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Herr Prochartschin

*

Eine Erzählung


In der Wohnung der Pensionshalterin Ustinja Fjodorowna hatte als Pensionär die dunkelste, bescheidenste Schlafstelle Semjon Iwanowitsch Prochartschin inne, ein schon älterer, gesetzter, nüchterner Mann. Da Herr Prochartschin nur ein niedriges Amt bekleidete und somit auch nur ein seinen dienstlichen Fähigkeiten entsprechendes geringes Gehalt bezog, so konnte ihm Ustinja Fjodorowna schlechterdings nicht mehr als fünf Rubel monatlich für das Logis abnehmen. Manche sagten, sie habe dabei ihre besondere Spekulation; aber wie dem auch sein mochte, jedenfalls war Herr Prochartschin, allen, die ihm Übles nachredeten, gleichsam zum Trotz, sogar der Günstling der Wirtin geworden, wobei man diese Würde in anständigem, ehrenhaftem Sinne zu verstehen hat. Ich muß hier noch folgendes bemerken. Ustinja Fjodorowna, eine sehr achtbare, korpulente Dame, die eine besondere Neigung zu gutem Essen und zum Kaffeetrinken hatte und sich immer nur mit großer Mühe durch die Fastenzeiten hindurchquälte, hielt sich eine ziemliche Anzahl solcher Pensionäre; diese bezahlten zwar zum Teil noch einmal soviel wie Semjon Iwanowitsch, standen aber, weil sie nicht friedfertig waren, sondern im Gegenteil sämtlich über sie als alleinstehende, schutzlose Frau »häßliche Witze« machten, in ihrer Achtung sehr tief, so daß, wenn sie ihre Pension nicht pünktlich bezahlt hätten, sie sie nicht nur exmittiert, sondern ihnen auch verboten haben würde, sich jemals wieder in der Wohnung blicken zu lassen. In die Stellung eines Günstlings aber war Semjon Iwanowitsch gleich damals aufgerückt, als man seinen Vorgänger nach dem Wolkowski-Kirchhofe hinausgetragen hatte; es war dies ein von einer heftigen Leidenschaft für starke Getränke erfüllter Beamter gewesen, der in den Ruhestand getreten oder vielleicht, richtiger gesagt, vom Amte entfernt worden war. Obgleich diesem abgesetzten Liebhaber des Alkohols ein Auge ausgeschlagen war (seiner Angabe nach infolge seiner Tapferkeit) und er nur ein Bein hatte (das andere hatte er ebenfalls auf irgendeine Weise infolge seiner Tapferkeit verloren), so hatte er es doch verstanden gehabt, das ganze Wohlwollen, dessen Ustinja Fjodorowna fähig war, zu gewinnen und auszunutzen, und hätte wahrscheinlich noch lange als ihr getreuester Gehilfe und Parasit bei ihr gewohnt, wenn er sich nicht schließlich in tief bedauerlicher Weise zu Tode getrunken hätte. Das alles hatte sich noch zu der Zeit zugetragen, als Ustinja Fjodorowna auf den Peski Ein Stadtteil im Osten von Petersburg. – Anmerkung des Übersetzers. wohnte und im ganzen nur drei Pensionäre hielt; als sie dann in die neue Wohnung umzog, wo sie ihrem Geschäfte als Vermieterin einen größeren Zuschnitt gab und etwa ein Dutzend neue Pensionäre aufnahm, blieb von den früheren drei nur Herr Prochartschin bei ihr.

Mochte nun Herr Prochartschin seinerseits unverbesserliche Mängel besitzen oder ein jeder der anderen Pensionäre mit solchen Mängeln behaftet sein, jedenfalls wollte sich gleich von Anfang an das Verhältnis von beiden Seiten nicht harmonisch gestalten. Wir bemerken hier, daß Ustinja Fjodorownas neue Pensionäre sämtlich unter sich wie Brüder lebten; einige von ihnen waren bei derselben Behörde angestellt; alle verspielten sie an jedem Ersten abwechselnd aneinander ihr Gehalt in Kartenspielen wie Pharo und Préferénce und auf dem Billard; sie liebten es, in einer vergnügten Stunde alle zusammen, wie sie es nannten, »die schäumenden Augenblicke des Lebens zu genießen«; sie liebten es auch, manchmal von hohen Dingen zu sprechen; es ging zwar im letzteren Falle selten ohne Streit ab; aber da veraltete Anschauungen aus dieser ganzen Gesellschaft verbannt waren, so wurde das gegenseitige Einverständnis bei solchen Gelegenheiten in keiner Weise gestört. Von den Pensionären waren folgende besonders bemerkenswert: Mark Iwanowitsch, ein verständiger, belesener Mensch; ferner der Pensionär Oplewaniew, ebenfalls ein bescheidener, braver Mensch; ferner war da noch ein gewisser Sinowi Prokofjewitsch, der es sich zum festen Ziele gemacht hatte, in die höchsten Gesellschaftskreise einzudringen; dann der Schreiber Okeanow, der seinerseits Herrn Prochartschin beinah die Palme des Vorranges und der Günstlingschaft entrissen hätte; ferner noch ein anderer Schreiber namens Sudjbin; der abgabenfreie Nichtadlige Kantarew; es waren auch noch andere da. Aber zu all diesen Leuten stand Semjon Iwanowitsch nicht in kameradschaftlichem Verhältnisse. Übles wünschte ihm allerdings niemand, um so weniger, da sie ihm alle gleich von Anfang an hatten Gerechtigkeit widerfahren lassen und sich über ihn das Urteil gebildet hatten, er sei (dies waren Mark Iwanowitschs Ausdrücke) ein guter, friedlicher Mensch, obwohl ohne weltmännische Gewandtheit, verläßlich, kein Schmeichler; er habe allerdings auch seine Fehler; aber wenn es ihm einmal schlecht gehen sollte, so werde der Grund davon einzig und allein sein Mangel an eigenem Denkvermögen sein.

Ja noch mehr: Herr Prochartschin, dem auf diese Weise das eigene Denkvermögen abgesprochen war, konnte auch durch seine Gestalt und seine Manieren auf niemand einen besonders vorteilhaften Eindruck machen (worüber ja Spötter mit Vorliebe herfallen); aber auch in dieser Hinsicht kam er leichten Kaufs davon, als ob nichts Gravierendes vorläge, und Mark Iwanowitsch, als verständiger Mensch, übernahm in aller Form Semjon Iwanowitschs Verteidigung, indem er geschickt und in schönem, blumenreichem Stil erklärte, Prochartschin sei ein älterer, gesetzter Mann und habe die Zeiten elegischer Schwärmerei schon längst hinter sich. Wenn somit Semjon Iwanowitsch es nicht verstand, sich mit den Leuten gut zu stellen, so mußte die Schuld ausschließlich an seinem eigenen Verhalten liegen.

Das erste, was einem auffiel, war ohne Zweifel Semjon Iwanowitschs Sparsamkeit und Geiz. Das bemerkte ein jeder sofort und setzte es ihm aufs Kerbholz; denn Semjon Iwanowitsch verstand sich nie und unter keinen Umständen dazu, jemandem seine Teekanne zur Benutzung zu überlassen, auch nicht auf ganz kurze Zeit; und dies war um so mehr unrecht von ihm, da er selbst fast nie Tee trank, sondern nur im Bedürfnisfalle einen sehr angenehmen Absud von Feldblumen und gewissen heilsamen Kräutern, von denen er immer einen bedeutenden Vorrat liegen hatte. Übrigens speiste er auch in anderer Weise, als es Pensionäre sonst zu tun pflegen. Er erlaubte es sich zum Beispiel niemals, das ganze Diner zu essen, welches Ustinja Fjodorowna täglich ihren Pensionären darbot. Das Diner kostete fünfzig Kopeken; Semjon Iwanowitsch wandte nur fünfundzwanzig Kopeken daran, ein Satz, über den er nie hinausging, und aß daher nur entweder eine Portion Kohlsuppe mit Pastete oder nur eine Portion Rindfleisch; am häufigsten aber aß er weder Kohlsuppe noch Rindfleisch, sondern nur ein ordentliches Stück Brot mit Zwiebeln, mit Quark, mit Salzgurke oder einer anderen Beigabe, was unvergleichlich viel billiger war, und kehrte erst dann, wenn h damit nicht mehr bestehen konnte, zu seinem halben Diner zurück.

Hier bekennt der Biograph, daß er sich um keinen Preis dazu entschlossen haben würde, von solchen wertlosen, unwürdigen, ja peinlichen und sogar (um noch mehr zu sagen) für manchen Liebhaber eines edlen Stiles beleidigenden Einzelheiten zu reden, wenn sie nicht eine Besonderheit, einen hervorstechenden Zug im Charakter des Helden dieser Erzählung gebildet hätten. Und zwar war Herr Prochartschin, wie er selbst manchmal versicherte, keineswegs so geizig, daß er sich nicht einmal eine regelmäßige nahrhafte Kost gegönnt hätte, sondern er handelte so, wie er handelte, ohne Scheu vor übler Nachrede und schlechtem Rufe, speziell zur Befriedigung seiner eigenartigen Neigungen, aus Sparsamkeit und Vorsicht, was übrigens aus dem Folgenden noch klarer hervorgehen wird. Aber wir hüten uns davor, den Leser durch eine Schilderung aller Neigungen Semjon Iwanowitschs zu langweilen, und wir lassen zum Beispiel nicht nur die merkwürdige und für den Leser sehr komische Darlegung aller seiner Einrichtungen weg, sondern würden, wenn nicht Ustinja Fjodorownas eigene Aussage vorläge, selbst das kaum erwähnen, daß Semjon Iwanowitsch sich in seinem ganzen Leben nicht dazu entschließen konnte, seine Wäsche zum Waschen zu geben, oder es doch nur so selten tat, daß einem in den Zwischenzeiten das Vorhandensein von Wäsche an seinem Leibe vollständig unbekannt bleiben konnte. Nach Aussage der Wirtin hatte ihr »lieber guter Semjon Iwanowitsch« zwanzig Jahre lang bei ihr gehaust, ohne in dieser Hinsicht etwas von Scham zu wissen; denn nicht nur hatte er sich während der ganzen Dauer seines irdischen Daseins beständig und hartnäckig gegen Socken, Taschentücher und andere derartige Gegenstände ablehnend verhalten, sondern Ustinja Fjodorowna hatte sogar selbst mit eigenen Augen unter Benutzung der Löcher des alten Bettschirmes gesehen, daß er, der liebe Mensch, manchmal nichts gehabt habe, um sein weißes Körperchen zu bedecken. Solche Gerüchte kamen indes erst nach Semjon Iwanowitschs Tode in Umlauf. Aber bei seinen Lebzeiten (und das bildete einen der wesentlichsten Anlässe zum Streite) konnte er, selbst wo die kameradschaftlichen Beziehungen von angenehmer Art waren, es absolut nicht vertragen, daß jemand ohne Erlaubnis seine neugierige Nase in sein innerstes Heiligtum steckte, sei es auch unter Benutzung der Löcher des alten Bettschirmes. Er war ein ganz unzugänglicher, schweigsamer Mensch, ein Feind unnützer Reden. Ratgeber waren ihm zuwider; Vorwitzige konnte er gleichfalls nicht leiden, einen Spötter oder naseweisen Ratgeber kanzelte er immer gleich auf der Stelle tüchtig ab, machte ihn gehörig herunter und erledigte die Angelegenheit in dieser Weise: »Ein dummer Junge bist du, ein Tagedieb, und kein Ratgeber, daß du es weißt; lerne erst deine eigene Tasche kennen, mein Herr, und zähle lieber die Fäden an deinen eigenen Fußlappen, du Grünschnabel; da hast du's!« Semjon Iwanowitsch war ein einfacher Mensch und sagte zu allen Leuten kurzweg du. Auch konnte er es gar nicht ausstehen, wenn jemand, der seinen Schlupfwinkel kannte, aus reinem Mutwillen ihm mit Fragen zusetzte, was er in seinem Kasten liegen habe. Semjon Iwanowitsch besaß nämlich einen Kasten. Dieser stand unter seinem Bette, und er behütete ihn wie seinen Augapfel; und obgleich alle wußten, daß nichts darin war als alte Lumpen, zwei oder drei Paar zerrissene Stiefel und allerlei sonstiger Trödelkram, so schätzte Herr Prochartschin dennoch dieses sein bewegliches Eigentum sehr hoch, und es verlautete sogar einmal, er habe, nicht zufrieden mit dem daran befindlichen alten, aber recht starken Schlosse, davon geredet, ein anderes anbringen zu lassen, ein ganz besonderes, von deutscher Arbeit, mit allerlei verschmitzten Einrichtungen und einer geheimen Feder. Als aber einmal Sinowi Prokofjewitsch, von seinem jugendlichen Temperamente fortgerissen, den höchst unpassenden, rohen Gedanken aussprach, Semjon Iwanowitsch verberge wahrscheinlich in seinem Koffer Ersparnisse, um sie seinen Nachkommen zu hinterlassen, da wurden alle dabei Anwesenden geradezu starr über die außerordentlichen Folgen, die dieser Witz Sinowi Prokofjewitschs nach sich zog. Zunächst konnte Herr Prochartschin auf eine so unverblümte, rohe Bemerkung gar nicht gleich eine angemessene Erwiderung finden. Lange Zeit kamen von seinen Lippen nur Worte ohne jeden Sinn; erst nach einer Weile ließ sich so viel verstehen, daß Semjon Iwanowitsch seinem Gegner Sinowi Prokofjewitsch wegen einer längst vergangenen widerwärtigen Angelegenheit Vorwürfe machte; dann hörte man heraus, daß Semjon Iwanowitsch vorhersagte, Sinowi Prokofjewitsch werde unter keinen Umständen in die höheren Gesellschaftskreise eindringen; der Schneider, dem er noch das Geld für einen Anzug schuldig sei, werde ihn durchprügeln, unbedingt dafür durchprügeln, daß der dumme Junge so lange nicht bezahle. Und dann fügte Semjon Iwanowitsch noch hinzu: »Du willst bei den Husaren als Junker eintreten, du dummer Junge; aber das wird dir nicht gelingen, daraus wird nichts werden, und wenn die Behörde alles erfährt, wird man dich zum Schreiber degradieren; so ist das, hörst du wohl, du dummer Junge?« Dann beruhigte sich Semjon Iwanowitsch; aber nachdem er ungefähr fünf Stunden lang still gelegen hatte, kam er zum größten Erstaunen aller, wie wenn er die Sache inzwischen hin und her überlegt hätte, zu einem Entschlusse und begann, zuerst für sich allein, dann aber zu Sinowi Prokofjewitsch gewendet, ihm aufs neue Vorwürfe zu machen und ihn auszuschelten. Aber auch damit war die Sache noch nicht zu Ende; sondern als am Abend Mark Iwanowitsch und ein anderer Pensionär namens Prepolowenko zusammen Tee tranken und den Schreiber Okeanow zum Mittrinken eingeladen hatten, da kroch Semjon Iwanowitsch aus seinem Bette, setzte sich expreß zu ihnen, gab seine fünfzehn oder zwanzig Kopeken und begann, unter dem Vorwande, daß er auf einmal großen Appetit auf Tee bekommen habe, sehr ausführlich auf den früheren Gegenstand einzugehen und auseinanderzusetzen, daß er ein armer Mensch sei, nur ein armer Mensch und weiter nichts, und daß ein armer Mensch, wie er, keine Ersparnisse machen könne. So gestand also Herr Prochartschin (wie er sagte, einzig und allein, weil nun einmal die Rede darauf gekommen sei), daß er ein armer Mensch sei; noch vorgestern habe er jenen dreisten Menschen bitten wollen, ihm einen Rubel zu leihen; jetzt aber werde er es nicht tun, damit der dumme Junge nicht damit prahle; sein Gehalt sei so gering, daß er kaum davon leben könne; aber obwohl er, wie jeder sehe, ein so armer Mensch sei, schicke er doch noch allmonatlich seiner Schwägerin fünf Rubel nach Twer, und wenn er seiner Schwägerin nicht allmonatlich die fünf Rubel nach Twer schickte, so würde die Schwägerin sterben, und wenn die von ihm unterstützte Schwägerin gestorben wäre, so würde er sich schon längst einen neuen Anzug haben machen lassen. Und Semjon Iwanowitsch sprach so lange und so eingehend über seine Armut und über die Rubel und über die Schwägerin und wiederholte um des stärkeren Eindrucks auf die Zuhörer willen so oft ein und dasselbe, daß er schließlich ganz konfus wurde und verstummte; und erst drei Tage darauf, als schon kein Mensch mehr daran dachte, mit ihm anzubinden, und alle den Vorfall mit ihm vergessen hatten, fügte er zum Schlusse etwas von folgender Art hinzu: wenn Sinowi Prokofjewitsch bei den Husaren eintrete, dann werde diesem dreisten Menschen im Kriege ein Bein abgeschossen werden, und er werde statt seines Beines ein hölzernes bekommen, und dann werde Sinowi Prokofjewitsch kommen und sagen: »Gib mir ein Stück Brot, guter Semjon Iwanowitsch!« Dann werde er, Semjon Iwanowitsch, ihm kein Stück Brot geben und werde den einstmals so streitsüchtigen Sinowi Prokofjewitsch gar nicht ansehen und zu ihm sagen: »Soundso, siehst du, nun ist's aus mit dir!«

Alles dies erschien notwendigerweise sehr merkwürdig und wirkte gleichzeitig sehr lächerlich. Alle Pensionäre taten sich unverzüglich zum Zwecke weiterer Nachforschungen zusammen und beschlossen, in der Hauptsache aus reiner Neugier, auf Semjon Iwanowitsch einen entscheidenden Generalangriff zu unternehmen. Und da Herr Prochartschin in der letzten Zeit, das heißt seit er angefangen hatte sich an dem geselligen Leben seiner Mitpensionäre zu beteiligen, es ebenfalls außerordentlich liebte, nach allem neugierig zu fragen und sich zu erkundigen (was er wahrscheinlich aus besonderen geheimnisvollen Gründen tat), so kam der Verkehr der beiden feindlichen Parteien ohne alle anbahnenden Vorbereitungen und ohne vergebliche Anstrengungen gewissermaßen zufällig und ganz von selbst in Gang. Zur Anknüpfung des Verkehrs hatte Semjon Iwanowitsch immer ein eigenes, besonderes, recht schlau durchdachtes Manöver bereit, das dem Leser bereits zum Teil bekannt ist: er kroch um die Zeit des Teetrinkens aus seinem Bette, und wenn er sah, daß sich andere irgendwo zu einer Gruppe zwecks Bereitung dieses Getränkes zusammengefunden hatten, so trat er als ein bescheidener, verständiger, freundlicher Mensch zu ihnen, gab seinen festgesetzten Beitrag von zwanzig Kopeken und erklärte, er habe Lust, sich zu beteiligen. Dann wechselten die jungen Leute Blicke miteinander und begannen, nachdem sie sich so gegen Semjon Iwanowitsch verschworen hatten, ein Gespräch, das anfangs anständig und solide war. Dann begann einer in mutwilligerer Weise, anscheinend ohne besondere Absicht, allerlei Neuigkeiten zu erzählen, meist lügenhafte und ganz unglaubliche Geschichten. So behauptete zum Beispiel jemand, heute gehört zu haben, wie Seine Exzellenz zu Demid Wasiljewitsch selbst gesagt habe, daß nach seiner Meinung die verheirateten Beamten solider seien als die unverheirateten und sich deshalb zum Aufrücken in höhere Stellen besser eigneten; denn sie hätten etwas Friedliches und erwürben in der Ehe bedeutend mehr gute Eigenschaften; daher wolle er, der Erzähler, um solche Eigenschaften zu erwerben und eine gute Karriere zu machen, sich bemühen, möglichst bald mit irgendeiner Fewronja Prokofjewna in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Dann wieder erzählte einer, es sei zu wiederholten Malen an verschiedenen Leuten ihres Standes bemerkt worden, daß es ihnen an jeder weltmännischen Gewandtheit und an guten, angenehmen Manieren mangle und sie infolgedessen auch in der Gesellschaft den Damen nicht gefallen könnten; zur Beseitigung dieses Mißstandes solle daher unverzüglich einem jeden ein Abzug von dem Gehalte gemacht und für die so zusammenkommende Summe ein Kursus eingerichtet werden, in dem sie tanzen lernen und ein anständiges Benehmen, feine Lebensart, Höflichkeit, Respekt vor den Älteren, Charakterfestigkeit, ein gutes, dankbares Herz und allerlei angenehme Manieren erwerben könnten. Endlich wurde auch behauptet, es sei geplant, daß gewisse Beamte, und zwar zuerst gerade die ältesten, zum Zwecke baldiger Aneignung der erforderlichen Bildung ein Examen in allen Gegenständen ablegen sollten; auf diese Weise, fügte der Erzähler hinzu, werde viel Unwissenheit an den Tag kommen, und manche Herren würden genötigt sein, sich in ihrer ganzen Blöße zu zeigen. Kurz, es wurden tausend solche und ähnliche absurde Dinge erzählt. Alle taten, als ob sie es sofort glaubten und sich lebhaft dafür interessierten; sie stellten nähere Fragen und machten die Anwendung auf sich selbst; manche nahmen auch eine traurige Miene an, schüttelten die Köpfe und wollten von jedem Ratschläge haben, was sie zu tun hätten, wenn die Sache an sie heranträte. Natürlich wäre auch ein weit minder harmloser und schüchterner Mensch, als es Herr Prochartschin war, infolge eines derartigen allgemeinen Gespräches wirr im Kopfe geworden. Überdies konnte man aus allen Anzeichen mit zweifelloser Sicherheit schließen, daß Semjon Iwanowitsch jedem neuen, für seinen Verstand ungewöhnlichen Gedanken stumpf und schwerfällig gegenüberstand, und daß, wenn er zum Beispiel irgendeine Neuigkeit erfuhr, er immer genötigt war, sie erst gewissermaßen zu verdauen und wiederzukäuen und nach ihrem Sinne zu suchen, wobei er sich zu verwirren und zu verwickeln pflegte, und daß er sie höchstens erst ganz zuletzt bewältigen konnte, aber auch das nur auf eine ganz besondere, ihm allein eigene Art … Es wurden auf diese Weise an Semjon Iwanowitsch plötzlich merkwürdige, bis dahin ungeahnte Eigenschaften entdeckt … Es kam allerlei Gerede über ihn in Umlauf, und alles dies fand, mit Zusätzen versehen, schließlich auch seinen Weg in die Kanzlei. Aufsehen erregte es auch, daß Herr Prochartschin, der seit undenklichen Zeiten fast immer ein und dasselbe Gesicht gehabt hatte, plötzlich ohne sichtbaren Anlaß seine Physiognomie änderte: sein Gesicht bekam etwas Unruhiges; sein Blick wurde ängstlich, schüchtern und etwas mißtrauisch; er fing an leise zu gehen, zusammenzufahren und zu horchen und zeigte, um all seinen neuen Eigenschaften die Krone aufzusetzen, einen großen Eifer für die Erforschung der Wahrheit. Die Liebe zur Wahrheit brachte ihn schließlich dahin, daß er es wagte, ein paarmal Demid Wasiljewitsch selbst nach der Glaubwürdigkeit der Neuigkeiten zu fragen, die er täglich zu Dutzenden hörte, und wenn wir hier über die Folgen dieses seines seltsamen Schrittes schweigen, so geschieht das lediglich aus herzlichem Mitleide mit seiner Reputation. Auf diese Weise fanden diejenigen, die auf dem Bureau mit ihm zu tun hatten, daß er ein Misanthrop sei und den gesellschaftlichen Anstand vernachlässige. Sie fanden ferner, daß an ihm viel Phantastisches sei, und irrten sich auch hierin durchaus nicht; denn es wurde wiederholentlich bemerkt, daß Semjon Iwanowitsch mitunter in vollständige Selbstvergessenheit geriet, mit offenem Munde wie erstarrt oder versteinert auf seinem Platze saß, die Feder in die Luft hielt und mehr dem Schatten eines vernünftigen Wesens als einem vernünftigen Wesen selbst glich. Es kam nicht selten vor, daß einer seiner Kollegen, der ihn harmlos angaffte, wenn er auf einmal seinem umherirrenden, trüben, nach etwas suchenden Blicke begegnete, es mit der Angst bekam, zu zittern anfing und sogleich auf ein wichtiges Aktenstück, das er vor sich hatte, einen Klecks machte oder ein ganz falsches Wort hinschrieb. Semjon Iwanowitschs unziemliches Benehmen befremdete und verletzte alle anständigen Leute … Zuletzt konnte niemand mehr an Semjon Iwanowitschs phantastischer Gedankenrichtung zweifeln, als sich eines schönen Morgens in allen Bureaus der Kanzlei das Gerücht verbreitete, Herr Prochartschin habe sogar seinem Vorgesetzten Demid Wasiljewitsch selbst einen Schreck eingejagt; denn bei einer Begegnung auf dem Korridor habe er sich so wunderlich und seltsam benommen, daß dieser sich genötigt gesehen habe, vor ihm zurückzutreten … Der von Semjon Iwanowitsch begangene Verstoß kam schließlich auch ihm selbst zu Ohren. Als er das gehört hatte, stand er sofort auf, ging vorsichtig zwischen den Tischen und Stühlen hindurch, begab sich in das Vorzimmer, nahm eigenhändig seinen Mantel herunter, zog ihn an, ging hinaus – und verschwand für unbestimmte Zeit. Ob er den Mut verloren hatte oder ihn etwas anderes fortzog, das wissen wir nicht; aber weder zu Hause noch in der Kanzlei ließ er sich eine Zeitlang blicken.

Wir wollen Semjon Iwanowitschs Schicksal nicht einfach aus seiner phantastischen Geistesrichtung zu erklären suchen; indes können wir nicht umhin, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß unser Held kein Weltmann, sondern ein durchaus stiller Mensch war und bis zu der Zeit, wo er in die Gesellschaft der neuen Pensionäre hineingeraten war, in vollständiger Abgeschiedenheit gelebt und sich durch ein stilles, ja gewissermaßen geheimnisvolles Wesen ausgezeichnet hatte; denn in der ganzen letzten Zeit, während er auf den Peski wohnte, hatte er hinter dem Bettschirm auf dem Bette gelegen, geschwiegen und mit niemand Verkehr unterhalten. Seine beiden alten Mitpensionäre hatten genau in derselben Weise gelebt wie er; beide waren ebenfalls gewissermaßen geheimnisvolle Menschen gewesen und hatten ebenfalls fünfzehn Jahre lang hinter ihren Bettschirmen gelegen. In patriarchalischer Ruhe waren die glücklichen, schläfrigen Stunden und Tage nacheinander vorbeigezogen, und da alles ringsumher ebenfalls seinen guten, geregelten Gang nahm, so konnten sich weder Semjon Iwanowitsch noch Ustinja Fjodorowna mehr recht erinnern, wann das Schicksal sie eigentlich zusammengeführt habe. »Ich weiß nicht, ob es zehn oder fünfzehn oder gar schon fünfundzwanzig Jahre her ist, daß der liebe Mensch zu mir gezogen ist«, sagte sie manchmal zu ihren neuen Pensionären. Daher ist es sehr natürlich, daß der an Gesellschaft nicht gewöhnte Held unserer Erzählung in unangenehmer Weise überrascht war, als er, der solide, bescheidene Mensch, gerade vor einem Jahre auf einmal in diese unruhige, lärmende, etwa ein Dutzend Köpfe starke Bande junger Leute, seiner neuen Mitpensionäre, hineingeriet.

Semjon Iwanowitschs Verschwinden rief in der Pension keinen kleinen Aufruhr hervor. Erstens weil er der Günstling der Wirtin war, zweitens weil sich bei dieser Gelegenheit herausstellte, daß sein Paß, den die Wirtin in Verwahrung gehabt hatte, zufällig abhanden gekommen war. Ustinja Fjodorowna heulte – wozu sie in kritischen Fällen immer ihre Zuflucht nahm; sie schalt und schimpfte zwei Tage lang auf ihre Pensionäre und machte ihnen Vorwürfe, daß sie, »alle diese schändlichen Spötter«, ihren Semjon Iwanowitsch wie ein armes Küchlein verjagt und zugrunde gerichtet hätten; am dritten Tage aber trieb sie sie alle hinaus auf die Suche, mit der Weisung, den Flüchtling um jeden Preis lebend oder tot herbeizuschaffen. Als erster kam am Abend der Schreiber Sudjbin zurück und berichtete, er habe die Spur gefunden und den Flüchtling auf dem Trödelmarkte und an anderen Orten gesehen; er sei ihm nachgegangen und habe in seiner Nähe gestanden, aber nicht gewagt, ihn anzureden, auch habe er sich bei einer Feuersbrunst nicht weit von ihm befunden, als ein Haus in der Krummen Gasse abgebrannt sei. Eine halbe Stunde darauf erschienen Okeanow und Kantarew; sie bestätigten Sudjbins Mitteilung Wort für Wort: sie hätten ebenfalls nur zehn Schritte von ihm entfernt gestanden, aber auch nicht gewagt, ihn anzureden; beide hatten sie bemerkt, daß Semjon Iwanowitsch mit einem schmarotzenden Trunkenbold namens Simoweikin zusammen war. Schließlich fanden sich auch die übrigen Pensionäre wieder ein und sprachen, nachdem sie die Meldungen aufmerksam angehört hatten, ihre Meinung dahin aus, daß Prochartschin jetzt nicht weit sein könne und bald kommen werde; es sei ihnen übrigens auch schon vorher allen bekannt gewesen, daß er mit jenem Trunkenbolde verkehre. Dieser Trunkenbold war ein ganz widerwärtiges, dreistes, schmeichlerisches Subjekt, und es war aus allem klar, daß er Semjon Iwanowitsch verlockt hatte. Er war gerade eine Woche vor Semjon Iwanowitschs Verschwinden zusammen mit seinem Kameraden Remnew in der Pension erschienen, hatte dort kurze Zeit gewohnt und erzählt, er leide für Wahrheit und Recht; er habe vorher in der Provinz ein Amt gehabt; da sei ein Revisor zu ihnen gekommen, und man habe ihn und seine Genossen, weil sie immer für Wahrheit und Recht eingetreten wären, abgesetzt; er sei dann nach Petersburg gekommen und hier Porfiri Grigorjewitsch zu Füßen gefallen; auf dessen Fürsprache habe man ihn wieder bei einer Behörde angestellt; aber infolge der Grausamkeit des ihn verfolgenden Schicksals sei er auch dort wieder brotlos geworden, weil die Behörde selbst aufgehoben sei und eine andere Organisation erhalten habe; in die umgestaltete Beamtenschaft aber habe man ihn nicht aufgenommen, sowohl wegen seiner angeblich mangelnden Qualifikation für die dienstliche Tätigkeit als auch wegen seiner Qualifikation zu einer ganz andersartigen Sache, außer alledem aber wegen seiner Liebe zu Wahrheit und Recht und schließlich infolge der Ränke seiner Feinde. Nach Beendigung dieser seiner Geschichte, in deren Verlauf Herr Simoweikin mehrmals seinen finsterblickenden, unrasierten Freund Remnew geküßt hatte, hatte er sich der Reihe nach vor allen im Zimmer Anwesenden bis zu den Füßen verbeugt, wobei er auch die Magd Awdotja nicht vergessen hatte, hatte sie alle seine Wohltäter genannt und erklärt, er sei ein unwürdiger, zudringlicher, dreister, dummer Mensch; gute Menschen möchten ihn aber wegen seines kläglichen Schicksals und wegen seiner Einfalt nicht verachten. Nachdem er alle um ihre Gönnerschaft gebeten hatte, hatte sich Herr Simoweikin als ein sehr lustiger Kauz erwiesen, war höchst vergnügt geworden, hatte der Wirtin Ustinja Fjodorowna die Hände geküßt, obwohl sie bescheiden versicherte, ihre Hand sei nur eine ganz gewöhnliche und keine adlige; zum Abend aber hatte er der ganzen Gesellschaft sein Talent in einem merkwürdigen Charaktertanze zu zeigen versprochen. Aber gleich am folgenden Tage hatte sein Aufenthalt ein bedauernswertes schnelles Ende gefunden, entweder weil der Charaktertanz sich als gar zu charakteristisch erwiesen hatte, oder weil er sich gegen Ustinja Fjodorowna nach ihrem Ausdruck »infam und respektlos« benommen hatte, und dabei sei sie doch mit Jaroslaw Iljitsch bekannt und könne, wenn sie nur selbst wolle, längst eine Frau Polizeiinspektor sein; jedenfalls hatte Simoweikin sich davontrollen müssen. Er war weggegangen, war wieder zurückgekehrt, war wieder mit Schimpf und Schande weggejagt worden, hatte dann Semjon Iwanowitschs Aufmerksamkeit zu erregen und sich in seine Gunst einzudrängen gesucht, ihn so nebenbei um eine neue Hose ärmer gemacht und tauchte schließlich jetzt wieder als Semjon Iwanowitschs Verführer auf.

Sowie die Wirtin erfahren hatte, daß Semjon Iwanowitsch am Leben und gesund sei, und daß sie den Paß jetzt nicht zu suchen brauche, hörte sie sofort auf traurig zu sein und beruhigte sich. Da nun kamen einige Pensionäre auf den Gedanken, dem Flüchtling einen feierlichen Empfang zu bereiten: sie öffneten gewaltsam den Verschluß des Bettschirmes, rückten diesen von dem Bette des Entlaufenen ab, zerwühlten das Bett ein wenig, zogen den bekannten Kasten hervor und stellten ihn am Fußende auf das Bett, auf das Bett aber setzten sie die Schwägerin, das heißt eine Puppe, die sie aus einem alten Tuche, einer Haube und einem Umhange der Wirtin hergestellt hatten, und die der Schwägerin so ähnlich sah, daß man sich ganz wohl täuschen konnte. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, warteten sie, um nach Semjon Iwanowitschs Ankunft ihm mitzuteilen, seine Schwägerin sei aus der Provinz eingetroffen; die Ärmste habe sich bei ihm hinter dem Bettschirm einquartiert. Aber sie warteten und warteten – Semjon Iwanowitsch kam nicht. Während des Wartens hatte Mark Iwanowitsch schon sein halbes Monatsgehalt an Prepolowenko und Kantarew verloren; Okeanows Nase war beim Noski und Dreiblatt schon ganz rot geworden und angeschwollen Dem Verlierenden wird mit den Karten auf die Nase geschlagen. – Anmerkung des Übersetzers.; die Magd Awdotja hatte sich schon fast ganz ausgeschlafen und hatte schon zweimal aufstehen, Holz holen und den Ofen heizen wollen; und Sinowi Prokofjewitsch war bis auf die Haut naß geworden, da er alle Augenblicke auf den Hof hinauslief, um nach Semjon Iwanowitsch Ausschau zu halten; aber noch war niemand erschienen, weder Semjon Iwanowitsch noch der schmarotzende Trunkenbold. Schließlich legten sich alle schlafen, ließen aber für jeden Fall die Schwägerin hinter dem Bettschirm, und erst um vier Uhr ertönte ein Klopfen am Haustor; dafür war es aber auch so stark, daß es die Wartenden völlig für all die schweren Mühen, denen sie sich unterzogen hatten, entschädigte. Er war es, er selbst, Semjon Iwanowitsch, Herr Prochartschin, aber in einem solchen Zustande, daß alle entsetzt aufschrien und niemand mehr an die Schwägerin dachte. Der Verlorengegangene war bewußtlos. Es brachte ihn oder, richtiger gesagt, trug ihn auf den Schultern ein ganz durchnäßter, frostzitternder, zerlumpter Nachtdroschkenkutscher. Auf die Frage der Wirtin, wo der Ärmste sich so betrunken habe, antwortete der Kutscher: »Betrunken ist er nicht und ist es auch nicht gewesen; das kann ich dir versichern. Es hat ihn gewiß so eine Ohnmacht befallen, oder er hat eine Art Starrkrampf bekommen, oder vielleicht hat ihn auch der Schlag gerührt.« Man untersuchte ihn näher, wobei man ihn der Bequemlichkeit halber an den Ofen lehnte, und sah, daß tatsächlich keine Betrunkenheit vorlag; auch einen Schlaganfall hatte er nicht gehabt, sondern es hatte ihn irgendein anderes Unglück betroffen, infolgedessen Semjon Iwanowitsch auch die Zunge nicht bewegen konnte; krampfhafte Zuckungen gingen durch seinen Körper, und er klappte nur die Augen auf und zu, indem er verständnislos bald den einen, bald den andern der Zuschauer anstarrte, die ihn in ihren Nachtkostümen umstanden. Man fragte dann den Droschkenkutscher, wo er ihn herbekommen habe. »Von ein paar Männern aus Kolomna Ein Stadtteil im Westen. – Anmerkung des Übersetzers.«, antwortete er; »ob es richtige Herren waren oder nicht, das weiß ich nicht; aber gekneipt hatten sie und waren lustig. Die haben mir den hier übergeben; vielleicht haben sie ihn durchgeprügelt, oder er hat Krämpfe bekommen; Gott weiß, was geschehen ist. Aber lustige Herren waren es, gute Herren!« Man nahm Semjon Iwanowitsch; einer hob ihn auf seine kräftigen Schultern und trug ihn auf das Bett. Als aber Semjon Iwanowitsch auf das Bett gelegt wurde, seine Schwägerin berührte und mit den Beinen gegen seinen heiligen Kasten stieß, da schrie er aus voller Kehle, kauerte sich nieder und bedeckte, am ganzen Leibe zitternd, so gut er konnte, mit den Händen und dem Körper den ganzen Raum auf seinem Bette; mit dem ängstlichen, aber seltsam entschlossenen Blicke, den er über die Anwesenden hingleiten ließ, schien er zu erklären, daß er eher sterben als auch nur den hundertsten Teil seiner armseligen Habe jemandem überlassen werde.

Semjon Iwanowitsch lag zwei oder drei Tage lang da, von dem Bettschirm dicht umgeben und auf diese Weise von der ganzen Welt und all ihren nichtigen Aufregungen abgeschlossen. Wie es nicht anders sein konnte, hatten ihn gleich am folgenden Tage alle vergessen; unterdes verging die Zeit; eine Stunde löste die andere ab, ein Tag den andern. Ein Mittelding zwischen Schlaf und Phantasieren umfing den schweren, heißen Kopf des Kranken; aber er lag friedlich da, stöhnte nicht und klagte nicht; vielmehr verhielt er sich ganz still und ruhig und drückte sich fest an sein Bett, wie ein Hase sich vor Furcht auf die Erde wirft, wenn er die Jagd hört. Zu gewisser Zeit trat in der Wohnung eine lange, melancholische Stille ein, ein Zeichen, daß alle Pensionäre zum Dienst gegangen waren, und wenn Semjon Iwanowitsch wach geworden war, so konnte er sich nach Belieben die Langeweile damit vertreiben, daß er auf das nahe Geräusch in der Küche hinhorchte, wo die Wirtin herumhantierte, oder auf das gleichmäßige Klatschen der niedergetretenen Schuhe der Magd Awdotja in allen Zimmern, wenn sie stöhnend und sich räuspernd in allen Schlafstellen aufräumte und aufwischte und alles in Ordnung brachte. Ganze Stunden vergingen auf diese Weise, schläfrig, träge und langweilig, wie das Wasser, das mit gleichmäßigem Geräusche in der Küche vom Hahn in das Becken tropfte. Endlich kehrten die Pensionäre, teils einzeln, teils in Gruppen zurück, und Semjon Iwanowitsch konnte bequem hören, wie sie über das Wetter schimpften, zu essen verlangten, wie sie lärmten, rauchten, sich zankten, sich versöhnten, Karten spielten und, wenn es ans Teetrinken ging, mit den Tassen klapperten. Unwillkürlich machte Semjon Iwanowitsch eine Anstrengung, um aufzustehen und in der üblichen Weise an dem Genusse dieses Getränkes teilzunehmen, versank aber sogleich in Schlaf und träumte, er sitze schon lange am Teetisch, trinke mit und beteilige sich an der Unterhaltung, und Sinowi Prokofjewitsch habe bereits die Gelegenheit benutzt und ein Projekt über die Schwägerinnen und die moralischen Verpflichtungen verschiedener guter Leute gegen sie im Gespräche angebracht. Hier wollte sich Semjon Iwanowitsch schon beeilen, etwas zu erwidern und sein Verhalten zu rechtfertigen; aber mit einem Male erscholl aus jedem Munde die allmächtige dienstliche Redewendung »es ist wiederholentlich bemerkt worden« und schnitt endgültig alle seine Erwiderungen ab, und Semjon Iwanowitsch konnte nichts Besseres ersinnen, als einen neuen Traum zu beginnen, nämlich davon, daß heute der Erste sei und er soundsoviel Silberrubel in seiner Kanzlei bekomme. Auf der Treppe schlug er das Papier, in dem sie sich befanden, auseinander, sah sich schnell um, teilte so schnell wie möglich die ganze Hälfte des soeben empfangenen Gehaltes ab und verbarg diese Hälfte in seinem Stiefel; dann, immer noch auf der Treppe und ohne sich darum zu kümmern, daß er es auf seinem Bette im Schlafe tat, nahm er sich vor, wenn er nach Hause gekommen sein würde, unverzüglich seiner Wirtin das Erforderliche für Kost und Logis zu bezahlen, hierauf noch irgend etwas Notwendiges zu kaufen und dann geeigneten Persönlichkeiten scheinbar absichtslos und zufällig zu zeigen, daß er einen Abzug erlitten habe, daß ihm so gut wie nichts übrig geblieben sei, und daß er auch seiner Schwägerin jetzt nichts schicken könne; dabei wollte er dann ein Trauerlied über seine Schwägerin anstimmen, auch morgen und übermorgen noch viel von ihr reden und nach ungefähr zehn Tagen noch einmal im Vorbeigehen auf ihre Armut zurückkommen, damit seine Wohnungsgenossen es nur ja nicht vergäßen. Nachdem er sich das vorgenommen hatte, sah er, daß auch Andrei Jesimowitsch, jener kleine, schweigsame, kahlköpfige Mensch, der in der Kanzlei ganze drei Zimmer von Semjon Iwanowitschs Platze entfernt saß und in zwanzig Jahren auch nicht ein Wort mit ihm gesprochen hatte, ebendort auf der Treppe stand, ebenfalls seine Silberrubel zählte, den Kopf schüttelte und zu ihm sagte: »Das liebe, liebe Geld!« »Ohne Geld keine Grütze«, fügte er, die Treppe hinabsteigend, finster hinzu und schloß, als er bereits vor der Haustür war: »Ich habe sieben Kinder, mein Herr!« Dabei zeigte der kahlköpfige Mensch, wahrscheinlich ebenfalls ohne zu bemerken, daß er das nur als Vision und nicht in Wahrheit und Wirklichkeit tue, mit der Hand eine Elle hoch von der Erde, bewegte die Hand in absteigender Linie und murmelte, der älteste gehe schon aufs Gymnasium; hierauf blickte er Semjon Iwanowitsch entrüstet an, als ob gerade dieser an seinen sieben Kindern schuld sei, drückte sich den Hut ins Gesicht, rüttelte seinen Mantel zurecht, drehte sich nach links herum und verschwand. Semjon Iwanowitsch hatte einen großen Schreck bekommen, und obgleich er von seiner eigenen Unschuld in betreff der bedauerlich hohen Zahl von sieben Kindern in einer Familie vollständig überzeugt war, so schien es in Wirklichkeit doch so herauszukommen, daß kein andrer als er die Schuld daran trage. In seiner Angst fing er an zu laufen; denn es kam ihm so vor, als ob der kahlköpfige Herr umkehre, ihn verfolge, ihn visitieren und ihm das ganze Gehalt abnehmen wolle, unter Berufung auf seine unumstößliche Zahl von sieben Kindern und unter Bestreitung irgendwelcher Beziehungen Semjon Iwanowitschs zu irgendwelchen Schwägerinnen. Semjon Iwanowitsch lief und lief und kam außer Atem … neben ihm liefen noch sehr viele andere Menschen, und bei allen klapperte das Gehalt in den hinteren Taschen ihrer kurzen Fracks; schließlich lief das ganze Volk; die Trompeten der Feuerwehr ertönten, und ganze Menschenwellen trugen ihn beinah auf den Schultern zu eben jener Feuersbrunst hin, die er vor kurzem mit dem schmarotzenden Trunkenbold zusammen angesehen hatte. Der Trunkenbold, alias Herr Simoweikin, befand sich schon dort, begrüßte Semjon Iwanowitsch, nahm sich seiner sehr an, faßte ihn unter den Arm und führte ihn mitten in das dichteste Gedränge hinein. Ebenso wie damals im Wachen lärmte und brauste um sie herum eine unübersehbare Volksmenge, die zwischen den beiden Brücken den ganzen Kai der Fontanka Der linke Arm der Newa in Sankt Petersburg. – Anm.d.Hrsg. und alle umliegenden Straßen und Gassen anfüllte; ebenso wie damals wurden Semjon Iwanowitsch und der Trunkenbold in das Innere einer Umzäunung getragen, wo sie auf einem großen, von Zuschauern angefüllten Holzhofe wie in einer Zange zusammengepreßt wurden; diese waren von den Straßen, vom Trödelmarkt und aus allen umliegenden Häusern, Speisewirtschaften und Schenken zusammengeströmt. Semjon Iwanowitsch sah und empfand alles wie damals; in dem Wirbel des Fieberns und Phantasierens huschten allerlei sonderbare Gestalten vor seinem Auge vorüber. An einige von ihnen erinnerte er sich. Einer war jener sich stark aufspielende, drei Ellen lange Herr mit dem ellenlangen Schnurrbart, der bei der Feuersbrunst hinter Semjon Iwanowitschs Rücken gestanden und ihm eine Aufmunterung hatte zuteil werden lassen, als unser Held eine Art von Begeisterung empfand und mit den kurzen Beinchen trampelte, um auf diese Weise den Feuerwehrleuten seinen Beifall für ihre mannhafte Arbeit zu spenden, die er, der Lange, von seiner Höhe vollständig übersah. Ein anderer war jener stämmige Bursche, von welchem unser Held, als er über einen andern Zaun hatte steigen wollen, um vielleicht jemand zu retten, einen gehörigen Stoß in Gestalt einer Beihilfe von hinten empfangen hatte. Auch die Gestalt jenes alten Mannes mit dem Hämorrhoidengesichte, in einem alten, mit einem Strick umgürteten wattierten Schlafrock, tauchte vor seinem Blicke auf; dieser war schon vor dem Ausbruche des Feuers von Hause weg in einen Laden gegangen, um für seinen Untermieter Zwieback, Tabak und anderes einzuholen, und suchte sich nun mit einem Milchtopf in der Hand durch die Menschenmenge nach seiner Wohnung durchzuarbeiten, wo seine Frau, seine Tochter und in einer Ecke unter dem Federbett dreißig und ein halber Rubel verbrannten. Aber am deutlichsten stand ihm jene arme, wunderliche Frau vor Augen, von der er schon mehrmals in seiner Krankheit geträumt hatte; er sah sie so, wie sie damals gewesen war: in Lumpen gekleidet, mit schlechten Bastschuhen an den Füßen, einen Krückstock in der Hand, einen geflochtenen Quersack auf dem Rücken. Sie schrie lauter als die Feuerwehr und das Volk, fuchtelte mit dem Krückstock und den Armen umher und rief, ihre eigenen Kinder hätten sie von irgendwo hinausgejagt, und dabei seien ihr zwei Fünfkopekenstücke verloren gegangen. Die Kinder und die Fünfkopekenstücke, die Fünfkopekenstücke und die Kinder, das verwirrte sich in ihrem Munde zu einem unverständlichen Unsinn. Nach vergeblichen Bemühungen, daraus klug zu werden, wandten sich alle von ihr ab; aber das Weib ließ nicht nach: sie schrie und heulte und schwenkte die Arme und kümmerte sich anscheinend weder um die Feuersbrunst, zu der sie in dem Menschenstrome von der Straße hintrieb, noch um die ganze Volksmenge um sie herum, noch um fremdes Unglück, noch selbst um die Funken und Brandstücke, die schon das ganze umherstehende Volk zu überschütten anfingen. Zuletzt aber bekam Herr Prochartschin einen gewaltigen Schreck; denn er erkannte klar, daß das alles nicht so ohne Grund geschah, und daß das Unheil an ihm nicht vorübergehen werde. Und wirklich war ebendort, nicht weit von ihm, ein Mann niederen Standes, in einem zerrissenen langen Rocke ohne Gurt, mit versengtem Haar und Bart, auf einen Holzhaufen gestiegen und begann nun alle Leute gegen ihn, Herrn Prochartschin, aufzuhetzen. Die Menge wurde immer dichter und dichter; der Mann schrie, und starr vor Schreck erinnerte sich Herr Prochartschin auf einmal, daß dieser Mann derselbe Droschkenkutscher war, den er vor fünf Jahren schmählich betrogen hatte, indem er, ohne bezahlt zu haben, in ein Tor, wo ein Durchgang war, hineingeschlüpft und so eilig davongerannt war, wie wenn er barfuß über eine glühende Eisenplatte liefe. In seiner Verzweiflung wollte Herr Prochartschin etwas sagen, wollte schreien; aber die Stimme versagte ihm. Er fühlte, wie die ganze ergrimmte Menge ihn wie eine bunte Schlange umwand, ihn zusammenpreßte, ihn würgte. Er machte eine unnatürliche Anstrengung und erwachte. Da wurde er gewahr, daß er brannte, daß seine ganze Schlafstelle brannte und sein Bettschirm und die ganze Wohnung samt Ustinja Fjodorowna und allen ihren Pensionären, und daß sein Bett brannte und sein Kopfkissen und seine Bettdecke und sein Kasten und endlich auch seine kostbare Matratze. Semjon Iwanowitsch sprang auf, ergriff seine Matratze und lief, sie hinter sich herschleppend, davon. Aber in dem Zimmer der Wirtin, wohin unser Held so, wie er war, barfuß und im bloßen Hemde, ohne alles Anstandsgefühl gelaufen war, wurde er ergriffen, überwältigt, wieder hinter den Bettschirm zurückspediert (übrigens brannte dieser gar nicht, es brannte vielmehr nur Semjon Iwanowitschs Kopf) und ins Bett gelegt. So legt der umherziehende, zerlumpte, unrasierte, mürrische Besitzer eines Kasperletheaters seinen Hanswurst in den Kasten, nachdem dieser allen möglichen Unfug getrieben, alle durchgeprügelt und seine Seele dem Teufel verkauft hat; dort liegt er nun bis zur nächsten Vorstellung zusammen mit eben jenem Teufel, mit dem Mohren, mit Mamsell Katerina und ihrem glücklichen Liebhaber, dem Bezirkshauptmann.

Alle, alt und jung, umringten sofort Semjon Iwanowitsch, stellten sich in einer Reihe um sein Bett herum und sahen den Kranken mit erwartungsvollen Gesichtern an. Inzwischen war er wieder zur Besinnung gekommen; aber er bemühte sich auf einmal aus aller Kraft, sei es aus Schamgefühl oder aus einem andern Grunde, die Bettdecke über seinen Kopf zu ziehen, wahrscheinlich um sich darunter vor den Blicken seiner teilnahmsvollen Wohnungsgenossen zu verbergen. Endlich unterbrach Mark Iwanowitsch als erster das Stillschweigen und sagte als verständiger Mensch in sehr freundlichem Tone, Semjon Iwanowitsch müsse sich ganz beruhigen; krank zu sein sei etwas Häßliches, dessen man sich schämen müsse; so benähmen sich nur kleine Kinder; er solle wieder gesund werden und dann auch wieder in den Dienst gehen. Mark Iwanowitsch schloß mit einem Späßchen, indem er sagte, für Kranke sei im Etat kein Gehalt angesetzt, und da er bestimmt wisse, daß auch nur ein sehr geringer Rang damit verbunden sei, so bringe, wenigstens nach seinem Urteil, ein solcher Beruf oder Zustand keine großen materiellen Vorteile. Kurz, es war ersichtlich, daß alle an Semjon Iwanowitschs Schicksal aufrichtig Anteil nahmen und sich seiner Pflege widmen wollten. Aber mit unbegreiflicher Grobheit fuhr dieser fort, im Bette zu liegen, zu schweigen und hartnäckig die Bettdecke immer mehr über sich herüberzuziehen. Mark Iwanowitsch gab sich indessen noch nicht besiegt und sagte mit Selbstüberwindung noch etwas sehr Angenehmes zu Semjon Iwanowitsch, da er wußte, daß man einen Kranken so behandeln müsse. Aber Semjon Iwanowitsch wollte das nicht empfinden; vielmehr brummte er mit höchst mißtrauischer Miene etwas zwischen den Zähnen und begann auf einmal in ganz feindseliger Weise nach rechts und links zu schielen, als wolle er mit seinem Blicke alle, die ihn bemitleideten, vernichten. Da war nun weiter nichts zu machen: Mark Iwanowitsch konnte sich nicht mehr beherrschen, und da er sah, daß dieser Mensch sich geradezu vorgenommen hatte eigensinnig zu sein, so kränkte und verletzte ihn das, und er erklärte ihm ohne Umschweife und angenehme Redewendungen, es sei jetzt Zeit zum Aufstehen; man dürfe nicht auf der Bärenhaut liegen; Tag und Nacht etwas von Feuersbrünsten, Schwägerinnen, Trunkenbolden, Schlössern, Kasten und der Teufel weiß wovon sonst noch zu schreien sei dumm, unpassend und ein Unrecht gegen andere Leute; denn wenn Semjon Iwanowitsch selbst nicht schlafen wolle, so solle er wenigstens andere nicht stören; das möge er sich hinter die Ohren schreiben. Diese Rede brachte eine Wirkung hervor; denn Semjon Iwanowitsch wandte sich sofort zu dem Redner hin und sagte in festem Tone, wiewohl mit schwacher, heiserer Stimme: »Halt's Maul, dummer Junge! Du Schwätzer, du Schandmaul! Ein Stiefel bist du, daß du's nur hörst! Bist du etwa ein Fürst, he? Verstehst du etwas Rechtes?« Als Mark Iwanowitsch eine derartige Antwort hörte, fuhr er zunächst auf; dann aber sagte er sich, daß er mit einem Kranken zu tun habe, unterdrückte großmütig das Gefühl der Kränkung und machte im Gegenteil den Versuch, ihn zu beschämen; aber auch damit hatte er kein Glück; denn Semjon Iwanowitsch erwiderte ihm sofort, er lasse sich nicht zum besten halten; Mark Iwanowitsch drechsle seine schönen Phrasen ganz vergebens. Es folgte ein zwei Minuten dauerndes Stillschweigen; endlich kam Mark Iwanowitsch von seinem Erstaunen wieder zu sich und erklärte in gewählten Ausdrücken, aber offen, deutlich und nicht ohne Festigkeit, Semjon Iwanowitsch möge sich bewußt sein, daß er sich unter anständigen Menschen befinde; »Sie sollten Verständnis dafür haben, geehrter Herr,« fuhr er fort, »wie man sich einer anständigen Person gegenüber zu benehmen hat.« Mark Iwanowitsch verstand es, bei Gelegenheit schön zu reden, und imponierte gern seinen Zuhörern. Semjon Iwanowitsch dagegen redete, wahrscheinlich infolge seiner langen Gewohnheit zu schweigen, mehr in abgebrochener Manier, und dazu kam noch etwas anderes: wenn es sich traf, daß er einen längeren Satz zu sprechen hatte, so war es, als ob, je mehr er in ihn hineingeriet, jedes Wort noch ein anderes Wort gebar, das andere Wort gleich bei seiner Geburt ein drittes, das dritte ein viertes, und so weiter, so daß er den ganzen Mund voll hatte, sich verschluckte und die Worte ihm schließlich in malerischer Unordnung aus dem Munde hinauspolterten. Dies war der Grund, weswegen Semjon Iwanowitsch, der doch ein verständiger Mensch war, mitunter schrecklichen Unsinn redete. »Du faselst,« antwortete er jetzt, »du grüner Bengel, du Herumtreiber! Du wirst dir noch einmal einen Quersack über die Schulter hängen und betteln gehn, du Freigeist, du Liedrian; da hast du es, du Schönredner!«

»Sie phantasieren wohl immer noch, nicht wahr, Semjon Iwanowitsch?«

»Weißt du,« antwortete Semjon Iwanowitsch, »ein Dummkopf phantasiert, ein Trunkenbold phantasiert, ein Hund phantasiert; aber ein weiser Mann dient der Vernunft. Du verstehst nichts vom praktischen Leben, du liederlicher Mensch, du Gelehrter, du geschriebenes Buch! Und wenn du in Brand gerätst, dann wirst du gar nicht merken, wie dir der Kopf abbrennt; ich habe da so eine Geschichte gehört!«

»Ja … das heißt, wie denn … das heißt, wie meinen Sie denn das, Semjon Iwanowitsch, daß mir der Kopf abbrennen wird? …«

Mark Iwanowitsch sprach nicht zu Ende; denn alle sahen deutlich, daß Semjon Iwanowitsch noch nicht klar war und irre redete; aber die Wirtin konnte sich nicht mehr halten und schob hier die Bemerkung ein, daß das Haus in der Krummen Gasse neulich durch die Schuld eines kahlköpfigen Dienstmädchens abgebrannt sei; es wäre da so ein kahlköpfiges Dienstmädchen gewesen, die habe eine Kerze angezündet und dadurch die Rumpelkammer in Brand gesetzt. Aber bei ihr, der Redenden, komme so etwas nicht vor, und die Schlafstellen seien sicher.

»Ja, sehen Sie mal, Semjon Iwanowitsch!« rief Sinowi Prokofjewitsch ganz außer sich, indem er die Wirtin unterbrach. »Sie sind ja ein ganz wunderlicher, einfältiger Mensch, Semjon Iwanowitsch; man macht mit Ihnen ein paar Späßchen über Ihre Schwägerin und über Prüfungen im Tanzen, und da halten Sie das für wahr?«

»Na, höre du jetzt mal«, antwortete unser Held, der seine letzte Kraft zusammennahm und sich auf dem Bette halb aufrichtete; er war furchtbar ergrimmt auf seine teilnahmsvollen Mitpensionäre. »Wer ist hier der Narr? Du bist ein Narr, ein närrischer Hund, ein Hansnarr; mir aber fällt es nicht ein, auf deinen Befehl Narrheiten zu machen; hörst du wohl, du dummer Junge, ich bin nicht dein Diener!«

Semjon Iwanowitsch wollte noch etwas hinzufügen, fiel aber kraftlos auf das Bett zurück. Die teilnahmsvollen Mitpensionäre machten erstaunt den Mund auf; denn sie begriffen jetzt, was mit Semjon Iwanowitsch vorgegangen war, und wußten nicht, was sie nun weiter tun sollten. Auf einmal knarrte die Küchentür, öffnete sich, und der trunksüchtige Freund, alias Herr Simoweikin, steckte schüchtern seinen Kopf herein und witterte nach seiner Gewohnheit vorsichtig umher. Es war, als hätte man ihn erwartet; alle winkten ihm gleichzeitig zu, er möchte schnell hereinkommen, und Simoweikin drängte sich außerordentlich erfreut, ohne den Mantel abzulegen, eilig und höchst bereitwillig zu Semjon Iwanowitschs Bette durch.

Es war deutlich, daß Simoweikin die ganze Nacht in wachem Zustande und in irgendwelcher ernsten Tätigkeit verbracht hatte. Die rechte Seite seines Gesichtes war mit etwas verklebt; seine geschwollenen Augenlider waren feucht von Eiter; der Frack und die ganze Kleidung waren zerrissen, und die ganze linke Seite des Anzugs schien mit etwas sehr Häßlichem bespritzt zu sein, vielleicht mit Schmutz aus einer Pfütze. Unter dem Arme trug er eine Geige, die Gott weiß wem gehören mochte, und die er irgendwo verkaufen wollte. Anscheinend hatten die Pensionäre keinen Fehlgriff damit getan, daß sie ihn zu Hilfe riefen; denn nachdem er erfahren hatte, um was es sich handelte, wandte er sich sogleich an den schimpflustigen Semjon Iwanowitsch und sagte mit der Miene eines Mannes, der eine gewisse Autorität besitzt und zudem die Sache durchschaut: »Was fällt dir ein, Semjon? Steh doch auf! Du weiser Prochartschin, diene der Vernunft! Sonst werde ich dich wegschleppen, wenn du hier Randal machst; also mach hier keinen Randal!« Diese kurze, aber kräftige Ansprache versetzte die Anwesenden in Erstaunen, und noch mehr wunderten sich alle, als sie bemerkten, daß Semjon Iwanowitsch beim Anhören dieser Worte und beim Anblicke dieses Gesichtes dermaßen erschrak und so verwirrt und ängstlich wurde, daß er kaum flüsternd die notwendigste Erwiderung durch die Zähne murmeln konnte: »Du Unglücklicher, geh fort!« sagte er; »du Unglücklicher, du Dieb! Hörst du wohl, verstehst du wohl? Ein hochfahrender Mensch bist du; denkst wohl, du bist ein Fürst!«

»Nein, Bruder«, antwortete Simoweikin, der vollständig die Geistesgegenwart bewahrte, in gedehntem Tone. »Das ist nicht schön von dir, du weiser Prochartschin«, fuhr er Semjon Iwanowitsch ein wenig parodierend, fort und sah sich selbstzufrieden im Kreise um. »Mach hier keinen Randal! Sei friedlich, Semjon, sei friedlich; sonst werde ich dich verraten, Brüderchen, und alles erzählen; verstehst du wohl?«

Es schien, daß Semjon Iwanowitsch alles verstanden hatte; denn er zuckte zusammen, als er die letzten Worte hörte, und sah sich auf einmal schnell und mit ganz verstörtem Blicke rings um. Zufrieden mit der erzielten Wirkung wollte Herr Simoweikin fortfahren; aber Mark Iwanowitsch verbot ihm sogleich solche aufregende Reden, wartete, bis Semjon Iwanowitsch still und zahm geworden war und sich fast ganz beruhigt hatte, und begann dann in längerer Rede ihm vernünftig vorzustellen, dergleichen Gedanken zu hegen, wie er sie jetzt im Kopfe habe, sei erstens unnütz, zweitens nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich; und endlich nicht nur schädlich, sondern sogar höchst unmoralisch; und die Ursache sei, daß Semjon Iwanowitsch alle verführe und ein schlechtes Beispiel gebe. Von dieser Rede erwarteten alle eine verständige Wirkung. Auch war Semjon Iwanowitsch jetzt in der Tat ganz still und erwiderte in maßvollem Tone. Es entspann sich eine freundschaftliche Debatte. Einige wandten sich in brüderlicher Weise an ihn und fragten ihn, warum er denn eigentlich so ängstlich sei. Semjon Iwanowitsch antwortete, aber ausweichend. Es wurde ihm etwas erwidert. Semjon Iwanowitsch antwortete auch darauf. Es folgte von beiden Seiten noch je eine Erwiderung; dann aber mischten sich alle in das Gespräch, alt und jung; denn die Rede war plötzlich auf ein so wunderbares, seltsames Thema gekommen, daß sie schlechterdings nicht wußten, wie sie alles ausdrücken sollten. Der Streit wurde schließlich heftig; es wurde geschrien; ja, es kam zu Tränen, und Mark Iwanowitsch trat schließlich mit wutschäumendem Munde weg und erklärte, er habe noch nie einen so vernagelten Menschen kennen gelernt. Oplewaniew spuckte ärgerlich aus; Okeanow bekam Angst; Sinowi Prokofjewitsch brach in Tränen aus, und Ustinja Fjodorowna heulte laut und jammerte, sie verliere einen Pensionär; er habe den Verstand verloren und werde sterben, ohne daß der Paß zu finden sei, und sie stehe allein und schutzlos in der Welt da und werde mit den Behörden ihre Not haben. Kurz, alle sahen schließlich klar ein, daß ihre Aussaat gut gewesen war, daß alles, was zu säen ihnen in den Sinn gekommen war, hundertfältige Frucht trug, daß der Boden wohlgeeignet gewesen war, und daß es Semjon Iwanowitsch gelungen war, in ihrer Gesellschaft seinen Kopf in einer wundervollen, unwiederbringlichen Weise auszubilden. Alle verstummten; denn da sie sahen, daß Semjon Iwanowitsch sich vor allem fürchtete, so wurden sie schließlich selbst ängstlich.

»Wie!« rief Mark Iwanowitsch, »warum fürchten Sie sich denn so? Warum sind Sie denn so verrückt geworden? Wer denkt denn überhaupt an Sie, mein Herr? Haben Sie ein Recht, sich zu fürchten? Wer sind Sie? Was sind Sie? Eine Null sind Sie, mein Herr, ein runder Pfannkuchen, daß Sie's nur wissen! Warum machen Sie Lärm? Ein altes Weib ist auf der Straße überfahren worden; muß Ihnen darum das gleiche geschehen? Ein Trunkenbold hat seine Tasche nicht behütet; werden darum auch Ihnen die Rockschöße abgeschnitten werden? Ein Haus ist abgebrannt; wird darum auch Ihnen der Kopf abbrennen, wie? Ist es so, mein Herr? Ist es so, Verehrter? Ist es so?«

»Du, du, du bist dumm!« murmelte Semjon Iwanowitsch. »Man wird dir die Nase abbeißen, und du wirst sie selbst zum Brote essen, ohne es zu merken …«

»Mag ich ein Stiefel sein, mag ich ein Stiefel sein!« rief Mark Iwanowitsch, der nicht hingehört hatte; »mag ich meinetwegen nicht besser als ein Stiefel sein! Aber ich brauche ja kein Examen abzulegen, brauche mich nicht zu verheiraten, brauche nicht tanzen zu lernen; der Boden bricht unter mir nicht zusammen, mein Herr. Wie steht es, Verehrter? Haben Sie nicht ordentlich Platz? Sinkt der Boden unter Ihnen ein, wie?«

»Wird man etwa dich danach fragen? Sie schließen sie, und dann ist sie nicht mehr vorhanden.«

»Was schließen sie? Was haben Sie da wieder?«

»Aber den Trunkenbold haben sie doch abgesetzt.«

»Ja; aber das ist auch ein Trunkenbold, und Sie und ich sind Menschen!«

»Nun ja, wir sind Menschen. Aber sie existiert, und auf einmal existiert sie nicht mehr …«

»›Sie existiert nicht mehr!‹ Was für eine ›sie‹ denn?«

»Na, sie, die Kanzlei … die Kanz–lei!!!«

»Aber Mann Gottes! Die ist ja doch notwendig, die Kanzlei …«

»Sie ist notwendig, sagst du; heute ist sie notwendig, morgen ist sie notwendig, aber übermorgen ist sie auf einmal nicht mehr notwendig. Da habe ich eine Geschichte gehört …«

»Aber Sie werden doch ein Jahresgehalt weiterbeziehen! O Sie ungläubiger Thomas! Und bei manchen Stellen steigt das Gehalt mit dem Dienstalter …«

»Gehalt? Wenn ich aber das Gehalt verzehrt habe oder Diebe kommen und es mir wegnehmen? Und ich habe eine Schwägerin, hörst du wohl? Eine Schwägerin! Du vernagelter Mensch du! …«

»Eine Schwägerin! Nein, Sie sind ein Mensch, der …«

»Ein Mensch; ich, ich bin ein Mensch; aber du bist trotz deiner Belesenheit dumm; hörst du wohl, vernagelt bist du, ganz vernagelt; nun weißt du's! Ich mache nicht solche Späße wie du; aber es ist eine Stelle, die ohne weiteres aufgehoben werden kann. Auch Demid, hörst du, Demid Wasiljewitsch sagt, die Stelle würde aufgehoben …«

»Ach, was reden Sie; wie wird denn Demid … Sie versündigen sich ja …«

»Ja, hast du nicht gesehen, ist man ohne Stelle; und was macht man dann, siehst du.«

»Sie reden ja einfach irre oder haben ganz den Verstand verloren! Sagen Sie uns doch einfach: was ist Ihnen? Gestehen Sie es, wenn Ihnen ein Unglück zugestoßen ist! Dabei ist doch nichts zu schämen! Sind Sie verrückt geworden, Verehrter, ja?«

»Er ist verrückt geworden! Er hat den Verstand verloren!« wurde ringsumher gerufen, und alle rangen verzweifelt die Hände. Die Wirtin aber faßte Mark Iwanowitsch mit beiden Armen um und bat ihn, Semjon Iwanowitsch nicht länger zu peinigen.

»Ein Heide bist du, eine heidnische Seele hast du, du Weiser!« flehte ihn auch Simoweikin an und fuhr dann, zu Semjon Iwanowitsch gewendet, fort: »Semjon, du bist nicht übelnehmerisch, du bist freundlich und liebenswürdig! Du bist ein schlichter, tugendhafter Mensch, hörst du wohl? Das kommt alles von deiner Tugend her; ich aber bin dreist und dumm, ich bin ein Bettler. Du hast mich als guter Mensch nicht verlassen; sei sicher, dafür wird dir Ehre zuteil werden; allen Herren hier und der Wirtin sage ich meinen Dank; siehst du, ich verbeuge mich bis zur Erde, da, so; ich tue meine Schuldigkeit, meine Schuldigkeit, liebe Wirtin!« Hier machte Simoweikin wirklich, und sogar mit einer Art von pedantischer Würde, vor allen ringsumher Verbeugungen bis zur Erde. Hierauf wollte Semjon Iwanowitsch wieder weiterreden; aber diesmal gestattete man es ihm nicht: alle drangen auf ihn ein, baten ihn, redeten ihm zu und beschwichtigten ihn und erreichten es auch, daß er ganz kleinlaut wurde und zuletzt nur mit schwacher Stimme bat, noch ein paar Worte sagen zu dürfen.

»Nun ja, das ist ja richtig«, sagte er; »ich bin freundlich und friedlich, siehst du, und tugendhaft, anhänglich und treu; weißt du, meinen letzten Blutstropfen, hörst du, du dummer Junge, du Protz … mag sie bestehen bleiben, die Stelle; aber ich bin arm; und wenn sie sie mir nehmen, hörst du, du protziger Mensch (schweige jetzt und höre zu!), wenn sie sie mir nehmen, dann … sie besteht ja jetzt, Bruder; aber dann wird sie nicht mehr bestehen … verstehst du? Und ich, Bruder, werde noch mit dem Bettelsack … hörst du?«

»Semjon!« heulte Simoweikin wie ein Rasender und übertönte diesmal mit seiner Stimme den ganzen Lärm, der sich erhoben hatte. »Du Freigeist! Ich werde dich gleich verraten! Was bist du denn für einer? Bist du ein Krakeeler, du Schafskopf? Einen dreisten, dummen Menschen wie mich halftern sie ohne weiteres ab; aber bist du etwa so einer?«

»Aber es ist doch so eine Sache …«

»Was heißt das: ›es ist so eine Sache‹?«

»Es ist gegen ihn nichts anzufangen! …«

»Was heißt das: ›es ist gegen ihn nichts anzufangen‹?«

»Er hat seinen freien Willen; und wenn man immer so liegt und liegt, dann …«

»Was?«

»Aber auch wegen Freigeisterei …«

»Wegen Frei–gei–ste–rei! Semjon, du ein Freigeist!!«

»Halt!« rief Herr Prochartschin mit einer heftigen Armbewegung und unterbrach das sich erhebende Geschrei; »ich meinte es anders … Versteh doch nur, versteh doch nur recht, du Schafskopf: ich bin friedlich, heute bin ich friedlich, morgen bin ich friedlich; aber dann bin ich nicht mehr friedlich, ich werde grob, und dann heißt es: ›Mach, daß du wegkommst, du Freigeist!‹«

»Aber was reden Sie denn da!« donnerte schließlich Mark Iwanowitsch, sprang von dem Stuhle auf, auf den er sich niedergelassen hatte, um sich zu erholen, und lief in größter Aufregung, vor Ärger und Ingrimm am ganzen Leibe zitternd, zum Bette hin. »Was reden Sie da? Sie Schafskopf! Hat weder Dach noch Fach! Sind Sie denn etwa allein auf der Welt? Ist etwa die Welt für Sie geschaffen? Sind Sie ein Napoleon? Was sind Sie? Ein Napoleon, ja? Sind Sie ein Napoleon oder nicht?! Sagen Sie, mein Herr, ob Sie ein Napoleon sind oder nicht! …«

Aber Herr Prochartschin gab auf diese Frage keine Antwort mehr. Nicht daß er sich geschämt hätte ein Napoleon zu sein, oder sich gefürchtet hätte, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen; nein, er war nicht mehr imstande zu streiten oder sachlich etwas zu erörtern. Die Krisis der Krankheit war eingetreten. Ein Sprühregen von Tränen stürzte auf einmal aus seinen grauen Augen, die von einem fieberhaften Feuer glänzten. Mit seinen knochigen, durch die Krankheit ausgemergelten Händen bedeckte er seinen heißen Kopf, richtete sich im Bette auf und begann schluchzend zu reden: er sei ganz arm; er sei ein unglücklicher, schlichter Mensch, ein dummer, ungebildeter Mensch; gute Leute möchten ihm verzeihen, sich seiner annehmen, ihn beschützen, ihm Speise und Trank geben, ihn in seiner Armut nicht verlassen, und Gott weiß was Semjon Iwanowitsch noch alles jammerte. Während er so jammerte, blickte er in scheuer Angst um sich, als erwarte er jeden Augenblick, daß die Zimmerdecke einstürzen oder der Fußboden zusammenbrechen werde. Alle wurden beim Anblicke des Armen von Mitleid ergriffen, und allen wurde das Herz weich. Die Wirtin schluchzte wie ein altes Weib, jammerte über ihre schutzlose Verlassenheit und legte selbst den Kranken wieder ordentlich auf das Bett. Mark Iwanowitsch, welcher einsah, daß es zwecklos gewesen war, die Erinnerung an Napoleon wachzurufen, bekam einen Anfall von Gutherzigkeit und suchte sich ebenfalls hilfreich zu zeigen. Andere brachten, um auch ihrerseits etwas zu tun, eine Himbeerlimonade in Vorschlag, indem sie sagten, die helfe unverzüglich und gegen alles und werde dem Kranken sehr angenehm sein; aber Simoweikin widersprach sofort allen und stellte vielmehr die Behauptung auf, in einem solchen Falle sei nichts besser als eine gute Dosis starken Kamillentees. Was Sinowi Prokofjewitsch anlangte, der ein gutes Herz hatte, so schluchzte er und vergoß heiße Tränen vor Reue darüber, daß er Semjon Iwanowitsch durch allerlei Märchen geängstigt hatte, und veranlaßt durch die letzten Worte des Kranken, daß er ganz arm sei und man ihm zu essen geben möchte, nahm er die Veranstaltung einer Kollekte in Angriff, bei der er sich vorläufig auf die Pensionäre beschränkte. Von allen hörte man Ausdrücke des Bedauerns; alle waren von Mitleid und Betrübnis erfüllt, und alle wunderten sich dabei, wie es nur möglich gewesen war, daß ein Mensch sich so hatte ins Bockshorn jagen lassen. Und was hatte er dazu für einen Grund gehabt? Ja, wenn er noch ein hohes Amt inne hätte, verheiratet wäre, Kinder aufzuziehen hätte, und wenn man ihn dann vor Gericht gezogen hätte; aber er war ja doch nur ein ganz unbedeutender Mensch, der weiter nichts hatte als einen einzigen Kasten mit einem deutschen Schlosse, seit mehr als zwanzig Jahren hinter seinem Bettschirm lag und schwieg, von der Welt und ihrem Leide nichts wußte und haushälterisch lebte, – und einem solchen Menschen fiel es nun auf einmal ein, infolge eines gewöhnlichen müßigen Wortes sich eine fixe Idee in den Kopf zu setzen und zu fürchten, daß ihm das Leben in der Welt gar zu schwer werden würde. Und er bedachte gar nicht, daß es doch alle Menschen schwer haben! »Hätte er sich nur das überlegt,« sagte Okeanow nachher, »daß es doch alle Menschen schwer haben, dann hätte er den Kopf oben behalten und keine Dummheiten gemacht und sich nach Möglichkeit in die Verhältnisse geschickt.« Den ganzen folgenden Tag über wurde von nichts anderem gesprochen als von Semjon Iwanowitsch. Sie gingen zu ihm hin, erkundigten sich nach seinem Befinden und trösteten ihn; aber gegen Abend mochte er die Tröstungen nicht mehr anhören. Der Arme bekam starke Hitze und fing an zu phantasieren; mitunter verlor er das Bewußtsein, so daß sie schon den Arzt holen lassen wollten. Die sämtlichen Pensionäre verabredeten sich und gaben sich untereinander das Wort, die ganze Nacht über der Reihe nach bei Semjon Iwanowitsch Wache zu halten und ihn zu beruhigen und, wenn etwas vorfiele, sogleich alle zu wecken. In dieser Absicht setzten sie sich, um nicht einzuschlafen, zum Kartenspiel hin, nachdem sie bei dem Kranken dessen trunksüchtigen Freund angestellt hatten, der sich schon den ganzen Tag über in der Pension bei dem Bette des Kranken aufgehalten und dann um die Erlaubnis gebeten hatte, auch die Nacht über dableiben zu dürfen. Da sie aber nur auf Kredit spielten und das Spiel kein besonderes Interesse erregte, so wurde es ihnen bald langweilig. Sie hörten damit auf; dann stritten sie über irgend etwas; darauf fingen sie an zu schreien und zu lärmen, und schließlich gingen sie nach ihren Schlafstellen auseinander, redeten dort noch lange heftig miteinander, und da sie auf einmal alle ärgerlich geworden waren, so hatten sie keine Lust mehr, abwechselnd Wache zu halten, und schliefen ein. Bald darauf war es in der Pension so still wie in einem leeren Keller, um so mehr, da es eine furchtbare Kälte war. Einer der letzten, die einschliefen, war Okeanow. »Ich war so in einem Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen,« erzählte er später; »da schien es mir, als ob in meiner Nähe so vor ein Uhr morgens zwei Menschen miteinander sprächen.« Okeanow berichtete, er habe Simoweikin erkannt; dieser habe neben ihm seinen alten Freund Remnew aufgeweckt, und sie hätten lange miteinander geflüstert; dann sei Simoweikin hinausgegangen, und es sei zu hören gewesen, wie er in der Küche eine Tür aufzuschließen versuchte. Der Schlüssel hatte, wie die Wirtin nachher versicherte, unter ihrem Kopfkissen gelegen und war in dieser Nacht abhanden gekommen. Zuletzt, erzählte Okeanow, sei es ihm gewesen, als ob sie beide zu dem Kranken hinter den Bettschirm gingen und dort ein Licht anzündeten. »Weiter«, sagte er, »weiß ich nichts; ich bin dann erst mit allen zusammen aufgewacht, als alle in der Pension auf einmal von den Betten sprangen, weil hinter dem Bettschirm ein solches Geschrei erscholl, daß ein Toter davon hätte erwachen können«, – und da schien es vielen, daß auf einmal dort das Licht erlosch. Es entstand ein arger Wirrwarr; alle waren heftig erschrocken; sie stürzten, so wie ein jeder war, nach dem Geschrei hin; aber in diesem Augenblicke ließ sich hinter dem Bettschirm Lärm, Schimpferei und Prügelei vernehmen. Sie zündeten Licht an und sahen, daß Simoweikin und Remnew sich miteinander schlugen und einander schimpften; als sie sie beleuchteten, schrie der eine: »Ich bin es nicht gewesen, sondern dieser Räuber hier!« und der andre, nämlich Simoweikin, schrie: »Rühr' mich nicht an; ich habe keine Schuld; das will ich sofort beschwören!« Die Gesichter beider sahen ganz entstellt aus; aber im ersten Augenblick konnte man sich nicht mit ihnen abgeben; denn es stellte sich heraus, daß sich der Kranke nicht mehr auf seinem früheren Platze hinter dem Bettschirm befand. Sofort trennte man die Kämpfer und zog sie auseinander und sah nun, daß Herr Prochartschin unter dem Bette lag, jedenfalls völlig bewußtlos; die Bettdecke und das Kissen hatte er mit heruntergezogen, so daß sie auf ihm lagen; auf der Bettstelle war nur die kahle, alte, schmutzige Matratze zurückgeblieben (ein Laken hatte nie darauf gelegen). Man zog Semjon Iwanowitsch hervor und legte ihn auf die Matratze, bemerkte aber gleich, daß es keinen Zweck mehr hatte, sich mit ihm noch viele Mühe zu geben, da es schon vollständig mit ihm zu Ende ging: seine Arme waren schon steif geworden, und es war kaum noch Leben in ihm. Die Pensionäre stellten sich um ihn herum: er zuckte und zitterte immer noch ein klein wenig über den ganzen Körper hin; er versuchte mit den Händen etwas zu tun; die Zunge konnte er nicht bewegen; aber er blinzelte mit den Augen in ganz ähnlicher Art, wie angeblich der noch ganz warme, blutige, lebende Kopf blinzelt, den das Beil des Henkers soeben vom Rumpfe getrennt hat.

Zuletzt wurde alles stiller und stiller; das dem Tode vorhergehende Zittern und die Krämpfe erstarben; Herr Prochartschin streckte die Beine aus und begab sich mit seinen guten Taten und mit seinen Sünden ins Jenseits. Ob Semjon Iwanowitsch über irgend etwas einen Schreck bekommen oder einen bösen Traum gehabt hatte, wie Remnew nachher versicherte, oder irgendein anderes Unglück sich begeben hatte, das ist unbekannt; Tatsache ist nur, daß, auch wenn jetzt der Kanzleidirektor selbst in der Wohnung erschienen wäre und persönlich dem armen Semjon Iwanowitsch wegen Freigeisterei, Händelsucht und Trunksucht seine Entlassung aus dem Dienste mitgeteilt hätte, oder wenn sogar durch die andere Tür eine sich als Semjon Iwanowitschs Schwägerin bezeichnende Bettlerin hereingetreten wäre, oder wenn sogar Semjon Iwanowitsch auf der Stelle eine Gratifikation von zweihundert Rubeln erhalten hätte oder endlich das Haus und Semjon Iwanowitschs eigener Kopf zu brennen angefangen hätten, – daß er auch dann keinen Finger mehr gerührt haben würde. Und während bei den Anwesenden die erste Erstarrung vorüberging und sie die Sprache wiedergewannen und in wirrem Durcheinanderschreien allerlei Vorschläge machten und allerlei Zweifel äußerten, und während Ustinja Fjodorowna den Kasten unter dem Bette hervorzog und hastig unter dem Kopfkissen, unter der Matratze und sogar in den Stiefeln Semjon Iwanowitschs umhersuchte, und während Remnew und Simoweikin ins Verhör genommen wurden: in diesem Augenblicke bewies der Pensionär Okeanow, der bis dahin der beschränkteste, bescheidenste und stillste von allen gewesen war, plötzlich eine große Geistesgegenwart, besann sich auf sein Talent und seine besondere Begabung, ergriff seine Mütze und schlüpfte unter dem Lärm leise aus der Wohnung. Und als alle Schrecken der Anarchie bei den aufgeregten, bisher so friedlichen Pensionären ihren Gipfelpunkt erreicht hatten, da öffnete sich die Tür, und es erschienen plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel erstens ein Herr von anständigem Äußern mit ernstem, aber unzufriedenem Gesichte, hinter ihm Jaroslaw Iljitsch, hinter Jaroslaw Iljitsch seine Beamten, soweit sie hier erforderlich waren, und hinter allen der aufgeregte Herr Okeanow. Der ernste Herr mit dem anständigen Äußern ging geradeswegs zu Semjon Iwanowitsch hin, befühlte ihn, schnitt eine Grimasse, zuckte mit den Schultern und sprach etwas aus, was allen bereits bekannt war, nämlich daß der Verstorbene schon tot sei, wobei er noch von sich aus hinzufügte, ebendasselbe habe sich kürzlich mit einem sehr angesehenen hohen Herrn im Schlafe begeben, der ebenfalls ohne weiteres gestorben sei. Nach diesen Worten trat der Herr mit dem anständigen Äußern und der unzufriedenen Miene von dem Bette zurück, sagte, daß man ihn unnötigerweise belästigt habe, und ging hinaus. Sogleich trat Jaroslaw Iljitsch an seine Stelle (auf seine Anweisung wurden Remnew und Simoweikin von den Polizisten verhaftet), befragte einen und den andern, bemächtigte sich geschickt des Kastens, den die Wirtin schon zu verbergen gesucht hatte, stellte die Stiefel an ihren früheren Platz, wobei er sich dahin äußerte, daß sie ganz zerrissen und völlig unbrauchbar seien, verlangte das Kopfkissen zurück, rief Okeanow heran, fragte nach dem Schlüssel zum Kasten, der sich dann in der Tasche des trunksüchtigen Freundes fand, und öffnete feierlich vor den Augen aller berechtigten Zeugen das Eigentum Semjon Iwanowitschs. Alles lag nun offen da: zwei Lappen, ein Paar Socken, ein halbes Taschentuch, ein alter Hut, einige Knöpfe, alte Stiefelsohlen und Stiefelschäfte, dann noch eine Ahle, ein Stückchen Seife, etwas elende Wäsche, lauter Plunder, Schund, alter Kram, der einen häßlichen Geruch verbreitete; das einzige gute Stück war das deutsche Schloß. Jaroslaw Iljitsch rief Okeanow heran und sprach in strengem Tone mit ihm; aber Okeanow erklärte sich bereit, seine Aussagen zu beschwören. Der Beamte ließ sich auch das Kopfkissen geben und besichtigte es: es war nur sehr schmutzig, glich aber in jeder andern Hinsicht einem Kopfkissen. Nun wurde die Matratze vorgenommen; die Polizisten machten sich daran, sie aufzuheben, und hielten dabei ein wenig inne, um zu überlegen; aber auf einmal fiel ganz unerwartet etwas Schweres mit lautem Geräusch auf den Fußboden. Sie bückten sich, suchten und erblickten eine Papierrolle; in der Papierrolle befanden sich zehn Rubelstücke. »Aha, aha!« sagte Jaroslaw Iljitsch und zeigte in der Matratze auf eine defekte Stelle, aus welcher Roßhaar und Wergflocken hervorquollen. Die Öffnung wurde besichtigt, und es wurde festgestellt, daß sie soeben erst mit einem Messer hineingeschnitten und etwa eine halbe Elle lang war; Jaroslaw Iljitsch steckte die Hand in den Schlitz und zog ein wahrscheinlich in der Hast dort stecken gelassenes, der Wirtin gehöriges Küchenmesser heraus, mit welchem die Matratze aufgeschnitten worden war. Kaum hatte er das Messer aus der beschädigten Stelle herausgezogen und wieder »Aha!« gesagt, als noch eine zweite Rolle herausfiel und nach ihr mehrere einzelne Münzen herausrollten: zwei halbe Rubel, ein Viertelrubel, dann einige kleinere Silberstücke, darunter auch ein altertümliches, wohlerhaltenes Fünfkopekenstück. Alles wurde sogleich aufgesammelt. Man sah, daß es zweckmäßig sein würde, die ganze Matratze mit einer Schere aufzuschneiden, und verlangte eine solche …

Unterdessen beleuchtete der Stummel des schon weit herabgebrannten Talglichtes eine für den Beschauer überaus reizvolle Szene. Die Pensionäre, etwa ein Dutzend an Zahl, hatten sich in den malerischsten Kostümen um das Bett gruppiert, alle ungekämmt, unrasiert, ungewaschen, mit verschlafenen Gesichtern, so wie sie aus den Betten gekommen waren. Einige von ihnen waren ganz blaß; anderen war der Schweiß auf die Stirn getreten; manche wurden vom Froste geschüttelt; andere glühten vor innerer Hitze. Die Wirtin, die ganz betäubt war, stand still dabei, hielt die Hände gefaltet und überließ sich der Gnade Jaroslaw Iljitschs. Von oben, vom Ofen, schauten mit ängstlicher Neugier die Köpfe der Magd Awdotja und der Lieblingskatze der Wirtin herunter; ringsumher lagen die Stücke des zerrissenen und zerbrochenen Bettschirmes an der Erde; der offene Kasten zeigte sein wenig vornehmes Inneres; die Bettdecke und das Kopfkissen lagen, von Flocken aus der Matratze bedeckt, auf dem Fußboden, und endlich glänzte auf einem dreibeinigen hölzernen Tische ein allmählich wachsender Haufe von allerlei Silbermünzen. Nur Semjon Iwanowitsch behielt vollständig sein kaltes Blut, lag friedlich auf dem Bette und schien sein Unglück gar nicht zu ahnen. Als die Schere gebracht war und Jaroslaw Iljitschs Gehilfe, um sich diensteifrig zu zeigen, an der Matratze etwas ungeduldig rüttelte, um sie bequemer unter dem Rücken des Eigentümers hervorziehen zu können, da machte Semjon Iwanowitsch, welcher wußte, was die Höflichkeit verlangte, zuerst ein wenig Platz, indem er sich auf die Seite drehte und den Nachsuchenden den Rücken zuwandte; dann, bei einem zweiten Rucke, legte er sich auf den Bauch; und zuletzt wich er noch weiter zurück, und da an dem Bette das letzte Seitenbrett fehlte, plumpste er plötzlich ganz unerwartet mit dem Kopfe nach unten, so daß nur seine beiden knochigen, mageren, bläulichen Beine sichtbar blieben, die wie zwei Äste eines verbrannten Baumes in die Höhe ragten. Da Herr Prochartschin sich schon zum zweiten Male an diesem Morgen unter sein Bett begab, so erregte dies unverzüglich Verdacht, und einige der Pensionäre krochen unter Sinowi Prokofjewitschs Anführung ebenfalls hinunter, um nachzusehen, ob da nicht vielleicht etwas verborgen sei. Aber die Suchenden stießen nur ergebnislos mit den Köpfen zusammen, und da Jaroslaw Iljitsch sie sogleich anschrie und ihnen befahl, Semjon Iwanowitsch unverzüglich aus seiner unangenehmen Lage zu befreien, so faßten zwei der Verständigsten ihn jeder mit beiden Händen an ein Bein, zogen den unerwarteten Kapitalisten wieder an die Oberwelt und legten ihn quer über das Bett. Unterdessen flogen Roßhaar und Wergslocken ringsumher, der Silberhaufen wuchs, und, o Gott! was lag da nicht alles: vornehme Rubelstücke, solide, starke Anderthalbrubelstücke, hübsche halbe Rubel, plebejische Viertelrubel und Zwanzigkopekenstücke, sogar dürftige silberne Zehn- und Fünfkopekenstücke, wie sie die alten Weiber aufzuheben pflegen, alles in besondere Papierchen eingewickelt und in peinlichster Ordnung. Es waren auch Seltenheiten darunter: zwei Denkmünzen irgendwelcher Art, ein Napoleondor und eine unbekannte, aber jedenfalls sehr seltene Münze. Einige der Rubelstücke zeichneten sich auch durch hohes Alter aus; da waren abgescheuerte und zerhackte Elisabethanische deutsche Kreuzrubel, Rubel von Peter dem Großen und Katerina; es waren auch kleinere, jetzt sehr seltene Münzen da, alte Fünfzehnkopekenstücke, durchlocht zum Tragen an den Ohren, alle stark abgescheuert, aber mit dem gesetzlichen Passiergewicht; sogar Kupfer war da, aber schon ganz grün und verrostet. Auch ein roter Zehnrubelschein fand sich – mehr war aber nicht da. Als endlich die ganze anatomische Sektion zu Ende war und man bei mehrmaligem Schütteln des Matratzenbezuges gefunden hatte, daß nichts mehr klapperte, da legte man alles Geld auf den Tisch und begann es zu zählen. Auf den ersten Blick konnte man sich sogar stark täuschen und es geradezu auf eine Million taxieren, ein so gewaltiger Haufe war es! Aber es war keine Million, obwohl doch eine recht beträchtliche Summe herauskam: genau zweitausendvierhundertsiebenundneunzig Rubel und fünfzig Kopeken, so daß, wenn tags zuvor die von Sinowi Prokofjewitsch geplante Subskription zur Ausführung gelangt wäre, vielleicht die Summe von zweitausendfünfhundert Rubeln voll geworden sein würde. Das Geld wurde zusammengepackt, in den Kasten des Verstorbenen gelegt und dieser versiegelt; Jaroslaw Iljitsch hörte die Klagen der Wirtin an und teilte ihr mit, wann und wo sie ihre Ansprüche hinsichtlich der kleinen Summe, die ihr der Verstorbene schuldig geblieben war, geltend zu machen habe. Das Protokoll wurde von denjenigen Personen, denen das zukam, unterschrieben; die Pensionäre ließen dabei auch ein Wort von der Schwägerin fallen; aber da man allgemein der Überzeugung war, die Schwägerin sei nur eine Art von Mythus, das heißt ein Produkt des mangelhaften Denkvermögens Semjon Iwanowitschs, was die Pensionäre auf Grund von Erkundigungen dem Verstorbenen auch zu wiederholten Malen vorgehalten hatten, so wurde von einer weiteren Verfolgung dieses Gedankens als eines zwecklosen und dem guten Namen des Herrn Prochartschin nachteiligen Abstand genommen; damit endete die Sache. Als der erste Schreck vorbei war und die Pensionäre ihre Gedanken wieder gesammelt hatten und zu der Erkenntnis gelangt waren, was für ein Mensch der Verstorbene gewesen war, da wurden sie still und schweigsam und begannen einander mit einer Art von Mißtrauen anzusehen. Einige nahmen sich Semjon Iwanowitschs Benehmen sehr zu Herzen und fühlten sich sogar gewissermaßen gekränkt. Ein solches Kapital! Soviel hatte der Mensch zusammengespart! Mark Iwanowitsch, der seine Geistesgegenwart nicht verloren hatte, wollte zu erklären suchen, warum Semjon Iwanowitsch es so plötzlich mit der Angst bekommen hatte; aber die andern hörten ihm nicht zu. Sinowi Prokofjewitsch war sehr nachdenklich; Okeanow betrank sich ein bißchen; die übrigen befanden sich in gedrückter Stimmung, und der kleine Kantarew, der sich durch seine Sperlingsnase auszeichnete, zog am Abend aus der Wohnung aus, nachdem er alle seine Kasten und Bündel sehr sorgsam zugeklebt und zusammengebunden hatte, und erklärte neugierigen Fragern kühl, die Zeiten seien gar zu schwer, und er müsse hier mehr bezahlen, als ihm sein Portemonnaie gestatte. Die Wirtin heulte und jammerte ohne Unterbrechung und verwünschte Semjon Iwanowitsch, weil er sie arme alleinstehende Frauensperson zu Schaden gebracht habe.

Mark Iwanowitsch wurde gefragt, warum eigentlich der Verstorbene sein Geld nicht in der Bank zinsbar angelegt habe. »Dazu war er zu einfältig, meine Beste«, antwortete Mark Iwanowitsch, sich zur Wirtin wendend; »sein Denkvermögen reichte dazu nicht aus.«

»Na, und Sie sind auch einfältig, liebe Wirtin«, fügte Okeanow hinzu. »Zwanzig Jahre hat sich der Mensch bei Ihnen gestärkt und ist nun doch von einem Nasenstüber umgepurzelt; bei Ihnen aber kochte gerade die Kohlsuppe, und Sie hatten keine Zeit, sich um ihn zu kümmern! … O weh, meine Verehrteste! …«

»Ach, was redest du da für dummes Zeug!« erwiderte die Wirtin. »Und wozu hätte er das Geld in die Bank legen sollen? Wenn er mir seine Handvoll Geld gebracht und zu mir gesagt hätte: ›Da, nimm, liebe Ustinja; das ist dein wohlverdienter Lohn; behalte mich dafür in Wohnung und Kost, solange mich die liebe Mutter Erde trägt!‹ siehst du, das wäre das Richtige gewesen; dann hätte ich ihm zu essen und zu trinken gegeben und ihn gepflegt und gewartet. Ach, so ein Sünder, so ein Betrüger! Getäuscht und betrogen hat er mich arme, alleinstehende Frauensperson! …«

Manche traten von neuem an Semjon Iwanowitschs Bett heran. Er lag jetzt da, wie es sich gehört, in seinem besten Anzuge, der allerdings sein einziger war, das erstarrte Kinn hinter dem etwas ungeschickt umgebundenen Halstuche verborgen, gewaschen, gekämmt, nur nicht rasiert, da ein Rasiermesser in der Pension nicht vorhanden war; das einzige, welches Sinowi Prokofjewitsch gehört hatte, war schon im vorigen Jahre schartig geworden und vorteilhaft auf dem Trödelmarkte verkauft worden; die andern Pensionäre gingen von jeher zum Barbier. Die Unordnung im Zimmer zu beseitigen hatte man noch nicht Zeit gefunden. Die Bruchstücke des Bettschirmes lagen noch wie vorher auf der Erde, ließen Semjon Iwanowitschs einsames Lager sichtbar werden und versinnbildlichten gleichsam die Tatsache, daß der Tod den Vorhang von allen unseren Geheimnissen, Intrigen und Ausflüchten wegzieht. Die Füllung der Matratze war ebenfalls noch nicht weggeräumt, sondern lag in dichten Häufchen ringsumher. Diese ganze plötzlich erkaltete Schlafstelle hätte ein Dichter sehr passend mit dem zerstörten Neste einer Hausschwalbe vergleichen können: der Sturm hat es völlig zerschlagen und in Stücke gerissen; die jungen Vögelchen mitsamt der Mutter sind getötet und ihr warmes Bettchen aus Daunen, Federchen und Flöckchen ringsumher verstreut. Allerdings sah Semjon Iwanowitsch mehr wie ein alter Egoist und diebischer Spatz aus. Er war jetzt still geworden und schien sich zu verstellen, als ob er nichts begangen und keinen schlauen Schwindel in Szene gesetzt hätte, um in scham- und gewissenloser, höchst unanständiger Weise alle guten Leute hinters Licht zu führen und zu betrügen. Er hörte jetzt nicht mehr das Weinen und Schluchzen seiner armen, alleinstehenden, von ihm schwer geschädigten Wirtin. Vielmehr schien er wie ein erfahrener, geriebener Kapitalist, der auch im Sarge keine Minute untätig verlieren möchte, vollständig mit irgendwelchen spekulativen Berechnungen beschäftigt zu sein. Auf seinem Gesichte zeigte sich der Ausdruck eines tiefen Nachdenkens, und seine Lippen waren mit einer so bedeutsamen Miene zusammengepreßt, wie man sie ihm bei seinen Lebzeiten niemals zugetraut hätte. Es machte den Eindruck, als sei er klüger geworden. Das rechte Auge hatte er gewissermaßen schalkhaft zusammengekniffen; es schien, als wolle er etwas sagen, eine sehr notwendige Mitteilung machen, und zwar ohne Zeitverlust, so schnell wie möglich, da die Geschäfte drängten und er keine Zeit mehr habe. Es war einem, als hörte man ihn sagen: »Was hast du denn? Hör auf, du dummes Weib, hörst du wohl? Plinze nicht! Schlaf dich ordentlich aus, meine Beste, hörst du wohl? Ich bin ja gestorben und brauche nichts mehr; wirklich nicht! Es ist schön, so dazuliegen … Aber ich wollte etwas anderes sagen; du bist ja ein famoses Frauenzimmer, paß mal auf: ich bin ja jetzt gestorben; aber wenn ich nun … hm … das heißt … wenn ich am Ende … es ist ja nicht möglich … aber wenn ich nun, hm, nicht gestorben bin und wieder aufstehe, was wird dann, he?«


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