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Bobok

Diese und die folgenden Erzählungen (d. h. »Der Bettelknabe«, »Der Traum eines lächerlichen Menschen« und »Die Sanfte«. D. Hrsg.) sind von Dostojewski nicht als besondere Erzählungen veröffentlicht worden, sondern sind Einlagen in seine literarhistorischen Schriften aus den Jahren 1873-77. ( Anm.d.Übers.)


Diesmal Diese Erzählung bildet den sechsten Abschnitt des »Tagebuches eines Schriftstellers« für 1873, das in dem genannten Jahre in der Zeitschrift Graschdanin Nr. 1ff. erschien. – Anmerkung des Übersetzers. setze ich die »Aufzeichnungen eines Unbekannten« hierher. Ich bin dieser Unbekannte nicht; der ist eine ganz andere Persönlichkeit. Ich glaube, einer weiteren Vorrede bedarf es nicht.

Aufzeichnungen eines Unbekannten

Semjon Ardaljonowitsch sagte vorgestern auf einmal zu mir:

»Aber sage mir um des Himmels willen, Iwan Iwanowitsch, wirst du denn jemals nüchtern werden?«

Ein sonderbares Verlangen. Ich fühle mich nicht beleidigt; ich bin ein stiller, bescheidener Mensch; aber allerdings hat man aus mir schon einen Verrückten gemacht. Ein Maler malte mein Porträt, so gelegentlich; »du bist ja doch ein Schriftsteller«, sagte er. Ich ließ es mir gefallen, und er stellte das Bild auch aus. Da las ich denn: »Das Publikum wolle kommen und sich dieses kranke, dem Irrsinn nahe Gesicht ansehen.«

Na, meinetwegen; aber wie konnte er das nur so geradezu drucken lassen? Was man drucken läßt, muß doch alles edel klingen, muß ideal sein; aber da hat er nun …

Er hätte doch wenigstens nur andeutungsweise reden sollen; dazu sind doch die stilistischen Kunstgriffe erfunden. Aber nein, das hat er nicht gewollt. Heutzutage sind Humor und guter Stil von der Welt verschwunden, und Schimpfworte werden für Esprit gehalten. Ich fühle mich nicht beleidigt: ich bin nicht Gott weiß was für ein großer Schriftsteller, daß ich den Verstand verlieren sollte. Ich habe einmal eine Novelle geschrieben; aber die wurde nicht gedruckt. Ich schrieb ein Feuilleton; das wurde abgelehnt.

Solcher Feuilletons habe ich viele nach verschiedenen Redaktionen hingetragen; sie wurden überall abgelehnt: »Es fehlt Ihnen an Salz«, hieß es.

»Was wollt ihr denn für Salz?« fragte ich die Leute spöttisch; »attisches Salz?«

Sie verstanden mich gar nicht einmal. Ich mache hauptsächlich Übersetzungen aus dem Französischen für die Verlagsbuchhändler. Ich schreibe auch Ankündigungen für Kaufleute: »Eine Seltenheit! Roter Tee von eigenen Pflanzungen …« Für einen Panegyrikus auf Seine Exzellenz den verstorbenen Peter Matwjejewitsch habe ich einen guten Batzen Geld bekommen. Auf Bestellung eines Verlegers habe ich ein Büchelchen verfaßt: »Die Kunst, den Damen zu gefallen.« Derartiger Büchelchen habe ich in meinem Leben ein Stücker sechs von Stapel gelassen. Ich möchte gern Voltaires Bonmots sammeln; aber ich fürchte, daß sie unseren Zeitgenossen fade vorkommen werden. Voltaires Art paßt nicht in die Gegenwart hinein; heutzutage haut man mit dem Knüppel drein, statt in Voltaires Art zu schreiben! Die letzten Zähne schlagen sie einer dem andern aus! Na, das ist also meine ganze schriftstellerische Tätigkeit. Ich könnte höchstens noch hinzufügen, daß ich in uneigennütziger Weise den Redaktionen Briefe zuschicke, Briefe mit meiner vollen Namensunterschrift. Ich erteile ihnen darin immer Ermahnungen und Ratschläge, kritisiere sie und weise ihnen den Weg. An eine Redaktion habe ich in der vorigen Woche den vierzigsten Brief innerhalb zweier Jahre abgesandt; ich habe also vier Rubel allein für Briefmarken ausgegeben. Ich habe nun einmal einen häßlichen Charakter; das ist die Sache.

Ich denke mir, daß der Maler mich nicht wegen meiner Schriftstellerei gemalt hat, sondern wegen der beiden symmetrischen Warzen auf meiner Stirn: das nennt man ein Phänomen. Ideen haben sie keine; so reiten sie denn jetzt auf Phänomenen herum. Na, aber wie sind ihm auch meine Warzen auf dem Porträt gelungen, – wie sie leiben und leben! Dafür hat man jetzt den Ausdruck »Realismus«.

Was aber die Verrücktheit anlangt, so haben sie bei uns im vorigen Jahre viele für verrückt erklärt. Und in was für einem Stile: »Bei einem so eigenartigen Talente,« heißt es da, »… und nun sehe man, was am letzten Ende herausgekommen ist … übrigens mußte man das schon längst vorhersehen …« Das ist ein ziemlich schlaues Verfahren, so daß man es vom rein künstlerischen Standpunkte aus sogar loben könnte. Na, sie selbst aber erscheinen auf einmal noch klüger als vorher. Ja, ja, jemanden verrückt zu machen, das versteht man bei uns; aber klüger haben sie noch niemanden gemacht.

Der Klügste ist meiner Ansicht nach derjenige, der wenigstens einmal im Monat sich selbst einen Dummkopf nennt, – eine Fähigkeit, die heutzutage so gut wie unerhört ist! Früher wurde sich ein Dummkopf wenigstens einmal im Jahre dessen bewußt, daß er ein Dummkopf war; aber jetzt niemals, niemals. Und man hat jetzt alles derartig durcheinander gewirrt, daß es unmöglich ist, einen Dummkopf von einem klugen Menschen zu unterscheiden. Das haben sie absichtlich so gemacht.

Da fällt mir ein Witz ein, den die Spanier machten, als die Franzosen vor drittehalb Jahrhunderten bei sich das erste Irrenhaus erbauten: »Sie haben alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus eingesperrt, um den Glauben zu erwecken, daß sie selbst klug seien.« Es ist ganz richtig: dadurch, daß man einen andern in ein Irrenhaus einsperrt, beweist man noch nicht seinen eigenen Verstand. »K*** ist verrückt geworden; folglich sind wir jetzt klug.« Nein, das folgt noch nicht daraus.

Aber hol's der Teufel … warum paradiere ich denn mit meiner eigenen Verstandestätigkeit? Ich vollführe ja ein endloses Geklapper. Sogar meiner Dienstmagd ist es langweilig geworden. Gestern besuchte mich ein Freund: »Dein Stil verschlechtert sich,« sagte er; »er ist ganz zerhackt. Du hackst und hackst – das ist dann eine einleitende Vorrede; darauf kommt noch eine Einleitung zu dieser Einleitung; darauf setzt du noch etwas in Klammern, und darauf hackst und hackst du wieder weiter.«

Mein Freund hat recht. Es geht mit mir etwas Sonderbares vor. Sowohl mein Charakter ändert sich, als auch tut mir der Kopf weh. Ich fange an, seltsame Dinge zu sehen und zu hören. Nicht eigentlich, daß ich Stimmen vernähme; aber es ist mir, als gäbe jemand neben mir einen Laut von sich, der wie »Bobok, Bobok, Bobok« klänge!

Was hat das zu bedeuten: »Bobok«? Ich muß mich zerstreuen.

Ich ging aus, um mich zu zerstreuen, und es machte sich so, daß ich an einer Beerdigung teilnahm. Der Tote war ein entfernter Verwandter von mir gewesen, aber Kollegienrat. Eine Witwe und fünf Töchter, sämtlich unverheiratet. Wenn man nur an das Schuhzeug denkt, das die alle brauchen; was kostet das! Der Verstorbene hatte das nötige Geld verdient; aber jetzt müssen sie von der kleinen Pension leben. Da wird es sich einschränken heißen. Mich haben sie immer unfreundlich aufgenommen. Und ich wäre auch jetzt nicht hingegangen, wenn nicht ein solcher besonderer Fall vorgelegen hätte. Ich gab dem Sarge mit den andern zusammen bis zum Kirchhofe das Geleite; aber diese wandten sich von mir ab und taten stolz. Meine Dienstuniform ist allerdings recht schäbig. Ich glaube, seit fünfundzwanzig Jahren bin ich nicht auf dem Kirchhofe gewesen; das ist mal ein Ort!

Erstens der Geruch. Es waren etwa fünfzehn Leichen in die Kirche zusammengebracht. Die Ausstattung der Särge war von verschiedenem Preise; es waren sogar zwei Katafalke da: einer für einen General und einer für eine vornehme Dame. Viele traurige Gesichter, auch viel geheuchelte Trauer, aber auch viel unverhohlene Fröhlichkeit. Die Geistlichkeit hatte sich nicht zu beklagen: sie hatte eine gute Einnahme. Aber der Geruch, der Geruch! Ich möchte hier nicht Geistlicher sein.

Die Gesichter der Leichen betrachtete ich nur mit Vorsicht, da ich zu der Festigkeit meiner Nerven kein rechtes Zutrauen hatte. Manche hatten einen sanften Ausdruck, manche auch einen unangenehmen. Im allgemeinen war das Lächeln häßlich; bei einigen sogar in hohem Grade. Ich mag das nicht sehen; ich träume davon.

Während der Messe ging ich aus der Kirche hinaus in die frische Luft; es war ein grauer, aber trockener Tag. Dabei war's auch kalt; na, wir haben ja auch schon Oktober. Ich ging bei den offenen Grüften umher. Viele Rangklassen. Die dritte Klasse zu dreißig Rubeln: recht anständig und nicht allzu teuer. Die beiden ersten, die allerfeinsten, waren in der Kirche und in der Vorhalle; na, die kosteten gehörig was. In der dritten Klasse wurden diesmal sechs Leichen bestattet, darunter der General und die vornehme Dame.

Ich blickte in die Grüfte hinein – schauderhaft: Wasser und was für Wasser! Ganz grün und … na, ich will nicht mehr darüber sagen! Der Totengräber schöpfte fortwährend das Wasser mit einer Schaufel heraus. Während der Gottesdienst noch fortdauerte, schlenderte ich aus dem Kirchhofstore hinaus. Da steht sogleich ein Armenhaus und nicht viel weiter ein Restaurant. Letzteres ganz leidlich, nicht übel: kalte Speisen und alles. Es war gedrängt voll von Leuten, die den Toten das Geleit gegeben hatten. Ich bemerkte viel Fröhlichkeit und echte Lebenslust. Ich aß einen Bissen und trank ein Glas Schnaps.

Darauf beteiligte ich mich eigenhändig an dem Tragen des Sarges aus der Kirche nach dem Grabe. Woher kommt es, daß die Leichen im Sarge so schwer werden? Man sagt, infolge der Starrheit; der Körper könne sich nicht mehr selbst regieren … oder andern derartigen Unsinn; das widerspricht der Mechanik und dem gesunden Menschenverstande. Ich kann es nicht leiden, wenn bei uns Leute, die nur eine allgemeine Bildung besitzen, es unternehmen, spezielle Fragen zu entscheiden; aber das geschieht bei uns massenhaft. Zivilbeamte lieben es, über militärische Gegenstände, ja sogar über solche, die zum Ressort eines Feldmarschalls gehören, ihr Urteil abzugeben, und Leute mit technischer Bildung urteilen mit Vorliebe über Philosophie und Nationalökonomie.

Zum Leichenmahl fuhr ich nicht hin. Ich habe meinen Stolz; und wenn mich Leute nur im Falle äußerster Notwendigkeit empfangen, warum soll ich mich dann zu ihren Mahlzeiten einstellen, selbst wenn es Leichenmahle sind? Ich verstehe nur nicht, warum ich auf dem Kirchhofe blieb; ich setzte mich auf einen Grabstein und versank in Gedanken.

Ich begann mit der Moskauer Ausstellung und endete damit, über das Staunen als Thema nachzudenken. Über das Staunen gelangte ich zu folgendem Resultat.

»Über alles zu staunen ist natürlich dumm; über nichts zu staunen macht sich weit hübscher und gilt daher als guter Ton. Aber schwerlich ist das in Wirklichkeit so. Meiner Ansicht nach ist über nichts zu staunen weit dümmer als über alles zu staunen. Außerdem: über nichts zu staunen ist fast dasselbe wie vor nichts Achtung zu empfinden. Ein dummer Mensch kann eben keine Achtung empfinden.«

»Vor allen Dingen möchte ich Achtung empfinden. Ich dürste ordentlich danach, Achtung zu empfinden«, sagte einmal dieser Tage ein Bekannter zu mir.

Er dürstet danach, Achtung zu empfinden! O Gott, dachte ich, was würde aus dir werden, wenn du jetzt wagtest, das drucken zu lassen!

Ich vergaß ganz mich und meine Umgebung. Ich liebe es nicht, Grabschriften zu lesen; es ist immer ein und dasselbe. Auf dem Grabstein neben mir lag der Rest eines Butterbrotes: dumm und zu dem Orte nicht passend. Ich warf ihn auf die Erde, da es nicht »Brot«, sondern nur ein »Butterbrot« war. Übrigens ist es, wie ich glaube, keine Sünde, Brot auf die Erde zu krümeln, wohl aber auf den Fußboden. Ich will doch in Suworins Kalender Der angesehene Schriftsteller Suworin gab seit dem Jahre 1872 den »Russischen Kalender« heraus. – Anmerkung des Übersetzers. nachsehen.

Es ist anzunehmen, daß ich lange so dasaß, sogar sehr lange; ja, ich streckte mich sogar in halb liegender Haltung auf den langen Stein hin, der die Gestalt eines marmornen Sarges hatte. Aber wie ging es nur zu, daß ich auf einmal allerlei Laute zu hören begann? Zuerst schenkte ich dem keine Beachtung und verhielt mich gleichgültig. Aber das Gespräch dauerte fort. Ich hörte dumpfe Töne, als ob die Redenden Kissen vor dem Munde hätten; aber trotzdem waren die Töne vernehmlich und sehr nah. Ich kam zu mir, richtete mich auf und begann aufmerksam zu horchen.

»Exzellenz, aber das ist doch einfach unmöglich! Sie haben Coeur angesagt; ich gehe mit, und auf einmal spielen Sie Carreau Sieben. Das hätte doch vorher verabredet werden müssen, wegen Carreau.«

»Na, soll ich denn die ganze Partie vorher auswendig lernen? Wo bleibt da der Reiz?«

»Nein, so geht das nicht, Exzellenz; ohne Sicherung geht es wirklich nicht. Wir müssen unbedingt einen Dummkopf als dritten Mann nehmen und manchmal falsch geben.«

»Na, einen Dummkopf werden wir hier nicht auftreiben.«

Was waren das für wunderliche Worte! Seltsam und unerwartet! Die eine Stimme klang fest und bestimmt; die andere hatte etwas Weiches und Süßliches; ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht selbst gehört hätte. Ich befand mich doch meiner Ansicht nach nicht beim Leichenmahl. Aber wie ging es zu, daß hier Preference gespielt wurde, und was war das für eine Exzellenz? Daß die Stimmen aus den Gräbern kamen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Ich beugte mich hinab und las die Inschrift auf dem Denkmal.

»Hier ruht die irdische Hülle des Generalmajors Perwojedow … Ritters der und der Orden.« Hm! »Gestorben am …ten August des Jahres … im Alter von siebenundfünfzig … Ruhe sanft, du teure Asche, bis zum fröhlichen Auferstehungstage!«

Hm! hol's der Teufel, wirklich ein General! Auf dem andern Grabe, aus dem die schmeichlerische Stimme herausgekommen war, befand sich noch kein Denkmal: es lag nur eine Steinplatte darauf; es mußte also wohl ein erst kürzlich Begrabener sein. Nach der Stimme zu urteilen ein Hofrat.

»Och–ho–ho–ho!« ertönte nun eine ganz neue Stimme, etwa zwanzig Schritte von der Ruhestätte des Generals, aus einem ganz frischen Grabhügel hervor. Es war eine Männerstimme, die Stimme eines Mannes aus dem gewöhnlichen Volke, aber in einer andächtig gerührten Manier abgeschwächt.

»Och–ho–ho–ho!«

»Ach, schon wieder hat er Aufstoßen!« ließ sich auf einmal die gereizte, angeekelt und hochmütig klingende Stimme einer anscheinend den höchsten Kreisen angehörigen Dame vernehmen. »Es ist eine wahre Strafe für mich, neben diesem Krämer liegen zu müssen!«

»Es hat mir gar nicht aufgestoßen; ich habe ja auch gar keine Nahrung zu mir genommen; sondern das ist nur so meine Natur. Und Sie, gnädige Frau, können immer noch nicht von Ihren Kapricen lassen und sich beruhigen.«

»Warum haben Sie sich denn gerade hierher gelegt?«

»Ich bin hierher gelegt worden; meine Frau und meine kleinen Kinderchen haben mich hierher gelegt, nicht ich mich selbst. Das ist das Geheimnis des Todes! Ich hätte mich um keinen Preis neben Sie gelegt, für kein Geld der Erde; aber ich liege hier für mein eigenes Geld, dem bezahlten Preise entsprechend. Denn das können wir uns immer leisten, ein Grab dritter Klasse für uns zu bezahlen.«

»Ja, Sie haben Geld zusammengescharrt; haben wohl immer den Käufern zu wenig herausgegeben?«

»Wie könnte ich Ihnen zu wenig herausgeben, da Sie seit dem Januar, glaub ich, nie bei uns bezahlt haben? In meinem Laden liegt noch eine hübsche kleine Rechnung für Sie.«

»Na, das ist doch ein dummes Benehmen; hier zu untersuchen, wieviel einer schuldig ist, das ist doch meiner Ansicht nach sehr dumm! Gehen Sie nach oben! Bringen Sie Ihre Forderung bei meiner Nichte an; die ist meine Erbin.«

»Aber wie kann ich jetzt Forderungen anbringen, und wo kann ich hingehen? Wir haben doch beide unser Lebensziel erreicht und sind vor Gottes Gericht in gleicher Weise Sünder.«

»Sünder!« spottete ihm die Tote verächtlich nach. »Unterstehen Sie sich nicht, weiter mit mir zu reden!«

»Och–ho–ho–ho!«

»Aber der Krämer gehorcht der Dame doch, Exzellenz.«

»Warum sollte er ihr auch nicht gehorchen?«

»Nun ja, Exzellenz; indessen, es besteht hier doch eine neue Ordnung.«

»Was ist denn das für eine neue Ordnung?«

»Aber wir sind doch sozusagen gestorben, Exzellenz.«

»Ach ja! Na, aber es geht doch wenigstens ordnungsmäßig zu …«

Na, sie hatten mir einen Dienst erwiesen, das war nicht zu leugnen, hatten mich unterhalten! Wenn es schon hier so zuging, was konnte man dann im oberen Stockwerk verlangen? Aber was war das für ein Benehmen! Ich fuhr jedoch fort zu horchen, wiewohl mit großem Unwillen.

» Nein, ich müßte wieder lebendig werden! Nein … ich, wissen Sie … ich müßte wieder lebendig werden!« ertönte plötzlich eine neue Stimme irgendwo in dem Zwischenraume zwischen dem General und der reizbaren Dame.

»Hören Sie nur, Exzellenz, unser Nachbar stimmt wieder sein altes Lied an. Drei Tage lang schweigt er immer mäuschenstill, und dann auf einmal geht es los: ›Ich müßte wieder lebendig werden; nein, ich müßte wieder lebendig werden!‹ Und wissen Sie, das bringt er mit solchem Appetit heraus, hi-hi!«

»Und mit solcher Leichtfertigkeit!«

»Das überkommt ihn so, Exzellenz, und wissen Sie, er schläft ein, schläft schon ganz ein; er ist ja schon seit dem April hier; und da kommt er auf einmal mit seinem ›Ich müßte wieder lebendig werden!‹«

»Das ist aber langweilig«, bemerkte Seine Exzellenz.

»Freilich, Exzellenz. Soll ich vielleicht Awdotja Ignatjewna wieder ein bißchen hänseln, hi-hi?«

»Nein, bitte, unterlassen Sie das! Ich kann dieses zänkische Weibsbild nicht ausstehen.«

»Und ich meinerseits kann Sie beide nicht ausstehen!« rief ihnen das zänkische Weibsbild verächtlich zurück. »Sie sind beide ein Paar langweilige Gesellen und verstehen nicht von idealen Gegenständen zu reden. Ich kenne von Ihnen, Exzellenz (bitte, tun Sie nur nicht stolz!), ich kenne von Ihnen ein Geschichtchen, wie ein Bedienter Sie am Morgen mit dem Besen unter einem Ehebette hervorgefegt hat.«

»Ein gräßliches Frauenzimmer!« murmelte der General zwischen den Zähnen.

»Verehrte Awdotja Ignatjewna,« begann auf einmal wieder der Kaufmann in weinerlichem Tone, »meine Gnädigste, sagen Sie mir, ohne mir etwaiges Böses nachzutragen: macht meine Seele noch allerlei Läuterungspein durch, oder was geschieht sonst?«

»Ach, kommt er wieder mit seiner alten Leier; ich habe es doch geahnt; denn ich spüre einen Geruch von ihm, einen Geruch; das kommt davon, daß er sich hin und her dreht!«

»Ich drehe mich nicht hin und her, meine verehrte Dame, und es geht von mir keinerlei besonderer Geruch aus; denn mein ganzer Körper hat sich noch in seinem früheren Zustande erhalten. Aber Sie selbst, gnädige Frau, sind schon etwas angegangen; denn der Geruch ist wirklich unerträglich, sogar für den hiesigen Ort. Ich schweige davon nur aus Höflichkeit.«

»Ach, der schändliche Verleumder! Er selbst stinkt schauderhaft, und da schiebt er die Schuld auf mich.«

»Och–ho–ho–ho! Wenn doch meine Gedächtnisfeier recht bald herankäme Sie wird vierzig Tage nach dem Tode abgehalten. – Anmerkung des Übersetzers.; dann werde ich über mir die tränenerstickten Stimmen der Meinigen hören, das Schluchzen meiner Frau und das leise Weinen meiner Kinder! …«

»Na, und worüber weint er nun? Die werden sich bei der Gedächtnisfeier die Kutja Das dabei übliche Gericht aus Graupen oder Reis mit Honig und Rosinen. – Anmerkung des Übersetzers. gut schmecken lassen. Ach, wenn doch jemand erwachte!«

»Awdotja Ignatjewna,« begann der schmeichlerische Beamte, »warten Sie nur noch einen Augenblick; es werden gleich einige Neuangekommene zu reden anfangen!«

»Sind auch jüngere Leute darunter?«

»Jawohl, auch jüngere Leute, Awdotja Ignatjewna. Sogar Jünglinge sind dabei.«

»Ach, das ist ja wunderschön!«

»Nun? Haben sie denn noch nicht angefangen?« erkundigte sich Seine Exzellenz.

»Aber sogar die Vorgestrigen sind noch nicht zu sich gekommen, Exzellenz; Sie wissen ja selbst, manchmal schweigen sie eine ganze Woche lang. Nur gut, daß ihrer gestern, vorgestern und heute gleich eine ganze Menge hergebracht ist. Sonst sind ja bei uns etwa vierzig Schritt in der Runde fast lauter Vorjährige.«

»Ja, das kann interessant werden.«

»Sehen Sie, Exzellenz, da ist heute der Wirkliche Geheimrat Tarasewitsch begraben worden. Ich habe es an den Stimmen erkannt. Sein Neffe ist ein Bekannter von mir, und der hat vorhin den Sarg mit herabgelassen.«

»Hm, wo liegt er denn?«

»Etwa fünf Schritte von Ihnen entfernt, Exzellenz, links. Fast dicht an Ihrem Fußende … Mit dem sollten Sie sich bekannt machen, Exzellenz.«

»Hm, nein … ich kann doch dabei nicht den ersten Schritt tun.«

»Er wird selbst den Anfang machen, Exzellenz. Er wird sich sogar geschmeichelt fühlen; überlassen Sie die Sache nur mir, Exzellenz; ich werde …«

»Ach, ach … ach, was geht nur mit mir vor?« stöhnte auf einmal ein Neuangekommener mit schwacher, ängstlicher Stimme.

»Ein Neuer, Exzellenz, ein Neuer, Gott sei Dank; und wie schnell er wieder zu sich gekommen ist! Manchmal schweigen sie eine Woche lang.«

»Ach, wie es scheint, ist es noch ein junger Mensch!« kreischte Awdotja Ignatjewna entzückt.

»Ich … ich … ich bin an einer Komplikation gestorben, und so plötzlich!« stammelte der junge Mensch wieder. »Dr. Schulz sagte mir noch tags zuvor: ›Sie haben eine Komplikation‹, und am andern Morgen starb ich plötzlich. Ach! Ach!«

»Nun, da ist nichts zu machen, junger Mann,« bemerkte herablassend der General, der sich offenbar über den Neuangekommenen freute; »da muß man sich trösten! Wir heißen Sie in unserem sozusagen Tale Josaphat willkommen. Wir sind gute Menschen; lernen Sie uns nur erst näher kennen, dann werden Sie uns schon zu schätzen wissen. Generalmajor Wasili Wasiljewitsch Perwojedow, zu Ihren Diensten.«

»Ach, nein! Nein, nein, ich kann unter keinen Umständen hier bleiben. Ich bin in der Behandlung des Dr. Schulz; wissen Sie, es bildete sich bei mir eine Komplikation; zuerst warf sich die Krankheit auf die Brust, und ich bekam Husten; aber dann erkältete ich mich: Brustschmerzen und Grippe … und dann auf einmal ganz unerwartet … vor allen Dingen ganz unerwartet …«

»Sie sagen, es sei am Anfang die Brust gewesen«, mischte sich in sanftem Tone der Beamte in das Gespräch, wie wenn er den Neuangekommenen ermutigen wollte.

»Ja, die Brust und der Schleim; aber dann hörte der Schleim auf einmal auf, und es war nur noch die Brust, und ich konnte nicht mehr atmen … und wissen Sie …«

»Ich weiß, ich weiß. Aber wenn es die Brust war, mußten Sie so schnell wie möglich sich an Dr. Eck wenden und nicht an Dr. Schulz.«

»Aber wissen Sie, ich hatte immer vor, Dr. Botkin zu nehmen … und plötzlich …«

»Na, Botkin schröpft seine Patienten gern«, bemerkte der General.

»Ach nein, er schröpft gar nicht; ich habe gehört, er sei so sorgfältig und könne alles vorhersagen.«

»Seine Exzellenz bemerkte das mit Bezug auf die Preise«, belehrte ihn der Beamte.

»Ach, nicht doch, er nimmt nur drei Rubel für einen Besuch, und er untersucht einen so genau, und seine Rezepte … und ich wollte es unter allen Umständen tun, weil mir das gesagt worden war … Was meinen Sie, meine Herren, was soll ich tun: soll ich mich an Eck wenden oder an Botkin?«

»Was? An wen Sie sich wenden sollen?« sagte der General mit einem freundlichen Lachen, von dem sein Leichnam schütterte. Der Beamte sekundierte ihm in der Fistel.

»Mein lieber Junge, mein lieber fröhlicher Junge, wie ich dich liebe!« kreischte Awdotja Ignatjewna ganz entzückt. »Ja, wenn man so einen neben mich gelegt hätte!«

Nein, das war mir aber doch zu stark! Und das wollte ein Toter der Neuzeit sein! Indessen beschloß ich, noch weiter zuzuhören und mich mit meinen Schlußfolgerungen nicht zu übereilen. Dieser neuangekommene Gelbschnabel – ich erinnerte mich, wie er eine Weile vorher im Sarge ausgesehen hatte: es war der Ausdruck eines ängstlichen Küchleins gewesen, der widerwärtigste auf der ganzen Welt! Aber was begab sich nun hierauf weiter?

Hieran begann ein solcher Tumult, daß ich nicht einmal alles im Gedächtnis behalten habe; denn es erwachten sehr viele gleichzeitig: so erwachte ein Staatsrat und begann mit dem General ohne jeden Verzug ein Gespräch über das Projekt einer neuen Subkommission im Ministerium der ***ern Angelegenheiten und über die wahrscheinliche, mit der Einrichtung der Subkommission verknüpfte Versetzung amtlicher Persönlichkeiten, ein Gespräch, durch das er das höchste Interesse des Generals erregte. Ich muß gestehen, daß auch ich selbst viel Neues erfuhr, so daß ich mich über die Wege wunderte, auf denen man manchmal in dieser Hauptstadt Neuigkeiten über die Staatsverwaltung erfahren kann. Hierauf wurde ein Ingenieur halbwach, murmelte aber noch lange vollständigen Unsinn, so daß die Unsrigen ihm nicht mit Fragen zusetzten, sondern ihn einstweilen noch stilliegen und sich erholen ließen. Endlich bekundete auch die vor kurzem unter dem Katafalk beerdigte vornehme Dame Symptome des Grabeslebens. Lebesjatnikow (denn so hieß, wie sich herausstellte, der schmeichlerische, mir verhaßte Hofrat, der seinen Platz neben dem General Perwojedow hatte) war sehr erstaunt darüber, daß diesmal alle so bald erwachten, und entwickelte infolgedessen eine geschäftige Tätigkeit. Ich muß gestehen, daß auch ich mich wunderte; übrigens waren einige der Erwachten schon vor zwei Tagen begraben, wie zum Beispiel ein sehr junges Mädchen (sie war erst sechzehn Jahre alt), das immerzu kicherte, in einer widerwärtigen, sinnlichen Weise kicherte.

»Exzellenz, der Geheimrat Tarasewitsch wacht auf!« meldete Lebesjatnikow auf einmal mit besonderer Eilfertigkeit.

»Nun? Was gibt's?« fragte auf einmal der zu sich kommende Geheimrat mißmutig mit lispelnder, zischelnder Stimme; in seinem Tone lag etwas Launenhaftes, Befehlshaberisches. Ich horchte mit gespannter Aufmerksamkeit; denn in den letzten Tagen hatte ich etwas über diesen Tarasewitsch gehört, etwas im höchsten Grade Aufsehen Erregendes, Unmoralisches.

»Ich bin es, Exzellenz; vorläufig nur ich.«

»Was wünschen Sie, und was ist Ihnen gefällig?«

»Ich möchte mich nur nach Euer Exzellenz Befinden erkundigen; infolge mangelnder Gewöhnung fühlt sich hier jeder anfangs einigermaßen beengt … General Perwojedow würde gern die Ehre haben, Euer Exzellenz Bekanntschaft zu machen, und hofft …«

»Ich habe nie von ihm gehört.«

»Ich bitte Sie, Exzellenz, General Perwojedow, Wasili Wasiljewitsch …«

»Sind Sie General Perwojedow?«

»Nein, Exzellenz, ich bin nur der Hofrat Lebesjatnikow, Ihnen zu dienen; aber General Perwojedow …«

»Dummes Zeug! Ich ersuche Sie, mich in Ruhe zu lassen.«

»Hören Sie auf!« hemmte endlich in würdevoller Manier General Perwojedow selbst die häßliche Eilfertigkeit seines Klienten im Grabe.

»Er ist noch nicht ordentlich aufgewacht, Exzellenz; das muß man berücksichtigen; er spricht so infolge mangelnder Gewöhnung; sobald er aufgewacht sein wird, wird er es anders aufnehmen …«

»Hören Sie auf!« sagte der General noch einmal.

» Wasili Wasiljewitsch! Heda, Sie, Exzellenz!« rief auf einmal laut und frech dicht neben Awdotja Ignatjewna eine ganz neue Stimme, die Stimme eines dreisten Lebemannes, mit modisch müder Aussprache und mit unverschämt klingender Trennung der einzelnen Silben. »Ich höre Ihnen allen schon seit zwei Stunden zu; ich liege ja hier schon drei Tage; Sie erinnern sich meiner, Wasili Wasiljewitsch? Klinewitsch; wir sind einander bei Wolokonskis begegnet, wo Sie, ich weiß nicht warum, ebenfalls Zutritt hatten.«

»Wie, Graf Peter Petrowitsch … sind Sie wirklich auch … und in so jungen Jahren … Wie leid mir das tut!«

»Auch mir selbst tut es leid; aber eigentlich ist es mir ganz egal, und ich will auch von hier aus noch alles mögliche erreichen. Ich bin auch kein Graf, sondern Baron, nur Baron. Wir sind so eine Art von räudigen kleinen Baronen, aus dem Lakaienstande hervorgegangen; ich spucke auf diese ganze Abstammung. Ich bin nur ein Taugenichts aus der Talmigesellschaft und gelte als liebenswürdiger Gassenjunge. Mein Vater war ein General von geringer Sorte; aber meine Mutter wurde einstmals en haut lieu empfangen; Ich habe mit dem Juden Siffel zusammen im vorigen Jahre für fünfzigtausend Rubel falsche Banknoten fabriziert und ihn dann denunziert; das ganze Geld aber hat Juliette Charpentier de Lusignan nach Bordeaux mitgenommen. Und denken Sie sich, ich war schon vollständig verlobt, mit einem Fräulein Schtschewalewskaja; es fehlten ihr noch drei Monate an sechzehn Jahren; sie besuchte noch das Institut; neunzigtausend Rubel Mitgift sollte sie bekommen. Awdotja Ignatjewna, erinnern Sie sich wohl noch, wie Sie mich vor fünfzehn Jahren, als ich noch ein vierzehnjähriger Page war, geschlechtlich verführten?«

»Ach, Sie sind das, Sie Taugenichts; na, wenn Sie auch Gott hergesandt hat, so werden Sie doch hier …«

»Sie haben ungerechterweise Ihren Nachbar, den Kaufmann, wegen schlechten Geruches im Verdacht gehabt. Ich habe dazu geschwiegen und nur innerlich gelacht. Das bin ja ich; mich hat man deswegen schon in einem zugenagelten Sarge hergebracht.«

»Ach, Sie Ekel! Aber ich freue mich dennoch; Sie können sich gar nicht denken, Klinewitsch, Sie können sich gar nicht denken, welch ein Mangel an Leben und Esprit hier herrscht.«

»Nun ja, nun ja, und eben darum beabsichtige ich, hier etwas Neues, Originelles einzuführen. Exzellenz – ich meine nicht Sie, Perwojedow, sondern den andern –, Exzellenz, Herr Tarasewitsch, Geheimrat! So antworten Sie doch! Ich bin Klinewitsch, der Sie zur Fastenzeit zu Mademoiselle Fury führte. Hören Sie?«

»Ich höre Sie, Klinewitsch, und freue mich sehr, und Sie können mir glauben …«

»Ich glaube Ihnen keine Silbe; ich spucke darauf! Ich möchte Sie, lieber Alter, einfach abküssen; aber Gott sei Dank, ich kann es nicht. Wissen Sie wohl, meine Herren, was dieser grand-père angerichtet hat? Er ist vorgestern oder vorvorgestern gestorben, und können Sie sich das denken: in der von ihm verwalteten staatlichen Kasse hat er ein Manko von vierhunderttausend Rubeln hinterlassen. Dieses Geld war für Witwen und Waisen bestimmt, und er verwaltete aus irgendwelchem Grunde die Kasse allein, so daß sie schließlich acht Jahre lang nicht revidiert worden war. Ich stelle mir lebhaft vor, was da jetzt alle für lange Gesichter machen, und wie sie seiner gedenken. Nicht wahr, eine wonnevolle Vorstellung! Ich habe mich das ganze letzte Jahr darüber gewundert, wie ein solcher siebzigjähriger Greis, mit Gicht in den Händen und in den Füßen, sich noch so viel Kraft zu Ausschweifungen hatte bewahren können, und da hatten wir nun die Lösung des Rätsels! Diese Witwen und Waisen – schon der bloße Gedanke an sie mußte ihn in Glut versetzen! Ich wußte schon längst davon; ich war der einzige, der davon wußte; mir hatte es Mademoiselle Charpentier mitgeteilt, und als ich es erfahren hatte, da richtete ich an ihn sofort (es war gerade Ostersonntag) in freundschaftlicher Form das Ersuchen: ›Gib mir fünfundzwanzigtausend Rubel, sonst findet morgen bei dir eine Revision statt.‹ Und denken Sie sich: es fanden sich damals in seinem Besitze nur dreizehntausend, so daß er jetzt, wie ich meine, sehr zur rechten Zeit gestorben ist. Grand-père, grand-père, hören Sie?«

» Cher Klinewitsch, ich bin mit Ihnen vollständig derselben Ansicht, und Sie sind ganz unnötigerweise auf solche Einzelheiten eingegangen. Es gibt im Leben so viele Leiden und Qualen und so wenig Lohn … Ich hatte den Wunsch, endlich zur Ruhe zu kommen, und soviel ich sehe, kann man hoffen, daß sich auch von hier aus allerlei wird erreichen lassen.«

»Ich möchte darauf wetten, daß er schon Katisch Berestowa gewittert hat!«

»Wen? Was für eine Katisch?« fragte der Alte mit einer Stimme, die vor sinnlicher Erregung zitterte.

»Aha, was für eine Katisch? Na, hier gleich links, fünf Schritte von mir, zehn Schritte von Ihnen. Sie ist schon seit vier Tagen hier, und wenn Sie wüßten, grand-père, was sie für ein Ferkelchen ist! Aus guter Familie, wohlerzogen, und – dabei doch ein Monstrum, ein Monstrum im höchsten Grade! Ich habe dort niemanden auf sie aufmerksam gemacht; ich bin der einzige gewesen, der sie kannte … Katisch, antworte!«

»Hi-hi-hi!« antwortete eine rissige Mädchenstimme; aber es war aus ihr wie eine Art von Nadelstich herauszuhören. »Hi-hi-hi!«

»Ist es eine klei–ne Blon–di–ne?« stammelte der grande-père abgebrochen.

»Hi-hi-hi!«

»Ich … ich habe schon längst«, lallte der Alte, der kaum Luft bekam, »mir mit Vergnügen in meinen Träumereien so eine kleine Blondine vorgestellt … so von fünfzehn Jahren … und gerade unter solchen Umständen …«

»Ach, Sie Ungeheuer!« rief Awdotja Ignatjewna.

»Genug!« sagte Klinewitsch in entschiedenem Tone; »ich sehe, daß das Material ausgezeichnet ist. Wir werden uns hier unverzüglich aufs beste einrichten. Die Hauptsache ist, die noch übrige Zeit vergnügt zu verbringen; aber was ist das für eine Zeit? Heda, Sie! Sie sind ja wohl so ein Beamter, Lebesjatnikow, nicht wahr? Ich habe gehört, daß Sie so genannt wurden!«

»Lebesjatnikow, Hofrat, Semjon Jewsjejewitsch, Ihnen zu dienen; sehr erfreut, sehr erfreut, sehr erfreut.«

»Ich spucke darauf, daß Sie erfreut sind; aber Sie wissen hier ja wohl mit allem Bescheid. Sagen Sie mal erstens (ich wundere mich darüber schon seit gestern), auf welche Weise reden wir hier eigentlich? Wir sind ja doch gestorben, aber trotzdem reden wir; wir bewegen uns auch gewissermaßen; aber trotzdem reden wir weder noch bewegen wir uns? Was ist das für ein wunderlicher Vorgang?«

»Das könnte Ihnen, wenn Sie es wünschen, Baron, Platon Nikolajewitsch besser erklären als ich.«

»Was für ein Platon Nikolajewitsch? Reden Sie nicht drum herum! Zur Sache!«

»Unser Platon Nikolajewitsch hier ist ein aus dieser Stadt stammender Doktor der Philosophie, zugleich großer Naturforscher. Er hat mehrere philosophische Bücher herausgegeben; aber schon seit drei Monaten schläft er vollständig, so daß es jetzt kaum noch möglich sein dürfte, ihn aufzurütteln. Einmal in der Woche pflegt er ein paar nicht herpassende Worte zu murmeln.«

»Zur Sache, zur Sache!«

»Er erklärt alles mit einer höchst einfachen Tatsache, nämlich damit, daß wir oben, als wir noch lebten, den dortigen Tod irrtümlich für den wirklichen Tod gehalten haben. Der Körper wird hier gewissermaßen noch einmal lebendig; die Überreste des Lebens konzentrieren sich, aber nur im Bewußtsein. So (ich verstehe nur nicht, es Ihnen zu verdeutlichen) dauert das Leben gewissermaßen infolge des Beharrungsvermögens fort. Alles ist nach seiner Ansicht irgendwo im Bewußtsein konzentriert und dauert noch zwei oder drei Monate fort, manchmal sogar ein halbes Jahr. Es gibt zum Beispiel hier einen, der schon fast ganz in Verwesung übergegangen ist, aber doch einmal alle sechs Wochen immer noch plötzlich ein allerdings sinnloses Wort murmelt, von irgendwelchem Bobok: ›Bobok, Bobok‹ bobok heißt »die Bohne«; das Verständnis wird dadurch freilich nicht gefördert. – Anmerkung des Übersetzers., – also ist doch auch in ihm noch ein Rest von warmem Leben, ein kaum wahrnehmbares Fünkchen zurückgeblieben …«

»Rechter Unsinn. Aber wie geht es denn zu, daß ich Gestank rieche, obwohl ich keinen Geruchssinn mehr besitze?«

»Das … he-he … Na, bei diesem Punkte wurden die Erklärungsversuche unseres Philosophen nun schon ziemlich nebelhaft. Gerade über den Geruchssinn bemerkte er nämlich, man rieche hier sozusagen den moralischen Gestank – he-he! Gewissermaßen den Gestank der Seele, damit man in diesen zwei, drei Monaten noch Zeit habe, sich auf sich selbst zu besinnen; das sei sozusagen eine letzte Gnadenfrist. Aber es will mir scheinen, Baron, daß das alles mystische Faselei ist, mag sie auch durch seinen Zustand sehr entschuldbar sein …«

»Nun genug; ich bin überzeugt, daß auch alles Weitere Unsinn ist. Die Hauptsache ist: noch zwei oder drei Monate Leben und am letzten Ende: Bobok. Ich mache allen den Vorschlag, diese zwei Monate möglichst angenehm zu verbringen und sich zu diesem Zwecke andere Grundsätze zu eigen zu machen. Meine Herrschaften, ich schlage vor, sich über nichts zu schämen!«

»Ach ja, wir wollen uns über nichts schämen!« erschollen viele Stimmen, und seltsamerweise darunter sogar ganz neue, nämlich von solchen, die inzwischen neu erwacht waren. Mit besonderer Bereitwilligkeit gab der nun schon vollständig zu sich gekommene Ingenieur in dröhnendem Baß seine Zustimmung zu erkennen. Fräulein Katisch kicherte freudig.

»Ach, wie gern bin ich bereit, mich über nichts zu schämen!« rief Awdotja Ignatjewna entzückt.

»Hören Sie, wenn schon Awdotja Ignatjewna gern bereit ist, sich über nichts zu schämen! …«

»Nein, nein, nein, Klinewitsch, ich habe mich geschämt, ich habe mich dort wirklich geschämt; aber hier bin ich äußerst, äußerst gern bereit, mich über nichts zu schämen!«

»Ich habe Verständnis für Ihren Vorschlag, Klinewitsch,« sagte der Ingenieur mit seiner tiefen Stimme, »das hiesige sozusagen Leben auf neuen, und zwar vernünftigen Prinzipien aufzubauen.«

»Na, darauf spucke ich! In dieser Hinsicht tun wir gut, auf Kudejarow zu warten, der gestern hergebracht ist. Wenn der aufwacht, wird er Ihnen alles erklären. Das ist mal ein Geist, ein kolossaler Geist! Morgen werden sie, glaube ich, noch einen Naturforscher herschleppen, wahrscheinlich auch einen Offizier und, wenn ich mich nicht irre, in drei, vier Tagen einen Feuilletonisten, wohl mitsamt dem betreffenden Redakteur. Übrigens hol' sie der Teufel; aber es wird sich hier bei uns eine besondere Gruppe zusammenfinden, und dann wird bei uns alles ganz von selbst in Ordnung kommen. Aber inzwischen spreche ich den Wunsch aus, daß nicht gelogen werde. Das ist das einzige, was ich verlange; denn das ist die Hauptsache. Auf der Erde zu leben und nicht zu lügen ist unmöglich; denn das Leben und die Lüge sind Synonyma; na, aber hier wollen wir spaßeshalber nicht lügen. Hol's der Teufel, es macht doch etwas aus, daß man begraben ist! Wir wollen alle laut unsere Streiche erzählen und uns über nichts mehr schämen. Ich werde vor allen andern von mir erzählen. Wissen Sie, ich gehöre zu den Sinnlichen. Das alles war da oben mit morschen Stricken zusammengebunden. Weg mit den Stricken; lassen Sie uns diese beiden Monate in der schamlosesten Aufrichtigkeit verbringen! Entblößen wir uns und zeigen wir uns nackt!«

»Ja, zeigen wir uns nackt, zeigen wir uns nackt!« riefen alle aus voller Kehle.

»Ich möchte mich furchtbar gern, furchtbar gern nackt zeigen!« kreischte Awdotja Ignatjewna.

»Ach … ach … ach, ich sehe, daß es hier lustig zugehen wird; ich will nicht zu Dr. Eck!«

»Nein, ich müßte wieder lebendig werden; nein, wissen Sie, ich müßte wieder lebendig werden!«

»Hi-hi-hi!« kicherte Katisch.

»Die Hauptsache ist, daß es uns niemand verbieten kann; und wenn auch Perwojedow, wie ich sehe, sich ärgert, so kann er mich doch nicht mit der Hand erreichen. Grand-père, sind Sie einverstanden?«

»Ich bin vollständig einverstanden, vollständig einverstanden, und mit dem größten Vergnügen meinerseits, aber unter der Bedingung, daß Katisch die erste ist, die ihre Biographie erzählt.«

»Ich protestiere! Ich protestiere mit aller Energie!« sagte General Perwojedow in festem Tone.

»Exzellenz!« flüsterte der Taugenichts Lebesjatnikow hastig und aufgeregt im Tone angelegentlicher Überredung, »Exzellenz, das wird ja für uns besonders vorteilhaft sein, wenn wir zustimmen. Wissen Sie, dieses junge Mädchen … und dann alle diese verschiedenen argen Streiche …«

»Nun ja, allerdings, das junge Mädchen; aber …«

»Besonders vorteilhaft, Exzellenz, wahrhaftig besonders vorteilhaft! Na, wenn auch nur zur Probe; machen wir wenigstens einen kleinen Versuch …«

»Nicht einmal im Grabe wird einem Ruhe gelassen!«

»Erstens, General, Sie spielen im Grabe Pre-fe-rence, und zweitens spuk–ken wir auf Sie!« sagte Klinewitsch, die Silben trennend.

»Mein Herr, ich möchte Sie doch bitten, sich nicht zu vergessen!«

»Was? Sie können ja nicht zu mir herreichen; ich aber kann Sie von hier aus necken wie Juliettes Bologneserhündchen. Und erstens, meine Herren, ist er denn etwa hier noch General? Dort war er ein General; aber hier ist er ein Aas!«

»Nein, ich bin kein Aas … ich bin auch hier …«

»Hier verfaulen Sie im Sarge, und es bleiben von Ihnen nur sechs Messingknöpfe übrig.«

»Bravo, Klinewitsch, ha-ha-ha!« schrien mehrere Stimmen.

»Ich habe meinem Kaiser gedient … ich habe einen Degen …«

»Mit Ihrem Degen können Sie Mäuse spießen, und außerdem haben Sie ihn nie gezogen.«

»Ganz gleich; ich habe einen Teil des Ganzen gebildet.«

»Was gibt es nicht alles für Teile eines Ganzen!«

»Bravo, Klinewitsch, bravo, ha-ha-ha!«

»Ich begreife nicht, was ein Degen eigentlich zu bedeuten hat«, bemerkte der Ingenieur.

»Wir werden vor den Preußen davonlaufen wie die Mäuse; sie werden uns gehörig klopfen!« rief eine entfernte, mir unbekannte Stimme, die aber buchstäblich vor Entzücken erstickte.

»Der Degen, mein Herr, ist die Ehre!« rief der General; aber nur ich hörte ihn. Es erhob sich ein langdauerndes, wütendes Geschrei, Geheul und Toben, aus dem nur noch Awdotja Ignatjewnas ungeduldiges, hysterisches Kreischen herauszuhören war.

»Nur schnell, nur schnell! Ach, wann werden wir denn anfangen, uns über nichts zu schämen!«

»Och–ho–ho–ho! Meine Seele macht wahrhaftig eine Läuterungspein durch!« ließ sich die Stimme jenes einfachen Kaufmannes vernehmen, und …

Und hier nieste ich auf einmal. Das kam ganz plötzlich und unbeabsichtigt; aber die Wirkung war eine überraschende: alles wurde still wie auf einem Kirchhofe und verschwand wie ein Traum. Eine richtige Grabesstille trat ein. Ich glaube nicht, daß sie sich vor mir schämten: sie hatten ja beschlossen, sich über nichts zu schämen! Ich wartete etwa fünf Minuten lang; aber kein Wort, kein Laut war zu hören. Es war auch nicht anzunehmen, daß sie eine Anzeige bei der Polizei fürchteten; denn was kann die Polizei dabei tun? Unwillkürlich gelange ich zu dem Schlusse, daß sie doch irgendein dem Sterblichen unbekanntes Geheimnis besitzen müssen, das sie sorgfältig vor jedem Sterblichen hüten.

»Na,« dachte ich, »ihr lieben Leutchen, ich werde euch schon mal wieder besuchen«, und mit diesen Worten verließ ich den Kirchhof.

Nein, das kann ich nicht für zulässig halten; nein, wahrhaftig nicht!

Ausschweifung an einem solchen Orte, Ausschweifung seitens verwesender Leichname, die dazu die letzten Augenblicke des Bewußtseins mißbrauchen! Diese Augenblicke sind ihnen gegeben, geschenkt zu anderm Zwecke, und sie … Aber die Hauptsache, die Hauptsache bleibt doch: an einem solchen Orte! Nein, das kann ich nicht für zulässig halten …

Ich werde auch die andern Klassen von Gräbern besuchen und überall horchen. Das ist es ja eben, daß man überall horchen muß und nicht nur in einer einzigen Klasse, um sich eine richtige Vorstellung zu bilden. Vielleicht stoße ich auch auf etwas Tröstliches.

Aber zu jenen Leuten werde ich unbedingt zurückkehren. Sie haben versprochen, ihre Lebensläufe und allerlei interessante Geschichtchen zu erzählen. Pfui! Aber ich werde wieder hingehen, unter allen Umständen; das ist mir Gewissenssache!

Ich werde diese Aufzeichnungen dem Graschdanin bringen; da ist auch das Porträt eines Redakteurs ausgestellt. Vielleicht druckt er sie ab.


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