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Der ehrliche Dieb

*

Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten


Eines Morgens, als ich mich schon vollständig fertiggemacht hatte, um in den Dienst zu gehen, trat meine Köchin, Wäscherin und Haushälterin Agrafena zu mir ins Zimmer und begann zu meiner Verwunderung ein Gespräch mit mir.

Bisher war diese schlichte Frau so schweigsam gewesen, daß sie außer den paar Fragen täglich, was sie mir zum Mittag kochen solle, in sechs Jahren kaum ein Wort gesprochen hatte. Wenigstens hatte ich nicht mehr aus ihrem Munde gehört.

»Ich wollte Ihnen sagen, Herr,« begann sie unvermittelt: »Sie sollten doch die Kammer vermieten.«

»Was für eine Kammer?«

»Na, die neben der Küche. Sie wissen schon, welche.«

»Wozu?«

»Wozu? Na, wozu eben die Leute Untermieter nehmen. Sie wissen schon, wozu.«

»Aber wer wird sie mieten?«

»Wer sie mieten wird? Ein Untermieter wird sie mieten. Sie wissen schon, was für einer.«

»Aber, meine Beste, da kann man ja nicht einmal ein Bett hinstellen; es ist zu eng. Wer soll da wohnen?«

»Warum soll auch einer da wohnen? Er braucht ja nur einen Platz zum Schlafen zu haben; wohnen kann er am Fenster.«

»An welchem Fenster?«

»Sie wissen schon, an welchem; wie sollten Sie das nicht wissen! An dem Fenster im Vorzimmer. Da kann er auf dem Fensterbrett sitzen und nähen oder sonst etwas tun. Auch auf einem Stuhl kann er sitzen. Er hat einen Stuhl; auch einen Tisch hat er; es ist alles da.«

»Was ist es denn für ein Mensch?«

»Ein braver Mensch, der schon viel in der Welt erlebt hat. Ich werde für seine Beköstigung sorgen. Für die Wohnung und das Essen werde ich nur drei Rubel monatlich nehmen.«

Nach langen Bemühungen brachte ich es endlich heraus, daß ein schon älterer Mann Agrafena dazu überredet oder wenigstens dazu geneigt gemacht hatte, ihn als Untermieter und Pensionär in die Kammer bei der Küche aufzunehmen. Was Agrafena sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das mußte auch geschehen; ich wußte, daß sie mir sonst keine Ruhe ließ. Wenn es vorkam, daß etwas nicht nach ihrem Wunsche war, dann wurde sie sofort nachdenklich und versank in eine tiefe Melancholie, und ein derartiger Zustand dauerte dann zwei oder drei Wochen. Während dieser Zeit verdarb sie das Essen, wusch die Wäsche nicht ordentlich, scheuerte den Fußboden nicht; kurz, es geschahen viele unangenehme Dinge. Ich hatte schon längst bemerkt, daß diese schweigsame Frauensperson für gewöhnlich nicht imstande war, einen Entschluß zu fassen und bei einem eigenen Gedanken zu verharren; aber wenn sich einmal in ihrem schwachen Gehirne zufällig etwas herausgebildet hatte, was einem Gedanken, einem Vorhaben ähnlich war, dann durfte man ihr nicht an der Ausführung hinderlich sein; das hätte soviel bedeutet, als sie für eine gewisse Zeit seelisch zu vernichten. Und daher erklärte ich, der ich meine eigene Ruhe über alles liebe, mich sogleich einverstanden.

»Hat er wenigstens irgendwelchen Ausweis, einen Paß oder dergleichen?«

»Und ob! Natürlich hat er. Er ist ein braver, erfahrener Mensch; drei Rubel hat er versprochen zu geben.«

Gleich am folgenden Tage erschien in meiner bescheidenen Junggesellenwohnung der neue Untermieter; aber ich war darüber nicht verdrießlich, sondern freute mich sogar im stillen. Ich führe überhaupt ein zurückgezogenes Leben, ganz wie ein Einsiedler. Bekannte habe ich fast gar keine; ausgehen tue ich nur selten. Nach zehn Jahren eines derartigen Lebens bin ich natürlich an die Einsamkeit gewöhnt. Aber weitere zehn, fünfzehn oder vielleicht noch mehr Jahre dieser selben Einsamkeit, mit dieser selben Agrafena, in dieser selben Junggesellenwohnung, das ist allerdings eine wenig reizvolle Perspektive! Und daher war unter diesen Umständen ein neu hinzutretender friedlicher Mensch eine Wohltat des Himmels!

Agrafena hatte nicht gelogen: mein Untermieter war wirklich ein erfahrener Mensch. Aus seinem Passe ging hervor, daß er ein verabschiedeter Soldat war, was mir, noch ehe ich den Paß gesehen hatte, bei dem ersten Blicke aus seinem Gesichte klar geworden war. Das war leicht zu erkennen. Astafi Iwanowitsch, mein Untermieter, gehörte zu den Besseren seines Standes. Wir lebten uns gut miteinander ein. Aber das Beste war, daß Astafi Iwanowitsch es manchmal verstand, Geschichten zu erzählen, Ereignisse aus seinem eigenen Leben. Bei der stetigen Langenweile meines Daseins war ein solcher Erzähler geradezu ein Schatz. Einmal erzählte er mir eine derartige Geschichte. Sie machte auf mich einigen Eindruck. Der Anlaß, bei dem er sie mir vortrug, war folgender.

Ich war einmal allein in der Wohnung: sowohl Astafi als auch Agrafena waren in Geschäften ausgegangen. Plötzlich hörte ich vom zweiten Zimmer aus, daß jemand in die Wohnung hereinkam, und zwar, wie es mir schien, ein Fremder; ich ging hinaus: richtig, im Vorzimmer stand ein fremder Mensch, ein Bursche von kleiner Statur, im bloßen Rocke trotz der kalten herbstlichen Witterung.

»Was willst du?«

»Ich wollte zu dem Beamten Alexandrow; wohnt der hier?«

»So einer wohnt hier nicht; adieu!«

»Aber der Hausknecht hat mir doch gesagt, daß er hier wohnt«, erwiderte der Besucher, indem er sich vorsichtig zur Tür zurückzog.

»Mach, daß du fortkommst; mach, daß du fortkommst; marsch!«

Am andern Tage nach dem Mittagessen, als Astafi Iwanowitsch mir einen Rock anprobierte, den er für mich umarbeitete, trat wieder jemand in das Vorzimmer. Ich öffnete die Tür ein wenig.

Der Herr von gestern nahm vor meinen sehenden Augen mit größter Seelenruhe meinen schnurbesetzten Pelzrock vom Kleiderständer herab, nahm ihn unter den Arm und verließ eilig die Wohnung. Agrafena sah ihm die ganze Zeit über erstaunt mit offenem Munde zu und tat weiter nichts zur Verteidigung des Pelzrockes. Astafi Iwanowitsch rannte dem Gauner nach und kam nach zehn Minuten ganz atemlos mit leeren Händen wieder zurück. Der Mensch war spurlos verschwunden!

»Na, da haben wir Pech gehabt, Astafi Iwanowitsch. Nur gut, daß er uns noch den Mantel gelassen hat! Sonst hätte er uns vollständig aufs trockne gesetzt, der Halunke!«

Aber auf Astafi Iwanowitsch hatte dieser Vorgang einen so gewaltigen Eindruck gemacht, daß ich bei seinem Anblick sogar den Diebstahl vergaß. Er konnte gar nicht wieder recht zu sich kommen. Alle Augenblicke warf er die Arbeit hin, mit der er beschäftigt war; alle Augenblicke begann er von neuem die Geschichte zu erzählen: wie das alles geschehen sei, wie er dagestanden habe, wie vor seinen Augen, zwei Schritte von ihm entfernt, der Mensch den Pelzrock herabgenommen habe, und wie es gekommen sei, daß er ihn nicht habe ergreifen können. Dann setzte er sich wieder an die Arbeit; dann warf er wieder alles hin, und ich sah, wie er schließlich zu dem Hausknecht hinging, um es diesem zu erzählen und ihm Vorwürfe zu machen, daß er in dem seiner Aufsicht anvertrauten Hause so etwas geschehen lasse. Dann kam er zurück und begann Agrafena auszuschelten. Dann setzte er sich wieder an die Arbeit und murmelte noch lange vor sich hin: wie das alles zugegangen sei, und wie er da gestanden habe und ich dort, und wie der Mensch vor unsern Augen, zwei Schritte von uns entfernt, den Pelzrock herabgenommen habe usw. Kurz, Astafi Iwanowitsch verstand sich zwar gut auf seine Arbeit, aber es lag in seinem Wesen eine große Umständlichkeit.

»Er hat mich und dich schön übertölpelt, Astafi Iwanowitsch!« sagte ich am Abend zu ihm, als ich ihm eine Tasse Tee gab. Aus Langerweile wollte ich die Geschichte von dem gestohlenen Pelzrock noch einmal aus ihm herauslocken, die infolge der häufigen Wiederholung und der aufrichtigen Empfindung des Erzählers sehr komisch zu werden anfing.

»Ja, er hat uns übertölpelt, Herr! Selbst für einen, der nicht davon betroffen ist, ist die Sache empörend, und mich packt die Wut, obgleich das gestohlene Kleidungsstück nicht mir gehörte. Meiner Ansicht nach gibt es auf der Welt keine ekelhaftere Kreatur als einen Dieb. So einer stiehlt einem etwas weg, was man sich mit Mühe erworben, wofür man seinen Schweiß vergossen und seine Zeit aufgewandt hat. Pfui, so eine Gemeinheit! Ich mag gar nicht davon reden; der Ingrimm packt mich. Ich wundere mich, Herr, daß es Ihnen um Ihr Eigentum so wenig leid ist.«

»Ja, das ist richtig, Astafi Iwanowitsch; man würde lieber wollen, daß ein Gegenstand verbrennt; aber ihn einem Diebe zu lassen, das empört einen, das mag man nicht.«

»Nein, wahrhaftig nicht! Freilich ist zwischen Dieb und Dieb ein Unterschied … Es ist mir einmal begegnet, Herr, daß ich auf einen ehrlichen Dieb stieß.«

»Wie meinst du das: auf einen ehrlichen Dieb? Welcher Dieb ist denn ehrlich, Astafi Iwanowitsch?«

»Das ist schon wahr, Herr! Welcher Dieb ist ehrlich? Einen ehrlichen Dieb gibt es eigentlich nicht. Ich wollte auch nur sagen, daß ein Mensch ehrlich war und doch stahl. Er konnte einem ordentlich leid tun.«

»Wie hing denn das zusammen, Astafi Iwanowitsch?«

»Das war vor zwei Jahren, Herr. Es traf sich, daß ich damals fast ein ganzes Jahr lang ohne Stellung war; aber schon vorher, als ich noch eine Stellung hatte, war ich mit einem ganz heruntergekommenen Menschen bekannt geworden. Wir hatten uns in einer Speisewirtschaft kennengelernt. Er war ein Trunkenbold, ein Herumtreiber, ein Faulenzer; er hatte früher irgendwo ein Amt gehabt, war aber wegen seiner Trunksucht schon längst vom Dienste entfernt worden. So ein unwürdiges Subjekt! Sein Anzug war ganz unbeschreiblich! Manchmal fragte man sich, ob er auch wirklich unter dem Mantel ein Hemd auf dem Leibe habe; alles Geld, das er in die Hände bekam, vertrank er. Aber ein Krakeeler war er nicht; er hatte einen friedlichen Charakter und war so freundlich und gutmütig; auch bat er einen nie, er schämte sich immer: na, man sah ja selbst, daß der arme Kerl gern etwas getrunken hätte, und gab ihm etwas. Na, so waren wir also miteinander bekannt geworden, das heißt, er hängte sich an mich. Ich hatte nichts dagegen. Und was war er für ein Mensch! So anhänglich wie ein Hündchen: wenn ich irgendwohin ging, ging er hinter mir her; und dabei hatten wir uns zum ersten Male gesehen; so ein schlapper Kerl! Zuerst fragte ich mich, ob ich ihn die nächste Nacht bei mir schlafen lassen sollte – na, ich ließ ihn: ich sah, sein Paß war in Ordnung, und in seinem Wesen war er ja doch erträglich! Dann, am andern Tage, ließ ich ihn ebenfalls bei mir übernachten; und auch am dritten kam er, saß den ganzen Tag am Fenster und blieb wieder über Nacht. ›Na,‹ dachte ich, ›er hat sich an mich gehängt: nun kann ich ihm zu essen und zu trinken geben und ihn auch noch bei mir übernachten lassen, – ich bin selbst ein armer Kerl, und nun sitzt mir noch ein Kostgänger auf dem Halse.‹ Vorher aber war er, geradeso wie jetzt zu mir, immer zu einem Beamten hingegangen, hatte sich an den gehängt, und sie hatten immer zusammen getrunken; der aber hatte sich durch den Trunk zugrunde gerichtet und war infolge irgendwelches Kummers gestorben. Der anhängliche Mensch aber hieß Jemeljan Iljitsch. Ich überlegte und überlegte: ›Was soll ich mit ihm anfangen?‹ Ihn fortjagen – das zu tun schämte ich mich, und er tat mir leid: so ein jämmerlicher, heruntergekommener Mensch, daß Gott erbarm! Und dabei war er so schweigsam, bat um nichts und saß still da und sah einem nur wie ein Hund nach den Augen. Da konnte man so recht sehen, wie der Trunk den Menschen zugrunde richtet! Ich dachte bei mir: ›Wie wär's, wenn ich zu ihm sagte: mach, daß du fortkommst, lieber Jemeljan; du hast bei mir nichts zu suchen; du bist an den Unrechten gekommen; ich werde selbst bald nichts mehr zu beißen und zu brechen haben; wie soll ich dich da auf meine Kosten unterhalten?‹ Ich saß und malte mir aus, was er wohl tun werde, wenn ich so zu ihm spräche. Na, und da sah ich es ordentlich vor mir, wie er mich lange ansehen würde, nachdem er meine Rede gehört hätte; wie er lange dasitzen würde, ohne ein Wort davon zu verstehen; wie er dann, wenn es ihm klar geworden wäre, vom Fenster aufstehen und sein Bündelchen nehmen würde (ich sehe es noch wie heute: ein kariertes, rotes, löcheriges Bündelchen, in das er Gott weiß was hineingebunden hatte, und das er überallhin mit sich schleppte); wie er seinen elenden Mantel zurechtschieben würde, so daß er warm hielte und anständig aussähe und die Löcher nicht zu sehen wären (denn er war ein feinfühliger Mensch!); wie er dann die Tür aufmachen und mit einem Tränchen im Auge auf die Treppe hinausgehen würde. Na, man darf doch einen Menschen nicht ganz untergehen lassen … er tat mir leid! Aber dann dachte ich auch wieder: ›Wie steht es mit mir selbst? Warte mal, mein lieber Jemeljan,‹ überlegte ich bei mir, ›dein gutes Leben bei mir wird nicht mehr lange dauern: ich werde bald umziehen; dann wirst du mich nicht finden.‹ Na, Herr, ich zog denn auch um; mein damaliger Herr, Alexander Filimonowitsch, sagte noch zu mir: ›Ich bin mit dir zufrieden gewesen, Astafi; wenn wir alle vom Lande wieder zurückkommen, werde ich dich nicht vergessen und dich wieder nehmen.‹ Ich war nämlich bei ihm Hausmeister gewesen; er war ein guter Herr, starb aber noch in jenem selben Jahre. Na, als ich ihm bei seiner Abreise das Geleit gegeben hatte, da nahm ich mein Hab und Gut und das bißchen Geld, das ich hatte, und dachte, ich wollte mich ein Weilchen ausruhen; ich zog zu einer alten Frau und mietete ihr ein Kämmerchen ab. Sie hatte nur das eine Kämmerchen frei. Sie war irgendwo Kinderfrau gewesen und lebte nun für sich und bekam eine Pension. ›Na,‹ dachte ich, ›dann lebe wohl, mein lieber Jemeljan; nun wirst du mich nicht finden!‹ Aber was meinen Sie, Herr? Als ich am Abend nach Hause kam (ich hatte einen Bekannten besucht), da war das erste, was ich sah, Jemeljan, der auf meinem Kasten saß und sein kariertes Bündel neben sich liegen hatte; so saß er in seinem schlechten Mantel da und wartete auf mich. Aus Langerweile hatte er sich von der Alten noch ein geistliches Buch geben lassen; das hielt er verkehrt in der Hand. Also hatte er mich doch gefunden! Die Arme sanken mir am Leibe herab. ›Na,‹ dachte ich, ›da ist nun nichts zu machen; warum habe ich ihn nicht gleich anfangs weggejagt?‹ Ich fragte ihn also einfach: ›Hast du auch deinen Paß mitgebracht, Jemeljan?‹

Dann setzte ich mich hin, Herr, und begann darüber nachzudenken, ob so ein heimatloser Mensch mir wohl sehr zur Last fallen werde. Und das Resultat meines Nachdenkens war, es werde damit nicht allzu schlimm sein. ›Zu essen muß er etwas bekommen‹, dachte ich. ›Na, morgens ein Stückchen Brot, und damit es schmackhafter ist, muß ich ihm eine Zwiebel dazu kaufen. Und zu Mittag muß ich ihm wieder ein Stück Brot und eine Zwiebel geben, und zum Abendessen wieder eine Zwiebel mit Kwas, und ein Stückchen Brot, wenn er das noch haben möchte. Und wenn wir dann noch ab und zu eine Kohlsuppe haben, dann können wir uns beide völlig satt essen. Ich für meine Person bin kein starker Esser, und ein Trinker ißt bekanntlich auch nur wenig: der ist zufrieden, wenn er nur sein Schnäpschen hat. Aber mit seinem Trinken wird er mir Not machen‹, dachte ich, und da, Herr, kam mir ein anderer Gedanke in den Kopf und nahm mich ganz gefangen, dermaßen, daß, wenn Jemeljan jetzt weggegangen wäre, er mir ein großes Stück meiner Lebensfreude geraubt hätte. Ich nahm mir nämlich damals vor, sein Wohltäter und Retter zu werden. ›Ich werde ihn vor dem Verderben bewahren‹, dachte ich; ›ich werde ihm das Trinken abgewöhnen! Warte du nur‹, dachte ich. ›Na gut, Jemeljan, bleib hier; aber halte dich jetzt bei mir ordentlich und tu', was ich dir befehle!‹

Und da dachte ich bei mir: ›Ich werde jetzt zuerst versuchen, ihn an das Arbeiten zu gewöhnen; aber nicht so plötzlich; mag er zuerst noch ein bißchen herumbummeln; ich werde dich mir unterdessen näher beschauen, Jemeljan, und zusehen, wozu du eine Fähigkeit besitzt.‹ Denn zu jeder Arbeit, Herr, muß der Mensch von vornherein eine gewisse Fähigkeit besitzen. So fing ich denn an, ihn im stillen zu beobachten. Ich sah, daß mein Jemeljan ein ganz verzweifelter Kunde war. Zuerst, Herr, versuchte ich es mit gütlichem Zureden: ›So und so,‹ sagte ich, ›Jemeljan Iljitsch, du solltest doch etwas mehr auf dich achten und dich ein bißchen bessern. Du hast genug herumgebummelt! Sieh doch nur, du gehst ja in reinen Lumpen; dein Mantel ist, mit Verlaub zu sagen, als Sieb zu gebrauchen; das ist schon nicht mehr schön! Man muß doch auch wissen, was der Anstand erfordert.‹ Mein Jemeljan saß da, ließ den Kopf herunterhängen und hörte mich an. Was sagen Sie dazu, Herr: es war durch das Trinken mit ihm schon dahin gekommen, daß er nicht mehr imstande war, ein vernünftiges Wort zu sagen. Man redete zu ihm von Gurken, und er antwortete einem von Bohnen! Er hörte mir zu, hörte mir lange zu und seufzte dann. ›Was seufzst du denn, Jemeljan Iljitsch?‹ fragte ich.

›Ach, das tue ich bloß so, Astafi Iwanowitsch; beunruhigen Sie sich nicht darum! Aber heute haben sich zwei Weiber auf der Straße geprügelt, Astafi Iwanowitsch; die eine hatte der andern einen Korb mit Moosbeeren aus Versehen umgestoßen.‹

›Na, und?‹

›Und die andere stieß ihr dafür absichtlich ihren eigenen Korb mit Moosbeeren um und trat noch mit dem Fuß in die Beeren hinein.‹

›Na, und was weiter, Jemeljan Iljitsch?‹

›Weiter nichts, Astafi Iwanowitsch; ich wollte es bloß erzählen.‹

›Weiter nichts; ich wollte es bloß erzählen! O weh,‹ dachte ich, ›mein lieber Jemeljan; du hast dir deinen armen Kopf durch das Trinken und Bummeln ruiniert!‹

›Und ein Herr hatte eine Banknote in der Gorochowaja-Straße auf das Trottoir fallen lassen, oder nein, in der Sadowaja-Straße. Und ein Bauer sah es und sagte: »Das ist mein Profit!« Ein anderer hatte es auch gesehen und sagte: »Nein, das ist mein Profit; ich habe sie vor dir gesehen …«‹

›Na, und, Jemeljan Iljitsch?‹

›Und da fingen die Bauern sich an zu prügeln, Astafi Iwanowitsch. Und ein Schutzmann trat dazu, hob die Banknote auf und gab sie dem Herrn wieder, und den Bauern drohte er, er würde sie alle beide auf die Wache bringen.‹

›Na, und was ist denn nun? Was ist daran so Merkwürdiges, lieber Jemeljan?‹

›Weiter wollte ich nichts sagen. Die Leute lachten, Astafi Iwanowitsch.‹

›Ach, mein lieber Jemeljan! Was kümmern dich die Leute! Du hast deine Seele für einen Kupfergroschen verkauft. Aber weißt du, was ich dir sagen will, Jemeljan Iljitsch?‹

›Was denn, Astafi Iwanowitsch?‹

›Du solltest doch irgendwelche Arbeit vornehmen; wirklich, das solltest du tun. Zum hundertsten Male sage ich dir: nimm eine Arbeit vor; erbarme dich deiner selbst!‹

›Was soll ich denn arbeiten, Astafi Iwanowitsch? Ich weiß nicht, was für eine Arbeit ich vornehmen soll, und eine Stellung gibt mir niemand, Astafi Iwanowitsch.‹

›Wegen deiner Trunksucht hast du ja auch dein Amt verloren, Jemeljan!‹

›Und der Einschenker Wlas ist heute aufs Kontor gerufen worden, Astafi Iwanowitsch.‹

›Warum ist er denn dahin gerufen worden, Jemeljan?‹

›Ich weiß nicht, warum, Astafi Iwanowitsch. Es wird doch wohl notwendig gewesen sein, und da haben sie ihn vorgeladen …‹

›O weh, o weh,‹ dachte ich, ›wir gehen alle beide zugrunde, ich und du, mein lieber Jemeljan! Gott straft uns für unsere Sünden!‹ Na, was sollte ich mit einem solchen Menschen anfangen, Herr?

Aber ein schlauer Bursche war er, das mußte man ihm lassen! Er hörte mir zu, hörte mir lange zu; aber wenn es ihm dann langweilig wurde und er sah, daß ich mich ereiferte, dann nahm er sachte seinen Mantel und machte sich aus dem Staube – weg war er! Den ganzen Tag über trieb er sich umher, und am Abend kam er betrunken nach Hause. Von wem er traktiert worden war, oder wo er das Geld herbekommen hatte, das mag Gott wissen; ich war jedenfalls daran unschuldig!

›Nein, Jemeljan Iljitsch,‹ sagte ich, ›du darfst dich nicht zugrunde richten! Hör' auf mit dem Trinken; hörst du wohl, hör' auf! Ein andermal, wenn du betrunken nach Hause kommst, kannst du hier auf der Treppe übernachten. Ich werde dich nicht hereinlassen!‹

Als mein Jemeljan diese Drohung gehört hatte, blieb er einen Tag und noch einen Tag zu Hause; aber am dritten war er wieder verschwunden. Ich wartete und wartete, er kam nicht! Ich bekam es schon, offen gesagt, mit der Angst zu tun, und er tat mir leid. ›Was habe ich bei ihm angerichtet?‹ dachte ich. ›Ich habe ihn verschüchtert. Na, wo mag er jetzt geblieben sein, der arme Kerl? Am Ende wird er noch umkommen, Herr du mein Gott!‹ Es wurde Nacht; aber er kam nicht. Am andern Morgen trete ich auf den Flur hinaus und sehe, daß er die Nacht auf dem Flur zugebracht hat. Er hatte den Kopf auf die Schwelle gelegt und lag so da; vor Kälte war er ganz starr geworden.

›Was machst du nur, Jemeljan? Um Gottes willen! Wie kannst du hier liegen!‹

›Aber Sie waren doch neulich so böse und ärgerlich und sagten, Sie würden mich nur auf dem Flur schlafen lassen; und da habe ich nicht gewagt hereinzukommen, Astafi Iwanowitsch, und habe mich hier draußen hingelegt …‹

Zorn und Mitleid ergriffen mich gleichzeitig!

›Du könntest dir auch eine andere Tätigkeit suchen, Jemeljan‹, sagte ich. ›Wozu brauchst du die Treppe zu bewachen?‹

›Was denn für eine andere Tätigkeit, Astafi Iwanowitsch?‹

›Na, du verlorene Seele, sagte ich (ein starker Ingrimm hatte mich gepackt), könntest du nicht zum Beispiel das Schneiderhandwerk erlernen? Wie sieht dein Mantel aus! Nicht genug, daß er ganz zerrissen ist, du fegst auch noch die Treppe damit! Du solltest doch eine Nadel nehmen und die Risse zunähen, wie es der Anstand erfordert. O weh, du Trunkenbold du!‹

Was glauben Sie, Herr? Er nahm wirklich eine Nadel zur Hand; ich hatte es ja zu ihm eigentlich nur so zum Spott gesagt; aber er hatte Angst bekommen und griff nach der Nadel. Er zog sich den Mantel aus und versuchte einen Faden einzufädeln. Ich beobachtete ihn; na, man kennt das ja: die Augen waren ihm gerötet und eitrig, die Hände zitterten ihm; es ging nicht! Er stieß und stieß mit dem Faden gegen das Ohr; aber der Faden ging nicht hinein. Er kniff die Augen zusammen, benetzte den Faden mit Speichel und drehte ihn mit den Fingern zusammen – aber nein! Er legte Nadel und Faden hin und sah mich an …

›Na, Jemeljan, du wolltest dich wohl willfährig zeigen! Du einfältiger Mensch, ich hatte es dir doch nur so zum Spott, als Vorwurf gesagt. Laß das nur, in Gottes Namen! Sitze meinetwegen so da; aber tu' nichts, worüber man sich schämen müßte, nächtige nicht auf der Treppe, mach mir keine Schande!‹

›Aber was soll ich tun, Astafi Iwanowitsch; ich weiß ja selbst, daß ich ein Trunkenbold bin und zu nichts tauge! Ich mache nur Ihnen, meinem Wo … Wohltäter, unnötig Ärger …‹

Und da fingen auf einmal seine blauen Lippen an zu beben, und ein Tränchen rollte über seine blasse Wange und zitterte auf seinen unrasierten Bartstoppeln, und dann brach meinem Jemeljan plötzlich ein ganzer Tränenstrom aus den Augen … O Gott, es war mir, als stieße mir jemand ein Messer ins Herz.

›Ach,‹ dachte ich, ›du empfindsamer Mensch, das hätte ich ja gar nicht gedacht! Wer hätte das geglaubt oder geahnt? Nein, Jemeljan, ich werde mich ganz von dir lossagen; meinetwegen verkomme wie ein alter Lappen!‹

Na, Herr, was ist da noch lange zu erzählen! Die ganze Sache ist ja so gering, so kläglich, nicht der Erwähnung wert; Sie zum Beispiel, Herr, würden dafür nicht zwei zerbrochene Groschen geben; ich aber würde viel darum geben, wenn ich viel hätte, damit nur das alles nicht passiert wäre! Ich besaß eine Reithose, Herr, hol' sie dieser und jener, eine gute, prächtige Reithose, blaukarriert; ein Gutsbesitzer, der nach Petersburg gekommen war, hatte sie bei mir bestellt, sie aber dann nicht abgenommen; er sagte, sie sei ihm zu eng; so hatte ich sie denn auf dem Halse behalten. Ich dachte: es ist immerhin ein wertvoller Gegenstand! Auf dem Trödelmarkt hätten sie vielleicht fünf Rubel dafür gegeben; und wenn nicht, so konnte ich daraus für Petersburger Herren zwei Paar Pantalons machen, und es wäre noch ein Stückchen zu einer kleinen Weste für mich übriggeblieben. Wissen Sie, für einen armen Menschen, wie unsereiner, ist alles gut! Aber der gute Jemeljan hatte damals eine schwere, traurige Zeit durchzumachen Ich sah, daß er den einen Tag nicht trank, auch den zweiten nicht, und daß auch am dritten kein Tropfen Branntwein in seinen Mund kam; er war ganz verstört; er konnte einem leid tun; den Kopf auf die Hand gestützt, saß er in trübsinnigem Brüten da. ›Na,‹ dachte ich, ›entweder hast du nur kein Geld, Mensch, oder du bist von selbst wieder auf den rechten Weg gekommen, hast basta gesagt und auf die Stimme der Vernunft gehört.‹ So lagen die Dinge, Herr; es fiel aber in jene Zeit gerade ein hoher Feiertag. Ich war zur Abendmesse gegangen; als ich zurückkam, saß mein Jemeljan auf dem Fensterbrett, war betrunken und wiegte sich hin und her. ›Ach herrje!‹ dachte ich. ›Also hast du es doch wieder getan, du Patron!‹ Aus irgendwelchem Grunde ging ich an meinen Kasten. Ich sehe hinein: die Reithose ist nicht da … Ich suche hier und da: sie ist verschwunden! Na, als ich nun alles umgewühlt hatte, ohne sie zu finden, da zog sich mir ordentlich das Herz zusammen!

Ich stürzte zu der alten Frau hin; denn die hatte ich zunächst im Verdacht; auf Jemeljan aber verfiel ich gar nicht, obgleich der Umstand, daß er betrunken war, mich hätte stutzig machen können. ›Nein, mein lieber Herr,‹ sagte die Alte; ›ich bitte Sie, was sollte ich mit einer Reithose; kann ich die tragen? Mir ist selbst neulich ein Rock weggekommen; es wird wohl ein guter Mensch aus Ihrer Bekanntschaft gewesen sein; na, das heißt, ich weiß es nicht; bestimmt sagen kann ich es nicht‹, sagte sie. ›Wer ist hier gewesen?‹ fragte ich. ›Wer ist hergekommen?‹ ›Es ist niemand hergekommen, lieber Herr; ich bin die ganze Zeit über hier gewesen. Jemeljan Iljitsch ist ausgegangen und nachher wiedergekommen; da sitzt er! Fragen Sie den!‹ – ›Hast du vielleicht, Jemeljan,‹ sagte ich, ›zu irgendwelchem Zwecke meine neue Reithose genommen, du besinnst dich wohl, ich hatte sie für einen Gutsbesitzer gemacht?‹ ›Nein, Astafi Iwanowitsch,‹ antwortete er, ›ich, hm, das heißt, ich habe sie nicht genommen.‹

Eine dumme Geschichte. Ich fing wieder an zu suchen und suchte und suchte – nichts zu finden! Jemeljan aber saß da und wiegte sich hin und her. Da kauerte ich nun so vor ihm auf dem Kasten, Herr, und auf einmal schielte ich so nach ihm hin … ›O je!‹ dachte ich, und das Herz in der Brust fing mir auf einmal an zu brennen, und das Blut stieg mir sogar ins Gesicht. Plötzlich sah mich auch Jemeljan an.

›Nein, Astafi Iwanowitsch,‹ sagte er, ›ich habe Ihre Reithose nicht, hm … Sie denken vielleicht, hm … aber ich habe sie nicht genommen.‹

›Aber wo kann sie denn geblieben sein, Jemeljan Iljitsch?‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch,‹ sagte er, ›ich habe sie gar nicht gesehen.‹

›Na, dann ist sie also wohl von selbst verschwunden, Jemeljan Iljitsch?‹

›Vielleicht ist sie wirklich von selbst verschwunden, Astafi Iwanowitsch.‹

Nachdem ich ihn so verhört hatte, stand ich auf, trat zu ihm, steckte mir Licht an und setzte mich an meine Näharbeit. Ich änderte gerade für einen Beamten, der unter uns wohnte, eine Weste um. Aber in der Brust fühlte ich eine brennende Hitze und einen dumpfen Schmerz. Es wäre mir leichter zumute gewesen, wenn ich mit meiner ganzen Garderobe den Ofen geheizt hätte. Auch Jemeljan merkte, daß mir der Ärger am Herzen fraß. Wenn ein Mensch etwas Schlechtes begangen hat, Herr, dann wittert er schon von weitem das Unheil, so wie der Vogel das bevorstehende Gewitter.

›Was ich sagen wollte, Astafi Iwanowitsch,‹ begann Jemeljan, aber die Stimme zitterte ihm nur so, ›heute hat der Heilgehilfe Antip Prochorowitsch die Witwe des Kutschers, der vor einiger Zeit gestorben ist, geheiratet …‹

Ich sah ihn nur an, so recht zornig sah ich ihn an. Jemeljan verstand das. Da sah ich: er stand auf, ging zum Bette hin und fing an dort herumzustöbern. Ich wartete; er machte sich da lange zu schaffen und sagte immer dabei: ,Nein, nein, wo mag das nichtswürdige Ding nur geblieben sein!‹ Ich wartete, was daraus werden würde; da sah ich, daß Jemeljan sich auf die Knie niederließ und unter das Bett kroch. Ich konnte mich nicht länger beherrschen.

›Warum kriechen Sie denn auf den Knien herum, Jemeljan Iljitsch?‹ sagte ich.

›Ich wollte zusehen, ob die Reithose vielleicht da wäre, Astafi Iwanowitsch; ob sie da irgendwo herumläge.‹

›Wie kommen Sie nur darauf, mein Herr,‹ sagte ich (in meinem Ingrimm redete ich ihn mit ›Herr‹ an), ›wie kommen Sie nur darauf, einem armen, einfachen Menschen, wie ich, behilflich zu sein und unnötigerweise auf den Knien herumzurutschen?‹

›Das tut ja nichts, Astafi Iwanowitsch … Vielleicht findet sie sich doch irgendwo, wenn man nur ordentlich sucht.‹

›Hm! …‹ sagte ich. ›Höre mal, Jemeljan Iljitsch!‹

›Was denn, Astafi Iwanowitsch?‹ erwiderte er.

›Hast nicht etwa du sie mir einfach gestohlen, als ein Dieb und Gauner, zum Dank für meine Gastfreundschaft?‹

«Der ehrliche Dieb 175

Nämlich, Herr, ich war zu empört darüber, daß er da vor meinen Augen auf den Knien herumrutschte.

›Nein … Astafi Iwanowitsch …‹

Und wie er da war, blieb er unter dem Bette auf dem Bauche liegen. Lange lag er so da; dann kroch er heraus.

Ich sah: er war ganz blaß, wie Leinwand. Er stand auf, setzte sich neben mich ans Fenster und saß so etwa zehn Minuten lang da.

›Nein, Astafi Iwanowitsch‹, sagte er auf einmal, indem er aufstand und noch näher an mich herantrat; ich sehe ihn noch wie jetzt vor mir: er sah schrecklich aus, wie die leibhafte Sünde. ›Nein, Astafi Iwanowitsch,‹ sagte er, ›ich habe Ihre Reithose, hm, nicht genommen.‹

Er bebte am ganzen Leibe, stieß sich mit einem zitternden Finger gegen die Brust, und auch die Stimme zitterte ihm so, daß ich, Herr, es selbst mit der Angst bekam und starr sitzen blieb, als ob ich am Fenster angewachsen wäre.

›Na,‹ sagte ich, ›verzeihen Sie schon, Jemeljan Iljitsch, wenn ich Sie in meiner Dummheit fälschlich beschuldigt habe. Mag die Reithose in Gottes Namen verloren sein; ich werde auch ohne sie nicht umkommen. Ich habe, Gott sei Dank, meine Hände und werde mich nicht aufs Stehlen legen … und bei einem fremden armen Menschen betteln werde ich auch nicht; ich werde mir schon mein Brot verdienen …‹

Jemeljan hörte mich an und stand lange vor mir; schließlich setzte er sich hin. So saß er den ganzen Abend über da, ohne sich zu rühren; auch als ich schlafen ging, saß er immer noch still auf demselben Fleck. Am andern Morgen sah ich: er lag zusammengekrümmt, in seinen Mantel gewickelt, auf dem bloßen Fußboden; er hatte sich tief gedemütigt gefühlt und sich darum nicht aufs Bett legen mögen. Na, Herr, ich liebte ihn in jener Zeit nicht, das heißt, in den ersten Tagen haßte ich ihn sogar. Gerade als wenn mich, zum Beispiel gesagt, mein eigener Sohn bestohlen und mir eine blutige Kränkung zugefügt hätte.

›Ach, Jemeljan, Jemeljan!‹ dachte ich. Jemeljan aber, Herr, trank etwa vierzehn Tage lang, ohne jemals nüchtern zu werden. Nämlich er war ordentlich in Raserei geraten und trank sich zuschanden. Am Morgen ging er weg, und erst spät in der Nacht kam er wieder nach Hause, und die ganzen zwei Wochen über bekam ich von ihm auch nicht ein Wort zu hören. Nämlich gewiß nagte der Kummer an ihm, oder er wollte sich irgendwie den Garaus machen. Endlich hörte er damit auf, weil er nämlich alles vertrunken hatte, und setzte sich wieder aufs Fensterbrett. Ich erinnere mich, daß er so drei Tage lang dasaß und schwieg; auf einmal sah ich, daß er weinte. Nämlich er saß da, Herr, und weinte; aber wie weinte er! Es war geradezu ein Brunnen, und er selbst schien es gar nicht zu merken, daß ihm die Tränen aus den Augen strömten. Es ist ein schmerzlicher Anblick, Herr, wenn ein erwachsener Mensch und noch dazu ein so alter Mensch, wie Jemeljan, vor Gram und Leid zu weinen anfängt.

›Was hast du, Jemeljan?‹ sagte ich.

Er zuckte zusammen, und ein Schütteln ging durch seinen ganzen Körper. Ich hatte ihn nämlich zum ersten Male seit jener Zeit angeredet.

›Ich habe nichts, Astafi Iwanowitsch.‹

›Um Gottes willen, Jemeljan, mag das Ding immer verloren sein! Warum sitzt du denn so da wie eine Eule?‹ Er tat mir leid.

›Ach, Astafi Iwanowitsch, das ist es nicht. Ich möchte eine Arbeit haben, Astafi Iwanowitsch.‹

›Was denn für eine Arbeit, Jemeljan Iljitsch?‹

›Irgendwelche. Vielleicht finde ich eine Stelle, wie ich sie früher hatte; ich bin schon zu Fedosjei Iwanowitsch gegangen und habe ihn gebeten … Es ist nicht recht, daß ich Sie zu Schaden bringe, Astafi Iwanowitsch. Wenn ich eine Stelle bekommen sollte, Astafi Iwanowitsch, dann werde ich Ihnen alles erstatten und Ihnen alle Ihre Unkosten ersetzen.‹

›Hör' auf, Jemeljan, hör' auf! Na, es war eine Sünde; na, aber nun ist's vorbei. Schwamm drüber! Laß uns wieder in der alten Weise leben!‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch, Sie meinen vielleicht immer noch … hm … aber ich habe Ihre Reithose nicht genommen.‹

›Na, schön, schön; lassen wir's gut sein, lieber Jemeljan!‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch, ich kann nicht länger bei Ihnen wohnen bleiben; das ist klar. Nehmen Sie es mir nicht übel, Astafi Iwanowitsch!‹

›Aber ich bitte dich,‹ sagte ich, ›wer tut dir denn etwas zuleide, Jemeljan Iljitsch? Wer treibt dich denn aus dem Hause? Ich etwa?‹

›Nein, aber es schickt sich nicht, daß ich bei Ihnen wohnen bleibe, Astafi Iwanowitsch … Es ist schon besser, daß ich fortgehe …‹

Er fühlte sich nämlich gekränkt und sagte daher immer dasselbe. Ich sah ihn an: er stand wirklich auf und zog sich den Mantel an.

›Aber wo willst du denn hin, Jemeljan Iljitsch? So nimm doch Vernunft an! Was willst du? Wohin gehst du?‹

›Nein, ich muß Ihnen schon Lebewohl sagen, Astafi Iwanowitsch; suchen Sie mich nicht mehr zurückzuhalten‹ (er schluchzte wieder); ›ich gehe von dem Unglücksorte weg, Astafi Iwanowitsch. Sie sind jetzt ein anderer geworden.‹

›Wieso ein anderer? Ich bin immer noch derselbe. Aber du wirst wie ein kleines, unvernünftiges Kind so ganz allein zugrunde gehen, Jemeljan Iljitsch.‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch, wenn Sie jetzt weggehen, schließen Sie immer Ihren Kasten zu, und wenn ich das sehe, Astafi Iwanowitsch, dann muß ich weinen … Nein, lassen Sie mich lieber gehen, Astafi Iwanowitsch, und verzeihen Sie mir alles, was ich Ihnen während unseres Zusammenlebens Übles getan habe.‹

Was meinen Sie, Herr? Der Mensch ging wirklich fort. Ich wartete einen Tag; ich dachte, er werde zum Abend zurückkommen; aber nein. Auch am zweiten Tage kam er nicht; ebensowenig am dritten. Ich bekam es mit der Angst zu tun; die Sorge quälte mich; ich konnte nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Vollständig entwaffnet hatte mich der Mensch! Am vierten Tage machte ich mich auf, sah in alle Schenken hinein und fragte nach Jemeljan – aber ohne Erfolg; er war verschwunden! ›Bist du umgekommen, du armer Kerl?‹ dachte ich. ›Vielleicht bist du in betrunkenem Zustande irgendwo an einem Zaune krepiert und liegst nun da wie ein moderndes Stück Holz.‹ Mehr tot als lebendig kehrte ich nach Hause zurück. Ich beabsichtigte, meine Nachforschungen am folgenden Tage fortzusetzen. Und ich verfluchte mich selbst, weil ich zugelassen hatte, daß der dumme Mensch so nach seinem Kopfe von mir wegging. Aber am fünften Tage (es war ein Festtag) hörte ich, als es kaum hell wurde, wie die Tür knarrte. Ich blickte hin: Jemeljan kommt herein! Er sah ganz blau aus, und die Haare waren ihm ganz schmutzig, wie wenn er auf der Straße geschlafen hätte, und mager war er geworden wie ein Span; er zog den Mantel aus, setzte sich zu mir auf den Kasten und sah mich an. Ich freute mich; aber der Gram in meiner Seele wurde noch stärker als vorher. Und das hing so zusammen, Herr: hätte ich meinerseits so eine menschliche Sünde begangen gehabt, so wäre ich (das kann ich sicher sagen) lieber wie ein Hund krepiert, als daß ich zurückgekommen wäre. Aber Jemeljan kam zurück. Na, es ist peinlich, einen Menschen in einer solchen Lage zu sehen. Ich begann ihn zu streicheln, zu liebkosen und zu trösten. ›Na, lieber Jemeljan,‹ sagte ich, ›ich freue mich, daß du zurückgekommen bist. Wärst du ein klein bißchen später gekommen, so wäre ich auch heute wieder in den Schenken herumgegangen, um dich zu suchen. Hast du etwas gegessen?‹

›Ja, ich habe gegessen, Astafi Iwanowitsch.‹

›Wirklich, hast du gegessen? Sieh mal, Brüderchen, es ist noch ein bißchen Kohlsuppe von gestern übrig; sie ist mit Rindfleisch gekocht, nicht so nüchtern; und da ist auch Brot und eine Zwiebel. Iß,‹ sagte ich, ›das wird dir gut tun.‹

Ich setzte es ihm vor; na und da sah ich,daß er vielleicht ganze drei Tage nichts gegessen hatte; einen solchen Appetit entwickelte er. Also hatte ihn der Hunger wieder zu mir getrieben. Das Herz wurde mir ganz weich, wie ich ihn so ansah. ›Ich werde in einen Branntweinladen laufen,‹ dachte ich, ›und ihm eine Herzstärkung holen, und unter alles Vergangene wollen wir einen Strich machen! Nein, ich bin dir nicht mehr böse, lieber Jemeljan!‹ Ich brachte den Branntwein. ›Hier, Jemeljan Iljitsch,‹ sagte ich, ›wir wollen dem Festtage zu Ehren einen Schluck trinken. Magst du trinken? Das ist gesund.‹

Er streckte schon die Hand aus, und zwar mit einer Art von Gier, und faßte das Glas, hielt aber dann inne; er wartete ein Weilchen. Dann sah ich, wie er das Glas nahm und zum Munde führte; dabei schülperte er den Branntwein über, so daß er ihm auf die Hand floß. Aber nein, er führte das Glas zwar zum Munde, stellte es jedoch sogleich wieder auf den Tisch.

›Was hast du, lieber Jemeljan?‹

›Nichts; ich will nur … hm … Astafi Iwanowitsch.‹

›Willst du nicht trinken, wie?‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch, ich werde … ich werde nicht mehr trinken, Astafi Iwanowitsch.‹

›Wie denn? Hast du dir vorgenommen,überhaupt aufzuhören, oder willst du nur heute nicht trinken, lieber Jemeljan?‹

Er schwieg. Nach einem Weilchen sah ich, daß er den Kopf auf den Arm legte.

›Was machst du? Du bist doch nicht krank, Jemeljan?‹

›Ja, mir ist nicht gut, Astafi Iwanowitsch.‹

Ich brachte ihn schleunigst zu Bette. Ich sah, daß es wirklich schlecht mit ihm stand: der Kopf glühte, und der Leib wurde vom Fieber geschüttelt. Ich pflegte ihn den Tag über; zur Nacht wurde es schlechter. Ich tat ihm etwas Butter und Zwiebel an den Kwas und brockte ihm Brot hinein. ›Da!‹ sagte ich, ›iß die Brotsuppe; vielleicht wird dir dann besser werden.‹ Er schüttelte den Kopf. ›Nein,‹ sagte er, ›ich mag heute nichts essen, Astafi Iwanowitsch.‹ Ich ließ ihm auch Tee machen und setzte die Alte tüchtig in Bewegung; aber es wurde nicht besser. ›Na,‹ dachte ich, ›schlimm!‹ Am dritten Tage ging ich zum Arzte. Ich kannte da in der Nähe einen Arzt, namens Kostoprawow. Ich hatte ihn schon früher kennengelernt, als ich noch bei Bosomjagins im Dienst war; er hatte mich behandelt. Der Arzt kam und besah den Kranken: ›Ja,‹ sagte er, ›es steht schlecht. Da hätten Sie mich gar nicht mehr zu rufen brauchen‹, sagte er. ›Aber wir können ihm ja meinetwegen noch Pulver geben.‹ Na, die Pulver gab ich ihm nicht ein; ich dachte: ›Das ist nur so eine Spielerei vom Arzte.‹ Unterdes aber kam der fünfte Tag heran.

Er lag vor mir da, Herr, und es ging mit ihm zu Ende. Ich saß auf dem Fensterbrett und hatte meine Arbeit in den Händen. Die Alte heizte den Ofen. Wir schwiegen alle. Mir wollte das Herz um den Taugenichts brechen, Herr; es war mir zumute, als sollte ich meinen eigenen Sohn verlieren. Ich wußte, daß Jemeljan jetzt nach mir hinsah; schon am Morgen hatte ich bemerkt, daß er sich Gewalt antat, mir etwas sagen wollte, es aber offenbar nicht wagte. Endlich blickte ich ihn an; da sah ich: in den Augen des armen Kerls lag ein tiefer Gram; er hielt seinen Blick unverwandt auf mich gerichtet; als er aber bemerkte, daß ich ihn ansah, schlug er sofort die Augen nieder.

›Astafi Iwanowitsch!‹

›Was willst du, lieber Jemeljan?‹

›Ich wollte sagen: wenn man zum Beispiel meinen Mantel nach dem Trödelmarkt brächte, würden sie viel dafür geben, Astafi Iwanowitsch?‹

›Na,‹ antwortete ich, ›ich weiß nicht, ob sie viel dafür geben würden. Vielleicht würden sie drei Rubel dafür geben, Jemeljan Iljitsch.‹

Aber in Wirklichkeit würden sie, wenn er hingegangen wäre und den Mantel hingebracht hätte, ihm nichts gegeben, sondern ihm nur ins Gesicht gelacht haben, daß er einen solchen Schund zum Kauf anböte. Ich redete nur so, weil ich seine Einfalt kannte, um ihn zu trösten.

›Ich habe auch gedacht, daß sie drei Rubel für ihn geben würden, Astafi Iwanowitsch; er ist ja doch von Tuch, Astafi Iwanowitsch. Gewiß, drei Rubel ist er wert, da er von Tuch ist; nicht wahr?‹

›Ich weiß es nicht, Jemeljan Iljitsch«, erwiderte ich; ›wenn du ihn hinbringen willst, mußt du natürlich zunächst drei Rubel dafür verlangen.‹

Jemeljan schwieg ein Weilchen; dann rief er wieder:

›Astafi Iwanowitsch!‹

›Was denn, lieber Jemeljan?‹ fragte ich.

›Verkaufen Sie meinen Mantel, wenn ich tot bin, und begraben Sie mich ohne ihn! Ich kann auch so liegen, und er ist doch ein wertvolles Stück und kann Ihnen zustatten kommen.‹

Da befiel mich eine solche Herzbeklemmung, Herr, daß ich nicht imstande war zu reden. Ich sah, daß die Todesangst an den Kranken herantrat. Wir schwiegen wieder. So verging eine Stunde. Ich blickte wieder nach ihm hin: er sah mich immer noch an; aber als unsere Blicke sich begegneten, schlug er wieder die Augen nieder.

›Willst du nicht ein bißchen Wasser trinken, Jemeljan Iljitsch.‹ fragte ich ihn.

›Ja, geben Sie mir, wenn ich bitten darf, Astafi Iwanowitsch!‹

Ich gab ihm zu trinken. Er trank. ›Ich danke Ihnen, Astafi Iwanowitsch‹, sagte er.

›Hast du sonst noch einen Wunsch, lieber Jemeljan?‹

›Nein, Astafi Iwanowitsch, ich brauche nichts; ich wollte nur …‹

›Was denn?‹

›Hm …‹

›Was möchtest du denn, lieber Jemeljan?‹

›Die Reithose … hm … ich habe sie Ihnen damals weggenommen, Astafi Iwanowitsch …‹

›Na,‹ sagte ich, ›Gott wird es dir verzeihen, lieber Jemeljan, du armer Kerl du! Geh hin in Frieden! …‹ Ich selbst aber, Herr, konnte gar keine Luft bekommen; die Tränen stürzten mir aus den Augen, und ich wandte mich für einen Augenblick ab.

›Astafi Iwanowitsch …‹

Ich sah: Jemeljan wollte mir noch etwas sagen, hob sich ein wenig in die Höhe, strengte sich an, bewegte die Lippen … Sein ganzes Gesicht wurde auf einmal rot, er blickte mich an … Plötzlich sah ich: er wurde wieder blaß, ganz blaß, bekam in einem Augenblicke ein ganz verfallenes Aussehen, warf den Kopf zurück, seufzte einmal und hauchte seinen Geist aus …«


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