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8.

Die Abiturienten des Düsseldorfer Gymnasiums standen im Examen, während sich die Stadt zum Empfang des Prinzen Karneval rüstete.

Hans Steinherr stürmte aus dem Schultore heraus auf die Alleestraße. Ohne sich zu besinnen, eilte er quer über die Straße nach der Droschkenhaltestelle am Alleeplätzchen.

»Grafenbergerchaussee«, rief er dem Kutscher zu. »So schnell Sie können.«

Er rasselte am Gymnasium vorüber und warf einen triumphierenden Blick auf den nüchternen, grauen Kasten. Dann lehnte er sich wie ein Grandseigneur in die Polster zurück und musterte stolz die Passanten der Schadowstraße. Der Wagen fuhr dicht am Trottoir vorbei.

»Halt!« rief Hans plötzlich und war mit einem Sprunge aus der Droschke heraus. Er hatte Hannes gesehen.

»Bestanden!« jubelte er ihr zu. »Vom Mündlichen dispensiert! Als einziger!«

Sie konnte nicht sprechen. Sie faßte scheu nach seiner Hand und umklammerte sie. Das Gefühl seiner Bedeutung wuchs bei ihr ins Abenteuerliche.

»Nun? Keinen Glückwunsch?« lachte er obenhin. Seine Gedanken waren noch bei der Zensurenverkündigung.

»Doch, doch«, stammelte das Mädchen und hielt noch immer die Hand umklammert.

»Ich habe Eile«, belehrte er sie. »Meine Eltern warten. Wenn ich eben kann, bin ich heute abend bei euch.«

Sie sah ihm nach, wie er mit einer wichtigen Miene, die sie nie an ihm gekannt hatte, im Wagen davonrollte. Als sie weiter ging, traf sie auf Willibald Hüsgen.

»He, Hannes, weißt du schon? Der Kerl, der Steinherr, hat mal wieder Dusel entwickelt. Ach so« – unterbrach er sich mit einem hämischen Ton – »seitdem wir so feinen Umgang haben, wollen wir wohl Fräulein und Sie genannt werden. O, excusez! Soll prompt geschehen.«

»Wie steht es mit Ihrem Examen?« fragte Hannes freundlich.

»Gott, der Blödsinn! Wird gemacht. Das ist doch sonnenklar. Alles auf natürlichem Wege, ohne gegenseitige Aufregung. Der Streber, der Steinherr, nee, wie sich der Mensch hatte! Wie 'ne Petroleumlampe mit Explosionsgefahr. Ich hab' Tag für Tag nicht einen Schoppen weniger getrunken. Weshalb auch? Als das Schriftliche vorüber war, hört' ich den Direx zum Schulrat sagen? ›Er will nur Maler werden.‹ – So'n Esel! Als ob man im Vollbesitz der griechischen Grammatik auch nur 'nen ollen griechischen Gipskopp zeichnen könnte!«

Sie nickte, ohne weiter hinzuhören, ihm zu und wollte an ihm vorüber.

»Hören Sie mal, Hannes, was ich noch sagen wollte.« Er vertrat ihr den Weg. »Nun werden Sie doch wieder vernünftig werden, wie? Die Fisimatenten mit dem Bengel, dem Steinherr, die sind doch nun ex? Der wird jetzt irgend ein feines Korpsstudentchen und fragt den Deubel nach Ihnen. Bei uns aber, im Gaudeamus, da wird's jetzt fidel, wenn ich erst von der Penne los bin. Lassen Sie mich nur in acht Tagen statt des Abiturientenkittels die Sammetjacke anhaben. Ich glaub', ich könnt' Sie gut gebrauchen.«

Sie sah ihn eine Sekunde lang starr an, drehte ihm schweigend den Rücken zu und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Mit offenem Munde staunte ihr Hüsgen nach.

»Na wart, du!« knurrte er und schaute sich um, ob keiner sein Fiasko bemerkt hätte, »dir werd' ich deinen dämlichen Hochmut anstreichen. Hat sich was mit deinem Getue. Alberne Gans!«

Und er wippte, den Gang des Mädchens nachahmend, hinter ihr her und verschwand in der väterlichen Wirtschaft.

Hans Steinherr war, zu Hause angelangt, sofort in das Eßzimmer gestürmt. Herr Philipp Steinherr befand sich bereits daheim. Er sah darauf, daß pünktlich um halb eins zu Mittag gespeist wurde. Grämlich saß er bei Tisch und las in einer englischen Zeitung.

»Nun?« begrüßte er den Sohn. »Du bist ja ausnahmsweise von einer unheimlichen Pünktlichkeit. Bitte, Margot, klingle, damit sofort serviert wird. Die Fabrik wartet auf mich.«

»Bestanden, Papa! Ich habe das Examen bestanden!«

»Das ist doch wohl selbstverständlich. Zu dem Zweck geht man nämlich auf die Schule.«

»Aber glänzend bestanden, Papa, summa cum laude, und vom Mündlichen dispensiert!«

»Sieh mal an, unser junger Mann!« Die steinernen Züge Philipp Steinherrs hellten sich ein wenig auf. »So ist's recht. Ahm deinem Vater nach. Immer aufs Ganze, und dem kleinen Gelichter den Daumen aufs Auge, so nur kommt man hoch. Man soll die Steinherrs noch einmal adeln – wenn wir wollen.«

»Mama«, begann Hans aufs neue, »ich weiß nicht, ob du zugehört hast, ich bin Student!«

Frau Margot winkte ihn herbei und reichte ihm die Hand.

»Das ist ja schrecklich«, versuchte sie zu scherzen. »Ein so großer Sohn, ein erwachsener Student, das kompromittiert mich ja geradezu. Nimmst du denn gar keine Rücksicht auf deine junge Mama?«

»Margot«, unterbrach Philipp Steinherr verstimmt, »ich hatte doch schon vor geraumer Zeit gebeten, daß serviert würde. Vielleicht hast du jetzt die Güte, das Zeichen zu geben.«

Das Mahl wurde, wie immer, einsilbig verzehrt. Herr Philipp Steinherr hatte die kleinbürgerliche Sitte, die in den Stunden der Mahlzeit nicht eine freundliche Erholung, sondern nur eine notwendige hastige Stoffzufuhr sieht, aus jenen Tagen beibehalten, da er selbst noch zu den kleinen Leuten zählte. Sie saß wie ein Flicken auf einem Gesellschaftsrock, und Frau Margot sah mit kühler Überlegenheit darüber hinweg.

Hans war es von Kind an nicht anders gewöhnt. Und doch hatte er im stillen gehofft, daß heute, an seinem Ehrentage, die Tischregel durchbrochen werden würde. Er hatte das Herz so übervoll, und er empfand eine leise Enttäuschung, daß keiner es gewahren wollte, daß man ihn nicht zum Schwatzen und Lachen animierte, daß alles blieb wie an Werkeltagen.

Beim Dessert übergab der Diener dem Hausherrn einen Brief. Philipp Steinherr las ihn, sah scharf zu seinem Sohn hinüber und steckte das Papier in die Tasche. Dann schälte er seine Orange weiter, aß die Frucht bis auf die Kerne und erhob sich.

»Mahlzeit«, sagte er zu seiner Frau und sie neigte leicht den Kopf.

Als er schon in der Tür stand, wandte er sich noch einmal um.

»Du kannst nachher mal auf mein Zimmer kommen, Hans. Ich möchte einiges mit dir besprechen.«

Wenige Minuten später stand Hans im Arbeitszimmer seines Vaters.

Philipp Steinherr saß, das Fenster im Rücken, in einem Lehnstuhl. Sein Gesicht war beschattet, aber die Augen durchforschten scharf den vor ihm Stehenden. Eine Weile blieb es still zwischen Vater und Sohn. Dann sagte der Großfabrikant und deutete lässig auf einen Stuhl: »Du kannst dich setzen.«

Hans nahm Platz. Er wartete respektvoll, was der Vater ihm zu sagen haben würde.

Noch einmal musterten die scharfen Augen den Sohn. Aber die Stimme klang ruhig und geschäftsmäßig.

»Du wirst also zu Ostern zur Universität abgehen. Selbstverständlich wählst du das Studium der Jurisprudenz. Ein Großindustrieller muß heute so gut Jurist sein, wie der Leiter einer großen Bank.«

»Papa«, warf der junge Mann kleinlaut ein, »Jurist –?«

»Ja, Jurist. An etwas anderes hattest du doch wohl nicht gedacht?«

»Doch, Papa; ich will dir die Wahrheit gestehen. Die Juristerei hat nie etwas Anziehendes für mich gehabt.«

»Du sollst sie auch nicht zum Vergnügen erlernen, sondern für das Geschäft.«

»Ach, Papa, fürs Geschäft bist du doch da. Mich brauchst du doch wahrhaftig nicht.«

»Und wenn ich nicht mehr da bin? Daran hast du wohl gar nicht gedacht?«

»Nein, Papa, daran will ich auch nicht denken.«

»Das macht deiner Pietät Ehre, nicht aber deinem praktischen Verstand. Laß dir sagen, mein Junge, daß man bei der wirtschaftlichen Stellung, die wir im Staate einnehmen, nicht mit Gefühlen rechnet, sondern mit der stahlharten Erkenntnis der Pflichten. Umso besser wirst du alsdann die Pietät pflegen können, wie ich sie verstehe.«

»Welche Pflichten meinst du, Papa? Wenn ich mich bestrebe, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden –«

»Nützliches Mitglied der Gesellschaft! Was sind das wieder für jugendtörichte Phrasen. Die Gesellschaft soll uns ein nützliches Mitglied werden. Verstehst du den kleinen Unterschied? Wir sind in erster Linie die Erhalter und Ernährer des Staates, wir, die größte Steuerkraft des Landes. Wir sind die Ernährer und damit auch die Bändiger der Arbeitermassen, wir, die Großindustrie. Wir halten das Zünglein an der Waage. Und dafür gebührt es sich, daß man uns Äquivalente zahlt. Freiwillig geschieht das nicht. Das ist ein beständiges Markten und Feilschen, und es kommt darauf an, wer die hellsten und härtesten Köpfe hat, den Profit zu erzwingen.«

»Den Profit? Ich denke, du sprichst von Idealen?«

»Ideale? Im Volksleben? Im Wirtschaftskampf? Ach, du armer Schwarmgeist, es ist Zeit, daß deine Kathederweisheit unter den Schmiedehammer kommt. Ideale! Das ist auch so ein Ding, das noch niemand je mit Augen gesehen hat, so wenig wie den lieben Gott. Ein jeder macht sich ein Bild davon, aber just immer ein Bild, wie es ihm in seinen Kram paßt. In diesem Sinne lass' ich die Ideale gelten. Als gesunde Selbstsucht nämlich. Das stellt zwar deine Begriffe von der Sache auf den Kopf.«

»Wie kannst du nur so sprechen, Papa!«

»Ich spreche in vollem Ernst. Und weil ich mich bemühe, dich als einen nunmehr erwachsenen Menschen anzusehen, laß ich die Ammenmärchen, die für das Proletariat gut sind, beiseite und spreche zu dir als Mann zu Mann. Ich spreche zu meinem dereinstigen Nachfolger. Und ich wünsche, daß du mich gut verstehst; zu deinem Besten. Es handelt sich für uns nicht darum, das Gros der lieben Mitmenschen auf ein höheres Niveau zu heben, sondern es handelt sich darum, unablässig unsere Position zu erweitern und zu stärken. Die Wohlfahrtsapostel, auch die aus unseren Gesellschaftskreisen, sind wirre Köpfe, überspannte Flagellanten, die sich selbst eine Geißel binden, um sich einen Erlösergeruch zu geben. Ach du lieber Gott, diese Art Erlösergedanke wird Wahrheit werden, wenn es – keine Menschen mehr geben wird. Solang es aber noch zwei Menschen gibt, wird der eine Hammer und der andere Amboß sein. Ich glaube, da fällt dir die Wahl nicht schwer.«

»Und das Edle im Menschen, Papa? Daran müssen wir doch auch glauben?«

»An das Edle? Warum denn nicht! Aber das bleibt doch ein ganz persönlicher Luxusgegenstand. Wohl dem, der sich alle Tage ein Pöstchen darin leisten kann, ohne in den realeren Dingen des Lebens in Konkurs zu geraten. Die realeren Dinge gehen nämlich vor, oder du wirst mit deinem schönsten Edelsinn von dem Volk da, dem du ihn widmen willst, zertrampelt. Füll den Leuten den Magen: das übrige laß ihre Sorge sein.«

»Papa, ich glaube nicht, daß ich mich zu dieser Anschauung durchringen kann.«

»Mein lieber Junge, so reden alle Kronprinzen. Wenn du erst die Macht in die Hände bekommst, wirst du nichts Eiligeres zu tun haben, als dich zum Regime deines Vorgängers zu bekennen. Dann liegt der Knüppel plötzlich beim Hunde. Das ist mehr als berechtigte Notwehr, das ist der Selbsterhaltungstrieb, der die Wurzeln eines jeden geordneten Staatswesens bildet.«

»Du magst gewiß recht haben, Papa, aber alles, was mit hoher Politik zusammenhängt, liegt mir so fern.«

»Ach was«, entgegnete Philipp Steinherr und bewegte ärgerlich die Hand. »Hohe Politik! Für uns ist das hohe Politik, was uns am nächsten steht. Und das ist bei allen anderen, wie sie sich auch nennen, haarscharf ebenso. Klammere dich um Gottes Willen nicht an die großen Worte! Die Politik ist immer der Egoismus der einzelnen, die sich aus Interessengemeinschaft zu einer Vielheit zusammengetan haben. Merk dir das Wort ›Interesse‹. Es allein bewegt die Welt.«

Hans sah still und gedrückt vor sich nieder.

»Papa«, sagte er endlich und wagte ein kleines Lächeln, »du hast ja deine Interessen so gut wahrgenommen, daß du dir nun auch einmal einen Luxus gestatten könntest.«

»Und der wäre?«

»Laß deinen Sohn werden, was er möchte. Ich habe doch so gar keine Neigung zur Fabrik. Sieh, Papa«, fuhr er hastig fort, als er an seinem Gegenüber ein schnelles Auffahren bemerkte, »wir sind doch reich. Und der Zweck des Reichtums ist doch, daß er uns in den Stand setzt, unserem Leben unbehindert von materiellen Sorgen ein Ziel zu geben, uns darin auszuleben. Ich möchte es, Papa. Ich will ja arbeiten wie du, aber auf meine Weise. Es kommt doch nicht darauf an, nur Geld aufzuhäufen, viel, viel mehr, als man je gebrauchen kann. Auf die innere Befriedigung kommt es doch an.«

»Und wie hattest du dir das mit der Fabrik gedacht, wenn ich mal nicht mehr bin?« fragte Philipp Steinherr kalt. »Denn jetzt wirst du dir doch etwas gedacht haben?«

»Die Fabrik – –? O, die würde doch ein anderer übernehmen und sicher besser leiten als ich.«

»O, die würde!« spottete Philipp Steinherr ihm nach. »Das denkst du dir so ganz einfach. Da kommt einfach ein Wildfremder und setzt sich in das weiche Bett, das ich, Philipp Steinherr, mit Daransetzung eines ganzen Lebens, unter Hergabe aller Kräfte, unter tausend Sorgen und Mühen zurechtgemacht habe. Nein, mein Junge, so haben wir nun doch nicht gewettet. Die Werke da draußen, ich hab' sie gegründet, ich hab' sie aus dem Nichts geschaffen und jeden Skrupel zurückgedrängt, wenn es hieß: vorwärts! Ja, glaubst du denn, das hätt' ich lediglich zum Pläsier meines Herrn Sohnes getan? Nur damit der junge Herr in der Lage wäre, sich seine Tage so amüsant wie möglich zu gestalten? An dich, mein Junge, habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe nur an den Namen Steinherr gedacht, den ich vom Aushängeschild einer Schmiede an die Tore eines der größten Werke angeschlagen habe. Und da soll er stehen bleiben, solange es einen Steinherr gibt. An dem Namen soll niemand mehr rütteln und jeder sich beim Lesen an mich erinnern! Das war mein Lebensideal, wenn du absolut von Idealen hören willst.«

Er hatte sich erhoben und pochte mit den Knöcheln kurz und hart auf den Schreibtisch.

Auch Hans war aufgestanden. Er war bleich und kämpfte mit sich selbst.

»Papa«, sagte er langsam, »du hast vorhin von gesunder Selbstsucht und berechtigtem Egoismus gesprochen. Ich möchte die Lehre auch für mich in Anspruch nehmen. Mich treibt alles zur Kunst. Ob mein Talent ausreichen wird, ausübender, selbstschaffender Künstler zu werden, kann ich heute nicht sagen. Aber laß mich den Versuch machen und laß mich gleichzeitig Kunstgeschichte studieren.«

Philipp Steinherr wandte sich ab. Er wollte den Sohn das überlegene Lächeln, das über seine Züge flog, nicht sehen lassen. Künstler! Kunstgeschichte! Er hatte Schlimmeres erwartet. Weshalb sollte sich ein Großindustrieller in seinen Mußestunden nicht mit der Kunst beschäftigen. Ein jeder ritt eben sein Steckenpferd. Und daß der Junge nicht an der Kunst hängen bliebe, dafür wollte er schon sorgen. Der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung.

»Ich mache dir einen Vorschlag, Hans«, erwiderte er nach einigem Besinnen. »Du versprichst mir, regelrecht Jura zu studieren, bis zum Doktor. Das Staatsexamen schenke ich dir. Ich stelle dir dafür frei, auch kunstgeschichtliche Vorlesungen zu hören und dich, soweit es deine Zeit gestattet, auch in den ›freien Künsten‹ zu üben. Du gehst zunächst nach Bonn. Ich wünsche, daß du in ein Korps eintrittst. Nach dem ersten Semester dienst du dein Jahr bei den Bonner Husaren ab. Später kannst du Heidelberg wählen und zum Schluß Berlin. Unterdes werden sich deine Meinungen oder deine Talente geklärt haben. Du siehst, ich komme dir entgegen, und nun sind wir, denke ich, all right!«

Er hielt ihm die Hand hin, und Hans, froh ein Zugeständnis erlangt zu haben, legte die seine hinein.

Philipp Steinherr lächelte geringschätzig. Weiches Wachs, der Junge. – –

Hans war schon in der Tür, als ihn der Vater zurückrief.

»Du, noch eins. Was kommen mir da für tugendhafte Dinge zu Ohren?« Er faßte ihn vorn an der Weste und schüttelte ihn mit gutgespielter Gemütlichkeit hin und her. »Ich darf doch wenigstens hoffen, du hast dich anständig betragen? Du Duckmäuser, du!«

»Hat man über mein Betragen geklagt, Papa?« fragte Hans verdutzt.

»Die, welche es angeht, wird sich hüten. Hat wohl auch keinen Grund dazu. Aber ich bitte mir aus, daß du ihr auch keinen Grund mehr gibst. Na ja, es ist ja gut. Ich will dir keinen Sermon halten. Wer hat nicht auch seine kleine Schülerliebelei gehabt? Aber nun ordne mir die Sache schnell und bündig, damit du mit klarem Kopf ins Studentenleben gehst!«

Er wollte ihn mit einem vertraulichen Klaps abschieben, aber Hans blieb stehen.

»Hast du mir noch etwas mitzuteilen, Hans? Dann bitte kurz. Ich habe mich bereits über Gebühr verspätet.«

»Ich habe dir nur mitzuteilen, Papa, daß du dich irrst.«

Schwer kamen die Worte heraus, aber sie waren mit Nachdruck gesprochen. Philipp Steinherr horchte auf und maß den Sohn von oben bis unten.

»Wenn du vorhin auf die Verehrung anspielst, die ich für Fräulein Johanna Stahl hege – und ich wüßte nicht, wen anders du meinen solltest –«

»In der Tat, fahre nur fort, du machst mich begierig.«

»Papa«, sagte Hans und trat auf ihn zu, um seine Hand zu ergreifen. Doch Steinherr übersah die Bewegung. »Papa, ich sehe ein, daß du Grund hast, böse zu sein. Verzeih mir. Ich hätte es dir selber sagen sollen. Und ich wollte es dir auch sagen, nur jetzt noch nicht, wo ich noch so gar nichts geleistet habe.«

»Sehr rücksichtsvoll, obwohl deine Streifzüge die Spatzen von den Dächern pfeifen. Trotzdem: ich will dir deine Dummheiten verzeihen. Ich sagte ja schon: in den Jahren begeht jeder seine Jugendeselei. Aber nun auch rechtzeitig Schluß gemacht. Jedenfalls wünsche ich von der sauberen Angelegenheit nichts mehr zu hören.«

Hans Steinherr sah seinen Vater entgeistert an.

»Du mußt mich nicht recht verstanden haben«, murmelte er, »oder – oder man hat dich falsch unterrichtet.«

»Bist du noch immer nicht zu Ende? Du stellst meine Geduld auf eine lange Probe.«

.»Du hast davon begonnen, Papa; jetzt mußt du mich auch aussprechen lassen. Wünschest du, daß ich mich kurz fasse?«

»Ob ich es wünsche!«

Der Alte und der Junge standen sich dicht gegenüber. Keiner wich dem Blick des andern aus. Und zum ersten Male las der Mann, der sich nie die Mühe gegeben hatte, in Menschenseelen zu lesen, in den Mienen seines Sohnes das Erbteil der niederrheinischen Heimat: die Hartköpfigkeit und das verhaltene brausende Temperament.

Hans sah nichts von den zusammengezogenen Falten auf der Stirn des Vaters. Vor seinen Augen stand das scheue, zierliche Geschöpf, das so rührend in seinem Armutsstolz gewesen war, sich ihm nicht aufzudrängen; das ihn geflohen und ihn schlecht behandelt hatte, um nicht zu erliegen, und, als er sie dennoch endlich von seiner treuen Wahrhaftigkeit überzeugt hatte, ihm stets mehr gegeben hatte als er ihr. Er sah ihre furchtsamen Augen voll schreckhafter Spannung auf sich gerichtet, ob er mutig sein, ob er sie nicht verleugnen würde, und er sagte laut: »Ich liebe Johanna von ganzem Herzen.«

»Das bezweifle ich keineswegs. Es fragt sich nur, wie lange du den Unsinn noch fortzusetzen gedenkst.«

»Vater!«

»Sag mir doch: wie alt bist du eigentlich?«

»Zwanzig Jahre geworden.«

»O! Ganz respektabel. Und die – die kleine Person?«

»Sechzehn.«

»Dacht' ich's mir doch. Sie soll sich ein Kinderfräulein nehmen und keinen Geliebten.«

»Vater!« brauste Hans auf. Er war nicht wiederzuerkennen. Jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, alles an ihm vibrierte, seine Nasenflügel bebten, die Augen waren weit aufgerissen.

»Was fällt dir ein, Junge? Mäßige dich auf der Stelle!«

»Mir fällt ein«, keuchte Hans, »dich zu bitten, daß du dich mäßigst. Du hast kein Recht, ein Mädchen zu beschimpfen, das reiner und selbstloser ist als wir alle. Wenn du sie kennen lernst, wirst du gewinnen, nicht sie.«

»Du wärst imstande und brächtest sie mir ins Haus.«

»O nein. Ich lasse sie nicht beleidigen. Aber in mein Haus hoffe ich sie dereinst zu bringen. Und wenn sie später erst meinen Namen trägt, wird sie schon geschützt sein.«

»Du hast wohl vergessen, daß du deinen Namen von mir hast. Darüber habe ich zu bestimmen. Und ich bestimme, daß, wenn ich es für an der Zeit halte, der Name nur in aufsteigender Linie vergeben wird. Vorläufig bist du mir noch zu kindisch, um dir meine Pläne auseinanderzusetzen.«

»Über meine Gefühle hast du nicht zu bestimmen. Wenn ich das zuließe, wär' ich nicht wert, einer anständigen Frau in die Augen zu sehen.«

»Bist du toll geworden, Bursche? Ist deine Mutter vielleicht keine anständige Frau? Oder glaubst du, wir hätten uns nur unserer schönen Augen wegen genommen? Geh hin, schäm dich vor deiner Mutter, wenn du das bei deinem neuen Verkehr noch nicht verlernt hast.«

»Meine – Mutter – –?« wiederholte Hans betäubt. Wachte er? Hatte er wirklich richtig verstanden? Seine Mutter hätte – nicht aus tiefstem, innersten Gefühl heraus – – Ja, war denn das überhaupt möglich? Konnte man eine Ehe schließen eines Namens und nicht einer Liebe wegen –? Er sah sich wirr um. Er war doch in seinem elterlichen Hause? Wo blieb denn sein Verständnis? Wo blieben alle seine jugendbegeisterten Argumente? Nichts, nichts regte sich in ihm. Es war ein Rauhreif auf seine junge Seele gefallen und fröstelnd ließ sie die Flügel hängen.

Da schlich er scheu aus dem Zimmer. – –

»Wohin?« fragte er sich im Treppenhaus.

»Zur Mutter?«

»Nicht, nicht!« Er hatte Angst, eine unsägliche Angst, er könnte sie nicht mehr verstehen. Und sie würde ihn auslachen.

»Zu Frau Stahl? Zu Hannes?«

Er hatte dem Mädchen versprochen, zu kommen. Aber wie sollte er ihr unter die Augen treten? Er, mit seinem schlechten Gewissen, das vor einer Stunde noch gut gewesen war, und das man ihm schlecht gemacht hatte.

In seiner Kehle stieg es auf. Er weinte mit trockenen Augen. Alles war grau um ihn. Das würde sich nun nie mehr ändern. Nie mehr? Und der erste Schmerz der Jugendliebe ließ ihn sich aufbäumen, in einem titanenhaften Trotz, um ihn sogleich wieder niederzudrücken, ganz fest auf den platten Boden.

»Heinrich von Springe!«

Der Name fuhr ihm heraus. Springe mußte ihm beistehen, ihn wieder zu sich bringen. Der lachende Springe, der sich mit Tod und Teufel herumzuschlagen verstand und immer Sieger blieb. In seiner Erregung wuchs ihm der Freund zum Heiligen Georg. Der mußte es wissen. Der Springe, o ja! Der sah mit seinen ironischen Blicken allen Dingen auf den Grund und ließ sie nicht los, bis sie ihm Red' und Antwort gestanden hatten. Aber auslachen – auslachen würde ihn Heinrich Springe nicht.

Er eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, zur Immermannstraße. An der nächsten Ecke traf er die Straßenbahn, aber er lief lieber hinter ihr her, als sich mit Menschen zusammen in einen engen, kleinen Raum zu setzen. Die stupiden Gesichter hätten ihn krank gemacht.

Oben, an der Etagentür, zog er so heftig die Klingel, daß er selbst zusammenfuhr.

Er hörte es gleich am Schritt: es war der Maler, der öffnen kam. Der alte Herr machte seinen gewohnten Nachmittagsspaziergang.

»Heinrich!« rief der verstörte junge Mensch und warf sich leidenschaftlich dem Freund an die Brust.

Der drückte schnell die Tür ins Schloß und zog ihn ins Zimmer.

»Gemach, gemach, mein großer Junge! Es wird schon zu reparieren gehen.«

»Du weißt ja noch gar nicht, was geschehen ist –«

»Ist das Examen nicht geglückt? Das wäre doch wunderbar.«

»Das Examen? Ich hab' es als Bester bestanden. Aber dann kam's, heute mittag; erst des Studiums wegen, und als das endlich geregelt war, Johannas wegen. Man hat meinem Vater alles entstellt hinterbracht. Und auf Erläuterungen ließ er sich gar nicht ein. Er hat sie verächtlich abgetan, sie beschimpft und –«

»Erzähle der Reihe nach«, sagte der Maler und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Aufgeregte ist immer im Nachteil. Beim ersten Kanonenschuß läuft man nicht von dannen.«

Hans bezwang sich. Der starke Wille des Freundes übte auf ihn seine Wirkung. Er ließ sich auf einen Stuhl niederdrücken und begann mechanisch herzusagen, was sich bei Tisch und nachher im Arbeitszimmer des Vaters zugetragen hatte. So monoton er sprach, er vergaß nicht das Nebensächlichste. Und ebenso berichtete er den Abschluß der Unterhaltung und die andeutenden Worte über seine Mutter.

Heinrich von Springe hatte, den Kopf in die Hand gestützt, zugehört. Die müde Beichte des Jungen war längst zu Ende, und immer noch saß der Maler in sich versunken im Stuhl. Da berührte eine zitternde Hand sein Knie.

»Ja, ja. Gewiß. Ich habe verstanden.«

Er erhob sich, öffnete die Tür zur Veranda, daß ein kalter Luftstrom über seine Stirn fuhr, schloß die Tür wieder und kam zurück.

»Also helfen soll ich dir. Deshalb bist du doch gekommen. Einen Freundschaftsdienst verlangst du.«

»Du wirst nicht können und auch nicht mögen.«

»Nicht mögen? Man mag vieles nicht und schluckt's doch herunter, wenn's dienlich ist. So ein rechter Magen kann eine Menge vertragen – Und was das Können oder Nichtkönnen betrifft – darüber kann man als Mann erst urteilen, wenn man nach mißlungenem Experiment auf der Nase liegt. Bis dahin aber hat man schlankweg Courage zu haben.«

Er ging ins Nebenzimmer, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Hans folgte ihm wie ein Schatten.

»Was willst du tun?«

»Zunächst deiner Frau Mama meine Aufwartung machen. In Herzensangelegenheiten ist immer die Mutter die zuständige Instanz. Du bleibst ruhig hier. So, hier hast du ein Glas Wein; das trink mal aus, um die Lebensgeister aus den Winkeln zu locken, wenn du müde wirst, leg dich auf das Sofa. Und damit: Gott befohlen.« –

Heinrich Springe schritt, die Hände in den Taschen seines Paletots vergraben, durch den unfreundlichen Februartag. Er ging mit zusammengezogenen Brauen und fest aufeinandergepreßten Lippen. Und als wollte er sich ungerufener Bilder erwehren, beschleunigte er plötzlich seinen Schritt. Als er in die Grafenberger Chaussee einbog, schlug es in der Stadt fünf Uhr. Er blieb stehen und schöpfte Atem. Vor ihm lag das Steinherrsche Haus.

»Weiß Gott, Mensch«, sagte er vor sich hin, »hast du gar selbst das Kanonenfieber?«

Er zog die Hausglocke und gab dem öffnenden Mädchen seine Karte. »Für die gnädige Frau.«

Wenige Minuten später, und er wurde in den Empfangssalon geführt. Er wartete.

»Meine gnädige Frau – –«

Sie war eingetreten, mit hastigem Schritt, und nun zögerte sie, mitten im Zimmer.

»Ich weiß nicht, ob ich noch den Vorzug habe –« fuhr er fort, um ihr über die Peinlichkeit der Minute hinwegzuhelfen.

»Haben Sie endlich den Weg zu mir zurückgefunden?« entgegnete sie zurückhaltend. »Es ist lange her, Herr von Springe. Sehr lange – –«

»So lange, gnädige Frau, daß Ihr kleiner Irrtum leicht verzeihlich ist. Nicht ich war's, der vom Wege abgekommen war.«

»Kommen Sie nur, um mir das zu sagen? Der Heinrich Springe, den ich einmal kannte, war ritterlicher.«

»Ich bitte um Verzeihung«, murmelte Springe. »Ich habe nicht das Recht, die Beweggründe Ihres Lebens zu prüfen.«

»Aber Sie haben es getan. O ich weiß. Und ich kenne auch das Resultat. Sie kamen ja nicht wieder.«

»Es wird Ihnen nicht schwer geworden sein, darüber zu lächeln, gnädige Frau. Was war an mir gelegen?«

»Wir waren einmal glückliche Kameraden«, sagte sie, als besänne sie sich auf die Zeit. »Die Erinnerungen der Jugend laufen mit durch das ganze Leben und bestimmen den Wert aller späteren Eindrücke. Das ist bei mir nun einmal so. Möglich, daß ein Mann glücklicher darin ist.«

»Nein«, erwiderte Springe fest, »ein Mann ist nicht glücklicher darin. Auch er ist von dem Gewinn oder Verlust seiner Jugend abhängig. Und deshalb sehen Sie mich heute vor sich. Nicht meinetwegen. Mein Konto ist geschlossen. Aber einer anderen Jugend wegen, der ich Sie zu helfen bitte, daß ihr die paar Ideale des Lebens erhalten bleiben, die uns wie ein paar gute Gottesgroschen jede dürre Zeit erträglich machen. Wenn Sie selber die Eindrücke, die wir aus der Jugend mitnehmen, so hoch eintaxieren, wie Sie soeben sagten, so werden Sie mich nicht als einen unnützen Bittsteller wegschicken.«

»Sie stehen noch immer, Herr von Springe.«

»Ich danke Ihnen für die Antwort.«

Dann saßen sie sich stumm gegenüber und suchten unbewußt in ihren Zügen die Kinder von einst. – –

»Ich komme wegen Hans«, brach der Maler endlich das Schweigen. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß wir gute Freunde geworden sind.«

»Ich habe es geahnt«, erwiderte sie leise. »Er hat mir nichts anvertraut. Hier geht jeder seinen Weg.«

»Sie haben es geahnt und keinen Einspruch erhoben.«

»Ich wußte ihn in guten Händen.«

Er rückte zusammen und sah sie mit maßlosem Erstaunen an.

»Ja, ja; es ist so«, sagte sie mit einem Anflug von Lächeln. »Ich bin wohl doch nicht ganz so schlecht, wie Sie vermuteten.«

»Frau Margot – –« entfuhr es ihm unbedacht.

»Sie kennen also meinen Namen noch? Lieber Freund, nur der Name ist geblieben.«

»Gnädige Frau«, sagte er mit Aufbietung aller Willenskraft. »So geht es nicht weiter. Ich gedenke tiefernste Dinge mit Ihnen zu besprechen, und Sie gedenken mit mir zu kokettieren.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich kokettieren will«, rief sie beinahe heftig. »Ist denn in Ihren Augen alles Lüge, alles Verstellung an mir? Muß ich denn, wenn ich mich einmal freue, von Herzen freue wie ein junges Mädchen, immer gleich wieder geduckt und gedemütigt werden? Gut, gut, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen gegenüber den Ton gebrauche, den ich für die ganze indifferente Menschheit gebrauche – o bitte, befehlen Sie nur, Sie können ihn haben.«

»Frau Margot«, sagte er, beugte sich vor und faßte ihre Hände. »Meine liebe Frau Margot – –«

Ihre Aufwallung ging vorüber. Aus seinen Händen strömte es in sie über wie eine Beruhigung.

»Sind das Freundeshände?« lächelte sie. »Wie gut es doch mein Hans hat!«

»Sie kokettieren nicht, gnädige Frau?«

»Doch, doch, ich kokettiere. Daß Sie es nur endlich wissen! Und wenn ich noch länger mit Ihnen kokettiere, werde ich Ihnen noch eingestehen, daß ich Sie vermißt habe. Mehr können Sie von einer koketten Frau nicht verlangen.«

Springe hatte ihre Hände losgelassen und sich erhoben. Er sprach zu ihr. Und während er zu ihr sprach, blickte er über sie hinweg, in den winterlichen Garten, und sie konnte glauben, er spräche vielleicht nur zu sich selbst.

»Ich habe Sie geliebt, Frau Margot, dabei ist nichts Unrechtes, denn wir waren Kinder. Wenn wir im Hausflur oder in einer Zimmerecke spielten, waren Sie die kleine Prinzessin und ich Ihr Page. Darunter taten wir's nicht, denn wir wurden beide daheim mit großen Ansprüchen an das Leben erzogen und – hatten keinen Pfennig. Als ich die ersten langen Hosen erhielt, nahm ich mir vor, mich zum Ritter schlagen zu lassen, um Sie zu gewinnen. Wir haben damals oft ernsthafte Beratungen darüber gepflogen. Ich glaube, es wurde sehr viel Gefühl dabei verbraucht. So viel, daß für die Praxis wenig übrig blieb. Ich diente mein Jahr bei den Neununddreißigern ab, und Sie feierten Ihren siebzehnten Geburtstag. Als ich gratulieren kam, konnte ich gleich doppelt gratulieren. Dem Geburtstagskind und der glücklichen Braut. Ihr Vater mußte zugreifen, und Sie folgten den Spuren der Erziehung. Das war im Winter des Jahres achtundsechzig. Ein paar Monate darauf waren Sie verheiratet. Hm, ja, ich hab' das verstehen gelernt. Ich wollte Maler werden. Wollte erst! Und, wie mein alter Herr immer zu sagen pflegte: Er war Maler, und sie hatte auch nix. Da konnte ich mir das Exempel schon zusammenrechnen. Dann wollte ich mir wenigstens ein Surrogat schaffen, und ich nahm, da es mit dem siegreichen Rittertum nichts geworden war, die Pagendienste wieder auf. Das war ein stiller, seliger Dienst, der nichts anderes wollte, als für Ihr Glück wachen. Aber als ich nach dem Feldzug aus Frankreich heimkehrte, hatte sich die Zahl der Pagen vermehrt und die Königin bedurfte meiner nicht mehr. Ich durfte zurücktreten und hinfüro meinen Erinnerungen leben.«

»Nein, Heinrich«, rief Frau Margot erregt, »so war es nicht! Es war nicht meine Schuld. Sie gingen, weil mein Mann eine – eine – Geschäftspraxis gegen Sie und Ihren Vater geübt hatte, die Sie verletzen mußte. Wie können Sie mir die Verantwortung aufbürden! Ich verstand ja nichts von alledem und war schon so apathisch.«

»Ach, meine gnädige Frau, Sie glauben, des entgangenen Geldes wegen wäre ich fortgeblieben?«

»Weshalb – nur sonst?« entgegnete sie zögernd. Sein ironischer Ton hatte sie beschämt.

»Muß ich es Ihnen wirklich aussprechen? Muß ich Ihnen sagen, daß ich den Glauben an Sie verloren hatte, weil Sie nichts, aber auch gar nichts taten, um ihn mir zu erhalten? Den Glauben an die Jugend und ihre starken Bande? Kein Freundeswort von Ihnen kam, kein Versuch wurde gemacht, mich wissen zu lassen, daß die Dinge, wie sie lagen, nichts zwischen uns beiden ändern dürften. Ich war für Sie erledigt, wie mein Vater für Ihren Gatten. Sie waren die große Dame, und ich der armselige Bilderstümper.« »Heinrich«, fragte sie ganz leise, »haben Sie – haben Sie lange darunter gelitten?«

Er gab keine Antwort.

»Wollen Sie mir nicht erwidern? Auch dann nicht, wenn ich – wenn ich Ihnen sage, daß ich – bis heute – darunter gelitten habe? Ich bin ja heute eine alte Frau. Achtunddreißig Jahre! Da darf ich schon ein Geständnis wagen. Ja, ich habe unrecht an Ihnen gehandelt und unrecht an der Jugend. Und zur Strafe hat mich die Freudigkeit der Jugend verlassen, seit – Sie mich verließen. Meine Erinnerungen wollen nicht fröhlich werden. Ist das nicht Buße genug? Keine Rückschau zu haben, aus der man die Fröhlichkeit zieht? – Nun habe ich Sie wohl zufrieden gestellt.«

Heinrich Springe beugte sich über ihre Hand. Er suchte nach Fassung.

»Sie sind ja noch so jung«, murmelte er. »Mit achtunddreißig Jahren steht man mitten im Leben.«

»O ja«, bestätigte sie bitter, »soweit die Lebewelt in Betracht kommt. Mitten drin! Das war doch die Ansicht. Aber die Gefühlswelt – ach, lieber Freund, klingt es in Ihren Ohren nicht lächerlich, mich von einer Gefühlswelt reden zu hören?«

»Ich bedauere Sie.« –

»Glauben Sie mir, was ich möchte? Noch einmal die Prinzessin im Hausflur und in den Zimmerecken sein. Mein Gefühlsleben haben wie einst. Ich wüßte dann, was Glück ist.«

»So suchen Sie es. Es ist nie zu spät.«

»Wollen Sie mir den Weg zurück zeigen?« fragte sie und sah ihn voll an.

»Ja, Margot«, sagte er, »ich will. Als ich Ihr Haus betrat, wußte ich nichts dergleichen. Ich kam wegen Ihres arg mitgenommenen Jungen. Helfen Sie ihm aus seinem Leid, und Sie helfen sich aus dem Ihren. Er liegt bei mir daheim und wartet auf mich, seinen Freund. Lassen Sie ihn wissen, daß er auch noch eine Freundin hat, die seine Schmerzen mit ihm versteht. Tragen Sie Sorge, daß ihm seine Jugend nicht verdorben, daß er nicht vor der Zeit alt und blasiert wird, und Sie werden die erste der fröhlichen Erinnerungen für sich gewonnen haben.«

»Mein Mann hat mir schon davon gesprochen«, erwiderte sie nachdenklich. »Das Mädchen soll keinen legitimen Vater haben, und die Großmutter eine Arbeiterfrau sein.«

»Das Mädchen ist rein, und überdies schön und klug und liebenswert. Für seine Geburt kann kein Mensch. Es hat allen Anspruch darauf, glücklich zu werden wie die Höchstgeborenen. Ich kenne die kleine Johanna und weiß, was sie Hans sein wird. Ich war mehrfach mit meinem Vater dort im Hause, denn mein biederer Alter macht der siebzigjährigen Großmutter die Cour, die eine Arbeitsfrau geworden ist, weil sie für die Erziehung ihres Enkelkindes arbeitet.«

»Ich werde hingehen«, sagte Frau Margot und richtete sich auf. »Nein, nein«, wehrte sie glücklich, als er ihr die Hände küßte, »es ist noch eine Bedingung dabei. Erstens: Hans wird Vertrauen zu mir haben und ruhig mit seinem Vater abreisen, der eine kurze Italienreise plant. Und zweitens: Sie dürfen mich nicht mehr aufgeben.«

»Frau Margot«, entgegnete er nur, »ich habe Sie wiedergefunden. Nun werden wir alle wieder jung sein.« – –

Als er hastig seiner Wohnung zueilte, tobten ein paar verfrühte Fastnachtsläufer an ihm vorbei. Er war drauf und dran, ihr stürmisches »Helau!« mit dem gleichen Juchzer zu erwidern. Zwanzig Jahre waren von ihm abgefallen.

Zu Hause fand er Hans auf dem Sofa ruhig eingeschlafen.

Und er beugte sich lange über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und suchte in dem Gesicht des Jungen nach den Zügen einer anderen Jugend.

*


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