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Der Bettelknabe

Aus dem »Tagebuche eines Schriftstellers«, 1876, Januar. – Anmerkung des Übersetzers.


I.
Der kleine Knabe »mit dem Händchen«

Die Bettelkinder sind ein sonderbares Völkchen; ich träume von ihnen und kann sie nicht aus den Gedanken loswerden. Vor dem Weihnachtsabend und am Weihnachtsabend selbst traf ich immer auf der Straße an einer bestimmten Ecke einen kleinen Knaben, der gewiß nicht mehr als sieben Jahre alt war. Trotz der furchtbaren Kälte war er fast sommerlich gekleidet; nur der Hals war ihm mit einem alten Lappen umwickelt; also rüstete ihn doch jemand aus, bevor er ihn aussandte. Er ging »mit dem Händchen«; dies ist der technische Ausdruck und bedeutet: um Almosen bitten. Den Ausdruck haben sich diese Knaben selbst erdacht. Solcher Knaben, wie er, gibt es eine Menge; sie wenden sich an die Vorübergehenden und heulen ihnen in kläglichem Tone etwas Auswendiggelerntes vor; aber dieser heulte nicht, sondern redete in einer unschuldigen Weise, die auf noch mangelnde Gewöhnung schließen ließ, und sah mir vertrauensvoll in die Augen, – also war er in seiner Profession erst ein Anfänger. Auf Befragen teilte er mir mit, daß er eine Schwester habe, welche ohne Arbeit krank zu Hause sitze. Vielleicht war es die Wahrheit; nur erfuhr ich später, daß unzählige Knaben so reden. Sie werden »mit dem Händchen« selbst in die grimmigste Kälte hinausgeschickt, und wenn sie nichts nach Hause bringen, so warten ihrer mit Sicherheit Schläge. Wenn ein solcher Knabe einige Kopeken zusammengebracht hat, so kehrt er mit roten, steifgefrorenen Händen in eine Kellerwohnung zurück, wo eine Rotte von Fabrikarbeitern säuft, von der Sorte derjenigen, die, nachdem sie am Sonnabend in der Fabrik aufgehört haben zu arbeiten, nicht vor Mittwochabend wieder zur Arbeit zurückkehren. Dort in den Kellerwohnungen saufen mit ihnen zusammen auch ihre hungernden, vielgeprügelten Weiber, und ebendort wimmern ihre hungernden Säuglinge. Branntwein und Schmutz und Unsittlichkeit sind für diese Behausungen charakteristisch, namentlich aber der Branntwein. Mit den zusammengebettelten Kopeken wird der Knabe sogleich in die Schenke geschickt, um noch mehr Branntwein zu holen. Zum Amüsement gießen sie auch ihm manchmal ein Achtelstof Stof: Hohlmaß; 100 Stof = 114,5 Liter. – Anm.d.Hrsg. in den Mund und lachen wiehernd, wenn ihm der Atem vergeht und er beinah bewußtlos auf den Boden fällt:

»Und ohne Mitleid goß er mir
Den garstgen Branntwein in den Mund …« Aus einem Gedichte von N. A. Nekrasow. ( Anm.d.Übers.)

Wenn er heranwächst, bringt man ihn so bald wie möglich in eine Fabrik; aber alles, was er durch seine Arbeit erwirbt, ist er wieder verpflichtet, jenen Kerlen zu bringen, und die vertrinken es wieder. Aber schon ehe sie in die Fabrik kommen, werden diese Kinder vollständige Verbrecher. Sie treiben sich in der Stadt umher und kennen in allerlei Kellern Orte, wo sie hineinschlüpfen und unbemerkt nächtigen können. Einer von ihnen brachte mehrere Nächte hintereinander bei einem Hausknechte in einer Kiepe zu, ohne daß dieser es bemerkt hätte. Selbstverständlich werden sie kleine Diebe. Der Diebstahl wird sogar achtjährigen Kindern zur Leidenschaft, und diese haben mitunter nicht einmal das geringste Bewußtsein von dem Verbrecherischen einer solchen Handlungsweise. Schließlich lernen sie alles ertragen: Hunger, Kälte, Schläge, wenn sie nur eines haben, nämlich die Freiheit, und so bald wie möglich laufen sie ihren ursprünglichen Gebietern fort, um sich nun auf eigene Hand herumzutreiben. So ein kleiner Wilder weiß manchmal geradezu nichts, weder in welcher Stadt er lebt, noch zu welchem Volke er gehört, noch ob es einen Gott oder einen Kaiser gibt; es werden über sie sogar ganz unglaubliche Dinge erzählt, und doch sind es Tatsachen.

II.
Der kleine Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus

Aber ich bin ein Novellist und habe, wie ich glaube, die folgende Geschichte selbst ersonnen. Warum schreibe ich: »wie ich glaube«? Ich weiß ja selbst ganz genau, daß ich sie ersonnen habe; aber ich habe immer die Vorstellung, daß sich das irgendwo irgendeinmal begeben hat, und zwar gerade am Weihnachtsabend in irgendeiner sehr großen Stadt und bei furchtbarer Kälte.

Es steht mir ein Knabe vor Augen, ein noch sehr kleiner Knabe, sechsjährig oder noch jünger. Dieser Knabe erwachte am Morgen in einer feuchten, kalten Kellerwohnung. Er trug ein schlechtes Kittelchen und zitterte vor Frost. Sein Atem flog als weißer Dampf aus seinem Munde, und in einer Ecke auf einem Kasten sitzend, ließ er vor Langerweile diesen Dampf absichtlich herausströmen und vergnügte sich damit, zu sehen, wie er davonflog. Aber er hatte großen Hunger. Mehrere Male seit dem Morgen war er an die Pritsche herangetreten, wo auf einer Unterlage, die so dünn wie ein Eierkuchen war, und mit einem Bündel statt eines Kissens unter dem Kopfe seine kranke Mutter lag. Wie war sie hierher geraten? Wahrscheinlich war sie mit ihrem Knaben aus einer andern Stadt hergekommen und hier plötzlich erkrankt. Die Vermieterin der Schlafstellen war schon vor zwei Tagen zur Polizei geholt worden; die Mieter waren davongegangen, um den Feiertag zu begehen; nur einer, der den Feiertag nicht hatte abwarten können, war anwesend und lag schon einen ganzen Tag lang stierartig betrunken da. In einer anderen Ecke des Zimmers stöhnte, von Rheumatismus geplagt, eine achtzigjährige alte Frau, die einmal irgendwo Kinderfrau gewesen war, jetzt aber einsam im Sterben lag; sie ächzte, murmelte und brummte den Knaben an, so daß er sich schon fürchtete, an ihren Winkel nahe heranzukommen. Trinkwasser hatte er irgendwo auf dem Flur gefunden; aber eine Brotrinde konnte er nirgends auftreiben und trat wohl schon zum zehnten Male an seine Mutter heran, um sie aufzuwecken. Es wurde ihm endlich bange in der Dunkelheit: es war schon längst Abend geworden; aber Licht wurde nicht angesteckt. Als er das Gesicht seiner Mama betastete, wunderte er sich, daß sie sich gar nicht bewegte und so kalt war wie die Wand. »Es ist hier doch sehr kalt«, dachte er, blieb noch ein Weilchen stehen, wobei er unbewußt vergaß, daß seine Hand auf der Schulter der Toten lag, hauchte dann auf seine Fingerchen, um sie zu erwärmen, und ging, als er plötzlich auf der Pritsche sein Mützchen fand, leise und tastend aus dem Keller hinaus. Er wäre schon früher hinausgegangen; aber er hatte sich immer oben an der Treppe vor dem großen Hunde gefürchtet, der den ganzen Tag an der Tür des Nachbarhauses geheult hatte. Jetzt aber war der Hund nicht da, und so ging denn der Knabe schnell auf die Straße.

O Gott, was war das für eine Stadt! So etwas hatte er noch nie gesehen. Dort in der Stadt, aus der er gekommen war, hatte nachts eine so schwarze Finsternis geherrscht; auf der ganzen Straße hatte es nur eine einzige Laterne gegeben. Die Fenster der niedrigen hölzernen Häuschen waren abends mit Läden verwahrt worden; auf der Straße war nach dem Dunkelwerden kein Mensch mehr gewesen; alle hatten sich in ihre Häuser eingeschlossen, und nur ganze Scharen von Hunden, Hunderte und Tausende, hatten die ganze Nacht über gebellt und geheult. Aber dafür war es dort so schön warm gewesen, und er hatte zu essen bekommen; aber hier – o Gott, wenn er doch etwas zu essen bekäme! Und was war hier für ein Gerassel und Gelärm, und wieviel Licht und wie viele Menschen, Pferde und Wagen, und was für eine Kälte, was für eine Kälte! Gefrierender Dampf quillt aus den heiß atmenden Nüstern der scharf angetriebenen Pferde; durch den lockeren Schnee hindurch schlagen die Hufeisen mit hellem Tone auf die Steine, und alle Menschen drängen und stoßen sich so, und, o Gott, er möchte so gern etwas essen, wenn auch nur einen kleinen Bissen, und seine Fingerchen tun ihm auf einmal so weh. Ein Hüter der Ordnung geht vorüber und wendet sich ab, um den Knaben nicht zu bemerken.

Und da ist wieder eine Straße – o was für eine breite Straße! Hier werden sie ihn gewiß zerdrücken und zertreten; wie sie alle schreien und laufen und fahren; und das viele Licht, das viele Licht! Aber was ist das? Ach, was für ein großes Glasfenster, und hinter den Glasscheiben ist ein Zimmer und in dem Zimmer ein Baum, der bis an die Decke reicht: das ist ein Weihnachtsbaum, und an dem Weihnachtsbaume sind so viele Lichterchen, so viele goldene Papierchen und Äpfel, und ringsumher sind Püppchen und kleine Pferdchen; und im Zimmer laufen Kinder umher, schön geputzte, saubere Kinder, und lachen und spielen und essen und trinken etwas. Da, dieses kleine Mädchen fängt an, mit einem kleinen Knaben zu tanzen; nein, was ist das für ein hübsches kleines Mädchen! Und auch Musik ist da; man kann sie durch die Glasscheiben hören. Der Knabe schaut und staunt, und da lacht er auch schon; aber es tun ihm bereits die Zehen an den Füßen weh, und die Finger an den Händen sind ihm ganz rot geworden, biegen sich nicht mehr und schmerzen bei jeder Bewegung. Und auf einmal wird sich der Knabe dessen bewußt, daß ihm die Finger und Zehen so weh tun, fängt an zu weinen und läuft weiter, und da sieht er wieder durch ein anderes Fenster in ein Zimmer hinein, und da sind wieder Bäume, auf den Tischen aber liegen Kuchen von allerlei Art, Mandelkuchen und rote und gelbe, und vier reichgekleidete Damen sitzen da, und jedem, der kommt, geben sie Kuchen; die Tür aber öffnet sich alle Augenblicke, und es kommen zu ihnen viele Herrschaften von der Straße herein. Der Knabe schleicht sich heran, macht plötzlich die Tür auf und geht hinein. Aber o weh, wie sie ihn anschreien und ihn hinausweisen! Eine der Damen tritt schnell an ihn heran, schiebt ihm eine Kopeke in die Hand und macht ihm selbst die Tür nach der Straße auf. Wie ist er erschrocken! Das kleine Geldstück aber fällt sofort klingend auf die Stufen: er kann seine roten Fingerchen nicht zusammenbiegen, um es festzuhalten. Der Knabe läuft weg, so schnell wie möglich, so schnell wie möglich; aber wohin er läuft, das weiß er selbst nicht. Er möchte wieder anfangen zu weinen; aber er fürchtet sich und läuft und läuft und haucht auf seine Händchen. Und es wird ihm so traurig ums Herz, weil er sich auf einmal so allein fühlt, und er ängstigt sich, und plötzlich, o Gott, was ist das da wieder? Da stehen die Menschen in dichtem Schwarm und staunen: auf einem Fensterbrette hinter der Glasscheibe stehen drei kleine Puppen in roten und grünen Kleidchen und ganz, ganz wie wenn sie lebendig wären! Ein altes Männchen sitzt da und scheint auf einer großen Geige zu spielen, und zwei andere stehen daneben und spielen auf kleinen Geigen und nicken im Takt mit den kleinen Köpfen und sehen einander an, und ihre Lippen bewegen sich und sprechen; sie sprechen ordentlich, nur kann man es durch die Glasscheibe nicht hören. Zuerst denkt der Knabe, das seien lebende Wesen; aber als er mit Sicherheit erkannt hat, daß es Püppchen sind, da lacht er auf einmal auf. Noch nie hat er solche Püppchen gesehen und hat gar nicht gewußt, daß es solche gibt! Er möchte eigentlich weinen; aber er muß lachen, über die Püppchen lachen. Auf einmal fühlt er, daß ihn jemand von hinten am Kittel packt: ein großer, böser Junge steht neben ihm, versetzt ihm plötzlich einen Schlag auf den Kopf, reißt ihm die Mütze ab und stellt ihm ein Bein. Der Knabe fällt auf die Erde; die Umstehenden schreien auf; einen Augenblick ist er wie betäubt; dann springt er auf und läuft und läuft, er weiß selbst nicht wohin; er flüchtet sich durch ein Tor auf einen fremden Hof und setzt sich da hinter das Holz: »Hier werden sie mich nicht finden; es ist ja auch dunkel!«

Er sitzt da, krümmt sich ganz zusammen und kann kaum atmen vor Angst; aber plötzlich, ganz plötzlich wird ihm so wohl zumute: die Hände und Füße tun ihm auf einmal nicht mehr weh, und es wird ihm so warm, so warm wie an einem Ofen; da zuckt er mit dem ganzen Leibe zusammen: ach, er wäre ja beinah eingeschlafen! Wie schön es sich hier einschläft: »Ich werde noch ein Weilchen hier sitzen und dann wieder hingehen und die Püppchen ansehen,« denkt der Knabe und lächelt bei der Erinnerung an diese: »ganz wie wenn sie lebendig wären! …« Und auf einmal glaubt er zu hören, daß über seinem Kopfe seine Mama ein Liedchen zu singen anfängt. »Mama, ich schlafe; ach, wie schön schläft es sich hier!«

»Komm zu mir zum Weihnachtsbaum, mein Kind!« flüstert über ihm auf einmal eine leise Stimme.

Er denkt zuerst, das sei immer noch seine Mama; aber nein, sie ist es nicht; wer ihn gerufen hat, das sieht er nicht; aber es beugt sich jemand über ihn und umarmt ihn in der Dunkelheit; er aber streckt ihm die Hand entgegen, und … und auf einmal – o wieviel Licht! O was für eine Weihnachtstanne! Aber das ist ja keine Tanne; solche Bäume hat er noch nie gesehen! Wo ist er jetzt nur: alles glänzt, alles strahlt, und ringsumher sind lauter Puppen – aber nein, es sind lauter Knaben und Mädchen, aber sie glänzen so; alle umringen sie ihn und fliegen; alle küssen sie ihn, nehmen ihn und tragen ihn mit sich, und auch er selbst fliegt, und da sieht er: seine Mutter blickt ihn an und lacht ihm freudig zu.

»Mama, Mama! Ach, wie schön ist es hier, Mama!« ruft ihr der Knabe zu, und er küßt sich wieder mit den Kindern und möchte ihnen so schnell wie möglich von jenen Püppchen hinter der Glasscheibe erzählen. »Wer seid ihr, Knaben? Wer seid ihr, Mädchen?« fragt er lachend; er hat sie alle so lieb.

»Das ist des Herrn Jesus Weihnachtsbaum«, antworten sie ihm. »Beim Herrn Jesus brennt an diesem Tage immer ein Weihnachtsbaum für die kleinen Kinderlein, die dort keinen eigenen Weihnachtsbaum haben …« Und er erfährt, daß diese Knaben und Mädchen sämtlich ganz ebensolche Kinder gewesen sind wie er, daß aber die einen schon in den Körben gestorben sind, in denen sie auf den Treppen vor den Türen wohlhabender Petersburger Beamten ausgesetzt wurden, andere bei den finnländischen Bäuerinnen umgekommen sind, denen das Findelhaus sie zum Aufziehen übergeben hatte, wieder andere an den ausgetrockneten Brüsten ihrer Mütter gestorben sind (bei der Hungersnot in Samara), wieder andere an der verdorbenen Luft in Waggons dritter Klasse erstickt sind. Und alle sind sie jetzt hier, alle sind sie jetzt wie Engel, alle beim Herrn Jesus, und der Herr Jesus selbst ist mitten unter ihnen und streckt die Arme nach ihnen aus und segnet sie und ihre sündigen Mütter … Die Mütter dieser Kinder aber stehen alle ebendort, etwas zur Seite, und weinen; eine jede erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und diese fliegen zu ihnen hin und küssen sie und wischen ihnen mit ihren Händchen die Tränen ab und bitten sie, nicht zu weinen, da sie es hier doch so gut hätten …

Da unten aber fanden am andern Morgen Hausknechte hinter dem Holze die kleine Leiche des verlaufenen, erfrorenen Knaben; sie machten auch seine Mutter ausfindig; die war schon vor ihm gestorben; bei Gott dem Herrn im Himmel sahen sie sich beide wieder.

Warum habe ich nun eigentlich eine solche Geschichte ersonnen, die so wenig in ein gewöhnliches verständiges Tagebuch hineinpaßt, noch dazu in das eines Schriftstellers? Und überdies hatte ich hauptsächlich Erzählungen wirklicher Begebenheiten versprochen! Aber die Sache ist eben die: es will mich immer bedünken, daß das alles sich wirklich hat begeben können – das heißt das, was in der Kellerwohnung und hinter dem Holz vorging; was aber das über den Weihnachtsbaum beim Herrn Jesus Gesagte anlangt, so weiß ich freilich nicht, wie ich mich darüber äußern soll, ob es sich habe begeben können oder nicht. Dazu bin ich eben Novellist, um mir so etwas auszudenken.


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