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1.

Schiefergrau schob der Rhein seine Wassermassen an Düsseldorf vorbei. Er zwängte sich stöhnend durch die Joche der alten Schiffsbrücke und entpreßte den Bohlen und Planken der bauchigen Brückenkähne denselben hellsingenden, melancholischen Ton, den einst der lustige Bergwind dem Holze entlockte, als es noch mit quellenden, steigenden Säften auf einsamen Nordlandshöhen oder grünen Schwarzwaldgipfeln seine Kronen wiegte. Ausströmend fand er seine Gelassenheit zurück, trieb schwerfällig an dem roten Schloßturm der schönen Jakobe von Baden vorüber, der als altes Wahrzeichen der Stadt in die neue Zeit mit ihrer alles glättenden, die Erinnerungen auslöschenden Verschönerungssucht glücklich sich hinübergerettet hat, und nahm die Parade ab über einen zusammengewürfelten Haufen baufällig scheinender Hütten und Baracken, die sich wie eine Zigeunerhorde an die massigen Hüften ihrer Nährmutter, den kalt und erhaben seine Umgebung beherrschenden Bau der Kunstakademie, herandrängten. Dann tauschte er kurz Red' und Antwort mit dem leisquellenden Wasser des Sicherheitshafens, überströmte kräftig den Rand der Golzheimer Insel, große Lachen in dem sandigen Boden zurücklassend, und entschwand nahe Kaiserswerth, der alten, efeuumsponnenen Feste, die einst Pipin erbaute und die die Entführung des vierten Heinrich sah, in einem scharfen Bogen gen Holland.

Unaufhörlich ging der Regen nieder. In der Nacht hatte er begonnen, und jetzt, nachdem die Glocken der Stadt längst Mittag verkündet hatten, zeigte er sich noch keineswegs zur Rast gewillt. Wer aus dem Rheintor heraustrat, sah Strom und Ebene, soweit der Blick reichte, in einen engmaschigen, grauen Schleier gehüllt, der nur dicht über dem Wasser eine langgestreckte, silberne Kante aufwies, den zitternden Reflex, den der beständige scharfe Anprall der Regentropfen auf der Wasserfläche schuf. Die Häuser der Ortschaft Oberkassel jenseit der Schiffbrücke – »auf der andern Seit'« sagt der Eingeborene – waren nur als dunkle Schattenmassen erkennbar, und die Pappeln, Erlen und Weiden, die dem Stromlauf folgen und dem Bild des Niederrheins den besonderen Charakter geben, geisterten nur wie spindeldürre Finger durch die Luft, wenn eine schwächliche Brise den Regen zu Tal drückte.

Die ganze Atmosphäre war gesättigt mit jener feuchten, weichlichen Wärme, die das Menschenblut zur Unrast treibt.

Kein Ton als das einförmige Triefen des Regens, das Singen des Brückenholzes und zeitweilig ein dumpfes Aufbegehren der drängenden Wassermassen im Strombett oder an den Bordschwellen.

Jetzt zitterten die sentimental näselnden Laute einer Handharmonika hindurch. In der Deckskajüte eines am Kai verankerten Schleppkahnes rekelte sich die lange, verwitterte Gestalt des Schiffers auf dem Rücken. Über den Kopf hielt er mit ausgestreckten Armen die Harmonika, auf der er schläfrig allerlei Volksweisen improvisierte, wie sie just unter dem Griff der hin und her stolpernden Finger herauskamen. Durch das weitgeöffnete Hemd lugte unbekümmert die zottig beharrte Brust, ein schmaler Gurt schnürte die englischen Lederhosen über den Hüften kraus zusammen, an den Füßen, die in graublauen Socken staken, tanzten im Takt der Musik rote Plüschpantoffeln.

»Lambert!« tönte rufend eine Frauenstimme aus dem Unterdecksraum.

Der Schiffer war viel zu faul, eine Antwort zu geben.

Ein Kopf wurde in der Treppenluke sichtbar.

»Wat machste, Lambert?«

»Musik«, tönte es lakonisch zurück.

»Ach e nee«, machte die Frau höhnisch verwundert und kletterte nach oben, »wat du nich sagst! Ich hatt' jejlaubt, du tätst schnarchen!«

»Domm' Grielächer«, schimpfte der Rheinschiffer, drehte ihr seine Kehrseite zu und versuchte, auf dem Bauche liegend, weiterzuspielen.

Die Frau prüfte das Wetter.

»Jesus Maria Jusepp, wat es dat en Leid! Et rejent un et rejent.«

»Kuns'stück«, entgegnete verächtlich der Harmonikaspieler und zog die Register zu einem kläglichen Gewimmer. Mehr sagte er nicht.

Die Frau sah über die Schulter zurück und wartete.

»Du«, sagte sie nach einer Weile, in der nur noch das Surren des Regens vernehmlich war, und tippte den Gefährten mit dem holzbeschuhten Fuß in die Seite, »spürste noch nix oder spürste jet? Mr kann sich an de eigene Schlauheit verfresse, wenn mr kein Luft hat. Wat es dat also mit dem ›Kuns'stück‹?«

»Och, Tring«, höhnte der Ehegatte, »ich jlöw, du bis us Dülken jebürtig, wo die Gecke herkomme. Solang ich auf dem Rhing fahr un mein Vader un mein Bestevader: wenn mr von Kölle zu Tal kommt, oder von Wesel zu Berg, un et e su rejent wie heut, am heilige Sonntag et e su rejent, na, wat es dann?« Er machte eine schlappe Viertelwendung und gähnte. »Domm' Dier, die Sank-Sebastian-Brüder in Düsseldorf feiern Schützenfest! Den ihre Schutzpatron, dat is ene brave Heilige. Da will nich, dat en Malör passiert, deshalb speuzt er ihne dat Pulver naß.«

»Da tät ich doch hinlaufe und mich aufnehme lasse in die Brüderschaft.«

»Ich han dat nich nüdig.«

»Ah so! E nee – – jewiß nicht – –« machte die Vierschrötige maliziös. Und mit einem Achselzucken: »ful' Thommes!«

Dann retirierte sie, mit den Holzpantoffeln klappernd, lachend unter Deck.

Der Schiffer gab sich gar nicht erst die Mühe, über ihre Reden nachzudenken. Er blinzelte noch einmal nach dem Häusergewirr der Altstadt, über deren Dächern der Regen wie ein Dampf lag, und schlief ein. Er hielt seinen Sonntag. – –

Über die Kaimauer gelehnt, hatte ein junger Mann den Diskurs der beiden belustigt mit angehört. Der Regen füllte die Krempe seines Hutes und rann an dem schwarzglänzenden, eleganten Gummimantel glatt herab. Er achtete nicht darauf. Das schmalgeschnittene Gesicht – eher das eines Knaben als eines Neunzehnjährigen – war durch das Wetter leicht gerötet, das dichte, braune Haar klebte auf der Stirn, die dunkelgrauen Augen blickten klar und fest. Diese Augen machten die feine Jugendlichkeit der Züge wieder wett. Sie verliehen Reife, die von den weichen, knabenhaften Bewegungen seltsam abstach.

Der junge Spaziergänger richtete sich auf. Er schüttelte sich, daß die Tropfen ihn umzischten, und sog dann mit Nüstern und Lungen den charakteristischen Duft des Rheintals ein, den Duft, der zwischen Teer und Algen die Mitte hält.

»Düsseldorfer Luft!« dachte er stolz. »Ich glaub', ich würde zu Grunde gehen, wenn mir die auf die Dauer entzogen werden sollt'.«

Er dehnte und reckte Arme und Körper.

»Was die Leute nur immer von der Schönheit des Oberrheins fabeln! Diese Spießbürger haben nur Sinn für das, was ihnen recht augenfällig auf dem Präsentierteller entgegengetragen wird. Aber hier? Wenn's dort hinten über die weiten, einsamen Wiesen huscht, über die Wasserarme, um die Erlenbestände? Und der Horizont ganz, ganz fern – –. Was liegt da alles drin an Unerklärlichem, Schönem, Sehnsuchtsvollem – an Poesie – –. Schreien möcht' man, schreien!«

Er fuhr sich mit dem nassen Rockärmel über das erhitzte Gesicht; das kühlte ihn auf der Stelle ab.

»Na ja«, dachte er weiter, »bist schon ein rechter Heimatsmensch, dem die Scholle nicht von der Stiefelsohle geht!«

Er lauschte.

Aus der Ferne klangen die verwehten Töne eines marschierenden Musikkorps. Nur die große Trommel und die Becken brachen sich vorläufig Bahn.

»Bumm, bumm, bumm – – –«

»Zingda, zingda, zingda, zingda!«

»Aha, der Schützenzug! Nun geht's auf den Festplatz. Die Kirmes gehört dazu, die gehört zur Volkspoesie des Niederrheins. Vorwärts, ›Hans der Träumer‹!«

Und der junge, hübsche Mensch versenkte die Hände in den schräg anliegenden Taschen seines Gummimantels und schritt im Takt der unablässig herüberdröhnenden Paukenschläge, den Kopf zur Abwehr des Regens leicht vorgebeugt, die Melodie des Schützenmarsches pfeifend, den Kai entlang. Er umging die Schleife des Sicherheitshafens, konnte sich nicht enthalten, die wenigen Schritte zum Eiskellerberg hinaufzuspringen, um noch einmal das Auge über das in den Konturen verschwimmende Rheinpanorama schweifen zu lassen, und durchquerte darauf die Anlagen des Hofgartens, um die kürzeste Straße nach dem Festplatz auf dem Golzheimer Gelände zu gewinnen.

Das Straßenbild hatte sich mit einem Schlage verändert. Die gute Düsseldorfer Bürgerschaft, vor allem der hier von alters her kräftig gedeihende Mittelstand, stets bereit, jede öffentliche Lustbarkeit als eine Art ausgedehnten Familienfestes zu begehen, hatte kaum die ersten Klänge der Schützenmusik vernommen, als sie auch schon mit Kind und Kegel den Ausmarsch begann. Der Regen genierte nicht. Gerade er trug dazu bei, den niederrheinischen Witz zu üben, wenn eine Hausehre couragiert die Kleider hochnahm, um sich durch die nassen Grasrabatten einen Weg zu bahnen, wenn ein Unglücklicher verzweifelt seinem Hut nachsetzte oder ein umgekippter Regenschirm sich in die Lüfte hob.

»Achtung, Pitter, die Menagerie vom Festplatz hält nich dicht. Süch ens: der Storch im Salat!«

»Wat denn! Dat is 'ne Störchin! Awer 'ne komplette.«

»Ach so, Sie sind dat, Frau Schmitz? Nix för ongot!«

»Da – –! Da! – Da ging 'ne Hot heidi! Kß! Kß! Kß!«

Schweißgebadet stürzte der Besitzer vorbei. Ein allgemeines »Ah« empfing ihn.

»Schneillöper, Schneillöper!! – Akurat wie Fritz Käpernick! Un alles omsünst. Et werd nich emol affjesammelt.«

Der umgekippte, vom Winde hochgehobene Regenschirm wurde von der Menschenkolonne mit staunendem: »Luffballon – –! Hurra: Luffballon!« begrüßt.

»Minsch, Minsch«, kreischte einer aus der Menge, »wat ham'mer en Freud!«

Und sofort fiel der ganze Chorus ein: »Wat ham'mer en Freud!«

Alles elektrisiert. Sommerliche Karnevalsstimmung.

Und von der Flanke her immer näher, dröhnender und gellender, die Musik.

»Bumm, bumm, bumm – – –«

»Zingda, zingda, zingda, zingda!« – –

Der junge Naturschwärmer vom Rheinkai befand sich bald inmitten der Menschenstauung, die an der Ehrenpforte zwischen dem eigentlichen Schützenplatz und der mit Jahrmarktbuden und Schaustellungen jeder Art besetzten Festwiese den Einzug der Sankt Sebastianus- und der ihr verwandten Gilden erwartete. Altem Brauche nach hatten die Schützenbrüderschaften am Vormittag das Hochamt gehört. Nun zogen sie heran, mit Gott und der Welt eines frohen Sinns. Die »gedienten« Leute faßten Tritt, die übrigen stampften lachend und plaudernd hinterdrein, die Beine in weißen Leinenhosen, »Porzellanbuxen«, wie sie der Volkswitz nennt, dazu schwarzer Bratenrock und Zylinder aller Dimensionen. Auch grünes Jägerhabit und Lodenhut mischte sich darunter. Die Büchse geschultert, die Musik vor den Fahnenzügen verteilt, dahinter der Schützenkönig des vergangenen Jahres, ein biederer Handwerksmeister mit einer fast über seine Kräfte gehenden Hoheitsmiene, mehr einem Fürsten von Gottes Gnaden ähnlich als dem Menschenpack, dem er morgen wieder die Schuhe flecken und sohlen würde, so schwand der Zug – Gewerbetreibende, Kaufleute, Künstler – mit einer Salve derber Zurufe und lustiger Grußworte überschüttet, durch die Ehrenpforte, um sich bald darauf an den Schießständen zu verteilen und das Königsschießen für das neue Schützenjahr zu beginnen. Wer von den Zuschauern Karten für den Schützenplatz erworben hatte, drängte nach. Der Rest, meist junges Volk aller Stände, verteilte sich auf der Festwiese, auf der jetzt, nach Beendigung des nachmittäglichen Gottesdienstes, die Bierzelte eröffnet wurden, die Jahrmarktsbuden zur Schau einluden, die Karussells ihre verstimmten Orgeln auf die Nerven losließen, die Clownkapelle des Kölner Hänneschentheaters ihre ohrenzerreißende Musik anhob, die Glocken bimmelten und die Ausrufer mit heiserer, in der Fistel jäh versagender Stimme unermüdlich das schiebende, stoßende, lachende, kreischende Publikum zum Besuch anfeuerten: Hier herein, meine Herrschaften! Das muß man gesehen haben! Das muß man mitgemacht haben! Das muß man seinen Kindern und Kindeskindern erzählen können! Das gehört unbedingt zur Bildung! Herein, meine Herrschaften; das größte Schwein der Welt für zehn Pfennige – –!«

»Hallo, Steinherr, hierher!«

Der junge Mann im Gummimantel, der strahlend vor Vergnügen im dichtesten Trubel eingekeilt stand, hob sich auf den Zehen, um über die Köpfe der anderen hinweg die Rufenden zu erspähen. Jetzt hatte er sie entdeckt und winkte ihnen mit der Hand zu.

»Ich kann hier nicht heraus!« rief er. »Keine Möglichkeit.«

Aber schon hatte einer der außerhalb des Ringes stehenden jungen Herren einen anderen auf die Schulter gehoben, der nun von oben herab mit seinem Spazierstock nach Steinherr angelte.

»Schnappen Sie zu, Steinherr! Wir ziehen.«

»Das Angeln an dieser Stelle ist verboten!« schrie einer aus der Menge.

»Awer doch niemals för de Jeistlichkeit. Die hat dat Angelprivileg«, mischte sich ein anderer ein.

»Wo is denn hier Jeistlichkeit?«

»Sühst du denn nich? Dat Jungken hät doch 'ne lange Rock, so schwarz wie nur 'ne Deuwel oder 'ne Kaplan.«

»Oha!« rief dem Spottvogel ein dritter zu, »komm du nur morjen in die Beicht'. Dir kann't sehr jut gehen!«

Dann ließ man Steinherr bereitwillig durch. Ein keckes Wort ist am leichtlebigen Niederrhein eine bessere Hilfe als Obrigkeit und Schutzmannschaft.

Der junge Mann war lachend zu seinen Freunden getreten.

»Guten Tag, meine Herren. Was? Ein fideles Leben hier. Sie haben wirklich Glück mit Ihrer Garnisonstadt. Wollen Sie mich auf Ihren Bummel mitnehmen?«

Die jungen Leutnants in elegantem Zivil – ein paar Neununddreißiger und ein paar Fünfter Ulanen – die, wie das ganze Offizierskorps, im Hause des Großindustriellen Steinherr fleißig verkehrten, nahmen den Sohn des Hauses in ihre Mitte und zogen weiter auf Abenteuer aus, wie der Tag es gebot.

»Na, wenn Sie zu Ostern Ihr Abitur haben, Steinherr, werden Sie doch auch bei uns bleiben. Welchem Regiment wollen Sie denn die Ehre schenken?«

Hans Steinherr schüttelte den Kopf.

»Sprechen wir um Gottes willen nicht davon. Ich habe genug darüber zu Hause zu hören. Es ist ja selbstverständlich eine hohe Ehre, Offizier zu sein, aber – aber es gibt doch auch noch andere hohe Ehren.«

»I natürlich! Zum Beispiel: Sohn des Hauses Steinherr zu sein.«

»Die schönste Frau Düsseldorfs zur Mama zu haben.«

»Und selbst ein so verteufelt hübscher Bengel –«

»Stopp, stopp, meine Herren; ich akzeptiere nur die Ehre, die meine Mama betrifft.«

Er nahm dankend, etwas verlegen, den Hut ab. Die jungen Offiziere warfen übermütig salutierend die Hand an die Hutkrempe. –

Die Julisonne arbeitete sich nun doch noch durch. Ihre Strahlen brachen in die letzten Regenschauer, und alle Feuchtigkeit, die noch zwischen den grauen Wolkenfetzen und dem morastigen Erdboden schwebte, wurde aufgesogen. Ein prachtvoller Regenbogen, in den klarsten Farben prangend, spannte sich von der Golzheimer Insel bis weit hinein in die Stadt Düsseldorf.

Die jungen Leute hatten die Zeltgassen durchquert, sehr feierlich das Kölner Hänneschentheater und etwas weniger ehrerbietig die Riesendame besichtigt, hatten sich elektrisieren und photographieren lassen, dann, um die Kraft der Muskeln zu erproben, ein Dutzendmal »den kleinen Lukas gehauen« und sich kindisch gefreut, wenn unter dem schweren Hammerschlag die Metallscheibe an der Stange emporsauste und an der Spitze die Glocke anschlug. Sie hatten in den Schießbuden holländische Tonpfeifen zerschossen und allerlei sonderliche Artigkeiten mit den Schießbudenmädels ausgetauscht, waren juchzend auf dem Karussell gefahren, immer zu zweit auf dem mächtigen Rücken eines hölzernen Löwen oder einer springenden Pantherkatze, und hatten so viel Allotria getrieben, wie überschüssige Jugendlust unter dem Eindruck einer Festwiese, sinnverwirrenden Lärms und ausgelassenster Kirmesfreiheit es nur vermag.

Hans Steinherr war immer mitgezogen. Er lärmte nicht, wie die übrigen, aber er genoß innerlich alles und jedes doppelt. Sein feines Knabengesicht glühte, seine Nasenflügel spannten sich, sein Herz hämmerte vor Lust. In ihm quoll etwas empor, was er noch nie mit solcher Macht gespürt hatte. Es war ein Kraftgefühl ohnegleichen, ein Gefühl, etwas unerhörtes zu vollbringen. Noch nie hatte er so die Freiheit genossen, so stark den Puls des Lebens empfunden. Ein reiches Muttersöhnchen, hatte er sich zumeist mit einem Blick aus der Vogelschau begnügt und das Fehlende dem Spiel der Phantasie zur Ergänzung überlassen. Nun stand er dem Volksleben Brust an Brust gegenüber, sein farbendurstiger Sinn trank sich einen Rausch, sein niederrheinisch Blut, das so schön in Zucht und Ordnung gehalten worden war, klopfte ihm von den Fingerspitzen bis in die Schläfen.

Eine mächtige Wasserlache hatte sich diesseit des Engpasses, der schmalen Landzunge, die das Inselterrain mit dem Stadtgebiet verband, angesammelt. Drüben stand ein junges Mädchen, braun wie eine Kastanie, dem Alter nach ein Kind, fünfzehnjährig. Aber das fadendünne Sommerkleid, das erste fußlange wohl, das sie trug, spannte sich schon unter dem Druck heimlich drängender Formen. Der altmodisch breite Schäferhut aus gebleichtem Stroh saß auf einem Paar Flechten, deren volle Enden bis in die Kniekehlen schlugen. Sie ließ die verträumten Augen über die breite Wasserlache nach dem lärmenden Zeltlager schweifen und pendelte mit dem kleinen Fuß, der in derbem Leder stak, über den Rand der Sandleiste.

Steinherrs Gesellschaft war herangekommen und rief dem hübschen Kinde Scherzworte zu. Einer begann das Lied von den zwei Königskindern:

»Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.«

Da setzte Hans Steinherr, einer impulsiven Regung nachgebend, im Sprungschritt durch das Wasser, daß die Tropfen ihm um die Ohren flogen, erreichte atemlos den jenseitigen Rand, schlang den Arm um die Kniee der überrumpelten Kleinen, hob das heftig sich wehrende Geschöpfchen empor und watete zurück, unbekümmert darum, daß das aufklatschende Wasser ihm die Beinkleider verdarb und ihm in die Stiefel rann.

Die jungen Offiziere begleiteten als einzige Zuschauer den Vorgang mit lautem Hallo. Aber das zarte Ding erwies sich als eine ungefügige Wildkatze. Es packte den ungerufenen Ritter, der sich in der Rolle des heiligen Christopherus versuchte, mit beiden kleinen nervigen Fäusten in den Stirnlocken und bedrängte ihn so heftig, daß er fast zum Straucheln kam. Es wurde ihm purpurn vor den Augen. Er spürte das stürmende Blut des jugendlichen Mädchenkörpers dicht über seinem eigenen jugendlichen Herzen, das sich mit einem fremden im Schlag verschmolz. Das war etwas noch nie Empfundenes. Noch nie hatten seine Knabenhände ein Mädchen berührt. Tausend Gefühle durchwühlten ihn in Sekundenschnelle, ließen Duft, Klang und Farbe in ihm entstehen, regten ihn an und verwirrten ihn durch ihre Süße, schlugen ihn gleichzeitig zum Ritter und nahmen ihm die Kraft.

»Ruhig, du, oder ich küß dich!« stieß er plötzlich hervor.

Er wußte selbst nicht, woher er die Worte genommen hatte.

Jetzt setzte er sie am anderen Ufer ab und wischte sich aufatmend die Stirn. Seine Hand war blutig, als er sie zurückzog.

»Die kleine Hexe hat Sie gekratzt?«

Er nickte, verlegen lachend. Daß sie ihn auch empfindlich mit den strampelnden Füßen getreten hatte, behielt er für sich.

Aus den Augenwinkeln sah er scheu nach seiner kleinen Dame, die trotzig Kehrt gemacht hatte, im Begriff, durch das Wasser wieder zurückzuwaten. Er trat zögernd auf sie zu, und sie streifte mit einem hastigen Seitenblick die Schramme auf seiner Stirn, dicht unter den lockigen Haarsträhnen.

»Nun?« fragte er mit angenommenem Knabenhochmut.

»Ich will hier nicht sein,« brachte sie hervor, und die dunkelblauen Kinderaugen verschleierten sich.

Da hob er sie, als könnte das gar nicht anders sein, zum zweiten Male auf und trug sie stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, zurück. Sie schien ihm schwerer als vorhin, obwohl sie sich nicht regte. Drüben setzte er sie behutsam ab. Einen Herzschlag lang standen sie sich schweigend und verstört gegenüber und sahen sich an. Dann nahm er, wie er es im Salon seiner schönen Mama zu tun pflegte, die Mädchenhand, die noch in der seinen lag, und führte sie an die Lippen.

Hui, flog die Kleine davon, als wäre sie nie gewesen. Die Zöpfe flatterten hinter ihr drein und sprühten Funken in der tiefstehenden Sonne. Fort war sie.

Und Hans Steinherr, ohne sich um die zurückbleibende Gesellschaft zu kümmern, die bereits mit einem Rudel flügger Mädel kokettierte, wandte der Festwiese den Rücken und ging den Weg zurück, den er am Nachmittag gekommen war. Durch den Hofgarten schritt er und über den Eiskellerberg, immer weiter, den abendlich stillen Kai entlang, den geliebten Rhein zu Füßen, nichts hörend, nichts sehend; mit den Augen eines, der unvermutet in die Wunder eines Feenlandes geblickt.

Als er die Schiffbrücke erreicht hatte, betrat er, noch immer ganz versunken in seinen rätselhaften Zustand, die schwanken Bohlen. Er hatte schon ein paar Schritte zurückgelegt, als er hinter sich einen kurzen, groben Zuruf vernahm. Er fuhr zusammen, wachte auf und wandte sich um. Was wollte denn nur der gestikulierende Mensch von ihm?

»Sie, jong Här, dat Brückengeld schaffen Sie allein auch nich aus der Welt!«

Ach so, er hatte vergessen, den Brückenzoll zu entrichten. Brückenzoll? Wo war er denn und wohin wollte er nur? Unter ihm plauderte der Rhein so geschäftig, wie er ihn nie glaubte gehört zu haben: Neuigkeiten, Heimlichkeiten. Und er dachte: Sag's nur laut, Alter, ich versteh' dich doch. Dabei lächelte er ganz still in sich hinein, denn er wußte gar nichts. Nur so verwandt fühlte er sich plötzlich mit all dem Leben und Weben der Natur um sich her, so vertraut, so zugehörig.

Er kehrte zum Brückenhäuschen zurück, ließ sich, während er den Zoll entrichtete, ruhig den mißtrauisch prüfenden Blick des Einnehmers gefallen und nahm den Weg wieder auf. Mit einem Male zuckte ihm ein Marschtempo in den Beinen. Und sofort streckte er den schlanken Leib, richtete sich auf der Brücke zusammen und marschierte in dröhnendem Taktschritt ab. Dabei sang er aus voller Kehle.

Der Wärter sah ihm kopfschüttelnd nach.

»De hät bereits Öwerfracht«, meinte er zum Einnehmer und machte mit dem zerkauten Ende seines Pfeifenstiels eine bezeichnende Geste nach der Gegend des Schützenplatzes.

Hans Steinherr aber schritt unbekümmert seines Wegs. Er hatte sein Marschtempo noch beibehalten, als er schon längst in den Fußweg linker Hand eingebogen war und in den Rheinwiesen wanderte. Seinen ganzen Vorrat von Volksliedern sang er herunter. Wie die Glieder einer Kette ließ er sie aneinander anschließen, ob sie passen wollten oder nicht. Er fühlte sich kindisch wie ein Abcschütze und abgeklärt wie ein Greis. Wie seltsam weich die Luft war! Wie Samt. Und gerade so war's in seinem Innern. Ganz, ganz weich … Und mitten in seiner Freude ertappte er sich dabei, wie er ein paarmal heftig schluckte. – So bemitleidenswert kam er sich plötzlich vor, trotz seiner Gehobenheit.

»Heißa, heißa!« schrie er laut hinaus und begann ein tolles Rennen. Diese verrückte Sommerabendstimmung wollte er schon unterkriegen.

Nun stand er, festgebannt. Vor ihm flammte ein Hochofen des Industriedorfes Heerdt, aber doch nur wie ein Widerschein der feurigen Lohe, die über der altertümlichen Stadt Neuß und ihrem ragenden Dome lag.

Die untergehende Sonne.

Mit gefalteten Händen stand er, den Hut unterm Arm, feierlich, unbeweglich, staunend, als hätte er nie zuvor das Himmelsschauspiel genossen. Tönten nicht auch Harmonien um ihn her? Er horchte gespannt und erschauerte. Was war das? Hatten sich seine Sinne verfeinert? Konnte er die Sonne singen hören und die Farben gleichsam als Duft empfinden? Seit wann, seit wann – –? Darüber grübelte er nach und hörte sein Herz schwere Schläge tun.

Der Sonnenball war gesunken und entschwunden. Aber die Luft war noch vollgesogen von dem Licht, das erst mählich zerfloß. Dann blinzelten ein paar Sterne, und das Wasser warf ihr Bild zurück. Es sah aus, als ob auf dem Rhein Irrlichter schwämmen, kein Hauch weit und breit.

Behutsam, als ob er den Gottesfrieden nicht stören dürfe, glitt Hans Steinherr auf einen Weidenbaum zu, der in phantastischer Gestaltung aus dem Ufersande ragte. Hier stand er, den Arm um den Stamm geschlungen und lauschte. Er belauschte die neue Welt, die sich vor ihm aufgetan und die ihn doch vor kurzem noch die alte dünkte. Und er belauschte den neuen Menschen, der sich da heimlich in ihm regte und dehnte und alles mit seinem Wesen zu erfüllen trachtete.

In der Ferne sah er ein Licht auftauchen. Es kam stromab und wuchs schnell heran. Jetzt unterschied er die Laterne eines Dampfers, der verspätet zum Hafen eilte. Morgen, in junger Sonne, würde er seine Fahrt zu Tal wieder aufnehmen, dem Meere zu. Mit können – mit können! Und mit den Atemzügen des Rheins, mit den leisen, schmalen Wellen, die das Ufer küßten und entflohen und wiederkamen und wiederkamen, ohne sich greifen zu lassen, durchzitterte ihn die Sehnsucht nach dem Leben.

Er war ganz wach, so wach, daß er sogar den Rhythmus des Rheins mit dem Rhythmus seines Herzens verglich. Das deuchte ihn so wunderlich, daß er am liebsten laut über sich selbst gelacht hätte. Aber er traute sich nicht. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, denn er mußte ja die Rhythmen in Worte kleiden. Er mußte, mußte! Es war ein Zwang und eine Befreiung. Süß, herb; trotzig, weich. Dann sprach er eine Weile atemlos vor sich hin, und plötzlich sprang er auf.

Beschämt; selig. Heiß bis unter die Haarwurzeln.

Er, Hans Steinherr, der Primaner, der Ostern ins Examen steigen würde, hatte ein Gedicht vollbracht, sein erstes, allererstes – –! Es handelte vom Rhein, dem alten, dem geliebten Rhein. Und – überdies noch von – – Liebe – Liebe? Was war denn das für ein Begriff? Wie? He? Antwort!

»Ach was, ich weiß nicht«, lachte Hans laut hinaus, und einem neuen jähen Übermutsdrange folgend, rannte er wie ein Füllen durch die im Mondschein glänzende Wiese und rastete nicht, bis er den ersten Tanzsaal Oberkassels an der Schiffsbrücke erreicht hatte, aus dem Juchzen und Stampfen in die Nacht hinaus scholl.

»Wenn die Mama ihren wohlerzogenen Sohn so sehen würde«, dachte er. »Sie würde es nicht glauben.«

»Und ich glaub's fast selber nicht«, fügte er laut hinzu. »Herr Gott, ich war doch den ganzen Nachmittag in Gesellschaft von Offizieren. Bis – nun – bis – Ach, was geht mich die kleine Kröte an? Frech war sie und – Donnerwetter, wie lieb so'n Ding ist, wie – wie – – Hans, du hast einen Schwips!«

Nun wollte er sich vor Lachen ausschütten. Er war wie ausgewechselt. Dann hörte er aufmerksam der Tanzmusik zu, die aus den geöffneten Fenstern des Wirtshauses drang; ganz ernsthaft, als horchte er auf eine Offenbarung. Er unterschied deutlich die Uniformen der Husaren, der Ulanen, der Infanteristen, sah die gebräunten Gesichter der wackeren rheinischen Jungens, die, stolz auf ihr »zweierlei Tuch«, den Ballsaal beherrschten und den Kopf so dicht über die brennendroten Wangen ihrer Tänzerinnen gereckt hielten, daß diese nicht wußten wohin damit, um den vielen genierlichen Tanzküßchen zu entgehen. Mitten im Saale entstand eine Stockung. Ein Zivilist hatte die Kühnheit gehabt, von der Schönen eines kleinen, windigen Neununddreißigers eine Extratour zu begehren. Der Soldat lehnte verächtlich ab. Ein Wortwechsel folgte, in dem der Soldat »Rheinkadett« und der Zivilist »Sandhase« schimpfte; eine kurze, aber umso schnellere Prügelei – und alles tanzte mit verdoppelter Hingebung weiter. Die Leute hatten nicht viel Zeit, sie mußten pünktlich, zur Sekunde, in den Kasernen sein.

Hans Steinherr lauschte mit glänzenden Augen. Was war das für ein Tag! Und heute mittag erst hatte er ein Loblied auf das niederrheinische Land angestimmt und sich einen Heimatsmenschen genannt. Kannte er denn diese Heimat? Mit Ausnahme der Szenerie? War das nicht vielleicht, rein äußerlich, der ererbte Stolz auf die Vaterstadt, auf sein Düsseldorf gewesen?

Und plötzlich packte ihn der Wunsch nach lauter, lustiger Kumpanei.

Es fiel ihm ein, daß er sich als Schüler des Gymnasiums des Wirtshausbesuches zu enthalten habe. Bisher hatte er das nicht als Entbehrung empfunden. Zu Hause herrschte genug geselliges Treiben, und die Mama liebte keine Extravaganzen an ihrem Sohne. In diesem Augenblicke kam ihm das gesellschaftliche Leben daheim wie bestellte Schablonenarbeit vor. Er hätte die Komplimente und Gesprächsthemen am Schnürchen hersagen können. Alles sehr hübsch, sehr witzig sogar. Aber das wahrhaft Rassige, das durch alle sieben Himmel Jauchzende, das Ursprüngliche fehlte. Der Inhalt und Ausdruck der Jugend. – Hans verspürte zum ersten Male seine neunzehn Jahre.

»Verwünschtes Pennal«, murrte er. »Na warte, noch ein Semester, und ich habe dich für ewig im Rücken.«

Wohin also nun?

Ihm fiel der »Malkasten ein. Sein Vater gehörte der Künstlergesellschaft als passives Mitglied an. Bei Tisch hatte er davon gesprochen, heute abend, wenn das Wetter sich klären würde, im Garten des Malkastens, dem alten, schönen Jacobischen Park, in dem auch Goethe einst gelustwandelt, mit einigen Herren eine Bowle zu trinken.

Also zum »Malkasten«, so schnell ihn die Füße trugen.

Der Brückenwärter auf der Düsseldorfer Seite, an dem er vorüberrannte, schien ihn wiederzuerkennen. »Hä 's ömmer noch jeck«, knurrte er und machte ironisch einen Sprung beiseite. –

Außer Atem langte Hans vor dem Malkasten an. Hastig öffnete er das Gittertor und prallte heftig gegen einen Herrn, der es ebenso eilig zu haben schien, hinauszukommen, wie der andere hinein.

»Hoppla, Verehrtester!« rief der Herr lachend und faßte ihn mit beiden Händen um die Taille. »Um ein Haar, und Sie hätten sich ins Unglück gestürzt. Sagen Sie mal, Sie wollen doch nicht ernsthaft da hinein? Zu den Neunmalweisen in der phrygischen Mütze mit der Troddel dran? Junger, junger Mann!«

»Das beabsichtige ich freilich«, versetzte Hans Steinherr kurz.

Der andere aber ließ sich durch den Ton des Gekränktseins nicht abschrecken. Er führte den Jüngling unter die nächste Laterne und sah ihn mit gemachtem Ernst eindringlich in die Augen. Dabei parodierte er die Schülerszene des Faust: »Ihr seid allhier erst kurze Zeit und kommet voll Ergebenheit. – Denn ich sah Sie noch nie vordem, Verehrtester. – Ihr kommt mit allem guten Mut, leidlichem Geld und frischem Blut. Möchtet gern was Rechts hier außen lernen. – Sehen Sie, wenn ich der Mephistopheles wäre, für den sie mich da drinnen verschreien, so müßte ich jetzt mit Salbung sagen: Da seid Ihr eben recht am Ort. Aber das wäre verdammt gelogen. Weisheit ist nicht verdaulicher, wenn sie altbacken genossen wird. Und nun entscheiden Sie sich. Wollen Sie hinein zu den Perücken, die Simson, als er die Philister erschlug, übersah, oder wollen Sie mit mir, in irgend eine Vagabundenschenke, aber unter Geschöpfe Gottes, die lebendiges Fleisch auf dem Gebein haben.«

»Vorwärts«, bestimmte Hans und schob resolut den Arm in den des Unbekannten. Nach den vielen Wundern des Tages hatte er das Verwundern verlernt. Zudem: der Mann imponierte ihm.

Der aber streifte den schnell Vertraulichen von oben herab mit einem kurzen, prüfenden Blick und schritt, ohne von seinem Begleiter vorderhand weiter Notiz zu nehmen, eine italienische Opernarie summend, durch die Straßen, die zur Altstadt führten.

Hans Steinherr hatte unterwegs Gelegenheit genug, den ihm so plötzlich bescherten Wandergefährten mit Muße zu betrachten. Es war eine schlanke, sehnige Figur, nach neuester Mode gekleidet. Aber die Eleganz wurde mit solcher Selbstverständlichkeit getragen, daß sie nicht weiter auffiel. Der Kopf war der eines vornehmen Mannes; scharf geschnitten, mit vorspringender Hakennase, unter die sich ein weicher, blonder Schnurrbart schmiegte; mit blauen, echten Germanenaugen, deren Blick Kühnheit und Intelligenz, und einem Munde, dessen weiche und doch charakteristische Linie Lebenslust und Spottsucht verriet. Das Alter war unbestimmbar. Vielleicht, daß die Schätzung von vierzig Jahren die richtige war, doch sah der Fremde jünger aus. Hans war es übrigens, als müßte er die auffallend vornehme Erscheinung schon des öfteren in Düsseldorf gesehen haben.

Vor ihnen lag die Ratingerstraße, winklig und unregelmäßig, mit ihren engbrüstigen Gebäuden, vorspringenden Erkern und altmodischen Giebeldächern im Mondlicht einem Bilde gleich, das aus der Versunkenheit längst entschwundener Zeiten emporgestiegen schien. Ihre Schritte hallten auf dem holprigen Pflaster und weckten das Echo an der Häuserzeile entlang.

»Was meinen Sie, Verehrtester, dieser Ausschank macht einen höchst vertrauenswürdigen Eindruck.«

Hans fand zwar im stillen, daß das gepriesene Haus eher einer Räuberherberge ähnlich sähe, aber er nickte energisch und trat hinter seinem Begleiter ein.

In dem Tabaksqualm, der, in dichten Streifen übereinander lagernd, die Stube füllte, hielt es schwer, die Umgebung festzustellen. Erst, als sie hinter einem weiß gescheuerten Tisch auf handfesten Holzstühlen saßen, gelang es Hans allmählich, sich zu orientieren. Das Zimmer war mäßig groß, die Decke aus schweren Balken gebildet, die Alter und Rauch tiefbraun gebeizt hatten, die Wände zeigten kaum eine Handbreit der ehemaligen weißen Tünche, mit Kohle, Rötel und Farbe hatten sich Generationen werdender Maler hier al fresco verewigt. Neben dem Eingang prangte das primitive, peinlich sauber gehaltene Büfett, hinter dem das Wirtspaar thronte, der »Baas« in gestrickter Weste und schneeweißen Hemdsärmeln, die »jung' Frau«, eine behäbige Matrone, mit weißer Latzschürze über dem mächtigen Busen. Ein Küferjunge mit vorgeschnalltem Lederstück bediente. Von der Decke hingen große Petroleumlampen nieder, um die sich der Tabakrauch wie der Hof um die Mondscheibe sammelte. Sie leuchteten nieder auf Gerechte und Ungerechte, auf gestikulierende Arbeitsleute im Sonntagstaat und auf gesetzte Bürger; und unter diese mischten sich Prachtexemplare von Düsseldorfer Künstlern, trunkfeste Männer, die mit lautem, nimmermüdem Humor die ganze Wirtschaft dirigierten. Man neckte sich und log sich gegenseitig die unglaublichsten Geschichten vor, mit glänzenden Schalksaugen den Reinfall des Gegners erwartend, und irgend einer bestellte immer wieder eine Runde des köstlich bitterlichen, einheimischen Bieres. Der gehobenen Künstleratmosphäre entsprechend, trugen die beliebtesten Speisen – die Speisekarte wies die stattliche Auswahl von vier Nummern auf – besonders vollklingende Namen. Hans Steinherr wunderte sich, wie häufig am Büfett »ein halber Hahn« beordert wurde, bis er dahinter kam, daß dies hochtönende Gericht aus einem halben Roggenbrötchen mit Holländer Käse bestand.

Hansens Begleiter schien hier eine wohlbekannte und von allen respektierte Erscheinung zu sein. Die älteren Maler begrüßten ihn mit kräftigem Händedruck und ebenso kräftigem Scherzwort. Einige der jüngeren, die sonst der Ansicht huldigten, das echte Künstlertum müsse unbedingt durch rauhbeinige Manieren bewiesen werden, verstiegen sich sogar zu einer Bewegung, die eine Verbeugung ausdrücken sollte.

Hans traute seinen Augen nicht. Der Kellnerjunge brachte eine Flasche Sekt, und keiner der mundfertigen demokratischen Geister ringsum schien gegen diese Reglementswidrigkeit auch nur das geringste einzuwenden zu haben. Der Gastgeber schenkte die beiden Gläser voll und stieß mit dem jungen Manne an.

»Entschuldigen Sie«, stotterte Hans, »ich habe mich noch nicht vorgestellt – –«

»Sind Sie ein anständiger Kerl? Na also! Ich bin's auch, schmeichle ich mir. Prosit!«

Aber Hans fand es dennoch passender, seinen Namen zu nennen.

»So, so – –. Steinherr. Hm. Übrigens, wenn Ihnen so viel an der Etiketteaufschrift gelegen ist: von Springe. Sagen Sie mal, junger Freund, Sie sind ein Sohn der hochedlen Firma Steinherr, Grafenbergerchaussee? Und wollen Maler werden?«

»Ich habe noch nicht daran gedacht«, antwortete Hans bescheiden. »Vorläufig werde ich zu Ostern ins Abiturientenexamen steigen.«

Herr von Springe fuhr erstaunt mit dem Stuhl gegen die Wand.

»Wie? Was? Hör' ich recht? Ein Pennäler? Sie schlagen sich noch mit Fibel und Schiefertafel herum? Und ich Volksverführer hielt Sie für einen wackeren Lehrling des heiligen Lukas und schleppe Ihre zarte Jugend in diesen Rauchfang? Ah, ich werde Ihrer Frau Mama morgen eine Entschuldigungsvisite machen, damit es keine strammen Hosen setzt. Bitte tausendmal um Verzeihung.«

Purpurne Röte stieg in dem feinen Gesicht des jungen Mannes auf. Dann, sich gewaltsam beherrschend, sagte er so ruhig, wie es ihm nur möglich wurde: »Sie schmeichelten sich vorhin, auch ohne Namensetikettierung als anständiger Mensch zu erscheinen. Nach diesem Überfall muß ich freilich annehmen, daß der Schein trügt. Guten Abend.«

Aber der Effekt seiner Rede entsprach nicht seinen Erwartungen. Herr von Springe lachte, daß die Gäste von ihren Stühlen auffuhren.

»Bravo, bravo, gut gebrüllt, Löwe! So lieb' ich meine Pappenheimer! Das Kerlchen hat, weiß Gott, Rasse. Hier geblieben, mein Junge, kein schiefes Maul mehr gezogen, du hast vollkommen recht, ich bin ein Verbrecher und gebe dir hiermit feierlichst eine Ehrenerklärung.«

Er hielt ihm das Glas hin, und, halb widerstrebend, halb unwiderstehlich angezogen von dem bannenden Wesen des lachenden Mannes vor ihm, stieß der junge Heißsporn an.

Bevor eine Stunde vergangen war, hatte Hans Steinherr dem Fremden mit den sieghaften Augen alle die rätselvollen Eindrücke des Tages anvertraut, die sein junges Leben erregt hatten wie nie zuvor. Auch das Gedichtchen stammelte er, und von Springe lachte nicht. Er ließ nur seine Augen über ihn hinblitzen, und die Freude an der Unberührtheit dieser jungen Seele, die unbewußt zu Taten drängte, stand ihm auf der Stirn.

»Du bist ein Dichter, mein Sohn.«

»Ich möchte ein Künstler werden, Herr von Springe. Sie – Sie müssen ein großer Künstler sein.«

»Herzlichen Dank für die gute Meinung.«

»Spotten Sie nicht über mich. Aber wer als Mensch so über den Situationen steht –«

»Kindskopf, was weißt du davon!«

Er blickte schweigend in sein Sektglas.

»Die Hauptsache ist, für den Künstler und den Menschen, den Humor an der Sache nicht verlieren.«

»Darf ich Sie besuchen?« schmeichelte Hans.

»Du darfst. Aber jetzt zu Bett, Kleiner, deine Schlafenszeit muß längst da sein.«

Und sie gingen.


So endete der ereignisvollste Tag in Hans Steinherrs bisherigem Leben.

*


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