsetzlicher Verzweiflung die Hände rang! … Wer war sie? Für wen betete sie? Von welcher aussichtslosen Leidenschaft wurde ihr Herz beunruhigt? Warum quälte und härmte es sich so und strömte von heißen, hoffnungslosen Tränen über?

Er rief sich ihre Worte ins Gedächtnis zurück. Alles, was sie zu ihm gesagt hatte, klang ihm noch wie Musik in den Ohren, und sein Herz antwortete voll Liebe mit dumpfen, schweren Schlägen auf jede Erinnerung, auf jedes ihrer Worte, das er sich andächtig wiederholte. Einen Augenblick lang huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er das alles nur träume. Aber in demselben Augenblicke war es ihm, wie wenn sein ganzes Wesen vergehen müßte in beklemmender Sehnsucht, als die Erinnerung an ihren heißen Atem, an ihre Worte, an ihren Kuß von neuem vor seiner Einbildungskraft auftauchte. Er schloß die Augen und vergaß sich und alles, was um ihn war. Irgendwo schlug eine Uhr; es war schon spät geworden; die Dämmerung senkte sich herab.

Auf einmal war es ihm, als neige sie sich wieder über ihn, als schaue sie ihm in die Augen mit ihren wunderbar klaren Augen, die von funkelnden Tränen ruhiger, heller Freude feucht waren und still und klar wie das blaue, endlose Himmelsgewölbe an einem heißen Mittage. Auf ihrem Antlitze lag eine so strahlende, feierliche Ruhe, in ihrem warmen Lächeln war eine solche Verheißung unendlicher Seligkeit enthalten, mit solchem Mitgefühl, mit solcher kindlichen Hingabe lehnte sie sich an seine Schulter, daß ein Stöhnen der Freude sich seiner kraftlosen Brust entrang. Sie wollte ihm etwas sagen, ihm freundlich etwas anvertrauen. Wieder schlug an sein Ohr wie Musik ihre Stimme, die ihm tief ins Herz drang. Gierig sog er die von ihrem nahen Atem erwärmte, elektrisierte Luft ein. Sehnsuchtsvoll streckte er die Arme aus, seufzte, schlug die Augen auf … Sie stand vor ihm und beugte sich zu seinem Gesichte herab. Sie war blaß wie vor Schreck, ihr Gesicht feucht von Tränen, ihr ganzer Leib zitterte vor Aufregung. Sie sagte etwas zu ihm, bat ihn um etwas, faltete die Hände und rang ihre halbentblößten Arme. Er umschlang sie mit seinen Armen, und sie lag zitternd an seiner Brust.


Zweiter Teil


 

I

» Was hast du? Was ist dir?« fragte Ordynow, der nun wieder völlig zu sich gekommen war; er drückte sie noch immer in fester, heißer Umarmung an sich. »Was ist dir, Katerina? Was ist dir, mein Lieb?«

Sie schluchzte leise, hielt die Augen gesenkt und verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust. Es dauerte lange, bis sie reden konnte, und sie zitterte am ganzen Leibe wie vor Angst.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, sagte sie endlich kaum vernehmbar; sie atmete nur mühsam und vermochte kaum die Worte herauszubringen; »ich erinnere mich auch gar nicht, wie ich zu dir hierhergekommen bin …« Sie schmiegte sich noch fester, noch inbrünstiger an ihn und küßte ihm in unhemmbarer, krampfhafter Empfindung die Schulter, die Hände, die Brust; schließlich bedeckte sie wie in Verzweiflung das Gesicht mit den Händen, kniete nieder und legte den Kopf auf seine Knie. Als aber Ordynow in unaussprechlicher Sehnsucht sie ungeduldig aufhob und neben sich hinsetzte, da übergoß eine tiefe Röte der Scham ihr Gesicht, ihre Augen baten weinend um Erbarmen, und das Lächeln, das sie gewaltsam auf ihre Lippen zwang, machte kaum einen Versuch, die unwiderstehliche Macht der neuen Empfindung zu unterdrücken. Jetzt schien sie von neuem über etwas erschrocken zu sein; sie stieß ihn mißtrauisch mit der Hand zurück, sah ihn kaum an und antwortete auf seine hastigen Fragen mit gesenktem Kopfe furchtsam und flüsternd.

»Hast du vielleicht etwas Schreckliches geträumt,« fragte Ordynow, »vielleicht eine Vision gehabt, ja? Vielleicht hat er dich erschreckt … Er phantasiert und ist ohne Bewußtsein. Vielleicht hat er etwas gesagt, was du nicht hören solltest? Hast du etwas gehört? Ja?«

»Nein, ich habe nicht geschlafen«, antwortete Katerina, mit Mühe ihre Aufregung unterdrückend. »Ich vermochte nicht einzuschlafen. Er hat immer geschwiegen und mich nur einmal gerufen. Ich trat an sein Bett, rief ihn an und sprach zu ihm; ich fürchtete mich; aber er erwachte nicht und hörte mich nicht. Er ist schwerkrank; Gott stehe ihm bei! Da packte mein Herz wieder der Kummer, der bittere Kummer! Ich betete und betete immerzu, und da kam das auf einmal über mich.«

»Hör auf, Katerina; laß es genug sein, mein Leben; beruhige dich! Du hast gestern einen Schreck bekommen …«

»Nein, ich habe gestern keinen Schreck bekommen! …«

»Geschieht dir das auch sonst manchmal?«

»Ja, auch sonst manchmal.« Sie zitterte über und über und schmiegte sich wieder wie ein Kind ängstlich an ihn. »Siehst du,« sagte sie, ihr Schluchzen unterbrechend, »nicht ohne Grund bin ich zu dir gekommen; nicht ohne Grund wurde es mir so schwer, allein zu sein.« Sie drückte ihm dankbar die Hände. »Du weinst selbst?« fuhr sie fort; »vergieße nicht Tränen um fremdes Leid! Spare sie für die böse Zeit, wo du selbst einsam sein wirst und es dir schwer ums Herz sein wird und du keinen Menschen um dich haben wirst! … Höre, hast du eine Geliebte gehabt?«

»Nein, vor dir habe ich keine gehabt …«

»Vor mir? … Du nennst mich deine Geliebte?«

Sie sah ihn erstaunt an, wollte etwas sagen, schwieg aber doch und schlug die Augen nieder. Allmählich überzog sich ihr ganzes Gesicht von neuem mit dunkler Röte; heller glänzten ihre Augen durch die Tränen hindurch, an die sie nicht mehr dachte, obwohl sie an ihren Wimpern noch nicht getrocknet waren, und es war zu merken, daß ihr eine Frage auf den Lippen schwebte. Mit verschämter Schalkhaftigkeit sah sie ihn ein paarmal an und schlug dann auf einmal wieder den Blick zu Boden.

»Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,« sagte sie; »nein, nein«, wiederholte sie, nachdenklich den Kopf schüttelnd, während sich wieder ein leises Lächeln auf ihr Gesicht stahl. »Nein,« sagte sie endlich auflachend, »ich kann nicht deine Geliebte sein, du Teurer!«

Bei diesen Worten sah sie ihn an; aber auf einmal prägte sich auf ihrem Gesichte eine solche Traurigkeit, ein so hoffnungsloser Gram aus, und es wallte in so überraschender Weise die vollste Verzweiflung aus ihrem innersten Herzen auf, daß ein verständnisloses, starkes Gefühl des Mitleids mit ihrem unbekannten Kummer Ordynows Seele ergriff und er sie mit unaussprechlicher Qual anblickte.

»Höre zu, was ich dir sagen werde«, fuhr sie mit einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt, fort, drückte seine Hände in den ihrigen und bemühte sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken. »Höre gut zu, höre zu, du meine Freude und Wonne! Bezähme dein Herz und liebe mich nicht so, wie du mich jetzt liebst! Es wird dir leichter ums Herz sein; es wird dir leichter und freudiger zumute sein, und du wirst dich vor einem grimmigen Feinde bewahren und wirst eine liebe Schwester gewinnen. Ich werde zu dir kommen, wenn du es wünschst, und werde dich liebkosen und werde mich nicht zu schämen brauchen, daß ich dich kennengelernt habe. Ich bin ja doch zwei Tage lang bei dir gewesen, als du deine böse Krankheit hattest! Laß mich deine Schwester sein! Nicht umsonst habe ich eine schwesterliche Liebe zu dir gefaßt; nicht umsonst habe ich für dich unter Tränen zur Mutter Gottes gebetet! Du wirst keine andere solche gewinnen! Und wenn du den ganzen Erdkreis durchwanderst, soweit der Himmel sich über ihn ausspannt, du wirst keine finden, die dich so liebt, wenn dein Herz ein liebendes Weib begehrt. Ich liebe dich heiß und innig und werde dich immer wie jetzt lieben, und ich liebe dich deswegen, weil deine Seele so rein und hell und durchsichtig ist; deswegen, weil ich gleich damals, als ich dich zum erstenmal erblickte, mir bewußt wurde, daß du meines Hauses Gast, ein erwünschter Gast warst und nicht ohne Grund Aufnahme heischtest; ich liebe dich deswegen, weil, wenn du einen ansiehst, deine Augen lieben und von deinem Herzen reden; und wenn sie etwas sagen, so weiß ich sofort alle Empfindungen deiner Seele, und da möchte ich für deine Liebe am liebsten mein Leben und alle Willensfreiheit hingeben; denn es ist süß, die Sklavin desjenigen zu sein, dessen Herz man gefunden hat … aber mein Leben gehört nicht mir, sondern einem andern, und mein Wille ist gebunden! Aber nimm mich als Schwester hin, und sei mir selbst ein Bruder, und nimm mich an dein Herz, wenn wieder der Gram und der schreckliche Krampf mich überkommen; aber verhalte dich selbst so, daß ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen und die lange Nacht, wie jetzt, mit dir zu verbringen. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Hast du mir dein Herz erschlossen? Hast du verstanden, was ich soeben sagte? …« Sie wollte noch weiterreden, sah ihn an, legte ihm die Hand auf die Schulter, sank aber dann kraftlos an seine Brust. Ihre Stimme erstarb in einem krampfhaften, leidenschaftlichen Schluchzen; ihre Brust hob und senkte sich stürmisch, und ihr Gesicht glühte wie die Abendröte.

»Du mein Leben!« flüsterte Ordynow, dem sich die Sehkraft trübte und der Atem stockte. »Du meine Wonne!« sagte er, ohne sich seiner eigenen Worte bewußt zu werden, ohne sich selbst zu verstehen, zitternd vor Angst, daß er durch einen Hauch den Zauber zerstören und alles zunichte machen könne, was mit ihm geschah, und was er eher für eine Vision als für Wirklichkeit zu halten geneigt war: so war alles vor ihm in Nebel gehüllt! »Ich weiß nicht, ich verstehe dich nicht, ich erinnere mich nicht an das, was du soeben zu mir sagtest; mein Verstand ist wie gelähmt; das Herz in der Brust schmerzt mich, du meine Königin! …«

Hier versagte ihm die Stimme wieder vor Erregung. Katerina schmiegte sich immer fester, immer wärmer und heißer an ihn … Er richtete sich auf, und außerstande, sich noch länger zu beherrschen, matt und kraftlos vor Seligkeit, sank er auf die Knie. Endlich brach ein krampfhaftes, schmerzliches Schluchzen aus seiner Brust hervor, und seine unmittelbar aus dem Herzen herausdringende Stimme zitterte wie eine Saite vor der Fülle nie gekannter Wonne und Glückseligkeit.

»Wer bist du, wer bist du, meine Teure? Wo kommst du her, mein Täubchen?« sagte er, bemüht, sein Schluchzen zu unterdrücken. »Aus welchem Himmel bist du in meinen Himmel hergeflogen gekommen? Alles um mich herum ist mir wie ein Traum; ich vermag gar nicht an dich zu glauben. Schilt mich nicht; laß mich reden, laß mich dir alles, alles sagen! … Ich wollte schon längst reden … Wer bist du, wer bist du, du meine Wonne? … Wie hast du mein Herz gefunden? Erzähle mir: bist du schon lange meine Schwester? Erzähle mir alles von dir: wo du bisher gewesen bist; erzähle mir, wie der Ort hieß, wo du wohntest, was du da von deiner Kindheit an geliebt, worüber du dich gefreut und worüber du dich gehärmt hast. War die Luft dort warm, der Himmel rein? Wer waren deine Lieben, wer hat dich vor mir geliebt, an wen hat sich deine Seele dort zuerst angeschlossen? Hattest du eine liebe Mutter, und hat sie dich als Kind gehegt und gepflegt, oder bist du allein, so wie ich, ins Leben hinausgetreten? Sage mir, bist du immer so gewesen, wie du jetzt bist? Wovon hast du geträumt, was hast du von der Zukunft erwartet, was ist davon in Erfüllung gegangen und was nicht – erzähle mir alles! Wer war derjenige, für den dein Mädchenherz zum erstenmal in süßem Schmerz erbebte, und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage, was ich dir für dein Herz hingeben soll, was ich dir für dich selbst hingeben soll? Sage mir, mein Lieb, mein Licht, meine Schwester, sage mir: womit kann ich dein Herz verdienen?«

Hier versagte ihm von neuem die Stimme, und er ließ den Kopf sinken. Aber als er die Augen wieder in die Höhe hob, erstarrte sein ganzer Leib plötzlich in stummem Schreck, und die Haare sträubten sich ihm auf dem Kopfe.

Katerina saß blaß wie Leinwand da. Sie starrte, ohne sich zu rühren, in die Luft; ihre Lippen waren bläulich wie bei einer Toten, und die Augen wie in stummer, qualvoller Pein umwölkt. Langsam richtete sie sich auf, tat zwei Schritte und fiel mit einem herzzerreißenden Klagelaute vor dem Heiligenbilde nieder. Abgebrochene, unzusammenhängende Worte entrangen sich ihrer Brust. Die Besinnung schwand ihr. Von Angst tief erschüttert hob Ordynow sie auf und trug sie zu seinem Bette hin; er stand über sie gebeugt da, ohne von sich selbst zu wissen. Eine Minute darauf öffnete sie wieder die Augen, richtete sich auf dem Bette auf, blickte um sich und ergriff seine Hand. Sie zog ihn zu sich heran und bemühte sich mit den immer noch blassen Lippen etwas zu flüstern; aber die Stimme gehorchte ihr immer noch nicht. Endlich brach sie in einen Strom von Tränen aus; die heißen Tropfen brannten auf Ordynows kalt gewordener Hand.

»Mir ist so angst, so angst jetzt; meine letzte Stunde ist gekommen!« sagte sie zuletzt in hoffnungsloser Qual.

Sie versuchte noch etwas zu sagen; aber ihre erstarrte Zunge vermochte kein einziges Wort herauszubringen. Sie blickte voller Verzweiflung Ordynow an, der sie nicht verstand. Er bog sich näher zu ihr und lauschte. Endlich hörte er, wie sie deutlich flüsterte:

»Ich bin verdorben; man hat mich verdorben; man hat mich zugrunde gerichtet!«

Ordynow richtete den Kopf auf und sah sie in scheuem Staunen an. Ein häßlicher Gedanke huschte ihm durch den Kopf. Katerina sah, wie sich sein Gesicht krampfhaft und schmerzlich verzog.

»Ja, man hat mich verdorben«, fuhr sie fort; »ein böser Mensch hat mich verdorben; er, er hat mich verdorben! … Ich habe ihm meine Seele verkauft … Warum, warum hast du meine Mutter erwähnt? Wozu mußtest du mich martern? Gott verzeihe es dir, Gott verzeihe es dir!«

Ein Weilchen weinte sie leise vor sich hin; dem jungen Manne schlug das Herz heftig in tödlichem Gram und Schmerz.

»Er sagt,« flüsterte sie mit gedämpfter, geheimnisvoller Stimme, »wenn er stirbt, so wird er wiederkommen und meine sündige Seele holen. Ich bin sein; meine Seele ist ihm verkauft … Er hat mich gepeinigt; er hat mir aus seinen Büchern vorgelesen … Da, sieh, sieh, da ist ein Buch von ihm! Das ist eines seiner Bücher. Er sagt, ich hätte eine Todsünde begangen … Sieh, sieh …«

Und sie zeigte ihm ein Buch; Ordynow hatte gar nicht bemerkt, wo das Buch hergekommen war. Mechanisch ergriff er es; es war ganz mit der Hand geschrieben wie die alten Sektiererbücher, die er früher Gelegenheit gehabt hatte zu sehen. Aber jetzt war er nicht imstande es anzusehen und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu konzentrieren. Das Buch fiel ihm aus den Händen. Er umarmte Katerina leise und bemühte sich, sie zu beruhigen.

»Hör auf, hör auf!« sagte er; »man hat dich geängstigt; ich bin bei dir; erhole dich bei mir, meine Teure, mein Lieb, mein Licht!«

»Du weißt nichts, du weißt nichts«, sagte sie und drückte seine Hände fest in den ihrigen. »Ich bin immer so … Ich fürchte mich immer … Hör auf, hör auf, mich zu quälen! …«

»Ich gehe dann zu ihm«, begann sie nach einer kleinen Weile, als sie wieder Atem holen konnte. »Manchmal bespricht er mich einfach mit seinen eigenen Worten; manchmal aber nimmt er sein Buch, das größte, und liest daraus über meinem Kopfe. Er liest immer so etwas Drohendes, Finsteres! Ich weiß nicht, was es ist, und verstehe nicht jedes Wort; aber die Angst packt mich, und wenn ich seine Stimme höre, so ist es mir, als ob nicht er da spräche, sondern ein anderer, ein Böser, der sich durch nichts erweichen, durch nichts erbitten läßt; und das Herz zieht sich mir zusammen und brennt … Dann ist mir noch schrecklicher zumute als vorher, wo mich der Gram befiel.«

»Geh nicht zu ihm! Warum gehst du denn zu ihm?« sagte Ordynow, beinah ohne zu wissen, was er redete.

»Warum bin ich zu dir gekommen? Wenn du mich danach fragst, so muß ich gestehen, daß ich auch das nicht weiß … Er sagt immer zu mir: ›Bete, bete!‹ Manchmal stehe ich in dunkler Nacht auf und bete lange, stundenlang; oft übermannt mich der Schlaf; aber die Angst weckt mich immer wieder, und es kommt mir dann immer so vor, als ob sich rings um mich ein Gewitter sammle, als ob mir Unheil bevorstehe, als ob die Bösen mich martern und zerreißen wollten und ich die Heiligen nicht um Hilfe anflehen könnte und sie mich vor dem grausamen Verderben nicht retten würden. Das Herz will mir zerspringen, und mein ganzer Leib möchte in Tränen zerschmelzen … Dann fange ich wieder an zu beten und bete und bete so lange, bis die Mutter Gottes mich vom Heiligenbilde herab liebreicher anblickt. Dann stehe ich auf und lege mich wie zerschlagen schlafen; manchmal schlafe ich auch auf dem Fußboden, vor dem Heiligenbilde kniend, ein. Dann kommt es vor, daß er aufwacht und mich zu sich ruft und mich liebkost und streichelt und tröstet, und dann wird mir wirklich leichter ums Herz, und ich fürchte mich in seinem Schutze nicht mehr, mag auch ein Unheil kommen. Er ist stark; sein Wort vermag viel!«

»Aber was hast du denn für ein Leid, worin besteht es?« Ordynow rang verzweifelt die Hände.

Katerina wurde furchtbar blaß. Sie sah ihn an wie eine zum Tode Verurteilte, die auf keine Gnade mehr hofft.

»Worin es besteht? Ich bin eine verfluchte Tochter; ich bin eine Mörderin; meine Mutter hat mich verflucht! Ich habe meine eigene Mutter umgebracht! …«

Ordynow umarmte sie schweigend. Sie drückte sich zitternd an ihn. Er fühlte, wie ein krampfhaftes Zittern durch ihren ganzen Körper lief, und es schien, als wolle sich ihre Seele vom Körper trennen.

»Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,« sagte sie, durch ihre Erinnerungen in die größte Aufregung versetzt, als ob das unwiederbringlich Vergangene als Vision vor ihr Auge träte; »ich wollte schon lange davon reden; aber er verbot es mir immer mit Bitten und Vorwürfen und zornigen Worten. Manchmal aber weckt er selbst meinen Gram auf, wie wenn er mein Feind und Widersacher wäre. Aber mir kommt dann immer alles ins Gedächtnis, immer, wie auch jetzt in der Nacht … Hör zu, hör zu! Es ist schon lange her, sehr lange, und ich erinnere mich nicht, wann es war; aber alles steht mir vor der Seele, als ob es gestern gewesen wäre, wie ein Traum, der in der ganzen letzten Nacht mein Herz geängstigt hätte. Aber der Gram läßt die Zeit noch einmal so lang erscheinen. Setz dich hin, setz dich hier neben mich; ich werde dir mein ganzes Leid erzählen; vernichte mich, auf der der Fluch der Mutter ruht … Ich gebe mein Leben in deine Hand …«

Ordynow wollte sie aufhalten; aber sie flehte ihn mit gefalteten Händen bei seiner Liebe an, sie anzuhören, und begann dann wieder in noch größerer Aufregung zu reden. Ihre Erzählung war unzusammenhängend, und man hörte in ihren Worten den Sturm, von dem ihre Seele durchtobt wurde; aber Ordynow verstand doch alles, weil ihr Leben sein Leben und ihr Leid sein Leid geworden war, und weil sein Feind, wie er meinte, schon in Wirklichkeit vor ihm stand, Fleisch und Blut angenommen hatte, vor seinen Augen bei jedem Worte, das sie sprach, immer höher heranwuchs; Ordynow hatte die Empfindung, als ob dieser Feind ihm mit unwiderstehlicher Gewalt das Herz zusammenpreßte und über seine Wut spottete. Sein Blut fing an zu wallen, füllte ihm das Herz zum Überfließen an und brachte alle seine Gedanken in Verwirrung. Der böse Alte aus seinem Traume stand (das glaubte Ordynow bestimmt) in Wirklichkeit vor ihm.

»Es war eine ebensolche Nacht,« begann Katerina, »nur schrecklicher, und der Wind heulte in unserm Walde, wie ich es noch nie vorher gehört hatte … oder begann mein Verderben schon in dieser Nacht? Dicht vor unserm Fenster zerbrach der Sturm eine Eiche; es kam immer ein alter, grauhaariger Bettler zu uns, und der sagte, er erinnere sich an diese Eiche noch aus seiner frühesten Kinderzeit, und sie sei schon damals ebenso gewesen wie zu der Zeit, als der Sturm sie brach … In dieser Nacht (ich erinnere mich an alles, wie wenn es heute wäre!) zertrümmerte der Sturm Vaters Frachtschiffe auf dem Strom, und der Vater fuhr, obwohl er krank war, sogleich nach der Unglücksstätte hin, sowie die Fischer mit der Nachricht zu uns nach der Fabrik gelaufen kamen. Meine Mutter und ich saßen allein im Zimmer; ich schlummerte; sie war in traurige Gedanken versunken und weinte bitterlich … ja, ich wußte, warum sie weinte! Sie war eben erst krank gewesen, sah noch ganz blaß aus und sagte immer zu mir, ich möchte ein Totenhemd für sie bereitmachen … Auf einmal hörten wir um Mitternacht ans Tor klopfen; ich sprang auf; alles Blut strömte mir zum Herzen; meine Mutter schrie auf … ich blickte sie nicht an, ich fürchtete mich; ich nahm die Laterne und ging selbst das Tor öffnen … Das war er! Ich erschrak; denn ich erschrak immer, wenn er kam, und das war seit meiner frühesten Kindheit so gewesen, so lange ich denken konnte! Er hatte damals noch keine weißen Haare: sein Bart war pechschwarz, und seine Augen brannten wie Kohlen. Er hatte mich bis dahin noch nie freundlich angesehen. Er fragte: ›Ist die Mutter zu Hause?‹ Ich antwortete, während ich das Pförtchen wieder zumachte: ›Der Vater ist nicht zu Hause.‹ Er sagte: ›Ich weiß‹, und sah mich plötzlich mit einem Blicke an, mit einem Blicke … es war das erstemal, daß er mich mit einem solchen Blicke ansah. Ich ging wieder nach dem Hause zu; er aber blieb immer noch stehen. ›Warum kommst du nicht?‹ ›Ich überlege etwas.‹ Wir waren schon auf dem Wege zum Zimmer, da fragte er: ›Aber warum sagtest du denn, der Vater sei nicht zu Hause, als ich dich fragte, ob die Mutter zu Hause sei?‹ Ich schwieg … Die Mutter fuhr vor Schreck zusammen; dann stürzte sie auf ihn zu. Er hatte kaum einen Blick für sie, – ich sah alles. Er war völlig durchnäßt und durchfroren: er hatte, vom Sturm getrieben, zwanzig Werst zu Fuß zurückgelegt; aber von wo er kam, und wo er sich aufhielt, das wußten meine Mutter und ich nie; damals hatten wir ihn schon seit neun Wochen nicht gesehen … Er warf die Mütze hin und zog die Fausthandschuhe aus; aber er betete nicht vor den Heiligenbildern und verbeugte sich nicht vor uns Hausleuten. Er setzte sich ans Feuer …«

Katerina fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wie wenn etwas sie bedrückte und belästigte; aber einen Augenblick darauf hob sie den Kopf wieder in die Höhe und fuhr fort:

»Er begann mit der Mutter tatarisch zu reden. Die Mutter konnte tatarisch; aber ich verstand kein Wort. Sonst hatten sie mich fortgeschickt, wenn er gekommen war; aber jetzt wagte die Mutter nicht, ihrem Kinde diese Weisung zu geben. Der Böse kaufte meine Seele, und ich sah, auf mich selbst stolz, die Mutter an. Ich sah, daß sie nach mir hinblickten und von mir sprachen; die Mutter fing an zu weinen; ich sah, daß er nach seinem Messer griff; er hatte in der letzten Zeit schon zu wiederholten Malen in meiner Gegenwart nach dem Messer gegriffen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich stand auf und griff nach seinem Gürtel; ich wollte ihm sein sündhaftes Messer herausreißen. Er knirschte mit den Zähnen, schrie auf und wollte mich fortstoßen; er versetzte mir einen Schlag gegen die Brust; aber es gelang ihm nicht, mich von sich zu entfernen. Ich dachte, nun müsse ich sterben; es wurde mir dunkel vor den Augen; ich fiel auf den Fußboden; aber ich schrie nicht. Ich sah, soweit ich die Kraft hatte zu sehen, daß er seinen Gürtel abnahm, an der Hand, mit der er mich geschlagen hatte, den Ärmel aufstreifte, das Messer herauszog und mir hinreichte: ›Da,‹ sagte er, ›schneide sie ab; bestrafe sie für die Beleidigung, die sie dir angetan hat, und ich, du Stolze, werde mich dafür bis zur Erde vor dir verbeugen.‹ Ich schob das Messer von mir weg; mein Blut drohte, mich zu ersticken; ich sah ihn nicht an; wie ich mich erinnere, lächelte ich, ohne die Lippen zu öffnen; aber ich blickte meiner Mutter geradezu in die traurigen Augen, mit einem grimmigen Blicke; das schamlose Lächeln wich nicht von meinen Lippen; meine Mutter saß blaß da, wie eine Tote …«

Ordynow lauschte der unzusammenhängenden Erzählung mit gespannter Aufmerksamkeit; aber allmählich legte sich nach dem ersten starken Affekt die Erregung Katerinas; ihre Rede wurde ruhiger; das arme Weib geriet ganz in den Bann dieser Erinnerungen, und ihr Gram versank in dem uferlosen Meere derselben.

»Er griff nach seiner Mütze, ohne sich zu verbeugen. Ich nahm wieder die Laterne, um ihn an Stelle der Mutter hinauszubegleiten, die trotz ihrer Krankheit mit ihm gehen wollte. Wir gelangten zum Tore; ich schwieg, öffnete ihm das Pförtchen und scheuchte die Hunde fort. Da sah ich, daß er die Mütze abnahm und sich vor mir verbeugte. Er griff in seine Brusttasche, holte ein mit rotem Saffian überzogenes Kästchen hervor und öffnete den Verschluß; ich sah: es waren echte Perlen, – ein Geschenk für mich. ›Ich kenne‹, sagte er, ›in der Stadt eine Schöne; für die habe ich sie eigentlich als Geschenk mitgebracht; aber ich habe sie ihr nicht gegeben; nimm du sie, schönes Mädchen, und erhöhe damit deine Schönheit; oder zertritt sie meinetwegen auch mit dem Fuße; aber nimm sie!‹ Ich nahm sie hin, aber mit dem Fuße wollte ich sie nicht zertreten; so viel Ehre wollte ich ihnen nicht antun; sondern ich nahm sie in tückischer Absicht, ohne ein Wort dabei zu sagen. Ich ging ins Zimmer und legte das Kästchen vor meine Mutter hin auf den Tisch; zu diesem Zwecke hatte ich sie genommen. Meine Mutter schwieg eine Weile; sie war ganz blaß wie Leinwand und fürchtete sich, wie es schien, mit mir zu reden. ›Was ist das, Katerina?‹ fragte sie dann. Ich antwortete: ›Das hat der Kaufmann für dich gebracht, Mutter; ich weiß es nicht.‹ Ich sah, daß ihr die Tränen aus den Augen stürzten und der Atem stockte. ›Nicht für mich, Katerina, nicht für mich, du böses Kind, nicht für mich!‹ sagte sie. Ich erinnere mich, daß sie das so tieftraurig sagte, so tieftraurig, als wollte sie ihre ganze Seele ausweinen. Ich hob die Augen in die Höhe und wollte mich ihr zu Füßen werfen; aber auf einmal gab mir der böse Geist etwas ein, und ich sagte: ›Nun, wenn nicht für dich, dann gewiß für den Vater; ich werde es ihm übergeben, wenn er zurückkommt, und ihm sagen, es seien Kaufleute hier gewesen und hätten ein Stück von ihrer Ware vergessen.‹ Oh, wie weinte sie da, meine Mutter! ›Ich werde ihm selbst sagen,‹ erwiderte sie, ›was für Kaufleute hier gewesen sind, und nach was für einer Ware sie gefragt haben … Und ich werde ihm sagen, wessen Tochter du bist, du Gottlose! Du bist jetzt nicht mehr meine Tochter; du bist eine arglistige Schlange! Als Mutter verfluche ich dich!‹ Ich schwieg; ich vergoß keine Träne … Ach, alles war in mir wie erstorben … Ich ging in mein Mädchenstübchen und horchte die ganze Nacht auf den Sturm; und während des Sturmes legte ich mir meine Gedanken zurecht.

Fünf Tage waren seitdem vergangen. Da kam abends der Vater zurück, finster und ingrimmig; die Krankheit hatte ihn unterwegs entkräftet. Ich sah, daß er den einen Arm in der Binde trug, und merkte, daß der Feind ihm den Weg verlegt hatte; der Feind hatte ihm damals die Krankheit gesandt und ihn geschwächt. Ich wußte auch, wer sein Feind war; alles wußte ich. Mit der Mutter sprach er kein Wort; nach mir erkundigte er sich nicht; er rief alle Leute zusammen, befahl, die Fabrik stillzulegen und das Haus vor Eindringlingen zu hüten. Mein Herz ahnte, daß es bei uns zu Hause unheimlich war. So warteten wir denn; die Nacht brachte wieder Sturm und Schneegestöber, und eine heftige Unruhe befiel mein Herz. Ich öffnete das Fenster – mein Gesicht glühte, meine Augen weinten, mein aufgeregtes Herz brannte; ich war wie im Feuer: es verlangte mich stürmisch hinaus aus meinem Stübchen, weit weg, bis ans Ende der Welt, wo die Blitze und der Sturm entstehen. Meine Mädchenbrust hob und senkte sich heftig … auf einmal, es war schon spät, ich glaube, ich war eingeschlummert, oder es hatte sich eine Art von Nebel auf meine Seele gelegt und sie betäubt, da hörte ich, wie jemand an das Fenster klopfte und rief: ›Mach auf!‹ Ich blickte hin: ein Mensch war an einem Stricke zum Fenster heraufgeklettert. Ich wußte sofort, wer da zu Besuch kam, öffnete das Fenster und ließ ihn in mein einsames Stübchen herein. Das war er! Ohne die Mütze abzunehmen, setzte er sich auf die Bank; er war ganz außer Atem und konnte kaum Luft holen, als wenn Verfolger hinter ihm her gewesen wären. Ich stand in einer Ecke und weiß selbst, daß ich ganz blaß geworden war. ›Ist der Vater zu Hause?‹ ›Ja.‹ ›Auch die Mutter?‹ ›Ja, die auch.‹ ›Sei einmal jetzt still; hörst du etwas?‹ ›Ja.‹ ›Was?‹ ›Es pfeift jemand unter dem Fenster.‹ ›Nun, du schönes Mädchen, willst du jetzt einem Feinde das Leben nehmen, deinen Vater rufen und mich zugrunde richten? Ich widersetze mich deinem Mädchenwillen nicht; da ist ein Strick; binde mich, wenn dein Herz dir befiehlt, die angetane Kränkung zu rächen.‹ Ich schwieg. ›Nun? So sprich doch, du meine Wonne!‹ ›Was willst du?‹ ›Ich will einem Feinde entgehen; ich will von einer alten Liebe Abschied nehmen und eine neue anfangen; einem jungen, schönen Mädchen, wie du, will ich mein Herz weihen.‹ Ich lachte; ich weiß selbst nicht, wie seine sündhafte Rede Eingang in mein Herz finden konnte. ›Laß mich nach unten gehen, schönes Mädchen; ich will mein Herz prüfen und den Wirtsleuten meine Verehrung bezeigen.‹ Ich zitterte am ganzen Leibe; die Zähne schlugen mir aufeinander; aber mein Herz war wie glühendes Eisen. Ich ging hin, öffnete ihm die Tür und ließ ihn ins Haus; aber auf der Schwelle rief ich überlaut: ›Da! Nimm deine Perlen und schenke mir ein andermal nie wieder etwas!‹ und mit diesen Worten warf ich ihm das Kästchen nach.«

Hier hielt Katerina inne, um Atem zu schöpfen; während sie sprach, war sie bald zusammengefahren und blaß wie ein Blatt Papier geworden, bald war ihr das Blut in den Kopf gestiegen; jetzt, als sie innehielt, glühten ihre Wangen wie Feuer; die Augen funkelten durch Tränen hindurch, und ein schwerer, stoßweiser Atem hob und senkte ihre Brust. Aber auf einmal wurde sie wieder blaß, und ihre Stimme wurde leise und traurig und bebte vor Erregung.

»Ich blieb allein in meinem Zimmer zurück und hatte ein Gefühl, als ob mich der Sturm herumwirbelte. Plötzlich hörte ich schreien; ich hörte, daß auf dem Hofe Leute nach der Fabrik liefen und sagten: ›Die Fabrik brennt!‹ Ich versteckte mich; alle waren aus dem Hause hinausgelaufen; nur ich und die Mutter waren zurückgeblieben. Ich wußte, daß es mit ihr zu Ende ging; seit drei Tagen lag sie im Sterben; ich, ihre verfluchte Tochter, wußte es! … Auf einmal erscholl unter meinem Zimmer ein schwacher Schrei, wie wenn ein kleines Kind im Schlafe einen Schreck bekommt und aufschreit; dann wurde alles wieder still. Ich blies das Licht aus; mein Körper war eiskalt; ich verbarg das Gesicht in den Händen, da ich mich fürchtete umherzusehen. Auf einmal hörte ich Geschrei in meiner Nähe; ich horchte hin: von der Fabrik kamen Leute gelaufen. Ich bog mich aus dem Fenster: ich sah, wie sie meinen Vater als Leiche brachten, und hörte, wie sie untereinander sagten: ›Er hat einen Fehltritt getan und ist von der Leiter in den siedenden Kessel hineingefallen; der böse Feind selbst muß ihm einen Stoß versetzt haben.‹ Ich sank auf mein Bett; ich wartete; ich war ganz starr; ich wußte nicht, auf was und auf wen ich wartete; es war mir entsetzlich zumute. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so wartete; ich erinnere mich nur, daß mir auf einmal war, als ob ich geschaukelt würde; der Kopf war mir schwer; der Rauch biß mir die Augen; ich freute mich, daß mein Ende nahe war! Plötzlich fühlte ich, daß mich jemand an den Schultern aufhob. Ich blickte hin, soweit ich imstande war zu sehen: er war es, ganz versengt, und sein Rock, der sich heiß anfühlte, rauchte.

›Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes Mädchen; führe mich jetzt aus dem Unheil hinaus, wie du mich vorher hereingeführt hast; ich habe meine Seele um deinetwillen zugrunde gerichtet. Für die Sünden dieser verfluchten Nacht kann ich durch mein Gebet keine Vergebung erlangen! Vielleicht, wenn wir zusammen beten!‹ Er lachte, der böse Mensch! ›Zeige mir,‹ sagte er, ›wie wir uns davonmachen können, ohne an den Leuten vorbeizukommen!‹ Ich faßte ihn bei der Hand und führte ihn. Wir gingen über den Flur; ich schloß die Tür zur Vorratskammer auf (die Schlüssel hatte ich bei mir) und wies auf das Fenster. Das Fenster führte nach dem Garten. Er nahm mich auf seine starken Arme, umschlang mich und sprang mit mir aus dem Fenster. Wir liefen, einander an der Hand haltend; wir liefen lange. Da sahen wir, daß wir dichten, dunklen Wald vor uns hatten. Er horchte: ›Man verfolgt uns, Katerina! Man verfolgt uns, schönes Mädchen; aber es ist uns nicht bestimmt, in dieser Stunde unser Leben zu lassen! Küsse mich, schönes Mädchen; möge uns Liebe und lebenslängliches Glück beschieden sein!‹ ›Aber woher sind deine Hände blutig?‹ ›Sind meine Hände blutig, meine Teure? Ich habe eure Hunde totgestochen; sie bellten den späten Gast zu sehr an. Komm!‹ Wir liefen wieder weiter; da sahen wir auf einem Fußwege das Pferd meines Vaters; es hatte den Zaum zerrissen und war aus dem Stalle hinausgelaufen, weil es nicht hatte verbrennen wollen. ›Setz dich mit mir hinauf, Katerina! Gott hat uns eine Hilfe gesandt!‹ Ich schwieg. ›Oder willst du nicht? Ich bin doch kein Ungläubiger, kein böser Geist; sieh her, ich werde mich bekreuzen, wenn du willst!‹ und dabei machte er wirklich das Zeichen des Kreuzes. Ich setzte mich aufs Pferd, schmiegte mich an ihn und vergaß an seiner Brust alles, wie wenn ich in einem Traume befangen wäre; als ich aber wieder zum Bewußtsein kam, da sah ich, daß wir am Ufer eines breiten, breiten Flusses standen. Er stieg ab, hob mich vom Pferde und ging in das Schilf: da hatte er seinen Kahn verborgen. Als wir im Begriff waren einzusteigen, da sagte er: ›Nun lebe wohl, braves Pferd; geh zu einem neuen Herrn; die alten verlassen dich alle!‹ Ich stürzte zu dem Pferde meines Vaters hin und umarmte es herzlich zum Abschiede. Dann setzten wir uns in den Kahn; er nahm die Ruder, und einen Augenblick darauf war das Ufer unseren Blicken entschwunden. Und als wir das Ufer nicht mehr sahen, da legte er die Ruder zusammen und schaute ringsum über die weite Wasserfläche hin.

›Sei mir gegrüßt, Mütterchen,‹ sagte er, ›du stürmische Flut, die du viele Menschen Gottes tränkest und meine Wohltäterin bist! Sage, hast du auch mein Hab und Gut in meiner Abwesenheit behütet, und sind meine Waren heil und unversehrt?‹ Ich schwieg und hielt die Augen auf die Brust gesenkt: mein Gesicht brannte vor Scham wie Feuer. Er aber fuhr fort: ›Nähmest du mir doch alles, du Stürmische, Unersättliche, und versprächest mir dafür, meine kostbare Perle zu hegen und zu pflegen! So sprich doch wenigstens ein Wörtchen, schönes Mädchen; strahle im Sturm wie die Sonne; verscheuche mit deinem Lichte die dunkle Nacht!‹ So sprach er und lächelte dabei; sein Herz brannte nach mir; aber ich konnte vor Scham sein Lächeln gar nicht ertragen; ich wollte ein Wort sagen, aber der Mut sank mir, und ich schwieg. ›Nun, wohlan, sei es so!‹ antwortete er auf meine ängstlichen Gedanken; er sprach wie in Traurigkeit, als ob ihn selbst eine Traurigkeit überkäme. ›Gewiß, mit Gewalt ist da nichts zu erreichen. Gott verzeihe es dir, du Stolze, du mein Täubchen, du schönes Mädchen! Dein Haß gegen mich ist offenbar groß, oder ich bin deinen hellen Augen kein wohlgefälliger Anblick.‹ Ich hörte das, und ein Ingrimm faßte mich, ein Ingrimm mit Liebe; ich bezwang mein Herz und sagte: ›Ob du mir lieb oder unlieb bist, das kann ich nicht wissen; wohl aber weiß das gewiß eine andere, eine Unvernünftige, Schamlose, die es fertig gebracht hat, ihr Mädchenstübchen in dunkler Nacht zu entweihen, ihre Seele für eine Todsünde zu verkaufen und ihr unsinniges Herz nicht zu beherrschen; und das wissen gewiß auch meine heißen Tränen und auch derjenige, der wie ein Räuber auf fremdes Unglück stolz ist und über ein Mädchenherz spottet!‹ So sprach ich; aber ich konnte mich nicht mehr halten und brach in Tränen aus … Er schwieg eine Weile und sah mich mit einem solchen Blicke an, daß ich wie Espenlaub zitterte.

›Höre, schönes Mädchen,‹ sagte er, und seine Augen brannten seltsam, ›was ich dir jetzt sagen werde, ist kein leeres Gerede, sondern ein heiliges Versprechen, das ich dir gebe: so lange du mir Glück schenken wirst, so lange werde ich dein Herr bleiben; aber wenn du einmal aufhören solltest, mich zu lieben, dann gib dir nicht die Mühe zu sprechen und ein Wort zu sagen, sondern du brauchst nur deine Zobelbrauen zusammenzuziehen, einen kurzen Blick aus deinen dunkeln Augen zu werfen, den kleinen Finger zu bewegen, und ich werde dir deine Liebe mitsamt der goldenen Freiheit zurückgeben; nur wird das, du meine stolze, grausame Schöne, zugleich auch das Ende meines Lebens sein!‹ Da lächelte meine ganze sinnliche Natur über seine Worte.«

Hier unterbrach Katerina in tiefer Erregung ihre Erzählung; sie holte Atem, lächelte, von einem neuen Gedanken erfüllt, und wollte schon wieder fortfahren, als plötzlich ihr funkelnder Blick dem flammenden, starr auf sie gerichteten Blick Ordynows begegnete. Sie fuhr zusammen und wollte etwas sagen; aber das Blut stieg ihr ins Gesicht. Wie bewußtlos schlug sie die Hände vor die Augen und warf sich vornüber auf das Kissen. Ordynows ganzes Inneres war heftig erschüttert! Ein qualvolles Gefühl, eine gewaltige, unerträgliche Empörung hatte sich wie Gift durch alle seine Adern ergossen und war mit jedem Worte von Katerinas Erzählung gewachsen: ein unhemmbares Verlangen, eine gierige, unwiderstehliche Leidenschaft überwältigte sein ganzes Denken und peinigte sein Empfinden. Aber zugleich preßte ihm eine drückende, unendliche Traurigkeit immer mehr und mehr das Herz zusammen. Mitunter hatte er der Erzählerin zurufen wollen, sie möge schweigen, hatte sich ihr zu Füßen werfen und sie unter Tränen anflehen wollen, ihm seine früheren Liebesqualen, sein früheres, gewaltiges, reines Verlangen wiederzugeben, und er hatte sich seine längst schon getrockneten Tränen zurückgewünscht. Das Herz tat ihm weh; in schmerzhaftem Grade mit Blut überfüllt, gab es seiner wunden Seele keine Tränen. Er verstand nicht, was Katerina zu ihm sagte, und seine Liebe erschrak vor dem Gefühle, von dem das junge Weib in Aufregung versetzt wurde. Er verfluchte in diesem Augenblicke seine Leidenschaft, die ihn erstickte und marterte, und hatte eine Empfindung, als ob statt des Blutes geschmolzenes Blei durch seine Adern flösse.

»Ach, mein Leid besteht nicht in dem, was ich dir jetzt erzählt habe,« sagte Katerina, indem sie plötzlich den Kopf in die Höhe hob; »nicht darin besteht mein Leid,« fuhr sie mit einer Stimme fort, die von einem neuen, überraschenden Gefühle wie Erz klang, während ihre ganze Seele von verborgenen Tränen schluchzte, die keinen Ausgang fanden; »nicht darin besteht mein Leid, meine Qual, meine Sorge! Was liegt mir an meiner Mutter, wiewohl ich auf der ganzen Welt keine andere Mutter erlangen kann! Was liegt mir daran, daß sie mich in ihrer schweren, letzten Stunde verflucht hat! Was liegt mir an meinem früheren goldenen Leben, an meinem traulichen Mädchenstübchen, an meiner Mädchenfreiheit! Was liegt mir daran, daß ich mich dem Bösen verkauft, meine Seele dem Verderber hingegeben und, um glücklich zu werden, eine ewige Sünde auf mich geladen habe! Ach, nicht darin besteht mein Leid, wiewohl auch das einen großen Teil meines Verderbens bildet! Sondern das ist mein Leid und zerreißt mir das Herz, daß ich seine schmähliche Sklavin bin, daß meine Schande und Schmach mir Schamlosen selbst lieb sind, daß mein gieriges Herz sogar gern von seinem Leide redet, als ob dieses eine Freude und ein Glück wäre – darin besteht mein Leid, daß meinem Herzen alle Kraft fehlt und es keinen Zorn über die ihm angetane Schmach aufbringt! …«

Die Brust des armen Weibes hatte keine Luft mehr, und ein krampfhaftes, hysterisches Schluchzen unterbrach ihre Worte. Ihr heißer, stoßweise gehender Atem versengte ihre Lippen; ihre Brust hob und senkte sich heftig, und ihre Augen funkelten in unbeschreiblicher Empörung. Aber ein so zauberhafter Reiz überzog in diesem Augenblicke ihr Gesicht, jede Linie, jeder Muskel desselben erbebte in einem so leidenschaftlichen Strome von Gefühl, in einer so unsäglichen, unerhörten Schönheit, daß in Ordynows Brust jeder schwarze Gedanke erlosch und eine stille, reine Traurigkeit an seine Stelle trat. Sein Herz begehrte, sich an ihr Herz zu drücken und leidenschaftlich in sinnloser Erregung sich und alles ringsum zu vergessen, im gleichen Takte stürmischer Leidenschaft zu pochen und, wenn's sein mußte, mit ihm zusammen zu sterben. Katerina begegnete dem irren Blicke Ordynows und lächelte so, daß ein verdoppelter Feuerstrom sein Herz überflutete. Er wußte kaum von sich selbst.

»Habe Mitleid mit mir, schone mich!« flüsterte er ihr zu, indem er seine zitternde Stimme dämpfte, sich zu ihr hinbog, sich mit dem Arm auf ihre Schulter lehnte und ihr aus größter Nähe, so daß sein Atem und der ihrige in eins zusammenflossen, in die Augen sah; »du hast mich zugrunde gerichtet! Ich kenne dein Leid nicht, und meine Seele ist verwirrt … Was kümmert es mich, worüber dein Herz weint! Sage, was du begehrst; ich werde es tun. Komm mit mir, komm mit mir; töte mich nicht, bring mich nicht um! …«

Katerina blickte ihn an, ohne sich zu rühren; die Tränen waren auf ihren heißen Wangen vertrocknet. Sie wollte ihn unterbrechen, seine Hand ergreifen, wollte selbst etwas sagen, schien aber keine Worte finden zu können. Ein seltsames Lächeln erschien langsam auf ihren Lippen, als ob ein Lachen durch dieses Lächeln hindurchbrechen wollte.

»Ich habe dir noch nicht alles erzählt«, sagte sie endlich mit stockender Stimme. »Ich werde weitererzählen; aber wirst du mir auch zuhören, du heißes Herz? Höre deiner Schwester zu! Du weißt noch wenig von ihrem schrecklichen Leide! Ich wollte dir eigentlich erzählen, wie ich mit ihm ein Jahr lang gelebt habe; aber ich werde es nicht tun … Aber als das Jahr vergangen war, da zog er mit seinen Handelsgenossen stromabwärts, und ich blieb bei seiner Pflegemutter in einem Hause am Hafen zurück, um auf seine Rückkehr zu warten. Ich wartete einen Monat und noch einen Monat, und da begegnete ich in der Stadt einem jungen Kaufmann, sah ihn an und erinnerte mich meiner früheren goldenen Jahre. ›Liebes Schwesterchen!‹ sagte er nach ein paar Worten der Begrüßung, ›ich bin Alexei, der dir zum Bräutigam bestimmt war; die Eltern hatten uns als Kinder miteinander verlobt; du hast mich wohl vergessen; erinnere dich doch, ich bin aus eurem Orte! …‹ ›Was reden denn in eurem Orte die Leute von mir?‹ fragte ich. ›Die Leute sagen,‹ antwortete Alexei lachend, ›du seiest in einer unehrenhaften Weise weggegangen; du hattest die mädchenhafte Scham vergessen und dich einem Räuber und Mörder hingegeben.‹ ›Und du, was hast du von mir gesagt?‹ ›Ich wollte dir vieles sagen, als ich hierher fuhr,‹ erwiderte er und wurde dabei verlegen, ›vieles wollte ich dir sagen; aber jetzt, wo ich dich gesehen habe, ist meine Seele wie erstorben; du hast mich zugrunde gerichtet!‹ sagte er. ›Kaufe doch auch meine Seele; nimm sie hin; meinetwegen spotte über mein Herz und über meine Liebe, du schönes Mädchen! Meine Eltern sind jetzt gestorben; ich bin mein eigener Herr, und auch meine Seele ist mein Eigentum, gehört keinem Fremden; ich habe sie niemandem verkauft, wie das eine andere getan hat, die ihr Andenken ausgelöscht hat. Aber du brauchst mein Herz gar nicht erst zu kaufen; ich gebe es dir umsonst; da machst du offenbar ein gutes Geschäft!‹ Ich lachte, und er sagte so etwas nicht nur einmal, sondern oft zu mir; einen ganzen Monat lang blieb er am Orte, kümmerte sich nicht um seine Waren, entließ seine Leute und stand ganz vereinsamt da. Er tat mir leid, der Arme, mit seinen Tränen. Da sagte ich eines Morgens zu ihm: ›Erwarte mich, Alexei, wenn es dunkel wird, unten am Hafen; wir wollen zusammen nach deinem Orte fahren! Ich bin meines unglücklichen Lebens überdrüssig geworden!‹ Als die Nacht kam, machte ich mir ein Bündel zurecht; mein Herz bangte und hüpfte vor Freude. Da trat auf einmal ganz unerwartet und überraschend mein Hausherr ins Zimmer. ›Guten Abend!‹ sagte er. ›Komm mit; auf dem Flusse wird es Sturm geben; wir müssen uns eilen.‹ Ich folgte ihm; wir kamen zum Flusse; aber bis zu unseren Leuten war es weit zu fahren. Da erblickten wir einen Kahn, und darin saß ein uns bekannter Ruderer, als ob er auf jemand wartete. ›Guten Abend, Alexei; Gott helfe dir! Nun? Hast du dich im Hafen verspätet und willst jetzt noch schnell zu deinen Schiffen? Fahre mich und meine Hausfrau zu unsern Leuten nach unserm Orte, guter Freund; ich habe meinen Kahn nicht zur Stelle, und hinschwimmen kann ich nicht.‹ ›Steig ein!‹ sagte Alexei, und mir tat das ganze Herz weh, als ich seine Stimme hörte. ›Steig ein mit deiner Hausfrau! Der Wind ist für alle da, und in meinem Boote wird auch für euch Platz sein.‹ Wir stiegen ein; es war eine dunkle Nacht; die Sterne hatten sich versteckt; der Wind heulte; die Wellen gingen hoch; wir waren schon etwa eine Werst weit vom Ufer weggefahren. Wir schwiegen alle drei.

›Ist das einmal ein Sturm!‹ sagte mein Hausherr; ›der kann Unheil bringen! Einen solchen Sturm habe ich mein Lebtag noch nicht auf dem Flusse durchgemacht. Wie er jetzt wütet! Unser Kahn ist zu schwer beladen! Drei Personen kann er nicht tragen!‹ ›Nein, soviel kann er nicht tragen«, antwortete Alexei; ›einer von uns ist zuviel‹, sagte er, und seine Stimme zitterte dabei wie eine Saite. ›Nun, wie ist's, Alexei? Ich habe dich von deiner Kindheit an gekannt, habe mit deinem Vater Brüderschaft geschlossen, und wir haben Brot und Salz zusammen gegessen; sage mir, Alexei, würdest du ohne Kahn ans Ufer gelangen können, oder würdest du untergehen und dein Leben verlieren?‹ ›Ich würde nicht hinkommen!‹ ›Aber, lieber Freund, wenn das Glück gut ist, würdest du am Ende doch hinkommen, wenn du auch vielleicht ein paarmal Wasser schlucktest?‹ ›Nein, ich würde nicht hinkommen; es wäre ein sicherer Tod; gegen den stürmischen Fluß kann ich nichts machen!‹ ›So höre nun auch du jetzt, liebe Katerina, du meine kostbare Perle! Ich erinnere mich an eine ebensolche Nacht; nur wogten damals nicht die Wellen, die Sterne glänzten, und der Mond schien. Ich möchte dich also ganz einfach fragen, ob du diese Nacht nicht vergessen hast?‹ ›Nein, ich erinnere mich‹, sagte ich. ›Nun, wenn du sie nicht vergessen hast, dann wirst du auch die Verabredung nicht vergessen haben, wie ein kühner Mann ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit von dem Ungeliebten zurückzugewinnen, nicht wahr?‹ ›Nein, ich habe auch das nicht vergessen‹, sagte ich; aber ich war mehr tot als lebendig.

›Sieh an, du hast es nicht vergessen! Also jetzt ist der Kahn mit uns zu schwer beladen; ob da nicht jemandes Stunde gekommen ist? Sprich, meine Beste, sprich, mein Täubchen, girre uns ein freundliches Wort! …‹

Ich habe damals dieses Wort nicht gesprochen!« flüsterte Katerina erblassend … Sie brachte ihre Erzählung nicht zu Ende.

»Katerina!« erscholl nahe bei ihnen eine dumpfe, heisere Stimme. Ordynow fuhr zusammen. In der Tür stand Murin. Er war notdürftig in die Pelzdecke gehüllt, blaß wie der Tod und sah die beiden mit einem beinah irrsinnigen Blicke an. Katerina wurde blasser und blasser und blickte ebenfalls starr, wie bezaubert, nach ihm hin.

»Komm zu mir, Katerina!« flüsterte der Kranke mit kaum hörbarer Stimme und verließ das Zimmer. Katerina schaute immer noch unverwandt in die leere Luft, als ob der Alte noch vor ihr stände. Aber plötzlich überzog glühende Röte ihre blassen Wangen, und sie richtete sich langsam vom Bette auf. Ordynow erinnerte sich an ihr erstes Zusammensein.

»Also auf morgen, ihr meine Tränen!« sagte sie mit einem seltsamen Lächeln, »auf morgen! Vergiß nicht, wo ich stehen geblieben bin: ›Wähle von uns beiden, wer dir lieb oder nicht lieb ist, schönes Mädchen!‹ Wirst du es behalten und eine Nacht warten?« wiederholte sie, indem sie ihm ihre Hände auf die Schultern legte und ihn zärtlich anblickte.

»Katerina, geh nicht hin, stürze dich nicht ins Verderben! Er ist wahnsinnig!« flüsterte Ordynow, der um sie zitterte.

»Katerina!« ertönte die Stimme hinter der Scheidewand.

»Was hast du denn? Meinst du, er wird mich ermorden?« antwortete Katerina lachend. »Gute Nacht also, mein liebes Herz, mein Teuerster, mein Bruder!« sagte sie und drückte seinen Kopf zärtlich an ihre Brust, während Tränen plötzlich ihr Gesicht benetzten. »Das sind die letzten Tränen. Verschlafe dein Leid, mein Liebster; morgen wirst du zur Freude erwachen.« Sie küßte ihn leidenschaftlich.

»Katerina! Katerina!« flüsterte Ordynow; er fiel vor ihr auf die Knie und suchte sie zurückzuhalten. »Katerina!«

Sie wandte sich noch einmal nach ihm zurück, nickte ihm lächelnd zu und verließ das Zimmer. Ordynow hörte, wie sie bei Murin eintrat; er hielt den Atem an und horchte, vermochte aber keinen Laut mehr zu vernehmen. Der Alte schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos … Er wollte zu ihr in das andere Zimmer gehen; aber die Beine schwankten ihm … Er wurde ganz schwach und mußte sich auf das Bett setzen …

 

II

Als er wieder zum Bewußtsein gelangte, konnte er lange nicht darüber ins klare kommen, welche Tageszeit es war. Es mochte Morgendämmerung oder Abenddämmerung sein: im Zimmer war es jedenfalls ganz dunkel. Er vermochte sich nicht darüber Rechenschaft zu geben, wie lange er eigentlich geschlafen hatte; aber er fühlte, daß es eine krankhafte Art von Schlaf gewesen war. Sobald er zu sich gekommen war, fuhr er mit der Hand über das Gesicht, wie wenn er den Schlaf und die nächtlichen Traumbilder zu verscheuchen suchte. Aber als er auf den Fußboden treten wollte, da fühlte er sich am ganzen Leibe wie zerschlagen, und die entkräfteten Glieder weigerten sich, ihm zu gehorchen. Der Kopf tat ihm weh und war schwindlig, und über den ganzen Körper lief ihm bald ein leises Zittern, bald eine glühende Hitze. Zugleich mit dem Bewußtsein war ihm auch das Gedächtnis zurückgekehrt, und sein Herz zuckte zusammen, als er in einem Augenblicke die ganze vorige Nacht noch einmal in der Erinnerung durchlebte. Sein Herz begann in Erwiderung auf diese Gedanken so stark zu pochen, und seine Empfindungen waren so heiß und frisch, als ob seit Katerinas Fortgehen nicht eine Nacht, nicht lange Stunden, sondern nur eine einzige Minute vergangen wäre. Er fühlte, daß seine Augen noch nicht trocken von Tränen waren, – oder entströmten seiner glühenden Seele neue, frische Tränen wie ein Quell? Und wunderbar: seine Qualen waren ihm sogar süß, obgleich er mit seinem ganzen Wesen dumpf fühlte, daß er eine solche Überanstrengung nicht mehr ertragen könne. Es gab einen Augenblick, wo er fast zu sterben meinte und bereit war, den Tod als einen willkommenen Gast zu empfangen; seine Nerven waren dermaßen gespannt, seine Leidenschaft wallte nach dem Erwachen von neuem so stürmisch auf, und ein solches Entzücken erfüllte seine Seele, daß sein Leben, durch die gesteigerte Tätigkeit beschleunigt, nahe daran war aufzuhören, zusammenzubrechen, sofort zu vergehen und für immer zu erlöschen. Fast in demselben Augenblicke ertönte im Nebenzimmer eine Stimme, als wollte sie seinem zitternden Herzen auf seinen Kummer antworten, eine Stimme, die ihm so wohlbekannt war, wie der Seele des Menschen jene innere Musik in Stunden höchster Lebensfreude und ungestörten Glückes bekannt ist, Katerinas volle, silberhelle Stimme. Ganz nahe bei ihm, fast am Kopfende seines Bettes, erklang ein Lied, anfangs leise und traurig. Bald hob sich die Stimme, bald senkte sie sich krampfhaft ersterbend, wie wenn sie allmählich dahinschwände und die unruhige Qual des unersättlichen, unterdrückten, tief im sehnenden Herzen verborgenen Verlangens einlullen wollte; bald strömte sie wieder dahin wie Nachtigallengeschmetter und ergoß sich zitternd, von unhemmbarer Leidenschaft flammend, in ein ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer mächtiger, endloser Töne, gleich dem ersten Augenblicke der Seligkeit der Liebe. Ordynow unterschied auch die Worte: es waren schlichte, herzliche Worte, die schon vor langer Zeit ein echtes, ruhiges, reines Gefühl in klarer Selbsterkenntnis zusammengefügt hatte. Aber er achtete nicht auf die Worte, er hörte nur auf die Töne hin. Durch die schlichte, naive Melodie des Liedes hindurch glaubte er andere Worte zu vernehmen, Worte, aus denen dasselbe stürmische Verlangen sprach, das seine eigene Brust erfüllte, Worte, in denen die verborgensten, ihm selbst unbekannten Heimlichkeiten seiner Leidenschaft ihren Widerhall fanden. Bald glaubte er das letzte Stöhnen eines rettungslos in seiner Leidenschaft dahinsterbenden Herzens zu vernehmen, bald den Freudenausbruch eines willenskräftigen Geistes, der seine Fesseln sprengt und frisch und frei in das unermeßliche Meer einer erlaubten Liebe hinausstrebt, bald den ersten unter schamhaftem Erröten und Tränen schüchtern geflüsterten Schwur der Geliebten, bald das wilde Begehren einer Bacchantin, die, stolz und ihrer Macht froh, die trunkenen Augen offen und unverhohlen mit hellem Lachen umhergehen läßt …

Ordynow war nicht imstande, bis zum Ende des Liedes still zu liegen; er stand vom Bette auf. Das Lied verstummte sofort.

»Guten Morgen und guten Tag kann man nicht mehr sagen, mein Teurer!« ertönte Katerinas Stimme; »also sage ich dir guten Abend! Steh auf und komm zu uns; erwache zu heller Freude; der Hausherr und ich erwarten dich; wir sind beide gute Menschen und deine ergebenen Diener; lösche den Haß mit Liebe aus, wenn dich dein Herz immer noch von der Kränkung schmerzt. Sprich ein freundliches Wort! …«

Ordynow hatte schon bei ihrem ersten Rufe das Zimmer verlassen und begriff kaum, daß er zu seinen Wirtsleuten ging. Vor ihm öffnete sich die Tür, und hell wie die Sonne strahlte ihm das goldene Lächeln seiner wunderbaren Wirtin entgegen. In diesem Augenblicke sah und hörte er niemanden als sie allein; sein ganzes Leben und seine ganze Freude flossen in seinem Herzen in eins zusammen: in das helle Bild seiner Katerina.

»Eine Morgenröte und eine Abendröte sind vergangen,« sagte sie, indem sie ihm ihre Hände hinreichte, »seit ich von dir Abschied nahm; die Abendröte erlischt jetzt, sieh nur durchs Fenster! Solche Morgen- und Abendröte gibt es auch auf dem Gesichte eines schönen Mädchens,« fuhr Katerina lachend fort, »eine Morgenröte, wenn das jungfräuliche Herz sich zum erstenmal in der Brust kundtut und das Gesicht von der ersten Scham erglüht, und eine Abendröte, wenn das schöne Mädchen die erste Scham vergißt und das neue Gefühl hell aufflammt und ihr die Glut ins Gesicht treibt … Tritt herein, tritt herein in unser Haus, du guter, braver junger Mann! Warum stehst du auf der Schwelle? Ehre und Liebe soll dir zuteil werden und ein Gruß von seiten des Hausherrn!«

Mit einem hellen Lachen, das wie Musik klang, ergriff sie Ordynows Hand und führte ihn ins Zimmer. Eine große Befangenheit bemächtigte sich seiner. Die ganze feurige Glut, die in seiner Brust flammte, sank sofort zusammen und erstarb für einen Augenblick; verwirrt schlug er die Augen nieder und fürchtete sich, Katerina anzusehen. Er fühlte, daß sie so wundervoll schön war, daß sein Herz ihren heißen Blick nicht würde ertragen können. Noch nie hatte er seine Katerina so gesehen. Lachen und Heiterkeit glänzten zum erstenmal auf ihrem Gesichte, und die Tränen der Traurigkeit an ihren schwarzen Wimpern waren verschwunden. Seine Hände zitterten in ihrer Hand. Und hätte er in die Höhe geblickt, so hätte er gesehen, daß Katerina mit einem triumphierenden Lächeln ihre leuchtenden Augen auf sein Gesicht heftete, auf welchem Verwirrung und Leidenschaft wie ein Nebel lagen.

»So steh doch auf, Alter!« sagte sie endlich, als ob sie selbst eben erst zur Besinnung käme; »sage dem Gaste ein höfliches Wort! Ein Gast ist einem so wert wie ein Bruder! So steh doch auf, du unfreundlicher, hochmütiger Alter; steh auf und verbeuge dich; nimm den Gast bei seiner weißen Hand und laß ihn am Tische Platz nehmen!«

Ordynow hob die Augen in die Höhe und schien jetzt erst zu sich zu kommen. Erst jetzt dachte er an Murin. Die Augen des alten Mannes, die wie beim Herannahen des Todes fast erloschen waren, sahen ihn starr an, und mit einer wehen Empfindung im Herzen erinnerte sich Ordynow an jenen Blick, der ihn das letztemal unter den überhängenden, schwarzen, so wie jetzt gramvoll und zornig zusammengezogenen Brauen hervor angeblitzt hatte. Der Kopf war ihm ein wenig schwindlig. Er sah um sich und nahm erst jetzt alles klar und deutlich wahr. Murin lag immer noch auf dem Bette; aber er war fast vollständig angekleidet und schien bereits im Laufe dieses Tages aufgestanden und ausgegangen zu sein. Um den Hals hatte er, wie auch früher, ein rotes Tuch gebunden; an den Füßen hatte er Pantoffeln. Die Krankheit war offenbar vorüber; nur das Gesicht war immer noch furchtbar blaß und gelb. Katerina stand neben dem Bette, stützte sich mit der einen Hand auf den Tisch und blickte die beiden Männer aufmerksam an. Aber das freundliche Lächeln wich nicht von ihrem Gesichte. Es schien, daß alles nach ihrem Winke geschah.

»Ja, das bist du«, sagte Murin, indem er sich auf dem Bette aufrichtete und hinsetzte. »Du bist mein Mieter. Ich habe mich gegen dich vergangen, Herr; ich habe gesündigt und dich versehentlich und ohne Absicht gekränkt, indem ich neulich mit der Flinte Unfug trieb. Wer konnte aber auch wissen, daß du ebenfalls an der fallenden Sucht leidest? Bei mir aber kommt das öfters vor«, fügte er mit heiserer, krankhafter Stimme hinzu, wobei er die Brauen zusammenzog und unwillkürlich seine Augen von Ordynow abwandte. »Wenn Unglück kommt, so klopft es nicht ans Tor, sondern schleicht wie ein Dieb herein! Auch ihr habe ich neulich beinahe das Messer in die Brust gestoßen«, fuhr er, mit dem Kopfe auf Katerina hindeutend, fort. »Ich bin ein kranker Mann und bekomme manchmal meine Anfälle; na, das mag genug gesagt sein für dich. Setz dich; du wirst mein Gast sein.«

Ordynow sah ihn immer noch unverwandt an.

»So setz dich doch, setz dich!« rief der Alte ungeduldig. »Setz dich, da sie es so wünscht! Sieh mal an, ihr habt also Brüderschaft geschlossen und seid nun so gut wie Kinder ein und derselben Mutter! Ihr habt euch liebgewonnen wie Liebesleute!«

Ordynow setzte sich.

»Sieh nur, was das für eine Schwester ist«, fuhr der Alte auflachend fort und zeigte dabei zwei Reihen weißer, ganz vollzähliger Zähne. »So liebkost euch doch, Kinder! Hast du nicht eine hübsche Schwester, Herr? So rede doch, antworte! Da, sieh nur, wie dunkelrot ihr die Wangen glühen! Sprich doch, preise der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, daß dein Herz schmerzlich nach ihr verlangt!«

Ordynow zog die Brauen zusammen und blickte den Alten voll Ingrimm an. Dieser zuckte unter seinem Blicke zusammen. Eine blinde Wut wallte in Ordynows Brust auf. Er fühlte mit einer Art von tierischem Instinkte, daß der Mann da neben ihm sein Todfeind war. Er selbst vermochte nicht zu begreifen, was mit ihm vorging; die Denkkraft versagte ihm den Dienst.

»Sieh mich nicht an!« erscholl eine Stimme hinter ihm.

Ordynow sah sich um.

»Sieh mich nicht an, sieh mich nicht an, sage ich, wenn der Böse dich dazu verführen will; habe Mitleid mit deinem Liebchen!« sagte Katerina lachend und hielt ihm plötzlich von hinten mit den Händen die Augen zu. Aber gleich darauf zog sie ihre Hände wieder zurück und bedeckte ihr eigenes Gesicht mit ihnen. Aber es war, als ob die Röte ihres Gesichtes durch ihre Finger hindurchschimmerte. Sie nahm die Hände wieder herunter und versuchte, obwohl feuerrot, dem erwarteten Gelächter und den neugierigen Blicken der beiden mit heller, unerschrockener Miene zu begegnen. Aber die beiden sahen sie schweigend an: Ordynow mit einer Art von Erstaunen der Liebe, als wenn zum erstenmal eine so gewaltige Schönheit sein Herz ergriffe, der Alte aufmerksam und kalt. Sein blasses Gesicht wies keinerlei besonderen Ausdruck auf; nur hatten die Lippen eine bläuliche Färbung und zitterten leise.

Katerina lachte nicht mehr; sie trat zum Tische, räumte die Bücher, Papiere, das Tintenfaß und was sonst noch auf dem Tische war, ab und stellte alles auf das Fensterbrett. Sie atmete hastig und stoßweise und zog von Zeit zu Zeit gierig die Luft in sich hinein, wie wenn sie Herzbeklemmung hätte. In schwerer Bewegung, wie eine Woge am Gestade, hob und senkte sich wieder ihre volle Brust. Sie schlug die Augen nieder, und ihre pechschwarzen Wimpern glänzten wie spitze Nadeln auf ihren hellen Wangen …

»Ein königliches Weib!« sagte der Alte.

»Meine Herrin und Gebieterin!« flüsterte Ordynow, der mit dem ganzen Leibe zusammenzuckte. Aber er kam zur Besinnung, als er merkte, daß der Blick des Alten auf ihn gerichtet war; dieser Blick funkelte einen Augenblick lang wie ein Blitz: ein gieriger, böser, kalt-verächtlicher Blick.

Ordynow wollte von seinem Platze aufstehen; aber es war ihm, als seien seine Füße durch eine unsichtbare Gewalt angeschmiedet. Er setzte sich von neuem hin. Manchmal drückte er seine eigene Hand zusammen, als glaube er nicht recht an die Wirklichkeit dessen, was er erlebte. Es schien ihm, daß ein schwerer Traum ihn bedrücke und ein krankhafter, qualvoller Schlaf immer noch auf seinen Augen liege. Aber seltsam: er wünschte gar nicht zu erwachen!

Katerina nahm die alte Decke vom Tische ab; dann öffnete sie eine Truhe, holte ein kostbares, ganz mit leuchtender Seide und mit Gold gesticktes Tischtuch hervor und breitete es über den Tisch; hierauf nahm sie aus einem Schranke ein altertümliches, urgroßväterisches, ganz silbernes Bechergestell, stellte es mitten auf den Tisch und entnahm ihm drei silberne Becher, einen für den Hausherrn, einen für den Gast und einen für sich. Dann blickte sie mit ernster, fast schwermütiger Miene den Alten und den Gast an.

»Wer von uns ist einem andern lieb oder verhaßt?« sagte sie. »Wer einem verhaßt ist, der soll mir lieb sein und mit mir einen Becher besonders trinken. Mir ist jeder von euch lieb wie ein naher Verwandter: also wollen wir alle auf die Liebe und auf die Eintracht trinken!«

»Tun wir das, und ertränken wir die schwarzen Gedanken im Weine!« sagte der Alte mit veränderter Stimme. »Gieß ein, Katerina!«

»Soll ich auch dir eingießen?« fragte Katerina, indem sie Ordynow ansah.

Ordynow schob schweigend seinen Becher hin.

»Warte noch! Wenn jemand ein geheimes Begehr hat, dem möge es nach seinem Wunsche in Erfüllung gehen!« sagte der Alte und erhob seinen Becher.

Alle stießen mit den Bechern an und tranken.

»Nun laß mich mit dir zusammen trinken, Alter!« sagte Katerina, sich an den Hausherrn wendend; »laß uns zusammen trinken, wenn dein Herz mir freundlich gesinnt ist! Laß uns auf das zusammen verlebte Glück trinken; gedenken wir dankbar der verlebten Jahre voll Glück und Liebe! Laß mich dir eingießen, wenn dein Herz für mich glüht!«

»Dein Wein ist stark, mein Täubchen; du selbst aber netzest nur deine Lippen!« sagte der Alte lachend und stellte seinen Becher von neuem hin.

»Nun, ich werde nur nippen; aber du trink bis auf den Grund aus! … Was ist das für ein Leben, lieber Alter, wenn man immer die schweren Gedanken mit sich herumschleppt? Von den schweren Gedanken tut einem nur das Herz weh! Die Gedanken kommen vom Kummer, und die Gedanken rufen den Kummer herbei; wer glücklich ist, der hat keine Gedanken! Trink, Alter! Ertränke deine schweren Gedanken!«

»Es muß sich wohl viel Kummer bei dir angefunden haben, wenn du ihm so zu Leibe gehen willst! Du möchtest ihm wohl mit einemmal ein Ende machen, meine weiße Taube. Ich werde mit dir trinken, Katerina! Aber du, Herr, hast du auch einen Kummer, wenn es erlaubt ist zu fragen?«

»Was ich habe, das habe ich still für mich,« flüsterte Ordynow, ohne die Augen von Katerina abzuwenden.

»Hast du es wohl gehört, Alterchen? Auch ich habe mich selbst lange Zeit nicht gekannt und nicht an die Vergangenheit gedacht; aber nun ist die Zeit gekommen, und ich habe alles erkannt und mich an alles erinnert; alles Vergangene habe ich mit unersättlicher Seele noch einmal durchlebt.«

»Ja, es ist bitter, wenn man sich auf die Erinnerung an das Vergangene beschränken muß«, sagte der Alte schwermütig. »Das Vergangene ist wie getrunkener Wein! Was hat man von vergangenem Glücke? Wenn ein Rock abgetragen ist, dann weg mit ihm …«

»Dann muß man sich einen neuen anschaffen!« fiel Katerina ein und lachte gezwungen, während zwei große Tränen, wie Diamanten funkelnd, an ihren Wimpern hingen. »Ein ganzes Leben kann man nicht in einer Minute durchleben, und ein Mädchenherz ist lebenskräftig; dem tut man es nicht so leicht gleich! Hast du das erfahren, Alter? Sieh nur, ich habe in deinen Becher eine Träne hineinfallen lassen!«

»Ist es ein großes Glück gewesen, das du mit Kummer bezahlt hast?« sagte Ordynow, und seine Stimme zitterte vor Erregung.

»Du mußt wohl viel eigenes Glück zu verkaufen haben, Herr« antwortete der Alte, »daß du dich ungefragt einmischst.« Und er kicherte boshaft und unhörbar und blickte Ordynow frech an.

»Das gehört der Vergangenheit an«, antwortete Katerina; ihre Stimme klang unzufrieden und gekränkt. »Dem einen scheint es viel, dem andern wenig. Der eine will alles hingeben und erreicht nichts; ein anderer bietet nichts, und doch folgt ihm ein williges Herz! Aber mache du niemandem einen Vorwurf«, fuhr sie fort, indem sie Ordynow traurig anblickte; »der eine ist ein solcher Mensch und der andre ein andrer; weiß man denn, warum das Herz sich zu jemandem hingezogen fühlt? Fülle deinen Becher, Alter! Trink auf das Glück deines lieben Töchterchens, deiner stillen, gehorsamen Sklavin, wie ich es ursprünglich war, als ich dich kennenlernte. Erhebe deinen Becher!«

»Wohlan, sei es so! Fülle auch den deinen!« sagte der Alte und griff zum Weine.

»Warte noch, Alter! Trink noch nicht; laß mich vorher noch ein Wort sagen …!«

Katerina stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und blickte unverwandt mit Augen, die von Leidenschaft glühten, dem Alten ins Gesicht. Eine seltsame Entschlossenheit glänzte in ihren Augen. Aber alle ihre Bewegungen waren ruhig, ihre Gesten kurz, unerwartet und schnell. Sie schien ganz und gar Feuer und Flamme zu sein, was einen wunderbaren Eindruck machte. Aber es war, als ob ihre Schönheit mit ihrer Erregung und Lebhaftigkeit noch wüchse. Aus ihren lächelnden, halbgeöffneten Lippen, welche zwei Reihen weißer, gleichmäßiger, perlenartiger Zähne sichtbar werden ließen, flog stoßweise der Atem, der ihre Nasenflügel leise hob. Die Brust wogte; ihre im Nacken dreimal herumgewickelte Haarflechte war aus Unachtsamkeit ein wenig auf das linke Ohr gesunken und bedeckte einen Teil der glühenden Wange. Leichter Schweiß war ihr an den Schläfen hervorgedrungen.

»Sage mir wahr, Alter! Sage mir wahr, mein Bester, sage mir wahr, bevor der Wein deinen Verstand trübt; du hast du meine weiße Handfläche! Nicht ohne Grund haben dich ja bei uns die Leute einen Zauberer genannt. Du hast in Büchern studiert und kennst die ganze schwarze Kunst! So sieh denn her, Alterchen, und verkünde mir mein ganzes trauriges Los; nur nimm dich in acht, daß du nicht lügst! Sage mir so, wie du es selbst erkennst: wird deinem Töchterchen Glück zuteil werden, oder wirst du ihr nicht verzeihen und ihr ein böses Unglück auf ihren Weg herabrufen? Sage mir: werde ich ein behagliches Nestchen haben, in dem ich wohnen kann, oder werde ich wie ein Zugvogel mein lebelang als arme Waise bei guten Leuten mir ein Plätzchen suchen müssen? Sage mir: wer ist mein Feind, wer hat Liebe für mich bereit, wer führt Böses gegen mich im Schilde? Sage mir: wird mein junges, heißes Herz lebenslänglich einsam bleiben und vor der Zeit ersticken, oder wird es ein gleiches Herz finden und mit ihm in gleichem Takte freudig schlagen … bis neues Leid kommt? Und sage mir dann gleich auch, Alterchen: in welchem blauen Himmel, jenseits ferner Meere und Wälder, lebt mein heller Falke? Und hält er scharfe Ausschau nach einer Falkin für sich, und wartet er voller Liebe, wird er mich innig lieben, wird er bald aufhören, mich zu lieben, und mich betrügen? Und wenn du einmal dabei bist, dann sage mir zu guter Letzt doch auch das noch, Alterchen: ist es mir bestimmt, noch lange mit dir zusammen zu hausen, in diesem häßlichen Winkel zu sitzen und mit dir die schaurigen Bücher zu lesen? Und wann wird es mir vergönnt sein, Alter, dir mit tiefer Verbeugung Lebewohl zu sagen und dir für deine Gastfreundschaft zu danken, daß du mich gespeist und getränkt und mir Märchen erzählt hast? … Aber sage mir ja die ganze Wahrheit und hüte dich zu lügen! Die Zeit ist gekommen; zeige, daß du ein Mann bist!«

Ihre Lebhaftigkeit steigerte sich bis zum letzten Worte, bei dem ihre Stimme plötzlich vor Erregung abbrach, immer mehr, wie wenn eine Art von Wirbelsturm ihr Herz fortrisse. Ihre Augen funkelten, und ihre Oberlippe zitterte leise. Es war zu merken, daß sich in jedem ihrer Worte ein böser Spott wie eine Schlange verbarg; aber in ihrem Lachen schien ein verhaltenes Weinen zu klingen. Sie bog sich über den Tisch zu dem Alten hin und blickte unverwandt in begieriger Spannung in seine trüben Augen. Ordynow hörte, wie ihr Herz auf einmal heftig zu schlagen begann, als sie zu Ende war; er schrie auf vor Entzücken, als er sie anblickte, und wollte von der Bank aufspringen. Aber ein schneller, kurzer Blick des Alten bannte ihn wieder auf seinen Platz. Eine seltsame Mischung von Verachtung, Spott, ungeduldiger, ärgerlicher Unruhe und zugleich von boshafter, schlauer Neugier funkelte in diesem schnellen, kurzen Blicke, welcher Ordynow jedesmal zusammenfahren ließ und sein Herz jedesmal mit Ingrimm, Ärger und ohnmächtiger Wut erfüllte.

Mit einem nachdenklichen und eigentümlich traurigen, forschenden Blicke sah der Alte seine Katerina an. Sein Herz war tief verwundet; die entscheidenden Worte waren gesprochen. Aber nicht einmal die Augenbrauen bewegten sich in seinem Gesichte! Er lächelte nur, als sie zu Ende war.

»Gar vieles willst du auf einmal erfahren, du mein flügge gewordenes, unternehmungslustiges Vögelchen! Gieß mir recht schnell den Becher voll; wir wollen zuerst auf den guten Willen bei der Trennung trinken; sonst wird mir noch durch jemandes bösen, unreinen Blick mein Wunsch verdorben. Der Böse ist mächtig! Wie leicht ist ein Unglück da!«

Er erhob seinen Becher und trank ihn aus. Je mehr Wein er trank, um so blasser wurde er. Seine Augen wurden rot wie Kohlen. Ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche leichenhaft bläuliche Gesichtsfarbe waren offenbar die Vorboten eines baldigen neuen Krankheitsanfalles. Der Wein war stark, so stark, daß Ordynows Augen von einem einzigen getrunkenen Becher sich immer mehr trübten. Sein fieberhaft entzündetes Blut konnte sich nicht länger halten: es überflutete sein Herz und quälte und verwirrte seine Denkkraft. Seine Unruhe wuchs immer mehr. Er goß sich noch Wein ein und schlürfte davon, ohne selbst zu wissen, was er tat und wodurch er seine zunehmende Aufregung bekämpfen könne, und sein Blut jagte nur noch schneller durch seine Adern. Er war wie im Fieber und vermochte kaum mit Anstrengung all seiner Aufmerksamkeit dem zu folgen, was zwischen seinen seltsamen Wirtsleuten vorging.

Der Alte klopfte mit dem silbernen Becher laut auf den Tisch.

»Gieß ein, Katerina!« rief er; »gieß noch ein, du böses Töchterchen; gieß ein, bis ich umfalle! Bring den Alten zur Ruhe, und dann laß ihn abgetan sein! So ist's recht, gieß noch ein, gieß mir ein, du Schöne! Laß uns zusammen trinken! Warum hast du so wenig getrunken? Meinst du, ich hätte es nicht gesehen?«

Katerina antwortete ihm etwas; aber Ordynow konnte es nicht ordentlich verstehen: der Alte ließ sie nicht zu Ende sprechen; er ergriff sie bei der Hand, als ob er nicht länger imstande sei, all das zurückzuhalten, was ihm die Brust beengte. Sein Gesicht war blaß; die Augen waren bald trübe, bald leuchteten sie wie helles Feuer auf; die bleich gewordenen Lippen zitterten, und mit ungleichmäßiger, unsicherer Stimme, in der mitunter eine seltsame Begeisterung aufblitzte, sagte er zu ihr:

»Gib mir deine Hand, du Schöne! Laß mich dir wahrsagen; ich werde dir die reine Wahrheit verkünden. Ich bin wirklich ein Zauberer; du hast dich nicht geirrt, Katerina! Dein goldenes Herzchen hat die Wahrheit gesagt, daß ich allein ihm seine Zukunft vorherverkünden kann, und ich werde ihm, diesem schlichten, aufrichtigen Herzchen, die Wahrheit nicht verhehlen! Aber eines hast du nicht erkannt: obwohl ich ein Zauberer bin, steht es doch nicht in meiner Macht, dich mit Verstand zu begaben! Der Verstand ist für ein Mädchen nicht das Bestimmende, und wenn sie auch die ganze Wahrheit gehört hat, so handelt sie doch, als ob sie nichts erfahren hätte und nichts wüßte! Ihr eigener Kopf ist eine listige Schlange, mag auch das Herz noch so viel Tränen vergießen! Sie findet selbst ihren Weg, schlüpft kriechend zwischen allem Leid und Unglück hindurch und setzt ihren schlauen Willen durch! Mitunter verhilft ihr der Verstand zum Siege; aber wo das nicht der Fall ist, da betört sie den Mann durch ihre Schönheit und macht mit ihren dunklen Augen seinen Verstand betrunken; Schönheit ist stärker als Kraft, und selbst ein eisernes Herz schmilzt in dieser Glut! Du fragst, ob dir auch Leid und Trübsal bevorsteht? Schwer ist Menschenleid! Aber nicht die schwachen Herzen sucht sich das Unglück aus. Das Unglück wählt sich gern ein starkes Herz, und dieses vergießt dann im stillen blutige Tränen, drängt sich aber nicht anderen Leuten zu vergnüglichem Schauspiele auf: dein Kummer aber, o Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die der Regen verwäscht, die Sonne trocknet, der stürmische Wind verweht! Laß mich dir noch eines sagen und prophezeien: wer dich lieben wird, dessen Sklavin wirst du werden; du wirst selbst deinen freien Willen binden und als Pfand geben, aber nie zurückerhalten; rechtzeitig mit der Liebe aufzuhören wirst du nicht verstehen; du wirst ein Korn legen, und dein Verderber wird es sich als volle Ähre aneignen! Du mein zärtliches Kind, du Goldköpfchen, du hast in meinen Becher eine Tränenperle hereinfallen lassen; aber nach dieser Träne hast du dich doch nicht beherrschen können, sondern ihrer gleich hundert vergossen; du hast schöne Worte gesprochen und dich deines Kummers gerühmt! Aber um das Tränchen, das himmlische Tautröpfchen, brauchst du dich nicht zu grämen! Das wird dir mit Wucherzinsen zurückerstattet werden, dein Tränenperlchen, in langer Nacht, in trübseliger Nacht, wenn schlimmer Gram und böse Gedanken an deinem Herzen nagen werden; dann wird auf dein heißes Herz, zum Entgelt für eben jenes Tränchen, eines anderen Menschen Träne tropfen, aber eine blutige Träne, die nicht bloß warm ist, sondern heiß wie geschmolzenes Blei; und die wird dir deine weiße Brust blutig brennen, und bis zum traurigen, düstern Morgen des regnerischen Tages wirst du dich auf deinem Bettchen umherwälzen und rotes Blut vergießen, und deine frische Wunde wird noch am nächsten Tage nicht geheilt sein! Gieß mir noch ein, Katerina; gieß mir ein, mein Täubchen; gieß mir ein zum Dank für meinen weisen Rat; jetzt aber noch mehr Worte zu verlieren ist zwecklos …«

Seine Stimme wurde schwach und fing an zu zittern: es schien, als wolle ein Schluchzen aus seiner Brust hervorbrechen. Er goß sich Wein ein und trank gierig den neuen Becher aus; dann klopfte er von neuem mit dem Becher auf den Tisch. Sein trüber Blick loderte noch einmal wie eine Flamme auf.

»Ah! Lebe, so gut es geht!« rief er; »was vorbei ist, das ist man los! Gieß mir ein, gieß mir noch ein, reiche mir immer noch einen Becher, damit er mir den unruhigen Kopf von den Schultern werfe und die ganze Seele in Todesschlaf versenke! Bette mich für die lange Nacht ohne einen Morgen; möge mir die Erinnerung völlig schwinden! Was man getrunken hat, das hat man gehabt! Wenn dem Kaufmann die Ware vom langen Liegen verdorben ist, dann gibt er sie umsonst hin! Sonst würde er sie nicht freiwillig unter seinem eigenen Preise verkaufen; da würde das Blut des Feindes fließen, und auch unschuldiges Blut würde vergossen werden, und der Käufer müßte seine verlorene Seele noch zum Kaufpreise dazulegen! Gieß ein, gieß mir noch ein, Katerina!«

Aber seine Hand, die den Becher hielt, schien erstarrt zu sein und bewegte sich nicht; er atmete schwer und mühsam; der Kopf sank ihm unwillkürlich herab. Zum letztenmal richtete er seinen trüben Blick auf Ordynow; aber auch dieser Blick erlosch endlich, und seine Augenlider fielen herab, als ob sie von Blei wären. Eine Totenblässe überzog sein Gesicht. Noch eine Weile bewegten sich seine Lippen und zuckten, als ob sie sich bemühten, etwas zu sagen, – und plötzlich hing eine Träne, eine heiße, große Träne an seinen Wimpern, löste sich los und rollte langsam über seine blasse Wange … Ordynow war nicht imstande, sich länger zu beherrschen. Er stand auf, tat schwankend einen Schritt vorwärts, näherte sich Katerina und ergriff sie bei der Hand; aber sie sah ihn gar nicht an, wie wenn sie ihn nicht bemerke, ihn nicht erkenne …

Sie schien ebenfalls das Bewußtsein verloren zu haben, wie wenn ein einziger Gedanke, eine einzige starre Idee sie vollständig einnähme. Sie warf sich an die Brust des schlafenden alten Mannes, umschlang seinen Hals mit ihrem weißen Arme und sah ihn unverwandt, als ob sie an ihn angeschmiedet wäre, mit einem feurigen, glühenden Blicke an. Sie schien es nicht zu bemerken, daß Ordynow sie bei der Hand ergriff. Endlich wandte sie den Kopf nach ihm hin und richtete einen langen, durchdringenden Blick auf ihn. Sie schien ihn endlich zu verstehen, und ein bedrücktes, erstauntes Lächeln trat mühsam, wie wenn es ihr Schmerz machte, auf ihre Lippen …

»Geh weg, geh weg!« flüsterte sie; »du bist betrunken und ein böser Mensch! Du bist kein Gast für mich!« Damit wandte sie sich von neuem zu dem Alten hin und heftete ihre Augen wieder starr auf ihn.

Sie schien jeden seiner Atemzüge zu bewachen und mit ihrem Blicke den Schlummernden zu streicheln. Es schien, als suche sie das ungestüme Schlagen ihres Herzens niederzuhalten, und als fürchte sie sich selbst zu atmen. Ihr Herz war offenbar von einem so verzückten Wohlgefallen erfüllt, daß Ordynow mit einem Male von Verzweiflung, Wut und rasendem Grimm gepackt wurde …

»Katerina, Katerina!« rief er und drückte ihre Hand wie in einem Schraubstock zusammen.

Eine Empfindung des Schmerzes zog über ihr Gesicht; sie hob den Kopf wieder in die Höhe und sah ihn mit einer so spöttischen, verächtlichen, dreisten Miene an, daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte. Dann wies sie auf den schlafenden Alten hin und schaute Ordynow, als ob aller Spott seines Feindes in ihre Augen übergegangen wäre, wieder mit einem Blicke an, der ihn marterte und zu Eis erstarren ließ.

»Wie? Du meinst, er wird mich ermorden?« sagte Ordynow, der vor Wut nicht von sich selbst wußte.

Es war, als ob ein Dämon ihm ins Ohr flüsterte, daß er sie verstanden habe … Und sein ganzes Herz lachte über diesen festen Glauben Katerinas.

»Ich werde dich deinem Kaufmann abkaufen, meine Schöne, wenn du meine Seele verlangst! Sei unbesorgt, er wird mich nicht ermorden! …«

Das starre Lachen, das auf Ordynows ganzes Wesen so schrecklich wirkte, wich nicht von Katerinas Gesichte. Der grenzenlos spöttische Ausdruck zerriß ihm das Herz. Ohne Besinnung und kaum von sich selbst wissend stützte er sich mit dem einen Arme gegen die Wand und nahm mit dem andern einen dem Alten gehörigen kostbaren, altertümlichen Dolch vom Nagel. Auf Katerinas Gesichte schien sich ein Erstaunen zu malen; aber gleichzeitig kamen in ihren Augen Haß und Verachtung zum ersten Male in solcher Stärke zum Ausdruck. Es wurde Ordynow geraden übel zumute bei ihrem Anblick … Er hatte ein Gefühl, wie wenn eine unbekannte Kraft seine irre Hand zu einer Tat des Wahnsinns in die Höhe risse; er zog den Dolch heraus. Katerina stand regungslos; sie schien kaum mehr zu atmen und folgte ihm mit den Augen …

Er sah nach dem Alten hin.

In diesem Augenblicke kam es ihm vor, als ob das eine Auge des Alten sich langsam öffne und ihn lachend ansehe. Ihre Blicke trafen sich. Lange, lange blickte Ordynow ihn an, ohne sich zu rühren. Auf einmal schien es ihm, daß das ganze Gesicht des Alten lache und schließlich ein teuflisches Gelächter, bei dem das Blut zu Eis erstarrte, im Zimmer ertöne. Ein häßlicher, schwarzer Gedanke kroch wie eine Schlange durch sein Gehirn. Er zitterte; der Dolch entfiel seiner Hand und klirrte auf dem Fußboden. Katerina schrie auf, als sei sie plötzlich aus ihrer Versunkenheit erwacht, von einem Alpdruck, von einem schweren, bedrückenden Traume wieder zu sich gekommen … Der Alte erhob sich mit blassem Gesichte langsam vom Bette und stieß zornig mit dem Fuße den Dolch in eine Ecke des Zimmers; Katerina stand bleich und regungslos wie tot da; ihre Augen waren geschlossen; ein dumpfer, unerträglicher Schmerz prägte sich krampfhaft auf ihrem Gesichte aus; sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und fiel mit einem herzzerreißenden Schrei, fast entseelt, zu den Füßen des Alten hin.

»Alexei! Alexei!« entfuhr es ihrer beengten Brust …

Der Alte umschlang sie mit seinen starken Armen und erdrückte sie fast an seiner Brust. Aber als sie ihren Kopf an seinem Herzen verbarg, da verzog sich jeder Muskel im Gesichte des Alten zu einem so unverhohlenen, schamlosen Lachen, daß Ordynows ganzes Wesen von Entsetzen gepackt wurde. Betrug, Berechnung, kalte, eifersüchtige Tyrannei und eine furchtbare Gewalt über ein armes zerrissenes Herz – das war's, was ihm in diesem schamlosen, unverhüllten Lachen entgegentrat.

»Sie ist eine Wahnsinnige!« flüsterte er. Zitternd wie Espenlaub und halbtot vor Schreck lief er aus dem Zimmer hinaus.

 

III

Mit blassem, aufgeregtem Gesichte öffnete Ordynow, der von den erschütternden Ereignissen des vorhergehenden Tages immer noch nicht recht hatte zur Besinnung kommen können, am andern Morgen um acht Uhr die Tür Jaroslaw Iljitschs, zu dem er, ohne selbst zu wissen warum, gegangen war; aber er prallte erstaunt zurück und blieb wie angenagelt auf der Schwelle stehen: im Zimmer erblickte er Murin. Der Alte war noch blasser als Ordynow und schien sich infolge seiner Krankheit kaum auf den Beinen halten zu können; aber dennoch wollte er sich nicht hinsetzen, trotz aller Aufforderungen von seiten Jaroslaw Iljitschs, der über diesen Besuch ganz glücklich war. Auch bei Ordynows Anblick schrie Jaroslaw Iljitsch erfreut auf; aber fast in demselben Augenblicke verschwand seine Freude, und es überkam ihn plötzlich eine arge Verlegenheit, während er gerade halbwegs zwischen dem Tische und dem nächsten Stuhle war. Er wußte augenscheinlich nicht, was er sagen und tun sollte; er hatte durchaus das richtige Gefühl, daß es unpassend sei, wenn er in einem so drangvollen Augenblicke einen seiner Gäste vernachlässigte und seine Pfeife weiterrauchte; aber dennoch (so groß war seine Verwirrung) sog er aus aller Kraft und sogar mit einer Art von Begeisterung an seiner Pfeife. Endlich trat Ordynow ins Zimmer. Er warf einen flüchtigen Blick auf Murin. Etwas Ähnliches wie das gestrige böse Lächeln, an das Ordynow auch jetzt nicht zurückdenken konnte, ohne zu zittern und in Entrüstung zu geraten, glitt über das Gesicht des Alten hin. Indessen verschwand alle Feindseligkeit sofort wieder, seine Miene glättete sich, und sein Gesicht nahm den Ausdruck der größten Unzugänglichkeit und Verschlossenheit an. Er machte seinem Mieter eine tiefe Verbeugung. Durch diese ganze Szene wurde Ordynow schließlich zur Besinnung gebracht. In dem Wunsche, über die Situation ins klare zu kommen, blickte er Jaroslaw Iljitsch unverwandt an. Dieser geriet in Unruhe und Verlegenheit.

»Treten Sie doch näher, treten Sie doch näher,« sagte er endlich; »treten Sie doch näher, teuerster Wasili Michailowitsch; beehren Sie mich durch Ihren Besuch und drücken Sie all diesen gewöhnlichen Sachen … Ihren Stempel auf! …« sagte Jaroslaw Iljitsch, indem er mit der Hand in eine Ecke des Zimmers zeigte und rot wie eine Zentifolie wurde; er war innerlich in großer Verwirrung, weil ihm seine schöne Phrase so arg mißglückt war; er rückte geräuschvoll einen Stuhl gerade in die Mitte des Zimmers.

»Ich möchte Sie nicht belästigen, Jaroslaw Iljitsch; ich wollte nur … auf zwei Minuten …«

»Aber ich bitte Sie! Als ob Sie mich überhaupt belästigen könnten … Wasili Michailowitsch! Aber … gestatten Sie, daß ich Ihnen ein Glas Tee … Heda! Diener! … Ich bin überzeugt, daß auch Sie noch ein Täßchen Tee nicht ausschlagen werden!«

Murin nickte und gab so zu verstehen, daß er es durchaus nicht ausschlage.

Jaroslaw Iljitsch fuhr den eintretenden Diener an und befahl ihm in sehr strengem Tone, noch drei Gläser Tee zu bringen; dann setzte er sich neben Ordynow. Eine Zeitlang drehte er seinen Kopf wie eine Gipskatze bald nach rechts, bald nach links, von Murin zu Ordynow und von Ordynow zu Murin. Seine Lage war eine sehr unangenehme. Er wollte offenbar gern etwas sagen, was nach seiner Meinung mindestens für die eine Partei sehr peinlich war. Aber trotz all seiner Anstrengungen konnte er schlechterdings kein Wort herausbringen. Ordynow schien ebenfalls ratlos zu sein. Dann kam ein Augenblick, wo sie auf einmal beide zugleich anfingen zu sprechen. Der schweigsame Murin, der sie mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete, zog langsam den Mund auseinander, so daß seine sämtlichen Zähne sichtbar wurden.

»Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,« begann Ordynow auf einmal, »daß ich mich infolge eines sehr unangenehmen Vorfalles genötigt sehe, aus meiner Wohnung auszuziehen, und …«

»Nun sagen Sie mal, so ein sonderbarer Vorfall!« unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch. »Ich muß gestehen, ich war ganz außer mir vor Verwunderung, als dieser achtungswerte alte Mann mir heute früh von Ihrem Entschlusse Mitteilung machte. Aber …«

»Er, er hat Ihnen davon Mitteilung gemacht?« fragte Ordynow erstaunt und sah Murin an.

Murin strich sich den Bart glatt und lachte in seinen Rockärmel hinein.

»Ja, allerdings,« erwiderte Jaroslaw Iljitsch; »übrigens kann ich mich auch irren. Aber so viel kann ich dreist sagen, daß (darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort), daß in den Worten dieses achtungswerten alten Mannes nichts lag, was für Sie auch nur im entferntesten kränkend sein könnte …«

Bei diesen Worten errötete Jaroslaw Iljitsch und unterdrückte mit übermäßiger Anstrengung seine Erregung. Murin, der sich nun endlich genug an der Verwirrung des Wirtes und des andern Geistes geweidet zu haben schien, tat einen Schritt vorwärts.

»Euer Wohlgeboren,« begann er, sich höflich vor Ordynow verbeugend, »ich habe in Ihrer Angelegenheit Seine Wohlgeboren ein wenig zu belästigen gewagt. Hm, ja, gnädiger Herr, es steht nun einmal so … Sie wissen selbst … ich und meine Hausfrau, das heißt, wir würden uns von Herzen freuen und kein Wort zu sagen wagen … aber was habe ich für eine elende Wohnung, Sie wissen es ja selbst, haben es selbst gesehen, gnädiger Herr! Und dann, wirklich, nur daß uns Gott unser bißchen Hab und Gut behütet, wofür wir auch Seinen heiligen Namen im Gebete preisen; aber Sie haben das ja alles selbst gesehen, gnädiger Herr; was soll ich da erst noch viel jammern?« Hier strich sich Murin wieder mit dem Ärmel den Bart.

Ordynow empfand fast ein Gefühl der Übelkeit.

»Ja, ja, ich habe ja selbst schon mit Ihnen von ihm gesprochen,« sagte Jaroslaw Iljitsch. »Er ist krank, das heißt dieses Malheur …, das heißt, ich wollte mich eigentlich französisch ausdrücken; aber, entschuldigen Sie, ich kann mich auf französisch nicht so frei … das heißt …«

»Jawohl …«

»Jawohl, das heißt …«

Ordynow und Jaroslaw Iljitsch machten einander eine halbe Verbeugung, jeder von seinem Stuhle aus und etwas nach der Seite hin, und beide verdeckten die entstandene Verlegenheit durch ein entschuldigendes Lachen. Der praktische Jaroslaw Iljitsch brachte die Sache sofort wieder in Ordnung.

»Ich habe diesen achtungswerten Mann übrigens eingehend befragt«, begann er; »er hat mir gesagt, daß die Krankheit jener weiblichen Person …«

Hier richtete der peinlich genaue Jaroslaw Iljitsch, wahrscheinlich um eine kleine Verlegenheit zu verbergen, die wieder auf seinem Gesichte sichtbar wurde, schnell einen fragenden Blick auf Murin.

»Ja, die Krankheit meiner Hausfrau …« schaltete Murin ein.

Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch ließ sich auf diesen Punkt weiter nicht ein.

»Die Krankheit der Hausfrau, das heißt Ihrer bisherigen Wirtin … ich möchte gewissermaßen … wirklich … nun ja! Sehen Sie, sie ist eine kranke Person. Sie sagt, sie störe Sie… in Ihren Studien, und auch er selbst … übrigens haben Sie mir einen wichtigen Vorfall verschwiegen, Wasili Michailowitsch!«

»Welchen Vorfall denn?«

»Den Vorfall mit der Flinte«, sagte Jaroslaw Iljitsch beinah flüsternd im liebenswürdigsten Tone, und in seiner freundschaftlichen Tenorstimme klang dabei der millionste Teil eines leisen Vorwurfes mit. »Aber«, fügte er eilig hinzu, »ich weiß alles; er hat mir alles erzählt, und es war sehr edel von Ihnen, ihm das Vergehen zu verzeihen, das er sich unwillkürlich gegen Sie hat zuschulden kommen lassen. Ich versichere Sie, ich habe Tränen in seinen Augen gesehen!«

Jaroslaw Iljitsch errötete von neuem; seine Augen glänzten, und er drehte sich gefühlvoll auf seinem Stuhle hin und her.

»Euer Wohlgeboren, ich, das heißt wir, gnädiger Herr, das heißt ich, sozusagen, und meine Hausfrau, wir senden heiße Gebete für Sie zu Gott empor«, begann Murin, sich an Ordynow wendend und diesen unverwandt anblickend, während Jaroslaw Iljitsch seiner Aufregung Herr zu werden suchte. »Aber Sie wissen selbst, gnädiger Herr, sie ist ein kränkliches, dummes Weib; und mich selbst tragen kaum meine Beine …«

»Aber ich bin ja bereit auszuziehen«, sagte Ordynow ungeduldig; »bitte, reden Sie doch nicht erst noch lange; meinetwegen will ich es gleich tun! …«

»Nicht doch, das heißt, gnädiger Herr, wir sind ja mit Euer Gnaden höchst zufrieden« (Murin verbeugte sich sehr tief). »So meinte ich es nicht, gnädiger Herr; ich wollte nur ein Wörtchen sagen: sie ist beinahe mit mir verwandt, gnädiger Herr, das heißt entfernt verwandt, wie man zu sagen pflegt, das siebente Wasser, das heißt, nehmen Sie mir meine Ausdrucksweise nicht übel, gnädiger Herr, ich bin ein ungebildeter Mann … und sie ist schon von klein auf so gewesen! Ihr Kopf ist krank und hitzig; sie ist im Walde aufgewachsen, in bäuerischer Weise, immer bei den Schiffsknechten und Fabrikarbeitern; und dann brannte ihnen das Haus ab; und ihre Mutter, gnädiger Herr, verbrannte; und ihr Vater verlor auch das Leben … da mag sie Ihnen wohl wer weiß was davon erzählt haben … Ich verstehe ja von ihrer Krankheit nichts; aber in Moskau haben mehrere Phy-Psychi-Psychiater sie untersucht … das heißt, gnädiger Herr, sie ist ganz kaputt; so steht es! Ich bin der einzige, den sie noch auf der Welt hat; mit mir lebt sie zusammen. So leben wir denn und beten zu Gott und hoffen auf die Hilfe des Allerhöchsten; ich widerspreche der Kranken schon gar nicht mehr …«

Ordynows Gesicht sah ganz entstellt aus. Jaroslaw Iljitsch blickte bald den einen, bald den andern an.

»So meinte ich es nicht, gnädiger Herr … nein!« verbesserte sich Murin, ernst den Kopf schüttelnd; »sie ist sozusagen wie eine Wetterfahne, wie ein Wirbelwind; ihr Kopf ist so verliebt, so hitzig; immer möchte sie einen Geliebten haben, wenn es mir erlaubt ist, das zu sagen; immer soll man ihr einen Liebhaber für ihr Herz geben; darin besteht eben ihre geistige Störung. Ich unterhalte sie nun mit Märchen; jedoch ist das nur eine schwache Unterhaltung. Aber ich habe ja nun gesehen, gnädiger Herr, wie sie – verzeihen Sie schon meine plumpe Ausdrucksweise, gnädiger Herr,« fuhr Murin fort, indem er sich verbeugte und mit dem Ärmel über den Bart strich –, »wie sie zum Beispiel mit Ihnen bekannt wurde; das heißt, sozusagen, Sie, Euer Erlaucht, wünschten, was Liebe betrifft, ihr näherzukommen …«

Jaroslaw Iljitsch wurde dunkelrot und blickte Murin vorwurfsvoll an. Ordynow konnte kaum auf seinem Stuhle ruhig sitzen.

»Nein … das heißt, gnädiger Herr, so meinte ich es nicht; ich bin ein einfacher Bauer, gnädiger Herr; Sie sind mein Gebieter … wahrhaftig, wir sind ungebildete Leute; wir sind Ihre Diener, gnädiger Herr«, sagte er mit tiefen Verbeugungen. »Ich und meine Frau werden für Euer Gnaden heiße Gebete zu Gott emporsenden! Was wollen wir mehr? Wenn wir nur satt zu essen haben und gesund sind, dann murren wir nicht. Aber ich, gnädiger Herr, was soll ich machen, soll ich etwa den Kopf in die Schlinge stecken, ja? Sie wissen ja selbst, gnädiger Herr, wie es in der Welt zugeht; haben Sie Mitleid mit uns; das würde ja gerade so sein wie mit einem Liebhaber, gnädiger Herr! Verzeihen Sie mir meine plumpe Redeweise, gnädiger Herr … ich bin ein Bauer, gnädiger Herr, und Sie sind ein vornehmer Herr … Sie, gnädiger Herr, Euer Erlaucht, sind ein junger, stolzer, heißblütiger Mensch; sie aber, gnädiger Herr, ist, wie Sie selbst wissen, ein kleines, unverständiges Kind … wie leicht kann ihr da ein Unglück zustoßen! Sie ist ein frisches, rotbackiges, liebliches Weib; mich alten Mann aber plagt immer meine Krankheit. Was ist da zu sagen? Der Böse hat Euer Gnaden offenbar schon umgarnt! Ich unterhalte sie immer durch Märchen; wahrhaftig, das tue ich. Aber ich und meine Frau würden für Euer Gnaden heiße Gebete zu Gott emporsenden! Das heißt heiße Gebete! Und was haben Euer Erlaucht auch an ihr? Wenn sie auch ganz nett ist, so ist sie doch eine Bäuerin, ein unfeines Weib, eine dumme Bäuerin, die zu mir, dem Bauern, paßt! Für Sie, gnädiger Herr, paßt es sich doch nicht, sich mit Bäuerinnen abzugeben! Und heiße Gebete würden wir beide für Euer Gnaden zu Gott emporsenden, heiße Gebete! …«

Bei diesen letzten Worten verbeugte sich Murin ganz tief und machte lange den Rücken nicht wieder gerade, wobei er sich fortwährend mit dem Rockärmel den Bart strich.

Jaroslaw Iljitsch fühlte sich durch die ganze Szene überaus peinlich berührt.

»Ja, dieser brave Mann«, bemerkte er in der größten Verlegenheit, »hat mir von gewissen Mißhelligkeiten gesagt, die zwischen Ihnen beständen; ich wage es nicht zu glauben, Wasili Michailowitsch … Ich hörte, Sie seien immer noch krank?« unterbrach er sich schnell, indem er Ordynow in grenzenloser Verwirrung mit Augen ansah, in denen vor Erregung die Tränen standen.

»Ja, also … wieviel bin ich Ihnen schuldig?« fragte Ordynow schnell Murin.

»Aber was reden Sie da, gnädiger Herr? Sagen Sie doch so etwas nicht! Wir sind ja doch keine Judasse. Warum kränken Sie uns so, gnädiger Herr? Sie sollten sich schämen, gnädiger Herr! Was haben wir, meine Gattin und ich, Ihnen zuleide getan? Ich bitte Sie!«

»Aber das ist doch sonderbar, mein Freund; der Herr hat doch bei Ihnen eine Wohnung gemietet; fühlen Sie denn nicht, daß Sie ihn durch Ihre Weigerung verletzen?« mischte sich Jaroslaw Iljitsch ein, der es für seine Pflicht hielt, Murin darauf hinzuweisen, daß sein Verhalten sonderbar und unpassend sei.

»Aber ich bitte Sie, gnädiger Herr! Was sagen Sie nur da, gnädiger Herr? Ich bitte Sie! Wodurch hätten wir denn Ihre Ehre verletzt? Wir haben uns ja doch solche Mühe gegeben, solche Mühe gegeben, ordentlich über unsere Kraft; ich bitte Sie! Reden Sie doch so etwas nicht, gnädiger Herr; Christus möge es Ihnen verzeihen! Sind wir denn etwa Ungläubige? Sie hätten ja ruhig bei uns wohnen und unsere bäuerische Kost mit uns zur Gesundheit verzehren können; wir hätten nichts gesagt, kein Wort hätten wir gesagt; aber der Böse hat Sie umgarnt; ich bin ein kranker Mensch, und meine Frau ist auch krank – was ist da zu machen! Es würde niemand zu Ihrer Bedienung da sein; sonst würden wir uns ja freuen, uns von Herzen freuen. Aber ich und meine Hausfrau werden für Euer Gnaden heiße Gebete zu Gott emporsenden, wirklich, heiße Gebete!«

Murin verbeugte sich tief. Dem guten Jaroslaw Iljitsch drangen vor Entzücken die Tränen aus den Augen, und er blickte Ordynow mit einem wahren Enthusiasmus an.

»Sagen Sie nur, was ist das für ein edler Charakterzug! Welch ein heiliges Gefühl für Gastfreundschaft ruht in der Seele des russischen Volkes!«

Ordynow warf ihm einen zornigen Blick zu; er war fast in Entsetzen … und musterte ihn vom Kopfe bis zu den Füßen.

»Ja wahrhaftig, gnädiger Herr, wir halten die Gastfreundschaft in Ehren; in hohen Ehren halten wir sie, gnädiger Herr!« fiel Murin ein und verdeckte seinen Bart mit dem ganzen Rockärmel. »Wahrhaftig, da kommt mir jetzt ein Gedanke: Sie sollen unser Gast gewesen sein, gnädiger Herr, bei Gott, unser Gast!« fuhr er fort, indem er näher an Ordynow herantrat. »Das macht ja nichts aus, gnädiger Herr; einen oder zwei Tage, das macht ja nichts aus, wirklich nichts. Aber die Sünde hat sich als gar zu verführerisch erwiesen; meine Hausfrau ist eben krank! Ach, wenn die nicht da wäre! Wenn ich allein da wäre: wie würde ich dann Euer Gnaden verehren und hegen und pflegen, ja, hegen und pflegen! Wen könnte ich wohl mehr verehren als Euer Gnaden? Und ich würde Sie auch kurieren; wirklich, ich würde Sie kurieren; ich kenne ein Heilmittel … Wirklich, Sie sollen unser Gast gewesen sein, gnädiger Herr, bei Gott; das ist der richtige Ausdruck, Sie sollen unser Gast gewesen sein! …«

»Gibt es denn überhaupt ein solches Mittel?« fragte Jaroslaw Iljitsch, sprach aber seinen Gedanken nicht zu Ende.«

Ordynow hatte unrecht getan, als er kurz vorher Jaroslaw Iljitsch mit zornigem Erstaunen vom Kopfe bis zu den Füßen gemustert hatte. Dieser war in der Tat ein höchst ehrenhafter, anständig denkender Mensch; aber jetzt hatte er alles begriffen, und man muß zugeben, daß seine Lage eine sehr schwierige war! Er wollte, wie man sich ausdrückt, bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynow allein unter vier Augen gewesen (zwei so gute Freunde!), so hätte sich Jaroslaw Iljitsch natürlich nicht beherrscht und sich einem maßlosen Heiterkeitsausbruche hingegeben.

Jedenfalls hätte er das in anständiger Weise getan; er hätte nach dem Lachen Ordynow gefühlvoll die Hand gedrückt und ihm aufrichtig und wahrheitsgemäß versichert, daß er eine verdoppelte Hochachtung vor ihm empfinde und ihn jedenfalls für entschuldigt erachte … und schließlich einem jungen Menschen so etwas nicht verüble. Aber jetzt befand er sich bei seinem notorischen Zartgefühl in einer sehr schwierigen Lage und wußte kaum, wohin er sich verstecken sollte …

»Es gibt ein Mittel, das heißt ein Heilmittel«, erwiderte Murin, dessen ganzes Gesicht bei Jaroslaw Iljitschs ungeschicktem Ausrufe in Bewegung gekommen war. »Ich, gnädiger Herr, ich möchte nach meiner bäuerlichen Dummheit noch das sagen,« fuhr er, wieder einen Schritt vortretend, fort: »Bücher haben Sie sehr viele gelesen, gnädiger Herr; ich glaube, Sie sind sehr klug geworden; aber ich meine, wie man auf russisch bei uns Bauern zu sagen pflegt, hierbei ist Ihnen der Verstand stehen geblieben …«

»Nun genug!« sagte Jaroslaw Iljitsch in strengem Tone.

»Ich gehe«, sagte Ordynow; »ich danke Ihnen, Jaroslaw Iljitsch; ich werde jedenfalls zu Ihnen kommen, jedenfalls,« fügte er auf die verdoppelten Höflichkeiten Jaroslaw Iljitschs hinzu, der nicht imstande war, ihn länger festzuhalten. »Leben Sie wohl, leben Sie wohl …«

»Leben Sie wohl, Euer Wohlgeboren; leben Sie wohl, gnädiger Herr; vergessen Sie uns nicht; besuchen Sie uns Sünder!«

Ordynow hörte nichts mehr. Er ging wie halb wahnsinnig hinaus.

Er vermochte das nicht länger zu ertragen; er war wie zerschlagen, seine Denkkraft gelähmt. Er fühlte dumpf, daß seine Krankheit ihn erstickte; aber eine kalte Verzweiflung hatte sich seiner Seele bemächtigt, und er hatte körperlich nur die Empfindung, daß ein dumpfer Schmerz in seiner Brust wühlte und bohrte und sog. Er wäre in diesem Augenblicke am liebsten gestorben. Die Beine knickten ihm ein; er setzte sich an einem Zaune auf die Erde und kümmerte sich um nichts mehr, weder um die Vorübergehenden noch um die Menge, die sich um ihn zu sammeln anfing, noch um die Anrufe und Fragen der Neugierigen, die ihn umgaben. Aber plötzlich ließ sich unter den vielen Stimmen die Stimme Murins über ihm vernehmen. Ordynow hob den Kopf in die Höhe. Der Alte stand wirklich vor ihm; sein bleiches Gesicht war ernst und nachdenklich. Das war jetzt ein ganz anderer Mensch als derjenige, der bei Jaroslaw Iljitsch in so grober Weise über ihn gespottet hatte. Ordynow richtete sich auf; Murin ergriff ihn bei der Hand und führte ihn aus der Menge hinaus …

»Du mußt noch deine Sachen wegschaffen«, sagte er, Ordynow von der Seite ansehend. »Gräme dich nicht, gnädiger Herr!« rief er dann. »Du bist noch jung; wozu willst du dich grämen! …«

Ordynow gab ihm keine Antwort.

»Fühlst du dich gekränkt, gnädiger Herr? Da hat dich also ein starker Ingrimm erfaßt … aber dazu ist kein Anlaß; ein jeder verteidigt sein Eigentum!«

»Ich kenne Sie nicht«, sagte Ordynow; »ich will Ihre Geheimnisse nicht erfahren. Aber sie, sie! …« rief er, und die Tränen stürzten stromweise aus seinen Augen. Der Wind riß sie eine nach der andern von seinen Wangen fort. Ordynow wischte sie mit der Hand weg. Seine Gebärde, sein Blick, die unwillkürliche Bewegung seiner zitternden bläulichen Lippen, alles wies auf eine sich herausbildende geistige Störung hin.

»Ich habe es dir doch bereits erklärt,« sagte Murin, die Augenbrauen zusammenziehend, »sie hat nur halb ihren Verstand! Wodurch und wie sie irrsinnig geworden ist, wozu brauchst du das zu wissen? Mir aber ist sie auch in diesem Zustande lieb und wert! Ich liebe sie mehr als mein Leben und werde sie niemandem abtreten. Verstehst du jetzt?«

In Ordynows Augen blitzte für einen Augenblick ein feuriger Schein auf.

»Aber warum ist mir denn … warum ist mir denn jetzt, als sei mein Leben für immer zerstört? Warum schmerzt denn mein Herz so? Warum bin ich Katerina so nahe gekommen?«

»Warum?« Murin lächelte und wurde nachdenklich. »Warum? Das weiß ich selbst nicht, warum«, erwiderte er schließlich. »Der Charakter des Weibes ist kein Abgrund des Meeres; man kann ihn ergründen; aber er ist schlau, beharrlich, zäh! Wenn ein Weib etwas besitzen will, so setzt sie auch durch, daß sie es bekommt. Wollte sie doch wirklich mit dir von mir fortgehen, gnädiger Herr«, fuhr er nachdenklich fort. »Sie verschmähte den alten Mann, mit dem sie doch alles erlebt hatte, was man überhaupt nur erleben kann! Du mußt ihr von vornherein sehr gefallen haben! Oder vielleicht war es ihr auch egal, ob du es warst oder ein anderer … Ich tue ihr ja in allem den Willen; wenn sie Vogelmilch verlangt, so verschaffe ich ihr auch Vogelmilch und stelle selbst einen solchen Vogel her, wenn es ihn noch nicht gibt! Sie ist eitel! Sie trachtet nach Freiheit und weiß selbst nicht, was ihr launisches Herz begehrt. Aber das Ende vom Liede ist gewesen, daß alles am besten beim alten bleibt! Ach, gnädiger Herr! Du bist noch sehr jung! Dein Herz ist noch so heiß wie das einer jungen Dirne, die, von dem Geliebten verlassen, sich mit dem Ärmel die Tränen abwischt! Präge dir das ein, gnädiger Herr: ein schwacher Mensch für sich allein hat keinen Halt! Und wenn man ihm alles mögliche gibt, so wird er selbst kommen und alles zurückgeben. Man versuche es und gebe ihm die halbe Welt, damit er über sie herrsche; was meinst du? Er wird sogleich auf dem Fleck sich in ein Mauseloch verstecken; so gern ist er klein. Man gebe ihm seinen freien Willen, dem schwachen Menschen, – er wird ihn selbst binden und zurückbringen. Ein törichtes Herz hat auch von der Freiheit keinen Gewinn! Es kann in dieser Art nicht leben! Ich sage dir das alles nur so, weil du noch sehr jung bist! Im Grunde, was habe ich mit dir zu schaffen? Du warst da und bist wieder gegangen; du oder ein anderer, das ist ganz egal. Ich wußte von vornherein, daß es so kommen würde. Aber es zu hindern, das durfte ich nicht versuchen! Man darf kein Wort des Widerspruchs sagen, wenn man sein Glück bewahren will. Weißt du, gnädiger Herr,« fuhr Murin fort zu philosophieren, »was passiert nicht alles? Im Zorn greift einer auch nach dem Messer oder geht auch unbewaffnet mit bloßen Händen auf den Feind los und zerbeißt ihm mit den Zähnen die Kehle. Gibt ihm aber der Feind das Messer in die Hand und bietet ihm seine breite Brust offen dar, dann unterläßt er wohl eine Gewalttat!«

Sie betraten den Hof. Der Tatar hatte Murin schon von weitem gesehen, nahm vor ihm die Mütze ab und blickte Ordynow schlau und unverwandt an.

»Wo ist deine Mutter? Zu Hause?« rief ihm Murin zu.

»Ja, sie ist zu Hause.«

»Sag ihr doch, sie möchte helfen, die Sachen des Herrn wegzutragen! Und du komm auch mit, flink!«

Sie stiegen die Treppe hinauf. Die alte Frau, die bei Murin die Stelle einer Magd versah und sich tatsächlich als die Mutter des Hausknechtes herausstellte, suchte die Sachen des bisherigen Mieters zusammen und band sie brummend in ein großes Bündel.

»Warte«, sagte Murin zu Ordynow; »ich bringe dir noch etwas, was dir gehört und noch dageblieben ist …«

Murin ging in sein Zimmer. Einen Augenblick darauf kehrte er zurück und übergab Ordynow ein prachtvolles, ganz mit farbiger Seide und Wolle gesticktes Kissen, ebendasselbe, das ihm Katerina unter den Kopf gelegt hatte, als er krank geworden war.

»Das schickt sie dir«, sagte Murin. »Jetzt aber geh mit Gott; aber nimm dich vor leichtsinnigem Lebenswandel in acht«, fügte er halblaut in väterlichem Tone hinzu, »sonst wird es dir schlimm ergehen!«

Offenbar lag es nicht in seiner Absicht, seinen Mieter zu beleidigen. Aber als er ihm den letzten Blick zuwarf, da nahm sein Gesicht doch unwillkürlich den Ausdruck einer maßlosen, plötzlich hervorbrechenden Wut an. Fast mit einer Miene des Ekels schloß er hinter Ordynow die Tür.

Zwei Stunden darauf zog Ordynow bei jenem Deutschen namens Spieß ein. Tinchen schrie bei seinem Anblick erstaunt auf. Sie erkundigte sich sogleich nach seiner Gesundheit, und als sie hörte, wie es damit stand, traf sie unverzüglich alle Einrichtungen zu seiner Pflege.

Der alte Deutsche teilte seinem Mieter selbstgefällig mit, er habe gerade zum Tore gehen wollen, um den Mietzettel von neuem anzuheften, da die von ihm geleistete Anzahlung gerade an diesem Tage, bei tageweiser Berechnung der Miete, bis auf die letzte Kopeke aufgebraucht sei. Dabei unterließ der Alte nicht, die deutsche Genauigkeit und Ehrlichkeit kräftig zu rühmen. Noch an demselben Tage erkrankte Ordynow heftig und konnte erst nach drei Monaten das Bett wieder verlassen.

Allmählich genas er« und begann wieder auszugehen. Das Leben bei dem Deutschen war einförmig und ruhig. Der Deutsche hatte keine hervorstechenden Charaktereigenschaften; das hübsche Tinchen war, ohne Verletzung der Moralität, alles, was man nur wünschen konnte; aber für Ordynow schien das Leben für immer seinen Reiz verloren zu haben! Er wurde schwermütig und reizbar; seine Sensibilität nahm eine krankhafte Form an, und er versank unmerklich in eine arge, starre Hypochondrie. Die Bücher schlug er manchmal ganze Wochen lang nicht auf. Die Zukunft stand wie ein verschlossenes Tor vor ihm; sein Geld ging auf die Neige, und er ließ schon vorher die Arme sinken; er dachte nicht einmal an die Zukunft. Manchmal überkam ihn wieder der frühere warme Eifer für die Wissenschaft, und die früheren, von ihm selbst geschaffenen Ideen erstanden aus der Vergangenheit klar und deutlich vor seinem geistigen Blicke; aber sie erdrückten und erstickten nur seine Energie. Der Gedanke setzte sich nicht in Taten um. Das Schaffen war zum Stillstand gekommen. Es schien, als seien alle diese Ideen nur deshalb wie Riesen wieder in seiner Vorstellung erstanden, um über seine, ihres Schöpfers, Ohnmacht zu spotten. Unwillkürlich verglich er sich in einem trüben Augenblicke mit jenem prahlerischen Zauberlehrling, der seinem Meister das Zauberwort abgelauscht hatte, dem Besen befahl, Wasser zu tragen, und in Gefahr kam, in diesem Wasser zu ertrinken, weil er vergessen hatte, wie er Halt gebieten mußte.

Ein halbes Jahr vorher hatte er eine wohlgeordnete Skizze zu einem Werke entworfen und zu Papier gebracht und, jung wie er war, in solchen Augenblicken, die nicht von der schöpferischen Tätigkeit ausgefüllt waren, auf dieses Werk weitgehende materielle Hoffnungen gesetzt. Das Werk betraf die Kirchengeschichte, und seine wärmsten, glühendsten Überzeugungen hatten unter seiner Feder Gestalt angenommen. Jetzt las er diesen Plan noch einmal durch, änderte ihn um, überdachte ihn, las manches darüber nach, suchte in Büchern umher und verwarf seine Idee schließlich, ohne auf den Ruinen etwas anderes zu erbauen. Aber Dinge wie Mystizismus, Prädestination und andere Geheimnisse dieser Art begannen seinen Geist zu beschäftigen. Der Unglückliche litt schwer und erflehte Heilung von Gott. Die Magd des Deutschen, eine gottesfürchtige alte Russin, erzählte mit Genugtuung, wie ihr frommer Mieter bete und manchmal ganze Stunden lang wie entseelt auf den Kirchenfliesen liege …

Er hatte zu niemandem auch nur ein Wort von seinem Erlebnisse gesagt. Manchmal aber, besonders in der Abenddämmerung, wenn das Geläut der Glocken ihn an jenen Augenblick erinnerte, wo zum ersten Male seine ganze Brust schmerzlich von einem bis dahin ihm unbekannten Gefühle erbebte, wo er neben ihr im Gotteshause kniete und alles vergaß und nur hörte, wie ihr ängstliches Herz pochte, wo er mit Tränen der Freude und des Entzückens die neue, lichte Hoffnung begrüßte, die in seinem einsamen Leben vor ihm aufs schimmerte: dann erhob sich ein wahrer Sturm aus seiner für das ganze Leben verwundeten Seele; dann erzitterte sein Geist, und die Qual der Liebe loderte wie brennendes Feuer von neuem in seiner Brust auf; dann tat ihm das Herz weh vor Traurigkeit und Leidenschaft, und seine Liebe schien zugleich mit dem Kummer zu wachsen.

Oftmals saß er ganze Stunden lang, sich und sein ganzes Alltagsleben und alles in der Welt vergessend, einsam und trübsinnig auf einem Flecke, schüttelte hoffnungslos den Kopf und flüsterte, stumme Tränen vergießend, vor sich hin: »Katerina! Du mein herzallerliebstes Täubchen! Mein einziges Schwesterchen …!«

Ein häßlicher Gedanke begann ihn immer mehr zu peinigen. Immer stärker und stärker verfolgte ihn dieser Gedanke und verkörperte sich jeden Tag mehr vor seiner Einbildungskraft zur Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit. Es schien ihm (und zuletzt glaubte er das alles fest), es schien ihm, daß Katerinas Verstand unversehrt sei, daß aber Murin in seiner Weise recht habe, wenn er sie ein schwaches Herz genannt hatte. Es schien ihm, daß irgendein Geheimnis sie mit dem Alten verbinde, und daß Katerina, ohne sich eines Verbrechens bewußt zu sein, wie eine reine Taube in seine Gewalt gekommen sei. Wer waren sie? Er wußte es nicht. Aber er hatte immer die Vorstellung, daß das arme, schutzlose Geschöpf von dem Alten in grausamer Weise rettungslos tyrannisiert werde, und das Herz in seiner Brust wallte auf und erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es schien ihm, daß, als sie die Wahrheit zu durchschauen angefangen habe, der Alte ihr listigerweise ihre eigene Schuld vor die erschrockenen Augen gestellt, das arme, schwache Herz tückisch gequält, den Sachverhalt verdreht, sie, wo es zweckmäßig war, in Blindheit erhalten, den unerfahrenen Neigungen ihres unruhigen, impulsiven Herzens geschmeichelt und allmählich der freiheitsliebenden Seele die Flügel beschnitten habe, so daß sie schließlich unfähig geworden sei, sich gegen seine Tyrannei aufzulehnen und sich in das freie, wirkliche Leben zu retten.

Allmählich wurde Ordynow immer menschenscheuer, worin ihm seine Deutschen (diese Gerechtigkeit muß man ihnen widerfahren lassen) nicht hinderlich waren.

Er liebte es, lange und ziellos auf den Straßen umherzuschweifen. Er wählte sich dazu vorzugsweise die Dämmerstunde und als Ort stille, abgelegene Gegenden, wo nur wenige Leute hinkamen. An einem unfreundlichen, ungesunden Abend im Frühjahr traf er auf einem solchen Spaziergange mit Jaroslaw Iljitsch zusammen.

Jaroslaw Iljitsch war merklich magerer geworden; seine freundlichen Augen sahen trüb aus, und der ganze Mensch machte gewissermaßen den Eindruck der Blasiertheit. Er hatte es in einer unaufschiebbaren Sache sehr eilig, war durchnäßt und beschmutzt, und an seiner sehr anständigen, aber jetzt etwas bläulich gefärbten Nase hing in einer beinah phantastischen Weise schon den ganzen Abend über ununterbrochen ein Regentropfen. Überdies hatte er sich einen Backenbart wachsen lassen.

Dieser Backenbart und besonders der Umstand, daß Jaroslaw Iljitsch so aussah, als ob er eine Begegnung mit seinem alten Bekannten vermeiden wolle, machte Ordynow stutzig. Und wunderlich: sein Herz, das bisher niemals Verlangen nach jemandes Teilnahme getragen hatte, fühlte sich dadurch sogar verletzt und gekränkt. Da war ihm schließlich sein Bekannter lieber so, wie er früher gewesen war: schlicht, gutmütig-naiv und (entschließen wir uns nur, endlich offen zu reden!) ein bißchen dumm, aber ohne den Anspruch auf Blasiertheit und besondere Klugheit. Es ist einem unangenehm, wenn ein dummer Mensch, den man früher hat gut leiden können, vielleicht gerade wegen seiner Dummheit, nun auf einmal klug wird; entschieden unangenehm ist einem das. Übrigens verschwand der Ausdruck des Mißtrauens, mit dem er Ordynow angeblickt hatte, sofort wieder aus seinem Gesichte.

Trotz aller Blasiertheit hatte er sein früheres Wesen, mit dem der Mensch bekanntlich ins Grab geht, keineswegs abgelegt und erneuerte mit Freuden die alte Freundschaft mit Ordynow. Vor allen Dingen bemerkte er, er habe sehr viel zu tun; dann, sie hätten sich sehr lange nicht gesehen; aber auf einmal nahm das Gespräch eine ganz seltsame Wendung. Jaroslaw Iljitsch begann von der Lügenhaftigkeit der Menschen im allgemeinen zu reden, von der Vergänglichkeit der Güter dieser Welt, von der Eitelkeit der Eitelkeiten; im Vorübergehen unterließ er nicht, sich mehr als gleichgültig über Puschkin und mit einem gewissen Zynismus über einige gute Bekannte zu äußern, und machte zum Schluß sogar allerlei Andeutungen über die Lügenhaftigkeit und Tücke derjenigen, die sich in der Welt Freunde nennten, während es doch wahre Freundschaft in der Welt niemals gegeben habe. Mit einem Worte: Jaroslaw Iljitsch war sehr klug geworden.

Ordynow widersprach ihm in keinem Punkte; aber es wurde ihm unsäglich traurig zumute: er hatte ein Gefühl, als ob er seinen besten Freund begraben hätte!

»Ach! Denken Sie nur, das hätte ich beinah ganz vergessen Ihnen zu erzählen«, sagte Jaroslaw Iljitsch auf einmal, wie wenn ihm etwas sehr Interessantes einfiele; »bei uns gibt es etwas Neues! Ich will es Ihnen im Vertrauen mitteilen. Erinnern Sie sich noch des Hauses, in dem Sie einmal wohnten?«

Ordynow fuhr zusammen und wurde blaß.

»Also stellen Sie sich das einmal vor: in diesem Hause ist neulich ein ganzes Diebesnest entdeckt worden, das heißt, mein Verehrtester, eine ganze Bande, eine ganze Rotte: Schmuggler, Gauner jeder Art, und wer weiß was sonst noch! Einige sind schon eingefangen; nach andern wird noch gefahndet; es sind die strengsten Weisungen ergangen! Und können Sie sich das vorstellen: erinnern Sie sich noch an den Hauswirt? So ein gottesfürchtiger, achtungswerter, dem Äußern nach anständiger Mann …«

»Nun?«

»Wie soll man da noch an die Menschheit glauben? Der war gerade der Anführer der ganzen Bande, der Räuberhauptmann! Ist das nicht toll?«

Jaroslaw Iljitsch sprach mit lebhaftem Affekte und verurteilte mit dem einen zugleich die ganze Menschheit; anders konnte Jaroslaw Iljitsch eben nicht verfahren; das lag nun einmal so in seinem Charakter.

»Und meine Wirtsleute? Murin?« fragte Ordynow flüsternd.

»Ach, Murin, Murin! Nein, das ist ein achtungswerter, anständiger alter Mann … Aber erlauben Sie, Sie werfen da ein neues Licht auf die Sache …«

»Wie? Gehörte er etwa auch zur Bande?«

Ordynows Herz schlug vor Ungeduld so heftig, als wollte es ihm die Brust zersprengen …

»Übrigens, wie können Sie denn so etwas sagen …« fügte Jaroslaw Iljitsch hinzu, indem er Ordynow mit seinen zinnernen Augen starr anblickte – ein Zeichen, daß er ernstlich nachdachte. »Murin kann nicht zu ihnen gehört haben. Der ist gerade vor drei Wochen mit seiner Frau nach seiner Heimat gezogen … Ich habe es von dem Hausknecht gehört … jenem jungen Tataren, erinnern Sie sich noch?«


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