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Elftes Kapitel.
Une bohémienne.

» Es ist Nichts als Flamänder, Gesindel und Package,« sagte der alte Lohnbediente, als er am zweiten Pfingstfeiertage 1848 keinen Rahm zum Kaffee bekam und folglich ärgerlich auf die Prager Revolution war, welcher bis dahin seine Sympathien angehört hatten, »es ist Nichts als Flamänder, Gesindel und Package.«

Was die Böhmen an den Vlamingen thun, das thun die Franzosen an den Böhmen. So gut wie in Prag Flamänder, ist, wie man weiß, in Frankreich bohémien das Synonym von Landstreicher, Herumtreiber, Eckensteher, mit einem Wort von Vagabond, mag dieser Vagabond nun das Geschäft des Nichtsthuns an einem Orte ausüben, oder damit im ganzen Lande hausiren gehen.

Das Femininum von bohémien ist bohémienne. Carlotta war bohémienne, war es sogar doppelt, einmal als Böhmin von Geburt, zweitens als reisende Künstlerin.

Unsere Zeit ist die ächte eigentliche der Vagabonden, der Vagabonden aller Klassen, mit leeren und vollen Taschen, mit guten, schlechten oder auch gar keinen Zwecken. Selbst Leute, welche von Natur aus Stillsitzer wären, wenn sie ihren Instinkten gehorchten, werden durch Gelegenheit und Beispiel zum Vagabondiren verführt, geschweige denn die geborenen Zugvögel, denen es, um so zu sagen, immer nur da wohl ist, wo sie nicht sind.

Carlotta war zu früh auf die Welt gekommen, um bei ihrem Eintritt in dieselbe Eisenbahnen und Dampfschiffe bereits fertig zu finden, aber sie mußte diese herrlichen Erfindungen geahnt haben, so unmöglich war es, sie schon als kleines Mädchen länger als eine Stunde in einem und demselben Raume zu erhalten. An einem und demselben Platze nun schon gar nicht. Bewegung, wieder Bewegung und immer Bewegung, und Veränderung, wieder Veränderung und immer Veränderung, das waren die beiden Grundbedingungen ihrer Natur. Sie blieb nur auf einer Stelle, wenn sie schlief, und auch das so recht nicht, denn meistentheils fand man des Morgens ihren Kopf da, wo sie ihre Füße haben sollte.

Daß diese Idiosynkrasie gegen alles Stillsitzen und jede Wiederholung einen ordentlichen Unterricht geradezu unmöglich machte, wird man leicht begreifen. Was sie lernte, das lernte sie, ohne daß sie wußte, wie, und auch ohne daß Jemand sonst es wußte. Viel konnte es nicht gewesen sein, denn, ich habe es schon gesagt, Carlotta war noch jetzt höchst unwissend. Die Sprachen – sie sprach nämlich italienisch, französisch und russisch u– hatte sie alle nur aus dem Gebrauche gelernt, wissenschaftlich keine, überhaupt Nichts. Auch in der Musik hätte sie viel fester und tüchtiger, mehr, wie die Italiener es nennen, maestra sein müssen, hätte sie ihren Widerwillen gegen jedes Studium überwinden können und wollen. Aber dieser Wille war ihr so wenig beigebracht worden, wie etwas Anderes. Der General war schon sehr alt, Carlotta's Mutter war seine zweite Frau, Carlotta sein letztes Kind: er verzog es, wie Greise Enkeltöchterchen zu verziehen pflegen. Was die Generalin von der Erziehung verstand, das wird man aus den Scenen entnommen haben, die man früher geschildert gefunden hat.

Carlotta wuchs also eigentlich auf der Gasse groß, die sie gelegentlich mit der Kaserne vertauschte. Hier lernte sie zuerst Geographie. Die österreichischen Offiziere studiren diese Wissenschaft praktisch, wenigstens im Bereich des Kaiserstaats; sie erzählten der Kleinen, was sie gesehen. Carlotta trabte dann zur Mutter zurück und erklärte ihr peremtorisch: sie müsse das auch Alles sehen. Sagte dann die Mutter: »aber, Du dummes Kind, wie willst Du denn da überall hinkommen? Dazu gehört viel Geld, mehr als wir haben;« versuchte die Mutter der Kleinen auf diese Weise die Unmöglichkeit, gleich in den Wagen zu steigen, begreiflich zu machen, so ging das Schreien und Strampeln los, und um Carlotta nur in etwas zu beruhigen, mußte die Mutter ihr versprechen, daß sie später, wenn sie groß sein werde, weiter reisen solle, als alle anderen Leute. Die Generalin hatte damals keine Ahnung davon, daß diese Verheißungen sich erfüllen könnten.

Wie hätte sie es auch ahnen sollen? An der Festung, wo Carlotta geboren worden war, wo die Generalin auch die ersten Jahre nach dem Tode ihres Mannes noch wohnte, führte damals noch nicht die Dresden-Prager Eisenbahn vorüber, auf der Elbe fuhr noch kein Dampfschiff. Die Zeit der Bewegung war noch nicht gekommen, nur Carlotta bewegte sich, unruhiger immer, je größer sie wurde. »Was ich nur mit dem Kinde anfangen soll!« sagte die Generalin wieder und wieder zu ihrer Schwester, welche eine Straße weiter wohnte und den Tag über wol an zwanzig Mal das Vergnügen hatte, Carlotta herein- und hinausfahren zu sehen. Die Tante wußte auch keinen Rath; sie versuchte Carlotta an weibliche Arbeiten zu gewöhnen: die Kleine zerbrach die Nadeln, zerriß den Faden und warf die Arbeit auf die Erde. Es war nicht möglich, sie durch Güte und Versprechungen zu bändigen, und Strenge sollte nicht angewandt werden.

Man wird sich wundern, wie ich die Kindergeschichte Carlotta's erfahren konnte? Die Generalin selbst erzählte sie mir, als Beweis, wie frühzeitig die Künstlernatur sich bei ihrer Tochter gezeigt hätte. Alles, was Carlotta Verkehrtes oder Unliebenswürdiges that, bewunderte die Generalin als Künstlernatur.

Die glänzendste Epoche dieser Künstlerkindheit war die, wo Carlotta über einige Räuberromane gerathen war und der Mutter erklärte, sie wolle ein Bandit werden. Begeistert für diesen ihren künftigen Beruf stellte sie wahre Raubzüge in die Nachbarschaft an und vertheidigte dann ihre Beute mit Zähnen und Händen. Carlotta war, was man »eine resolute kleine Person« nennt. Wäre sie stark angefaßt und gewaltsam richtig geführt worden, wer weiß, bis zu welcher Höhe der Entwicklung sie gelangt wäre. Das erste Bedingniß der Tüchtigkeit, Kraft, besaß sie in vollem Maße. Undisciplinirt mußte diese Kraft freilich bis zum Uebermaße anschwellen.

Und undisciplinirt wuchs Carlotta fort. Ihre einzigen ruhigen Stunden waren die am Flügel, den sie von der Tante spielen lernte, wie, wußte man abermals nicht. Ihre Finger liefen von selbst, hätte sie durch Uebung sie geschmeidig machen sollen, wären sie wol steif geblieben. Die Musik war ihr nun einmal an- oder lieber eingeboren, es war der Ausdruck für dieses launenhafte Wesen, welches sich fortwährend gleichsam selbst improvisirte. Als Carlotta zu singen anfing, und sie fing es an wie ein Vogel, absichtslos und unbewußt, eben auch aus Naturbedürfniß, da war es mit ihrer Kehle, wie mit ihren Fingern. Eine angeborene Geläufigkeit und Geschmeidigkeit schien alles Studium überflüssig zu machen. Ich habe meine Kritikgründe, zu glauben, daß Carlotta sich durch diesen Anschein täuschen ließ oder sich bereitwillig selbst täuschte. Es würde ihr sicher nicht lieb sein, wenn man untersuchen wollte, wie viele Stunden sie eigentlich in Mailand genommen, wo ihr durch die Huld einer Kaiserlichen Hoheit eine Freistelle am Conservatorium zu Theil geworden war. Denn die Mutter hatte sich entschließen müssen, Carlotta die Künstlerlaufbahn einschlagen zu lassen, auf welcher wir ihr begegnet waren. Umsonst hatte sie versucht, sie vernünftig zu verheirathen, es war nicht gegangen. Carlotta wurde angebetet und sogar angesungen, wie Stanislaw bewies, aber zur Frau getraute sich kein junger Mann sie zu wünschen. Und man hatte Recht. Carlotta im Alter von achtzehn Jahren geheirathet – mit neunzehn Jahren ging sie nach Mailand – wäre gerade wie Dampf gewesen, den man zu sehr erhitzt und ohne Sicherheitsventil in einen zu engen Kessel eingeschlossen hätte. Der Dampf wäre explodirt, und Carlotta auch. Eine solche Explosion ist indessen in einer Ehe ebenso verhängnißvoll, wie auf einem Dampfschiffe, oder wo irgend ein Kessel kocht, und man konnte die jungen Bekannten Carlotta's ihrer vernünftigen Vorsicht wegen nur loben.

Aber ebensowenig konnte die Generalin mit der Tochter in den alltäglichen Verhältnissen eines Wittwenlebens etwas anfangen. Carlotta war eben nur zu dem Außerordentlichen geboren und geeignet. Zum Glück hatte die Generalin, wie sie selbst mir ja bekannt hatte, auch mehr den Zug nach Außen, als die Anhänglichkeit an die Stille. Sie hatte in ihrer Jugend, und selbst später als Wittwe noch, viel auf Liebhabertheatern gespielt, und Carlotta erinnerte sich noch jetzt mit triumphirender Lust, wie etwa ein Jahr nach des Vaters Tode eine Deputation von Offizieren gekommen sei, um der Generalin die Rolle der Elvira in der »Schuld« »Die Schuld« (1816), ein Trauerspiel der damaligen Theatermode, der ›Schicksalstragödie‹, von Adolf Müllner (1774-1829). anzutragen und zugleich Carlotta für die des kleinen Otto zu erbitten. Carlotta spielte den Stiefsohn des »Herrn Hugo Oerindur« zu allgemeiner Bewunderung. Von diesem Augenblick an hatte sie die feste Ueberzeugung von ihrem Berufe zur Bühne.

Und auf die Bühne wollte sie, lange bevor sie fertig war. »Wohl«, sagte ihr Professor in Mailand, »so versuchen Sie's, aber an die Scala können Sie noch nicht.« – »Die Fenice » Teatro La Fenice«, das Opernhaus in Venedig. wird's auch thun,« antwortete Carlotta, wie die Mutter es nannte, mit edlem Selbstbewußtsein. Die Fenice »that's« aber auch nicht sogleich, und Carlotta war noch nicht engagirt, als 1848 die Revolution auch in Venedig ausbrach, und Mutter und Tochter zugleich mit ihren Landsleuten vertrieb. Die Generalin versicherte mir, sie hätten alle Mühe gehabt, um fortzukommen, man hätte sie durchaus dabehalten wollen. Jedenfalls war es sehr gescheidt, daß sie sich nicht hatten halten lassen.

Von Venedig an begannen »die Irrfahrten Carlotta's.« Sie auf denen zu verfolgen, wäre unnütz und schwer obenein, wenn nicht geradezu unmöglich. Ich wenigstens konnte trotz des Albums, in welchem Alles gedruckt stehen sollte, und trotz des vielen Erzählens von Mutter und Tochter nicht recht klug daraus werden, wo Carlotta überall gesungen, wo sie engagirt gewesen und wo nicht, wie sie gereift und wie sie gelebt. Indessen darauf kam es auch gar nicht weiter an, sondern nur darauf: wie paßte die bohémienne zu dem Sohne der belgischen Douairière?


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