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6.

Es war eine Sonntagsstille. Die Nachmittagssonne schmeichelte sich an den Kanten der leinenen Vorhänge vorbei in die kleine Kammer und lag nun, als hätte sie ihren Willen erreicht, golden und friedlich auf dem weißen Bette. Hannes saß aufrecht in den Kissen. Sie hatte das gelöste Haar über den Arm gebreitet und ließ die Enden in der Sonne schimmern. Ihre Augen besaßen wieder den alten Glanz, auf den Wangen zeigte sich eine feine Röte.

Ihre Hände spielten, aber ihre Gedanken waren nicht bei dem Spiel.

»Großmutter!« rief sie nach einer Weile leise.

Die alte Frau, die im Nebenzimmer ein Nickerchen gehalten hatte, kam herbei.

»Hab' ich dich aufgeweckt, Großmutter? Nicht? – Du, Großmutter, dann bleib doch bei mir sitzen. Willst du?«

»Aber gewiß, Kind.«

»Du, Großmutter – – – bist du mir arg böse?«

»Ach, Unsinn. Es ist ja nichts passiert.«

»Es ist nichts passiert – –« wiederholte das Mädchen und strich über ihr sonnenglühendes Haar.

Die alte Frau rückte die Kissen zurecht und zupfte und glättete an den Decken. Dann zog sie einen Stuhl heran und setzte sich nieder. Sie wartete.

»Hast du keine Angst gekriegt, Großmutter, als man mich brachte?«

Die Greisin machte eine jähe Bewegung. Aber sie bezwang sich und lächelte.

»Angst? Vor was denn? Ich kenn' doch meine Johanna.«

»Du sagst das so – so – –. Was meinst du denn damit?«

»Krank werden kann jeder. Dabei ist nichts Böses. Die Krankheiten stehen in Gottes Hand, das Böse in der unseren. Siehst du, so meint' ich es. Angst hat man nur vor dem Bösen.«

»Und das – das traust du mir nicht zu, Großmutter?«

»Nein, Kind, das trau' ich dir nicht zu. Nicht, weil ich dich für so viel besser hielte als andere Menschen, sondern einfach darum, weil du es deiner Mutter wegen nicht darfst.«

Da schwiegen sie beide.

»Sag«, meinte dann das Mädchen sinnend, »Mutter war wohl sehr schön?«

»Sie war schön und gut. Gut ist viel mehr. Das war sie.«

»Und – und Vater?«

»Dein Vater, mein Kind, war ein Mann von Ehre. Er verdiente, daß deine Mutter ihn über alles liebte.«

»Und doch – und doch – –?«

»Und doch?« fragte die Greisin und hielt den Atem an.

»Gelt, Großmutter«, rief das Mädchen leidenschaftlich und schlang die Arme um den Nacken der Alten, »gelt, Großmutter, ich brauch' mich nicht zu schämen?«

Die alte Frau preßte den Kopf der Jungen fest an ihre Brust. Unablässig streichelte ihre Hand den Scheitel und die zuckenden Schultern der Enkelin und bewegten sich lautlos ihre Lippen.

»So sprich doch, Großmutter, so sprich doch nur.«

»Kind, ich habe dir doch gesagt, daß deine Mutter gut war. Was sie tat, war Güte. Und die Reinheit der Güte verstehen die Menschen nicht. Nein, bei Gott dem Allmächtigen, du brauchst dich nicht zu schämen, du kannst stolz auf deine Mutter sein – wenn du nur stolz auf dich selbst bist.«

»Du, Großmutter«, stieß das Mädchen hervor, »ich glaube, ich könnte es auch. So lieben wie Mutter.«

Die Alte erwiderte nichts. Aber mit beiden Händen umspannte sie den Kopf der Enkelin und drückte ihn fest an sich. Eine atemlose Stille war um sie, die Sonne kroch langsam über die weiße Decke heran und überströmte das bange Alter und die bange Jugend.

»Johanna«, sagte die Greisin, »höre mich einmal an, Johanna. Wir haben alle ein Schicksal zu erfüllen. Dagegen können wir nicht an, und wir Frauen zumal nicht. Aber wie wir es erfüllen, darauf kommt es an. Was wir hineintragen und mit welchen Gedanken wir es tun. Verstehst du mich auch recht? Was bei dem einen Sünde ist, kann bei dem anderen zur Tugend werden. Aber immer nur bei einem, nicht bei allen! Nur sich kein Vorbild aufstellen wollen, denn es gibt keine Beispiele für uns. Was du tust, das tue, weil du es mußt, nicht weil du es magst. Und was du mußt, das ist: dir selber treu sein. Wir können von den Menschen keine größere Wertschätzung verlangen, als die wir uns selber beilegen.«

»Aber die Liebe, Großmutter …?«

»Die Liebe, mein dummes Mädchen, ist der Stolz auf den Glauben des Geliebten.« – –

Das Mädchen hatte sich losgemacht. Mit gefalteter Stirn lag es in den Kissen und starrte in die Luft.

»Ist das wahr, Großmutter?«

»Es ist wahr.«

»Und wenn man den Stolz nicht hat?«

»So ist die Liebe eine Lüge. Und Lügen haben kurze Beine.«

»Du meinst, man geht daran zu Grunde. – – Ach, das Sterben kann nicht so schwer sein.«

»Wenn andere um uns jammern, nicht. Aber wenn man sich selbst bejammert.«

»Großmutter«, sagte das Mädchen mit einem plötzlichen Ernst, der eine Feierlichkeit über ihre Züge goß, »ich glaube, ich habe den Stolz.«

»Ich habe mich immer darauf verlassen, Johanna«, erwiderte die Greisin.

»Soll ich dir die Hand darauf geben? Hier hast du sie.«

Sie ergriff die hartgearbeitete Hand der alten Frau und preßte sie mit ihren weichen Fingern.

»Ich werde dir keine Unehre machen, Großmutter.«

Die Alte nickte. Es war ihr feucht in die Augen gekommen, und sie wandte den Kopf.

»Was ist das für ein Sonntag«, murmelte sie. »Sieh nur, all die Sonne.«

»Laß noch mehr herein, Großmutter. Ich kann so viel vertragen.«

Und während die alte Frau die Vorhänge beiseite schob, kam endlich die Frage, die sie erwartet hatte.

»Hat sich denn keiner nach mir erkundigt?«

Aber die Frage rief jetzt nur noch ein stilles Lächeln auf den zerfurchten Zügen wach. Die Gemeinsamkeit des Blutes hatte sich dargetan. Der Handschlag der Enkelin galt.

»Der junge Herr Steinherr war in der Frühe da. Aber du warst noch gar nicht wieder aufgewacht. Da hat er etwas für dich abgegeben und gesagt, er wollte gegen Abend noch einmal vorsprechen.«

»Gott, was für ein Getue.«

»Mädel, Mädel«, lachte die Frau, »aus einem Fehler fällst du in den anderen. Muß ich denn mit einem Male deine eigenen Freunde gegen dich in Schutz nehmen?«

»Ach was, Freunde! Aufdringlich ist er!«

»Du – –«, sagte die alte Frau mahnend. »Vorläufig hast du allen Grund, ihm dankbar zu sein. Aber ich merke schon, du wirst wieder gesund. Das war soeben der echte Hannes.«

Hannes drehte sich auf die Seite. Sie war flammend rot geworden. Dann, nach einigen Minuten, klang es halb zag, halb trotzig aus dem Kissen: »Was hat er denn für mich abgegeben? Eine Gratulationskarte?«

Frau Stahl ging in das Wohnzimmer und kehrte zurück. Auf den bloßen Arm gestützt, sah ihr das junge Mädchen gespannt entgegen. Keine Spur mehr das ernste Wesen von vorhin, ganz das erwartungsfrohe Kind.

»Rosen«, rief sie jubelnd und streckte die Hände aus, »Rosen, ein ganzer Arm voll. Großmutter, das sind Maréchal Niel und das sind La France! Himmel, sind die schön! Und das – was ist denn das? Du«, sagte sie ganz feierlich, »das ist ja eine Bonbonnière, denk mal, von Branscheidt. Feineres gibt's in ganz Düsseldorf nicht.«

Sie breitete die Herrlichkeiten auf der Bettdecke vor sich aus und staunte sie an. Dann schob sie die Konfitüren zusammen und reichte sie der Großmutter.

»Da, nimm nur, das ist was für dich. Ich darf ja jetzt doch nicht. Aber sofort essen.«

»Ich heb' sie auf, Kind, bis später.«

»Ach, dann macht's keinen Spaß mehr. So was Extraes muß immer extra auf der Stelle genossen werden. Dann schmeckt's ganz anders. Zeig mal. Einen Bonbon kannst du mir doch abgeben.«

Sie stopfte sich eine große kandierte Frucht in den Mund und ließ die Großmutter ihre Schätze in Sicherheit bringen. Unterdes band sie den Rosenstrauß auseinander, roch an jeder einzelnen Blume, ordnete sie nach der Farbe, nach dem Duft, legte sie paarweise, Rosa und Gelb, zusammen, um endlich alle wieder zu einem großen Buschen zu vereinen und sie wie eine Garbe in den Arm zu legen. Die Wange hatte sie tief in die Fülle der Blütenkelche geschmiegt.

Als die Großmutter nach einer Weile eintrat, lag das Mädchen wie eine Rose unter Rosen. Schnell zog sie sich zurück, um dem Kinde die heimliche Freude nicht zu stören. Sie hatte ein merkwürdig junges Herz, die alte Frau, die einst ihrer Tochter den Segen gab, damit sie den blutroten Tag von Spichern leichter ertragen könne.

Daß sie heute immer ihrer Tochter gedenken mußte –

War es ein Unrecht gewesen – damals –?

Ein heller Schein flog über der Alten Gesicht. Reue? Wofür? Nur Sünder bereuen. Sie aber hatte aus tiefster Seele gehandelt, und die Seele ist ein Stück von Gott und spricht wahrer als die Gesetze der Menschen.

Die Greisin suchte ihre Brille hervor, rückte den Strohsessel dicht an den Tisch und schlug die Bibel auf. Sie traf die Epistel Pauli an die Korinther. Die Blätter teilten sich wie von selber bei dem 13. Kapitel, als kannten sie seit langem die Zufluchtstätte der alten Frau. Stumm und ernst blickte sie in das Buch. Dann las sie mit halblauter Stimme die gnadenreichen Worte des Apostels, die sie mit ihrem starken Menschensinn menschlich gerade deutete; das monotone Gemurmel klang wie ein Gebet, und über das Gebet hinaus wie ein Glaubensbekenntnis, und es war eine große Feiertagshaltung.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht. Sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lasset sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. Sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Die alte Frau nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Sie lächelte. Wer wollte mehr wissen als sie, was gut und böse sei, wenn unser Wissen Stückwerk ist? Wer, der nicht erkannt hatte, daß die Liebe das Größte ist? – – Die Liebe! – Die alte Frau erhob sich. Das Lächeln machte einem feierlichen Ernste Platz.

»Sie freuet sich aber der Wahrheit!« sagte sie mit starker Stimme. »Das ist es. Die Wahrheit allein gibt den Ausschlag. Dann mag sein, was will: wir taten das Unsere.«

Es wurde an die Tür geklopft, die zur Treppe führte, und die Alte ging, um zu öffnen. Draußen stand Hans Steinherr.

»Treten Sie ein«, sagte sie freundlich, »meine Enkelin ist wach und auch wieder wohl.«

»Sie sind heute so gütig zu mir, Frau Stahl.« Der junge Mann drückte dankbar die dargebotene Hand. »Daran erkenn' ich schon, daß es Fräulein Johanna besser gehen muß.«

Er hatte unwillkürlich an Stelle des kindischen »Hannes« Johanna gesagt.

»Es ist Sonntag heute«, entgegnete die Greisin einfach.

»Nicht wahr? Das ist wirklich ein Sonnentag! Alle Blumen strecken die Köpfe hoch.«

»Sie haben schon wieder Ihren Garten geplündert? Sie müssen nichts übertreiben.«

»Nur drei Rosen. Es waren die schönsten, und sie baten so sehr, für ihr Blühen belohnt und mitgenommen zu werden.«

Frau Stahl sah den Schmeichler prüfend an.

»Sie haben die Worte hübsch in der Gewalt. Das kleidet Sie. Hoffentlich tönt es unter dem Kleid gerade so.«

Hans verstummte. Aber er blickte offen zu der Sprechenden auf.

»Ich werde meiner Enkelin sagen, daß Sie da sind.«

Einige Augenblicke später stand er in ihrer Kammer.

»Guten Tag, Herr Steinherr«, tönte eine zage Stimme, die gern einen festeren Beiklang gezeigt hätte.

Da trat er an das Bett und reichte ihr seine Rosen. Zu sehen vermochte er immer noch nicht. Er fühlte, wie seine Hand scheu ergriffen wurde. Und nun sank der Schleier.

»Guten Tag, Fräulein Hannes«, sagte er rasch. »Gottlob, daß Sie wieder gesund sind!«

»Ach«, meinte sie und vermied seinen Blick, »das bißchen von gestern. Unkraut vergeht nicht.«

»Unkraut?« machte er staunend. Ihre ganze Lieblichkeit wurde er gewahr. Wie sie dalag, bis unter das Kinn zugeknöpft in dem weißen Linnen, das leuchtende Haar glatt heruntergestrichen zu beiden Seiten der zartgezeichneten Wangen, das leinene Hemdchen Hals und Brust bedeckend. Und vor ihr lagen die Rosen, die er am Morgen hergetragen hatte, und sie sagten so wenig, so gar nichts; wie kleine Dienerinnen vor einer kleinen Prinzessin.

»Unkraut?« wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so was aussprechen!«

»Sie scherzt«, sagte Frau Stahl. »Ganz so gering schätzt sich Johanna doch nicht ein.«

Da wurde die kleine Rekonvaleszentin ausgelassen.

»Buh!« machte sie und streckte ihrem Besucher so plötzlich ihr Köpfchen entgegen, daß er zurückfuhr. Dann warf sie sich lachend zurück. »Ich bin ein Ungetüm, gelt? Ein schreckliches Menschenkind! Antworten Sie, auf der Stelle!«

»Wahrhaftig«, rief Hans begeistert, »das sind Sie! Aber ich glaube, mehr ein schrecklich liebes Menschenkind. Hab' ich recht, Frau Stahl? Sie verstellt sich nur immer, damit's keiner merkt.«

»Jawohl, ihre Unarten auch noch beloben! Na, nun setzen Sie sich nur nieder. Einen Augenblick dürfen Sie schon hierbleiben.«

»Großmutter«, sagte Hannes und lächelte die Alte an, »trinken wir denn heute nachmittag keinen Kaffee?«

»Ach so«, meinte die Greisin trocken. »So hatt'st du dir das gedacht?«

»Herr Steinherr ist doch zu Besuch gekommen«, schmollte die Kleine, und zupfte an den Rosen.

Aber ich bitte, Frau Stahl«, warf der junge Besucher verlegen ein, »ich möchte Sie nicht stören.«

»Freilich«, stieß das Mädchen trotzig heraus, »dann – dann – wenn es Herrn Steinherr geniert, bei uns Kaffee zu trinken. Es ist ja auch kein richtiger Kaffee. Wir trinken ihn nur so.«

»Fräulein Hannes!«

Hans Steinherr war empört.

»Das war schlecht«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Das durften Sie mir ganz gewiß nicht sagen.«

Sie antwortete nicht, aber sie zog mit einer hastigen Bewegung ihr Haar bis über die Augen zusammen.

»Sie werden unseren Kaffee schon mögen«, meinte die alte Frau. »Wollen Sie mittun?«

»So viel Freundlichkeit hab' ich ja gar nicht erwartet«, murmelte Hans.

»Ich werde das Geschirr hereinholen. Dann trinken wir mit Johanna zusammen.«

Sie ging ruhig hinaus, um den Kaffee aufzubrühen. Bald vernahm man ihr Hantieren mit Töpfen und Tassen.

Hans Steinherr blickte zu seiner kleinen feindlichen Freundin hinüber. Er konnte unter dem dichten Haarschleier nichts von ihrem Gesicht erkennen. Nur die im Haar verkrampften Fäustchen waren sichtbar.

»Fräulein Hannes«, sagte er recht knabenhaft weich.

Sie regte sich nicht.

»Sie schämen sich wohl, Fräulein Hannes? Dann ist ja alles wieder gut.«

Keine Antwort. Sie lag wie eine Bildsäule. Nur über ihrem Mund zitterte das Haar.

Da wagte er es, ihre Hände zu fassen. Und die Fäustchen, die so fest verkrampft schienen, zeigten sich so willfährig, nachzugeben, und er schob sie sacht beiseite und strich ihr ganz sanft das Haar aus dem Gesicht.

»Sie haben ja Tränen in den Augen«, sagte er leise und tupfte mit zartem Finger die Tropfen fort.

Sie ließ alles mit sich geschehen, aber sie wich auch seinem Blick nicht mehr aus.«

»Buh!« machte er plötzlich, wie sie vorher, und streckte mit einer lustigen Grimasse den Kopf gegen sie aus.

Erschrocken fuhr sie zusammen. Und dann lachte sie, lachte, daß es durch die Kammer schmetterte, in einem Lachkrampf, der sich nicht bändigen lassen wollte. Und Hans sekundierte ihr mit seinem jungen, durchdringenden Bariton, und wenn der eine aufhören wollte, begann der andere von neuem, und beide wußten nicht mehr, worüber sie lachten. Über ein Nichts, über alles – das war ihnen Nebensache. Bis Großmutter Stahl energisch gegen die Tür pochte.

»Sind Sie – noch – ärgerlich auf mich?« schluchzte Hans.

»Och«, schluchzte Hannes und rieb sich mit dem Handrücken die Augen, bis sie brannten, »ich – ich hab' mich ja nur – über mich selber – geärgert.«

»Dann – dann – könnten wir doch wirklich – gut' Freund sein.«

»Ja – – –«

Da kam Frau Stahl mit dem Nachmittagskaffee. Schnell sprang Hans zu, um ihr behilflich zu sein. Er zog aus der Ecke einen kleinen Tisch, herbei, deckte das Tuch darüber, das Frau Stahl unterm Arme trug und half ihr, die Sonntagsgenüsse aufbauen. Aniszwieback, gezuckerten Zwieback und Burger Brezeln. Die rüstige Frau stopfte ihrem Enkelkind ein paar Kissen in den Rücken, und dann saßen sie zu dritt in der kleinen Kammer und griffen wacker zu.

»Schmeckt Ihnen der Kaffee?« fragte die Kleine mit größter Unbefangenheit.

»Einfach fürchterlich!« erwiderte Hans.

»Das wundert mich«, fuhr die Kleine in aufrichtig klingendem Tone fort, »Großmutter nimmt aber bestimmt nur die beste Zichorie.«

»Ich hatte es auf gebrannte Eicheln taxiert«, entgegnete Hans verbindlich und bat um eine neue Füllung. »Wir haben soeben Freundschaft geschlossen, Frau Stahl. Sie merken es wohl am Ton.«

»Die Freundschaft ist immer die beste, die sich eines guten Tones befleißigt«, sagte die alte Frau. »Das hält die Gewöhnlichkeit der Gewöhnung zurück, den schlimmsten Feind der Freundschaft.«

Hans bröckelte stumm an seiner Brezel. Wie einfach und sicher die Greisin sprach. Dieser Frau glaubte er es, daß sie einst die Würde der Beamtenfrau ruhig mit der Stellung einer Lohnarbeiterin vertauschen konnte, ohne auch nur die Spur von sich selbst zu verlieren. Wie beneidenswert seine kleine Freundin war, daß sie eine solche Erzieherin hatte.

»Hat man Ihnen denn gar nichts aufgetragen?« hörte er plötzlich die Stimme des Mädchens.

»Aufgetragen?« fragte er und richtete sich auf. »Wer sollte mir denn etwas aufgetragen haben?«

»O, ich dachte nur – –« machte Hannes gedehnt. »Sie waren also nicht bei Hüsgens?«

»Gewiß, heute vormittag.«

»Und sie haben sich nicht nach mir erkundigt?«

Hans wurde ein wenig verlegen und suchte nach Worten. Sie bemerkte es sofort.

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte sie spöttisch, »ich bin nicht so feinfühlig.«

»Das sind Sie wohl«, warf er eifrig ein. »Aber Sie wissen ja selber, daß der edle Willibald alles andere eher ist. Ich fürchte, seine Schwester nicht minder. Doch daraus dürfen Sie sich nichts machen.«

»Tu' ich auch nicht. Aber etwas muß doch gesagt worden sein.«

»Nun ja«, gab er zögernd zu, »Willibald hatte Angst, seine schönen Veranstaltungen könnten ihm in die Brüche gehen – so sagte er wörtlich – und er schalt auf das unzeitgemäße Krankwerden.«

»Also eine gute Besserung hat er mir nicht wünschen lassen«, sagte sie und zog die Stirn in Falten.

»Er hat es wohl nur vergessen«, begütigte Hans. »Sie kennen doch seine Art.«

»Dann soll er auch meine Art kennen. Ich werde ihn und seine schöne Veranstaltung auch vergessen.«

»Sie wollen nicht mehr mittun?« rief Hans überrascht. »Ach nein, Fräulein Hannes, das kann nicht Ihr Ernst sein. Wir haben uns doch alle so auf den Abend gefreut.«

»Und ich tu' doch nicht mit«, beharrte sie trotzig. »Er soll sich suchen, wen er will. Ich lass' mich so nicht behandeln. Von dem am wenigsten, diesem Bierwirtsjungen!«

»Johanna«, verwies Frau Stahl sie zürnend.

»Laß nur, Großmutter, ich tu's doch nicht.«

»Fräulein Hannes«, sagte Hans niedergeschlagen, »was soll denn aber aus dem schönen Abend werden?«

»Och, der Abend läuft uns nicht weg. Wir unternehmen was für uns.«

»Für uns?«

»Nun ja. Großmutter, Sie und ich. Oder – paßt Ihnen die andere Gesellschaft besser?«

»Darauf gebe ich Ihnen jetzt keine Antwort mehr. Das ist gerade wie vorhin mit dem Kaffeetrinken.«

»Sie sind einverstanden!« lachte sie, ohne auf seine beleidigte Miene zu achten. »Großmutter, du auch? Also nächsten Sonntag? Wohin wollen wir denn? Nach Schloß Benrath? Ja, bitte, nach Schloß Benrath!«

Sie beugte sich vor, schlang die Arme um den Hals der alten Frau und küßte sie auf den Mund. Frau Stahl erhob sich schnell.

»Jetzt ist es aber Zeit, Herr Steinherr«, sagte sie mit freundlichem Ernst. »Das Kind wird viel zu unruhig.«

Sofort stand Hans auf. Man verabredete, sich am nächsten Sonntagnachmittag zwei Uhr am Bahnhof zu treffen. Bei gutem Wetter sollte der Rückweg zu Fuß angetreten werden. Hannes lag ganz still, mit geschlossenen Augen, im Bette, als Hans Steinherr sich verabschiedete. Sie gab ihm kaum die Hand.

»Ich kann Sie leider nicht auffordern, in der Woche noch einmal vorzusprechen«, sagte die alte Frau, als sie Hans die Tür im Vorzimmer öffnete. »Ich bin die ganze Woche draußen auf Arbeit.«

»O, Frau Stahl, ohne Ihren Willen würde ich es auch nicht wagen.«

»Es ist gut«, entgegnete sie.

»Haben Sie vielen Dank, Frau Stahl. Der Nachmittag bei Ihnen war wirklich schön.«

»Adieu, Herr Steinherr.«

Er stolperte die Stiegen hinunter und stand mit erhitztem Kopf auf der Straße. Wohin? dachte er. Nur nicht unter Menschen jetzt. Er eilte auf kürzestem Wege nach Hause, in den Garten. Er fühlte, daß seine Brust ganz schwer war von all den Gestalten, die er mit sich trug. Ein unerklärlich wonniges Gewicht. Bis in die Nacht saß er in der Laube und hielt mit den Gestalten allerlei närrische Zwiesprache.– –

Frau Stahl hatte leise die Kammertür geöffnet.

»Schläfst du, Johanna?« fragte sie.

Als keine Antwort kam, blieb sie im Wohnzimmer. Grübelnd stand sie am Fenster und blickte hinaus. Dann kehrte sie sich ruhig um und suchte sich eine Handarbeit heraus.

Sie sollen ihre Jugend haben, dachte sie, das ist ihr Recht. Man soll dem Menschenfrühling nicht ins Handwerk pfuschen, wenn man das Wort Glück im Munde führt. Und – und – das Kind gab mir doch die Hand darauf. – –


Zweimal im Laufe der Woche war Hans Steinherr im Atelier seines Freundes Springe gewesen. Er hatte sich stundenlang an den Bildern vorbeigeschoben, in alle Ecken geguckt und ganz sonderbar herumgedruckst.

»Was gibt's denn, Junge? Hast du Schulden beim Konditor, eine schlechte Zensur, oder bist du verliebt?«

»Ach, Sie spotten ja nur.«

»Also verliebt. Dann behalt's bei dir! Die Heimlichkeit erhöht den Reiz. Hoffentlich ist sie von altem Adel?«

»Sehen Sie? Ich wußte ja, daß Sie für gewisse Dinge kein Verständnis haben.«

Der Maler hatte eine Melodie gepfiffen und rastlos weiter gearbeitet.

»Herr von Springe?«

»Nun, mein Junge?«

»Wenn – wenn ich nun einmal jemanden nötig haben sollte, der – der – auf den ich mich – verlassen könnte?«

»Soweit meine Verständnislosigkeit reicht, würde ich der Jemand ja sein können.«

»Herr von Springe!«

Hans war auf ihn zugesprungen und hatte sich an ihn gehängt.

»Mach' daß du nach Hause kommst und halte die Leute nicht auf. Marsch, ab! Hörst du nicht, ich habe zu arbeiten. Ich will allein sein.«

Und jedesmal, wenn der Junge nach solch einer Szene gegangen war, hatte der Maler die Arbeit beiseite geschoben und war auf die Veranda hinausgetreten, an der das Weinlaub rubinrot schimmerte und tausend dringendere Fragen stellte, als der Mund des mannbar gewordenen Knaben …

Und nun war Sonntag. Ein Herbsttag von jener Schönheit und tiefen Schwermut, die noch einmal alle Erinnerungen des enteilenden Sommers zusammengreifen möchte zu einem lang nachschwingenden Akkord. Aus Hoffen und Bangen gemischt: Was wird der Tag bringen, was wird nach ihm kommen? Nütze den Tag! Er trägt in sich, was über den Winter hilft. Sein Zittern ist dein Zittern. – –

Hans Steinherr stand am Bahnhof. Er hatte sich bei den Eltern mit einem Ausflug entschuldigt, ohne die Namen der Teilnehmer anzugeben, und wartete nun schon seit einer Viertelstunde auf Frau Stahl und ihre Enkelin. Für jede der Frauen trug er ein paar Rosen in der Hand. Er war so aufgeregt, als gälte es eine Weltreise.

»Hier!« rief er plötzlich aus Leibeskräften und schwenkte den Hut. Da waren sie neben ihm.

Frau Stahl war nicht sonderlich modern gekleidet. Er merkte es nicht. Er war nur dankbar, daß sie gekommen war. Und Hannes? War das denn Hannes? Ja, war sie denn gewachsen in den acht Tagen und umsoviel reifer geworden? Er kam sich fast wie ein Knabe neben ihr vor.

»Wie geht es Ihnen?« murmelte er und stopfte ihr die Rosen in die Hand. »Wie ich mich freue! Sie sind also wieder ganz gesund? Freuen Sie sich denn auch ein wenig auf die Tour? Hier, Frau Stahl, bitte, nehmen Sie doch auch die Blumen. Da kommt der Zug. So, bitte, hier können wir einsteigen.«

Frau Stahl hatte den Griff des Coupés gefaßt. Jetzt ließ sie ihn wieder los.

»Herr Gott«, lachte sie, »da wären wir beinahe falsch eingestiegen. Das ist ja die erste Klasse.«

»Dann stimmt's doch. Bitte, Fräulein Hannes.«

Das junge Mädchen blickte fest auf die Coupénummer. Dann preßte sie die Lippen zusammen und stieg ein, als ob sie's anders nicht gewöhnt sei. Frau Stahl folgte schweigend, und als letzter Hans. Während der kurzen Fahrt bis zur Station Benrath wollte kein Gespräch zustande kommen.

Steif schritten die Frauen die Feldwege einher, die zum Schloß führten. Auch Hans war verstimmt. So zogen die drei Menschen fürbaß.

»Soll ich den Pedell rufen, damit er uns das Schloß zeigt?« fragte Hans, als sie vor dem Rokokobau standen und die Blicke über die Rasenfläche schweifen ließen, die sich vor ihm ausbreitete.

»Bitte«, sagte Hannes kurz.

Der Pedell kam und übernahm die Führung. Aber was er auch von dem Erbauer, dem kunstsinnigen pfälzischen Herzog Karl Theodor und seinem fröhlichen Hofstaat zu erzählen wußte, was er berichtete von allerhand Zeitläuften und Schicksalen, von hohen und höchsten Herrschaften, die geruht hatten, in diesen und jenen historischen Betten zu ruhen: er fand nicht das mundaufsperrende Verständnis, das er bei diesen Gästen zu finden gehofft hatte. Erst das Trinkgeld stimmte ihn um. Er empfahl angelegentlich, nicht zu versäumen, den Park zu besuchen. »Der herrlichste Park, den der Niederrhein besitzt. Mit der Dunkelheit wird er geschlossen. Sonst müssen Sie übers Gitter klettern.«

Wieder standen die drei Menschen draußen und blickten stumm über die Rasenfläche.

»Sind Sie müde, Frau Stahl? Wir hätten wohl erst die Wirtschaft aufsuchen sollen. Entschuldigen Sie, daß ich nur an mich dachte.«

»Großmutter hat sich in den letzten Tagen überarbeitet«, sagte Hannes kurz.

Hans blickte auf die alte Frau und errötete. Hannes gewahrte es und wandte sich finster ab.

»Komm, Großmutter, es ist nicht weit. Nur ein paar Schritte bis zum Grund.«

Durch die lockende Sonntagspracht gingen sie mit lässigen, müden Bewegungen.

Im Wirtshaus im Grund saßen sie, bis die Sonne im Westen zu flammen begann. Da drängte die alte Frau, die jungen Leute sollten den Tag nicht vertrauern und noch einmal hinausgehen. Sie fühlte sich bereits wieder wohler. Das Stillsitzen und der Abendfriede täten ihr am besten.

Da gingen die beiden jungen Menschenkinder den Weg zurück zum Schloß und traten durch das Gittertor in den gepflegten Garten und gingen weiter, an den Sandsteingöttern vorbei, vorüber an den Wasserspielen und dem mit Seerosen bedeckten Bassin, die laubenartig verwachsenen und künstlich verschnittenen Heckengänge entlang, in denen es einsam war wie in stillen Grotten, und weiter, bis der Park sie aufnahm mit seinen Baumriesen und wundervollen Landschaftsbildern, bis sie den Rhein in der Ferne aufblitzen sahen und sein heimatliches Gemurmel hörten.

Es war ein Duften um sie her nach kräftigem Waldboden.

Und sie blieben beide stehen und schlossen die Augen und sogen den Duft ein. Den Duft von niederrheinischer Scholle, deren Kinder sie waren.

Als sie die Augen öffneten, hatte die flammende Abendsonne den Park mit Glut gefüllt, die Bäume schillerten in goldenen Konturen, und die Wipfel waren wie purpurne Baldachine. Das Gras zu ihren Füßen war ein persischer Teppich geworden in bunten Farben und phantastischen Mustern.

»Wie – schön – –« stammelte fassungslos das junge Mädchen.

Und der junge Begleiter ergriff ihre Hand, als müßte er ihr zeigen, daß sie ritterlichen Schutz genösse in diesem Zaubermärchen.

Als die tiefen Schatten fielen und das Licht auslöschten, behielt er die Hand in der seinen, und so gingen sie wie Kinder, die sie waren: Hand in Hand.

Es wurde nicht dunkel heute. Ein silbriger Schimmer spielte in dem Dämmer und durchdrang es. Der Mond kam herauf. Durch den flüsternden Park gingen die Kinder Schulter an Schulter, bis sie in den Laubengängen waren, in denen einst die Liebe des Rokoko geseufzt. Drüben, im Garten, lächelten die verschwiegenen Sandsteinfiguren, die allwissenden Heidengötter, wie ehedem; auf den Teichen träumten die Wasserrosen; durch die Hecken glitt ein Singen wie von einer Harfensaite, immer derselbe, einzige, sehnende Ton; und der Park dort öffnete wie eine Mutter die Arme weit.

Die Kinder spürten ein Zittern in den Händen, an denen sie sich gefaßt hielten. Sie blieben stehen. Da lief das Zittern durch ihren Körper.

Und das Mädchen legte den Kopf zurück und blickte mit weitgeöffneten ergebungsvollen Augen dem Knabenkopf entgegen, der sich mit bebendem Mund über sie beugte und ihre Lippen suchte.

Sie berührten sich wie ein Hauch, staunend blieben sie übereinander gebeugt, und in ihre kalten Wangen strömte das junge, warme Leben zurück.

Die Hände lösten sich und hingen schlaff herab. Dann hoben sich die Arme, scheu und ungelenk, und eines umschlang den Nacken des anderen, und die Lippen, halbgeöffnet, neigten sich zueinander und drängten sich fest aneinander und kehrten, wenn sie sich lassen wollten, immer wieder hastig, durstig zueinander zurück. Keines sprach ein Wort. Aber wenn sie innehielten, zählte eines des anderen Herzschläge. Bis die Herzschläge durcheinander jubelten.

»Hannes, Hannes, ich habe dich so lieb, daß ich es nicht sagen kann.«

»Ich hab' dich lieb gehabt, wie ich dich sah, und werde nur dich lieb haben«, murmelte das Mädchen, und ihre Finger zitterten auf seinem Haar, seinen Augen, seinen Wangen.

»Weshalb warst du immer so böse zu mir?«

»Sprich doch nicht«, flehte sie und hob die feuchten Augen und die jungen, verlangenden Lippen.

Da faßte er sie um den biegsamen Leib und preßte sie an sich, daß ihnen beiden schwindelte.

»Komm, komm, du sollst dich setzen«, und er führte sie behutsam zu einer Bank.

Sie saß auf seinem Schoß, seinen Kopf in beiden Händen, und sah ihm ganz nahe in die Augen.

»Du«, stieß sie jäh hervor und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

»Du! Du! Du!« stammelte er. »Wenn du mich vergessen solltest!«

»Hans!« rief sie, und sie lachte und schluchzte durcheinander.

»Weshalb hast du mich immer so gequält? Sag es mir doch, damit ich ruhig werde«, bat er.

»Ich kann es nicht. Ich kann es wahrhaftig nicht.«

»Aber ich leide darunter. Ich habe ja nie einen anderen Menschen so lieb gehabt.«

»O, du! Und ich? – Und ich werde auch nie einen anderen Menschen lieb haben können. Nie! Hörst du? Ich habe nicht und ich werde nicht. Hans, Hans!«

»So mußt du es mir auch sagen können. Erst heut nachmittag – o, du weißt – da warst du so kalt.«

»Sei nicht böse«, sagte sie beschämt und drückte ihr Gesicht an seine Brust.

Und plötzlich, unaufgefordert, begann sie zu sprechen. Ohne ihr Gesicht von seiner Brust zu heben.

»Ich war ja so kindisch. Siehst du, als ich dich sah, und immer wieder sah, da warst du für mich so vornehm. Und ich wollte nicht, daß du vornehmer wärst als ich. Und ich hatte solche Angst, du könntest es merken, daß du vornehmer seist als ich und könntest dich über mich lustig machen wollen. Deshalb war ich so trotzig. Lieb hatt' ich dich ja längst. Und du mich auch; das merkte ich. Aber ich wollte, daß du dich nicht schämen solltest. Ich wollte werden wie du, und ich will es auch werden. Ich will es! Du darfst dich nie, nie meiner schämen. Ach, du, es kann dich ja keiner so lieb haben wie ich. Auf der ganzen Welt nicht! Im ganzen Leben nicht!«

Hans kniete vor sie hin, umschlang ihre Kniee und drückte seinen Kopf in ihren Schoß.

»Wie gut das tut«, sagte er aus Herzensgrund. »Wie lieb du bist!«

Er küßte ihr Kleid, und sie schmiegte die Wange auf sein Haar.

»Schwöre mir, daß du mein Weib wirst. Daß du auf mich warten wirst, was auch kommt!«

Sie schwur es, mit einem stillen Lächeln in der Stimme. Und er gab tausend heiße Knabenschwüre zur Antwort.

»Komm, Hans«, sagte sie endlich, »Großmutter wartet. Sie vertraut auf mich.«

Da stand er von dem kühlen Boden auf, und sie gingen wieder Hand in Hand, wie Kinder gehen. Durch den lauschenden Garten, vorbei an den lächelnden Sandsteingöttern.

Sie hatten lange, zu suchen, bis sie eine Stelle im Parkzaun fanden, durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Das Parktor war verschlossen. Doch der Spaß des Suchens war größer als die Angst. Und alles Kindische kehrte in ihnen zurück. Ausgelassen tollten sie den Weg zum Wirtshaus im Grund zurück.

Frau Stahl war im Garten eingenickt. Der Wirtssohn spannte eine Kalesche an und fuhr die Gäste nach der Stadt zurück. Die alte Frau schlummerte im Fonds, müde von der Last der Arbeit, der Sorge und der Jahre. Ihr gegenüber saß das Märchen, das sich Jugend nennt, und schaute selig lächelnd in die ewigen Sterne.

*


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