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5.

Bei Willibald Hüsgen wurde emsig geprobt. Die Kostüme waren im Laufe der Wochen fertig geworden, die Dekorationen von Willibalds Meisterhand entworfen und in ziemlich eigenmächtiger Weise auf große Papierrahmen gemalt. Der Künstler nannte das kurz: al fresco. Mutter Hüsgen hatte bereits den Saal herrichten müssen, der während des Semesters den Gaudeamusbrüdern zur Kneipe diente, und der Wirt, der »Baas«, ließ seinen Stammgästen gegenüber geheimnisvolle Worte fallen, um durchsickern zu lassen, was für ein Mordskerl sein Willibald sei, und »von der Mutter hätte der Jung' das nu mal nich«.

Zu Anfang September erklärte der selbstbewußte Arrangeur, daß die Vorstellung, wie es im Bühnenjargon heiße, nunmehr »stehe«. Das Knochengerüst wäre da, nun gelte es, Fleisch anzusetzen. Bei der nächsten Probe am Samstag würde er mit der Durchgeistigung der Bilder beginnen.

Hans blickte auf Hannes. Aber das Mädchen lachte nicht zu den protzenhaften Worten wie einst, da ihnen auf dem Dachstubenatelier Herr Willibald die Eintrichterung der Leidenschaft versprochen hatte. Es war seit jenem Tage und mit der Zeit fortschreitend eine so seltsame Änderung mit dem jungen Geschöpf vor sich gegangen, daß es der Umgebung hätte auffallen müssen, wäre diese egoistische Jugend nicht viel zu sehr von sich selbst in Anspruch genommen gewesen. Mechanisch folgte sie den Regievorschriften, mechanisch nahm sie ihre Stellungen ein und ahmte die Bewegungen nach, so daß der rücksichtslose Haussohn mehr als einmal ein Donnerwetter über die verdammte Steifheit der Frauenzimmer im allgemeinen und im besonderen über die Häupter der Versammelten schickte. Dann färbte sie sich blaß und rot, verharrte regungslos und wie im Trotz in ihrer eckigen Haltung, um, sobald die Probe ihr Ende erreicht hatte, in einem Temperamentsausbruch sondergleichen durch das Zimmer zu tollen.

Hüsgen stand wie versteinert. Aber die Versteinerung wandelte sich bald zur wilden Wut.

»Kröte«, schrie er, »alberner Aff', wenn du dir etwa einbildest, mich hier zum Narren zu halten, so soll doch gleich – Rausschmeißen werd' ich euch, rausschmeißen alle miteinander –!«

»Du hältst sofort den Mund!« fiel Hans Steinherr kategorisch ins Wort.

Er war dicht an den Kameraden herangetreten, mit geballten Händen, und sah ihm herausfordernd in die Augen.

»Untersteh dich, in diesem Tone fortzufahren. In meiner Gegenwart werden keine Damen beleidigt!«

»Damen?« fragte Hüsgen höhnisch. »Du bist wohl jeck? Malchen, lach dich kapott, ihr seid ›Damen‹«

»Wie deine Schwester darüber denkt, muß sie selbst wissen. Aber Fräulein Hannes ist hier Gast, und das Gastrecht respektiert man. Zumal wenn der Gast dir zuliebe gekommen ist, um so selbstlos wie möglich sich für deinen persönlichen Ehrgeiz verwenden zu lassen.«

»Ehrgeiz?« brauste Hüsgen auf. »Bist du übergeschnappt? Ihr versteht eben den Teufel von der Kunst!«

»Dann stell deine lebenden Bilder gefälligst allein!«

Einen Augenblick schien es, als sollten die lebenden Bilder wirklich lebendig werden. Aber der Geschäftsinstinkt des Wirtssohnes witterte noch rechtzeitig die Gefahr. Und knurrend lenkte Hüsgen ein, um sich im »Gaudeamus« den Triumph nicht entgehen zu lassen. Während die beiden Mädchen in einer Ecke beieinander hockten und Malchen verwundert die renitente Freundin anstarrte, versuchte der Akademieaspirant sich in der Fensternische vor dem Freunde reinzuwaschen.

»Steinherr«, sagte er eindringlich, »du mußt das doch einsehen. Wir Künstler sind geradeaus. Wir legen nun einmal keinen Wert auf das Äußerliche, weil wir alles auf das Innerliche konzentrieren. Aber unsere Seele – Mensch, unsere Seele – –!«

Hans maß den Redenden von oben bis unten.

»Erzähle mir doch keinen Unsinn, an den du selber nicht glaubst. Der Geist macht den Körper, und Rauhbeinigkeit ist noch lange nicht das Erkennungszeichen für spartanische Tugend. Übrigens bist du noch gar kein Künstler.«

»Was bin ich nicht?« versetzte Hüsgen atemlos.

»Noch kein Künstler. Wenn du's erst bist, sprichst du nicht mehr so viel davon.«

»Ich –? Ich wäre kein –? Nu hört sich aber alles auf. Malchen, Hannes, kommt doch mal her! Ihr habt doch, weiß Gott, Verständnis! Malchen, du holst auf der Stelle mein Skizzenbuch. Und die Kreidezeichnungen bringst du her, die ich von Vatter gemacht hab' und von Mutter. Im Schlafzimmer über dem Bett. Wenn die nich ähnlich sind! Aber laß man. Hier stehen doch die Dekorationen zur Francesca. Na? Wie? Ist das gemalt oder ist das geschwefelt und geflunkert? Ich kein Künstler! Aber der da, der da – Kuckt ihn euch an – das ist einer. Och! Och! Malchen, fix, hol mal en Kognak. Vatter is nich am Büfett.« –

Diese Szenen, die sich mit geringen Variationen häufig genug wiederholten, waren Hans peinlicher, als er es sich gestehen mochte. Nicht seiner selbst wegen. Er merkte, wie der Verkehr im Hüsgenschen Wirtshaus sein allzu sensitives Empfinden abhärtete und seine weiche Männlichkeit robuster machte. Das war sicher ein Gewinn. Aber das Kavaliertum, das ihm im Salon seiner schönen Mama anerzogen worden war, ließ zuweilen beschämt die Flügel hängen. Er hätte ganz anders für seine kleine Dame eintreten mögen, aber die schien für die feineren Unterscheidungen des Verkehrs noch weniger Verständnis zu haben als der rüpelhafte Willibald. Mit übertriebener Hast nahm sie stets Partei für den triumphierenden Haussohn und blitzte mit ihren dunklen blauen Augen ihren Ritter wie einen Lästigen an. Wurden die Proben erneuert, so sah man ihr das Unbehagen an, den jungen Mann berühren zu müssen. Steif wie eine Gliederpuppe hielt sie die Arme gereckt, und des Regisseurs Zorn wurde mit Recht entfacht über diese »niederträchtige Versündigung an der Kunst«.

Nachdem Hüsgen eines Tages erklärt hatte, daß sie nunmehr reif wären, um sich von Direktor Millowitsch für das Kölner-Hänneschen-Theater engagieren zu lassen, und er nur noch einen und den allerletzten Versuch mit ihnen machen wollte, ordnete er für die nächste Zusammenkunft die erste Kostümprobe an.

Willibald Hüsgen hatte einige junge Kunstschüler ins Vertrauen gezogen, da er zu dem Prunkbilde, der Hofhaltung der Francesca, eine Anzahl Ritter benötigte. Die jungen Leute erschienen, die Hosen über die Trikots gezogen, lachend und lärmend im Hause und begannen im Festraum ungeniert Toilette zu machen, während Francesca-Hannes und ihre Palastdame Malchen in einem Nebenzimmer letzte Hand an ihre Kostüme legten.

Hans Steinherr betrachtete mit Verwunderung die Kostüme der Kumpane. Tausend Maskenschlachten schienen schon darin geschlagen worden zu sein, die Farben waren erblindet und verschossen, die Tuche mottenzerfressen und geflickt, und ein Duft ging von ihnen aus, der am Hofe der Malatesta kaum statthaft gewesen sein dürfte. Er wagte darüber eine Bemerkung an Hüsgen, der von einem wahren Begeisterungstaumel erfaßt zu sein schien.

»Was? Blinde Farben? Mottenlöcher? – Ja, Mensch, begreifst du denn nicht? Das ist ja gerade das Echte! Himmeldonnerwetter, das ist echt! Das riecht man ja geradezu!«

»Leider Gottes«, versetzte Hans und zog die Nasenflügel zusammen. »Aber es handelt sich doch nicht darum, was heute echt erscheint, sondern was damals echt war. Und du darfst dich darauf verlassen, daß sich die Herrschaften damals mindestens so anständig anzogen und auf Sauberkeit hielten wie die gute Gesellschaft heute. Das hier aber – das ist doch der reine Anachronismus.«

Willibald und die jungen Herren von der Akademie, die sich vor Entzücken über die »fabelhafte« Echtheit ihrer Gewandungen nicht zu lassen wußten und sich gegenseitig beschauten, betasteten und beschnüffelten, sahen sich sprachlos an. Der Horizont verfinsterte sich eine Weile. Dann meinte ein langer Akademiker wegwerfend: »Laßt den Kerl doch laufen, der hat ja keine Ahnung von echt!«

Hans trat zurück Er wollte heute keinen Streit; auch machten ihn die sonderbaren Käuze lachen.

Das stilgerechte Kostüm aus purpurnem Samt, das sich eng an seinen schlanken Leib schmiegte, gab ihm ein fremdartiges Aussehen, und der feine Kopf mit dem braunen Haar erinnerte in der Tat an einen alten, seltenen Stich. Die purpurne Kappe mit den silberschillernden Reiherfedern saß fest im Gelock. Die Hände falteten sich über dem Griff des Degens.

Hüsgen ließ die Stellungen einnehmen. Die jungen Akademiker fanden sich überraschend schnell in die Situation und bildeten in ritterlicher Attitüde den Hofstaat und die fremden Gesandtschaften. Die alte Tradition, die Düsseldorf von jeher den Ruhm zuspricht, unübertroffen im Arrangement lebender Bilder zu sein, wurde wie auf ein Zauberzeichen in diesen formlosen Burschen lebendig. Sie standen da mit dem Anstand von Adelsgeschlechtern, und die bunten Lumpen wurden zu Prachtgewändern. Jetzt führte Hüsgen als mißgestalteter, finsterer Gianciotto Malatesta sein Weib Francesca ein, und Totenstille herrschte. Jeder der jungen Künstler spürte die Macht der Schönheit.

Das war Francesca. Blaß war sie wie eine weiße Rose, in deren Kelch eine Flamme sitzt. Das aufgenommene Haar lag wie Sonnengold auf der Stirn. Die mädchenhaften Formen des Körpers hoben sich unter dem reichbestickten Brokatgewand, und unter dem schweren Saume zeigten sich die scheuen, zierlichen Kinderfüße. Sie konnte nur langsam vorwärts schreiten, denn Fräulein Malchen als traute Gespielin hielt sich so würdevoll, daß sie die Schleppe der Fürstin, die sie trug, straff zog wie ein Sprungtuch.

Malatesta geleitete Francesca zum Thronsessel und nahm neben ihr Platz. Zur Seite hinter ihr stand Hans Steinherr-Paolo, versunken in diesen Traum von Jugendschönheit. Jetzt hob Francesca den Kopf, und ihre Blicke begegneten den Blicken Paolos. In diesem Augenblicke dachten beide nicht an die Gestalten, die sie darzustellen hatten. Francesca sah das feingeschnittene, leidenschaftliche Jünglingsantlitz, ihre Augen hingen in rückhaltlosem Staunen an seiner Erscheinung und ließen sie nicht los. Und während Paolo mit halbgeöffneten Lippen den keuschen Duft ihrer Haare einatmete und sich mit Augen, in denen ein Suchen und Sehnen war, unwillkürlich näher beugte, schwellte ein tiefer Seufzer die Brust Francescas, und ein geheimnisvolles Lächeln zog durch ihren Blick. Das Lächeln des Mädchens, das das Weib in sich erwachen fühlt.

»Bravo, bravo!« rief stürmisch die »Gesandtschaft« vor ihrem Thron. Ein Jubelschrei raste durch die jugendliche Versammlung, und Hüsgen-Malatesta versuchte auf seinem Thronsessel den Kopfstand. Gesandte und Mannen sprangen herzu und halfen dem überschwenglichen Fürsten wieder auf die Beine.

»Habt ihr's gesehen?« rief er. »Habt ihr's gesehen? Diese Bewegung? Diesen Blick? Das war Musik, he? Eine ganze Geschichte in einer Sekunde. Das große Vergessen im Liebestrank!«

Er stolzierte aufgeregt umher.

»Was sagt ihr nun? Nix! das glaub' ich –. Aber wenn ihr einen bloßen Schimmer hättet, was mich das für Müh' gekostet hat, den beiden das einzupauken. Innerlichkeit konzentrieren, hab' Ich gesagt, Innerlichkeit! Über Nacht ist es gekommen. Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf. Aber dieser Herr war ich. Und wenn ich die Blasphemie morgen am Tag dem Pater Servatius beichten sollt' und mit hundert Rosenkränzen gepönt werd'! So, und nun bedankt ihr beiden euch bei mir, daß ich euch hab' was lernen lassen. Vorwärts, umkleiden zum zweiten Bild.«

Die beiden Mädchen waren ins Nebenzimmer geeilt.

Hans Steinherr zog sich hinter die Bühne zurück, um seinen Anzug zu wechseln. Hüsgen warf als Rachegeist, der in der Nacht heimeilt, um die Untreue von Weib und Bruder zu bestrafen, einen weiten Mantel um die Schultern und nahm den blanken Stahl in die Faust. Alle Anwesenden, die in diesem Bilde nicht mitwirkten, hatten sich in den Hintergrund des Zimmers zurückzuziehen, das einstweilen verdunkelt wurde.

Nun tastete sich Francesca zur Bühne. Hans-Paolo half ihr hinauf und nahm mit ihr die Pose ein. Hüsgen-Malatesta ließ, zusammengekauert wie ein sprungbereiter Tiger, den Degen schwirren.

»Licht!«

Nur die Gasflamme über der Bühne strahlte hell auf. Ein unerwarteter Anblick:

Paolo in weißem Samtwams. Das Wams über der Brust zerrissen, die nackte Brust von Blut gerötet. Francesca hält den Taumelnden fest. Das zarte Nachtgewand liegt wie ein Duft um den süßen Mädchenkörper. Ihr rotschillerndes Haar ist gelöst und schlingt sich um den Hals des Geliebten. Seinen Nacken umwindet ihr bloßer Arm, und mit der freien Hand wendet sie den zweiten todbringenden Degenstoß des wutschäumenden Malatesta auf sich. Und plötzlich, als sei auch sie getroffen von dem erlösenden Stahl, ließ sie den ausgestreckten Arm auf die Schulter des in die Kniee gebrochenen Geliebten niedersinken, und ihr Körper hing schwer und fest an dem seinen, als wären sie eins.

Hans Steinherr tanzten Flammen vor den Augen. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Alle Kraft hatte er nötig, den Mädchenkörper zu halten. Er preßte ihn mit Gewalt an sich, um ihn vor dem Niederfallen zu bewahren, und in die angstvolle Umschlingung hinein strömte eine Flut von unbekannter Süße hinüber und herüber. Er suchte ihre Augen, die starr die seinen suchten, sah ihren Mund wie blasse, verlangende Rosenblätter – dann sank ihr Kopf hintenüber, und er spürte ihre kühle, weiche Wange auf seiner entblößten Brust.

»Vorhang!« schrie er mit erstickter Stimme in die Kulisse, und irgend einer, der herbeigesprungen war, ließ die Gardine fallen.

»Was ist denn los?« rief Hüsgen ärgerlich und stolperte über die Bühne. »Die Bewegung war tadellos realistisch und du –«

»Rufe sofort deine Mutter. Die anderen sollen in den Garten. Malchen bleibt im Zimmer und verhält sich ruhig. Schnell, du!«

Die abgehackten Sätze kamen wie ein Kommando. Und Willibald Hüsgen duckte sich augenblicks, warf noch einen scheuen Blick auf das Mädchen, dessen Ohnmacht er jetzt erst gewahrte, und hieß die Gaffer das Zimmer räumen. Malchen trippelte an der Stubentür auf und ab und wartete angstvoll auf die Mutter, die der Bruder holen gegangen war.

Auf der Bühne kniete Hans, den Kopf der kleinen Freundin in seinen Arm gebettet. Ihr durchsichtiges Gesichtchen war blutleer, und der schlanke Mädchenleib lag wie leblos gestreckt.

»Nicht sterben«, flüsterte er, »nicht sterben. Durch dich hab' ich ja erst zu leben begonnen. Das weißt du ja gar nicht. Du, Heinz Springe, der alte, prächtige Vater Springe, all die neuen Menschen – alles durch dich. Hörst du, kleiner Hannes?« Und es quoll in ihm empor, und ein heißer Tropfen hing sich an seine Wimper und fiel auf ihre Stirn. Da beugte er sich herab und küßte sie zärtlich, wie man eine Schwester küßt, auf die kalten Lippen. Wie eine Schwester? Ein Schauer durchrann ihn, und er wagte den Kuß nicht wieder. Wo nur Frau Hüsgen blieb …

Da kam sie; äußerlich erhitzt vom schnellen Treppensteigen, im Gemüt seelenruhig. Sie hatte die Essigflasche gleich mitgebracht und rief Malchen zur Hilfeleistung heran. Aber das alberne Mädel fürchtete sich und drückte sich zur Tür hinaus, um die Magd zu rufen.

»Barmherzigkeit«, grollte die resolute Wirtin, »dat Kindchen stirbt uns noch unter die Hände weg. Fassen Sie mal an, jong Här. Sie sind jetz' Samariter, verstehn Sie mich. Dat hat mit dem sonstigen Anstand absolut nix zu tun.«

Mit flinken Fingern öffnete sie dem jungen Mädchen das Gewand, legte einen essiggetränkten Lappen in die Herzgrube, einen essiggetränkten Schwamm auf die Schläfen, rieb und frottierte und hieß ihren Assistenten, die Arme des Mädchens im Takt auf und nieder zu heben. Hans folgte dem leisesten Wink. Er sah die hilflose, weiße Mädchenblume vor sich liegen in ihrer rührenden Schönheit, und ihm war feierlich zu Mute.

Das Mädchen öffnete die Augen. Das Blut hatte zu kreisen begonnen, und das Leben war zurückgekehrt.

»Weg!« sagte die Wirtin und machte dem jungen Manne eine energische Kopfbewegung. »Dat Samariterspiele is all jut, aber nu kömmt auch der menschliche Anstand retour. Jed' Ding zu sein' Zeit. Adjö, Herr Steinherr.«

»Ich werde mich umkleiden und dann unten warten«, antwortete Hans, machte eine ehrerbietige Verbeugung und verließ, ohne sich umzuschauen, das Zimmer.

Ruhig ging er später im Flur auf und ab. Wenn das Bild, das er vorhin gesehen, vor ihm auftauchte, war ihm, als ginge etwas Heiliges in ihm vor. Er wußte, daß er nie einen heiligeren Augenblick erleben würde. Wie ernst, wie glückselig ernst das stimmte. War das die Jugend?

Aus dem Gärtchen im Hof hörte er die Kunstjünger schwatzen und lachen. Sie tranken das Wohl der lieblichen Francesca und ihre baldige Genesung. Das war auch eine Art, die elastische Jugend zu äußern. Aber er brauchte nicht zu trinken, um seine Begeisterung anzufachen.

»Kleiner Hannes«, murmelte er, »kleiner, lieber Hannes! Weißt du noch? An dem Schützensonntag? Bis dahin war ich ein Kulturpflänzchen. An dem Tage lernte ich die Natur verstehen. Ach, wie das wohl tut – –. Lieber, kleiner Hannes!«

Die Minuten dehnten sich ihm zu Stunden. Soeben noch ernst und abgeklärt, überfiel ihn jetzt aufs neue die Unruhe, und er horchte in das winklige Treppenhaus hinein, ob er auf den Stiegen ihren Schritt noch nicht vernähme. Sollte sich der Anfall wiederholt haben? Dann – ja, dann hatte er doch hier unten nicht herumzulungern, dann war doch sein Platz dort oben, dann gehörte er doch an die Seite der armen, kleinen Kameradin.

Er hielt die Ungewißheit des Wartens nicht mehr aus. Zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppen hinauf. Vor der Tür des Dachstubenateliers war ihm der Atem ausgegangen, aber er wartete die Beruhigung der Pulse nicht erst ab, er klopfte an und drückte auf die Klinke.

Da saß Hannes, mit ihrem dünnen Sommerkleidchen angetan, am Tisch und trank aus einem Glase dunklen, roten Wein. Das Haar hing gelöst, um die Schläfen nicht zu drücken, an den schmalen Kinderwangen herab. Mutter Hüsgen hockte mit ihrer massigen Gestalt auf einem Schemel und ermunterte zum Trinken.

Bei dem hastigen Eintritt des jungen Mannes hielt das Mädchen das Glas unbeweglich an den Lippen und starrte ihn an. Die Erinnerung kehrte zurück, und wo diese aussetzte, stellten sich ängstigende Vermutungen ein. Die Hand, die das Glas zum Munde führte, begann zu zittern, das Auge zu flirren und zu flimmern, und eine Glut stieg von der Kehle an über Wangen und Stirn, so dunkel und tief wie der rote Wein im Glase. Frau Hüsgen winkte dem jungen Manne ärgerlich ab.

»Sachte, sachte! Dat jeht hier nich zu wie auf ene Bauernkirmes: Flauwerden un jleich wieder Walzer. En bisken mehr Zartheit, jong Här.«

»Ich wollte nur – – ich hatte nur solche Angst – des Fräuleins wegen – –« stotterte Hans. »Ich hielt's da unten nicht mehr aus … Entschuldigen Sie.«

»Ich bin ganz wohl«, sagte die Kleine trotzig und senkte die Augen.

»Schön«, entschied die Wirtin und erhob sich, »dann machst du jetzt, daß du in die Klappe kommst. Un Großmutter soll dich besser päpeln. Du bist jetzt in die Jahre, wo mr aufpassen muß. Jesses Maria«, seufzte sie, »wat is dat sein Lebtag ein Elend mit uns arm Frau'nsleut!«

Ein schneller, scheuer Blick glitt aus den Augenwinkeln der Kleinen zu dem jungen Manne hinüber, der noch immer die Türklinke in der Hand hielt. Jetzt trat er näher und sagte, respektvoll zu Frau Hüsgen gewandt: »Wenn Sie gestatten, werde ich das Fräulein nach Hause bringen.«

»Ich kann allein gehen«, wehrte das Mädchen hastig ab und stand im selben Augenblick aufrecht da.

»Fräulein Hannes«, sagte Hans Steinherr ruhig, und er wunderte sich selbst über die Bestimmtheit seines Tones, »Sie werden diesmal vernünftig sein. Sie sind krank und haben sich denen zu fügen, die es gut mit Ihnen meinen.«

Sie sah starr an ihm vorüber. Dann wandte sie sich mit einer seltsam matten Bewegung ab, nahm ihren Hut vom Wandhaken, nestelte achtlos fast ihr Haar darunter und reichte der Wirtin die Hand.

»Ich dank' Ihnen auch, Frau Hüsgen.«

»Keine Ursach', aber nich die Spur!« Die resolute Frau klopfte ihr die Backen. »Also du wirst mir hübsch gesund. Un vergiß nich, Großmutter zu grüßen, un sie soll übermorgen zum Waschen kommen.«

Wieder der scheue Blick. Diesmal hatte ihn Hans Steinherr in den Augenwinkeln seiner Schutzbefohlenen aufblitzen sehen.

Ach, die Kleine schämte sich, weil sie zu einer Waschfrau ging. Daher das Abwehren einer Begleitung. Und wenn schon zu einer Waschfrau; was war dabei? Die Ereignisse hatten in Hans die romantischen Sinne geweckt. Was ging ihn Rang und Stand der Menschen an.

»Kommen Sie, Fräulein«, sagte er herzlich, »ich werde Sie bei Ihrer Großmama gut abliefern.«

Sie schritt, ohne ihn anzusehen, an ihm vorbei und die Treppe hinab. So eilig, daß er sich sputen mußte, sie an der Toreinfahrt wieder zu erreichen. Hier aber nahm er sie fest bei der Hand und sah sie an.

»Fräulein Hannes – –.«

Dann zog er ihren Arm durch den seinen und führte sie behutsam die Straße entlang. Willenlos ging sie neben ihm her. Den Arm hielt sie steif wie eine Marionette.

»Wo wohnen Sie?«

»Pempelforterstraße.«

»Nummer?«

Sie nannte sie und schwieg sofort wieder. Die unregelmäßigen Schritte der beiden hallten durch den stillen, dunklen Abend. Es war spät geworden.

»Sie dürfen so weit nicht zu Fuß gehen«, sagte Hans Steinherr nach einer Pause und blieb stehen. »Wir werden eine Droschke nehmen.«

»Nein« stieß sie hervor. »Ich will nicht.«

»Wir werden es aber trotzdem tun«, meinte Hans ruhig, »oder fürchten Sie sich, mit mir in einer Droschke zu fahren?«

»Fürchten –?« wiederholte sie gedehnt. »Ich will nur nicht; der Nachbarn wegen.«

»Die liegen längst im Bett. Außerdem sind Sie Patientin. Ich wußte übrigens nicht, daß Sie keine Courage haben.«

Nun wartete sie mit ihm, bis eine Droschke sichtbar wurde.

»Fräulein Hannes«, sagte der junge Ritter verlegen, »ich – ich weiß wahrhaftig noch nicht, wie Sie eigentlich heißen. Sie – Sie gelten bei Hüsgens immer schlankweg als Fräulein Hannes. Schon Ihrer Großmutter wegen muß ich das doch wissen.«

Das junge Mädchen rührte sich nicht. Da hielt die Droschke vor ihnen.

»Meine Großmutter heißt Frau Stahl«, murmelte sie. Dann ließ sie sich in den Wagen helfen, kauerte sich in die Polster und schloß sofort die Augen.

Hans Steinherr saß ihr gegenüber. Ihre Kniee berührten sich. Wenn sich der Wagen einer Straßenlaterne näherte, beugte er sich vor und spähte in das regungslose Mädchenangesicht, das bei aller süßen Kindlichkeit der Formen einen Zug der Entschlossenheit zeigte. Wie rührend dieser Ausdruck wirkte – –. Und in der Brust des Jungen Mannes regte sich ein zärtliches Empfinden und erregte ihn. Dieses Kind in die Arme nehmen, es streicheln und mit der Überlegenheit, die das männliche Bewußtsein gewährt, trösten und ihm kosend zureden: »Kleines, kleines Närrchen, so lächle doch! Du bist ja viel zu schwach, um ein Lebenskämpfer zu werden. Und es wäre so schade um dich und so traurig …«

Unbewußt hatte er begonnen, ihre herabhängenden Arme zu streicheln. Wie mager die Ärmchen geworden waren! Vor wenigen Monaten – das stand ihm noch deutlich vor Augen – hatte sich das Kleid straff um den vollen Arm gespannt. Sie hielt ganz still, als wäre die Berührung nicht einmal zu ihrer Wahrnehmung gedrungen. Da streichelte er ganz sacht ihre kalten Händchen. Und plötzlich fühlte er, wie sich ihre Finger um die seinen krampften.

Der Wagen hielt vor einem niederen, baufälligen Hause an. Die beiden merkten es nicht. Sie saßen stumm und starr nebeneinander und hielten sich bei der Hand. Keiner wagte sich zu bewegen. Aber beide waren sie blaß, und zwischen ihnen ging der Atem schmerzhaft schwer.

Der Kutscher kletterte von seinem Bock herunter und öffnete den Wagenschlag.

»Hier is dat Palaischen; un ich kriegen eine Mark un fünfzig, netto, ohne 't Trinkgeld.«

Hans sah verwundert auf. Hannes öffnete nur müde die Augen. Das Mädchen war so schwach, daß ihr junger Begleiter sie nur mit Mühe die ausgetretene Stiege, die zur oberen Wohnung führte, hinaufbringen konnte.

»Großmutter!« rief sie oben. Dann wankte sie und fiel gegen Hans' Schulter.

In der Stube wurde ein Stuhl zurückgestoßen. Die Tür öffnete sich und, eine Lampe in der weit vorgestreckten Hand, stand eine hagere, sehnige Greisin auf der Schwelle. Sie fand zuerst kein Wort. Ein schreckensstarrer Ausdruck war in ihre Augen getreten, und ein Zittern flog ihr durch Schultern und Arme, daß Lampenglocke und Lampenglas leise und schwirrend erklirrten.

»Johanna! – Herr Gott, Johanna – – –«

Sie fuhr sich mit der verarbeiteten Hand über die Augen. Eine Sekunde nur. Dann ging ein Ruck durch ihren alten Körper, sie richtete sich kerzengerade auf, schritt auf Hans zu und nahm ihm das Mädchen aus dem Arm.

»Lassen Sie sie los! Wie kommen Sie dazu …«

Es war wie Gewittergrollen in dieser Stimme, und doch ein Ton, der wie eigenes Entsetzen klang. Hans aber empfand in diesem Augenblick nur das Gefühl eines blinden Respekts gegenüber dieser großen, kräftigen Greisin, deren Gesicht so dicht voll Falten und Runzeln stand wie ein engbeschriebener Runenstein. Er sah mit Erstaunen, wie die alte Frau das Mädchen aufhob und auf ihre Arme nahm, als wäre es ein Federchen, das sie trüge.

»Ihre Enkelin«, berichtete er leise, »ist bei Hüsgens von einem Unwohlsein befallen worden. Eine Art Ohnmacht. Wenn Sie gestatten, Frau Stahl, bleibe ich noch hier. Vielleicht, daß Sie mich zum Arzt schicken möchten.«

Die Greisin schenkte ihm keinen Blick. Mit zusammengepreßten Lippen, den schlaffen Leib der Enkelin fest an ihrer Brust, schritt sie schweren Fußes durch das Zimmer und verschwand in einer Nebenkammer. Hans war ihr in das erste Zimmer gefolgt. Hier blieb er stehen und wartete geduldig ihre Rückkehr ab.

Der Raum diente als Wohnzimmer. Es war ein quadratisches Gelaß; eine dünn aufgerichtete Wand teilte es von der kleinen Küche ab. Aus der offen gebliebenen Tür der Nebenkammer fiel ein Lichtschein und beleuchtete fahl die alten Möbel. Einfache Strohstühle umstanden einen alten, ovalen Mahagonitisch; ein breiter Strohsessel mit buntbestickter, wollener Schlummerrolle schien das einzige Prunkstück. Auf dem Tisch lag ein schweres Buch, in dem die alte Frau wohl eben erst gelesen hatte. Hans erkannte es als die Bibel.

Jetzt wurde die Kammertür geschlossen, und Hans stand im Dunkeln.

Er fand gar nichts Taktloses in der außergewöhnlichen Behandlung, die ihm zu teil wurde. Alles, was hier geschah, schien ihm so selbstverständlich und der ganzen Lage entsprechend, daß ihm nicht einfiel, sich zurückgesetzt zu fühlen. In dem Zupacken der Greisin, in der Art, mit der sie Beschlag auf das junge Mädchen legte, wie auf den Körper eines Verwundeten, den sie, einem altgermanischen Weibe ähnlich, der Schlacht da draußen entriß, hatte ein großer Zug gelegen, dessen Eindruck sich der so kurz beiseite Geschobene nicht zu entziehen vermochte. Dank, für ihn? In dem harten »Lassen Sie sie los« hatte die Antwort gelegen: Sie hat zu eurem Vergnügen beigetragen, in eurem Dienst ist das Kind zusammengebrochen, und an euch war es, ihr den Dank abzustatten. Daß ihr sie herschafftet, ist doch wohl die geringste Äußerung dieses Dankes.

Der Lauschende hörte die alte Frau in der Kammer auf und ab gehen. Er hatte wohl eine halbe Stunde im Dunklen verbracht, als sich leise die Tür öffnete und die Greisin mit dem Licht erschien. Sie drückte behutsam die Tür ins Schloß und trug die Lampe auf den Tisch. Wortlos blieb sie an ihrem Sessel stehen und starrte in das Licht. Noch immer nahm sie von ihrem Besucher keine Notiz. Da glaubte Hans, sich bemerkbar machen zu müssen, und trat einen Schritt vor.

Die alte Frau wendete den Kopf und sah ihn verständnislos an.

»Ah«, machte sie dann, als ob sie sich besänne, »Sie sind noch da?«

»Wie geht es dem Fräulein? Können Sie mich nicht zu irgend etwas gebrauchen, Frau Stahl?«

»Sie schläft«, murmelte die Alte. »Wenn sie den Schlaf nachgeholt hat, wird sie gesund sein.«

»Hat sich Fräulein Hannes überanstrengt?« fragte Hans leise.

»Überanstrengt?« wiederholte die Frau, und ein harter Zug trat in ihr faltiges Gesicht. »Das fragen Sie mich? Ich sollte doch meinen, daß Sie das besser wissen müßten.«

»Ich habe keine Ahnung«, stotterte Hans. »Wie sollt' ich denn, Frau Stahl …«

»Natürlich nicht. Davon habt ihr keine Ahnung.«

Die alte Frau ließ sich schwerfällig in ihren Sessel nieder. Dabei streifte ihre Hand die Bibel auf dem Tisch. Sie zog die Brauen zusammen, klappte das Buch zu und schob es von sich.

»Wollen Sie mir nicht erklären, Frau Stahl – –? Weshalb das Fräulein leidet, meine ich.«

Die alte Frau sah auf ihre Hände, die fest auf ihren Knieen lagen.

»Ist das so schwer –?« murmelte sie. »Sie leidet am Leben. Das ist ihr Erbteil.«

»Aber ihre Ohnmacht? Meine Fragen sind vielleicht ungeschickt.«

Die Greisin hob den Kopf und sah ihn durchdringend an. Dann machte sie eine Bewegung und sagte: »Setzen Sie sich, wenn Sie müde sind. Also Sie wollen wissen –. Nun ja, Sie sollen es. Es wird gut für Sie sein; wer weiß, wofür. Da hat sie gesessen«, fuhr sie finster fort, »da hat sie gesessen, jede freie Stunde, bis in die Nacht hinein, und entworfen und gezeichnet nach einem kleinen Blättchen, auf dem ein Kostüm zu sehen war, und Stoffe hat sie angeschleppt und Zutaten und geschneidert, gebandelt und gebastelt. Und nie wurde es ihr schön und reich genug, immer wieder hat sie geändert und geprobt und mit einer Erregung daran gearbeitet, daß sie Essen und Schlafen vergaß. Ob sie ihr bißchen Kraft nötig hatte! Sechs Stunden im Tag sitzt sie im Atelier des alten, biblische Geschichten malenden Professors Kehren. Ich arbeite seit zehn Jahren in dem Hause und kenne die Leute. Einmal hat sie als Kind dem Professor zu einem Engelsköpfchen gestanden. Aber ich hatte Furcht wegen ihrer leicht erregten Phantasie und litt es nicht mehr. Doch der Hang nach dem Schönen, nach dem Vornehmen stak in ihr. Eines Abends, es war im Juni oder Juli, kommt sie atemlos nach Hause und erzählt mir, daß sie bei Hüsgens lebende Bilder stellen wollen. Sie soll die Fürstin darstellen und muß Gewänder haben. Und nun trotzte sie, und nun schmeichelte sie, und dann lief sie zum Professor und machte mit ihm aus, daß sie ihm jeden Tag zu einem großen Historienbilde stehen wollte, und ich gab es endlich zu, daß sie sich das Geld für ihre Kostüme verdiente, denn ich konnte nicht mehr gegen sie an. Das steckt im Blut.«

Die alte Frau grübelte vor sich hin, als ob sie an andere Zeiten dächte.

»Sie hat eine Erziehung gehabt, wie junge Mädchen aus gutem Hause«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Das war vielleicht falsch und paßte nicht mehr für unsere jetzigen Verhältnisse. Aber es war das Kind meiner Tochter, die bessere Tage gesehen hatte, es war mein Fleisch und Blut, und auch ich« – sie lächelte trübe vor sich hin – »auch ich hatte in der Jugend die Sonne gesehen. Bis mein Mann starb. Bis ich als junge Beamtenfrau eine Witwenpension erhielt, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben war. Weshalb ich nichts anderes unternahm, weshalb ich so weit heruntergestiegen bin? Das – das – das steht auf einem anderen Blatt. Meine Tochter starb und hinterließ mir – ihre kleine Johanna. Und einen Stolz hatte ich doch behalten, einen Stolz, und wenn es der Hochmut aus alten Tagen war: ich wollte sie erziehen, wie bisher alle aus unserer Familie erzogen worden waren. Sie sollte mir nicht unter das Proletariat, weil bei Mutter und Großmutter das Unglück zu Besuch gekommen war. Wie jedes andere Bürgermädchen sollte sie werden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das bißchen Unterhaltung bei Hüsgens hab' ich ihr gerne gegönnt. Es ist ein rechtes Haus. Nicht zu hoch hinaus und doch gut bürgerlich. Dort gehen weder Lumpen aus und ein, noch Barone. Und nun kommt sie mir ins Haus gestürzt und alles in ihr ist auf den Kopf gestellt. Sie lacht, sie tanzt, sie singt. Dann spricht sie stundenlang wieder kein Wort. Endlich bekam ich's doch heraus. Ihr ganzes verändertes Wesen, ihr neu erwachter Lernfleiß, ihr Streben, auf ihre Sprache zu achten, auf ihr Benehmen, auf ihre Kleidung, das war alles ja so deutlich, daß sie mir gar nicht erst lachend zu versichern brauchte, ein Prinz stünde mit in den lebenden Bildern, gegen den Hüsgens und all ihre Bekannten Bauern seien, und nun müßte sie sorgen, daß sie neben ihm bestehen könnte und von ihm nicht nur geduldet oder gar ausgelacht würde. Damit begann das tolle Drauflosstürmen auf die Gesundheit, die fieberhafte Unruhe, der ich nicht mehr gewachsen war. Und jeder Groschen, den sie sich verdiente und den wir zu ihrer Kräftigung hätten anwenden können, er flog weg für den Flittertand, mit dem sie sich für ein paar Stunden in eine andere Welt täuschen wollte.«

Die Greisin war erregter geworden. Ihre Hände zitterten, als wollte sie einen nahenden Verlust aufhalten. Jetzt trat sie dicht an den jungen Mann heran.

»Hören Sie«, sagte sie und ihre Stimme klang heiser, »ich will aber nicht, daß sie sich täuscht. Ich habe genug an den Täuschungen im Leben. Ich will nicht, daß mit ihr gespielt wird, und daß sie an Einbildungen zu Grunde geht. Dazu ist sie mir zu lieb, verstehen Sie mich? Und wenn Sie auch dieser Prinz sind, gerade deshalb sage ich es Ihnen! Hier ist ein Haus, das wieder aufwärts will! Bringen Sie es mir nicht herunter! Die Kleine da – die Kleine – – ah, was rede ich nur alles!«

»Frau Stahl«, sagte Hans weich. Er wußte nichts anderes, als die Hand der alten Frau zu nehmen.

Sie achtete nicht darauf. Aber er fühlte an dem Zucken ihrer harten, verarbeiteten Finger, daß sie in ihrem Inneren Empfindungen, Worte niederkämpfte.

»So sprechen Sie doch nur weiter, Frau Stahl. Ich bin Ihnen ja so dankbar.«

Sie sah ihn an. Dann machte sie ihre Hand los und setzte sich wieder in den Sessel. Das Licht war heruntergebrannt. Ein Helldunkel, das die Schatten der Gegenstände vergrößerte, herrschte in der alten Stube. Die alte Frau erschien wie eine Riesin, wie die Überlebende eines einstigen Geschlechtes.

»Junger Herr – –« sagte sie sinnend.

»Ich heiße Hans Steinherr.«

»Gut, gut. Die Steinherrs sind reiche Leute. Ich kannte sie noch, als sie so klein waren wie wir jetzt. Alles im Leben läuft im Kreis. Wir dürfen uns nur nicht ganz herausschleudern lassen. Ach, das Alter macht geschwätzig. Doch ich habe auch die Jugend nicht vergessen. Ich verstehe mit ihr zu empfinden, wenn ich Ihnen auch hart und verknöchert erscheine. Ich will der Jugend nichts verkürzen, auch der Johanna nicht, so wenig, wie ich es ihrer Mutter getan habe. O Gott, die paar kurzen Jährchen der Lebensfreude! Aber sich nicht fortwerfen, nicht sich fortwerfen, oder es muß um ein Großes, ein Heiliges sein. Ich habe nie mehr davon gesprochen, aber Ihnen sag' ich es, obwohl Sie so jung sind. Weil Sie mir vorhin danken wollten, weil ich es Johannas wegen tue. Meine Tochter – ihre Mutter – war seit Jahren verlobt. Als sie heiraten wollten, kam der Krieg. Er mußte mit, nach Frankreich. So etwas Herzzerreißendes habe ich nicht wieder erlebt. In den letzten Tagen mieden sie sich, sie hatten Furcht, sich zu berühren, und wenn sie sich in die Arme stürzten, schrie die Verzweiflung aus ihnen. Nicht, als ob der Mann Angst vor dem Krieg gehabt hätte. Er war Offiziersaspirant und nicht feige. Aber eine Ahnung lastete auf ihnen, sie würden sich nicht wiedersehen, sie würden sterben müssen, ohne für ihr treues, jahrelanges Warten belohnt zu sein. Sie wollten zu den Massentrauungen. Doch da rückte das Regiment schon aus. Den Jammer versteht nur eine Frau, und ich verstand ihn. Ich, ja ich, die Mutter, gab ihnen meinen Segen. Acht Tage darauf fiel der Mann bei Spichern.«

Wieder saß die alte Frau in sich gebückt und versonnen da. Dann fuhr sie langsam fort.

»Das Kind war die Johanna – –. Ein Schmerzenskind. Denn meine Tochter starb bald danach, und ich wurde die Mutter. Und deshalb, sehen Sie, deshalb nahm ich die geringste Arbeit auf, griff ich zu allem und jedem, was mir Verdienst versprach, um einst rein dazustehen vor meinem Herrgott, damit er meine einstige Menschenschwäche als Menschenliebe ansehen möge. Deshalb lese ich immer wieder in jenem Buche, das von der Liebe handelt, und deshalb will ich nicht, daß meine Rechnung und die Heilige Schrift betrogen werde.« Sie schöpfte tief Atem. »Solange ich lebe – nicht!«

Die Greisin richtete sich auf. Ihr Schatten wuchs bei dem niederen Licht bis groß in die Decke.

»Das war's, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun stören Sie uns nicht länger.«

»Frau Stahl –« bat Hans. Er hatte so viel zu sagen, aber er fand die Worte nicht vor dieser Frau.

»Gehen Sie. Aber so gehen Sie doch!«

Da ging er schweigend.

*


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