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6.

Erst spät in der Nacht war Hannes eingeschlafen, und als sie erwachte, war es noch nicht sieben Uhr. Ihre Gedanken setzten sofort dort wieder ein, wo die Ermüdung sie unterbrochen hatte: bei Hans.

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag sie ganz still, mit weitgeöffneten Augen.

Hans … Wie oft hatte sie das Wort vor sich hin gesprochen, in all den Jahren des heißen Mühens und Studierens, der ersten, angsterfüllten Versuche und der großen, stolzen Siege in ihrer Kunst. Er wußte es ja nicht. Er wußte ja nicht, daß sie ihm alles verdankte, den ganzen, reichen Inhalt ihres Lebens. Er hatte die Liebe in ihr wachgeküßt, und die Liebe hatte den Ehrgeiz der vornehmen Seele geweckt, es dem Geliebten gleich zu tun an Wissenseifer, und den Drang nach der Schönheit der Form. Dann hatte er den ersten, gewaltigen Schmerz in sie hineingetragen, und der Schmerz hatte den großen Stolz gezeitigt, zu zeigen, daß es für den Mann kein Herabsteigen gewesen wäre zur unlösbaren Verkettung von Seel' und Leib.

Ein leises, liebes Lächeln glitt um ihren Mund. Hans – – –.

Die Wunden, die sie bei dem jähen Abschied davongetragen, waren längst verharrscht. Und im Laufe der Jahre waren die Narben immer glatter, immer feiner geworden. Wenn sie in stillen Nächten, in denen sie heimdachte, mit gleitendem Finger danach tastete, fand sie kaum noch die Spuren. Dann dehnte sie den jungen, gestählten Körper und spürte in ihm statt Wunden und Schmerzen das Wunder der Frauenkraft. Eines Tages – o, eines Tages würde er sie nötig haben, wie den Duft der Heimatscholle, den kein Sohn des Niederrheins auf immer zu missen vermochte, der zu den Treuen im Lande zählte. Sie glaubte fest an diesen Zug der Heimat. Warte nur, über ein kleines …!

Sie hatte gewartet, und das Warten war ihr nicht sauer geworden. Alle Energien in ihr waren frei geworden und, von einem zähen Willen geleitet, den Weg gegangen, den ihr erst der Trotz und dann in seltsamer Wandlung das erwachte Gefühl der Persönlichkeit gewiesen hatte. Mit geklärtem Auge schaute sie mehr und mehr in alle Dinge und ihre Beweggründe hinein, und wenn sie auf eine unbefriedigte Ehe traf, sah sie die Verschiebung der einst harmonierenden Motive nicht so sehr in äußerlichen Ablenkungen, als in dem rein innerlichen Umstand, daß die Frau am Tage der Hochzeit mit der straffen, geistigen Erziehung abzuschließen pflegte, während für den Mann jetzt erst die Weiterentwicklung und mit ihr die geistigen Kämpfe begannen. Fand er auf die Dauer kein mitgehendes Verständnis, fand er in ihr, in der er eine Kameradin erhofft hatte, immer wieder nur das launenhafte Kind, kaum auf einer höheren Warte stehend als die Kinder; die sie geboren hatte und die sie zu stolzen, starken Menschen erziehen sollte, fand er in ihr nie und nimmer anderes als das Evageschöpfchen, das »um seiner selbst willen« geliebt sein wollte – was Wunder, daß die Kluft breiter und breiter wurde und eine der Seelen frierend am Ufer stand.

Das war dem jungen, im Dunkel seines ersten Liebeswehs umherirrenden Mädchen wie eine Erleuchtung gekommen: eine Frau muß dem Manne, auch nach dem Rausch des Lenzes, ebenbürtig bleiben; nicht in der Fülle des Wissens, aber in der Fülle des Verständnisses. Dann hat sie ein Recht auf ihn, als sein wahrhaftiger Zeltgenosse, der Kampf und Sieg mit ihm teilt, beides wie ein gleichwertiges; nicht als seine hübsche Magd, der er für ein Lächeln ein Armband mit heimbringt.

Darauf war ihr Streben gerichtet gewesen. Sollte der Tag kommen – auf alle Fälle, sie wollte bereit sein.

Der Tag war nicht gekommen. Ihn mit kleinen Künsten herbeizuführen, lag in ihrem Wesen nicht.

Die Reihe war an ihm, dem Manne – und sie wartete, und wenn sie vergeblich warten sollte. Heute stand sie ihm nicht mehr nach, weder in der Kunst, noch im Leben.

Der selbstbewußte Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens schwand plötzlich hin, eine Unruhe trat in ihre Augen. Sie zog die Arme unter dem Kopfe fort und saß aufrecht da.

Was hatte Onkel Springe gestern abend gesagt? Was war mit Hans?

»Er ist drauf und dran, über Bord zu gehen – –«

Noch einen Moment ließ sie die Worte in ihren Ohren tönen und hämmern. Dann war sie mit einem Sprunge aus dem Bett und kleidete sich an. »Oho«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Haken ihres Promenadenkleides schloß, »oho!« Sie wußte nicht, war es eine Drohung, war es, um sich selbst Mut zu machen. Noch war ihr ja gänzlich fremd, in welcher Lage, in welcher Bedrängnis Hans eigentlich stak. Aber die Gewißheit, daß es eine Bedrängnis war, genügte, um sie vergessen zu machen, daß – die Reihe an ihm sein sollte, zu ihr zu kommen; und all die mütterlichen Eigenschaften, die unbewußt im Weibe ruhen, waren in ihr ausgelöst.

Sie klingelte dem Zimmermädchen.

»Sehen Sie doch sofort nach, ob Herr von Springe schon sein Zimmer verlassen hat. Sonst lassen Sie ihn wecken.«

Heinrich Springe erwartete seinen Bundesgenossen bereits im Frühstückszimmer. Sie ließen sich an einem separaten Tisch servieren und saßen allein.

»Guten Morgen, meine Lerche!«

Sie legte den Arm um seinen Hals und ihre weichen Lippen auf seinen Mund.

»Töchterchen«, sagte er zärtlich und streichelte ihr Gesicht und ihr Haar … »Dort kommt der Kellner. Jetzt heißt es zulangen. Ein Mensch, der ein ordentliches Frühstück im Magen hat, hat schon halb gewonnen. In diesem Sinne los, Hannes! Wer die beste Klinge schlägt!«

Da hielt sie wacker mit.

»Wunderst du dich nicht, daß ich dir gar keine Komplimente über dein Singen mache?« fragte er nach einer Weile. »Du mußt mich unbedingt für einen Barbaren halten. Gelt, das ist die Meinung?«

»Onkel Springe! Wer ist denn musikalischer als du?!«

»Für den Hausgebrauch, Kind. Die musikalischen Schwingungen muß jeder Künstler in sich verspüren, ob Maler, Dichter oder Klavizimbelspieler. Aber sieh mal, Mädel, da reise ich geschlagene acht Stunden mit dem Kurierzug, um dich nach Jahren wiederzuhören, und als es geschehen ist, bleibe ich stumm.«

Sie streichelte seine Hand und sah ihn schelmisch von der Seite an. »Du wolltest wohl erst die Kritiken in den Morgenblättern lesen?«

»Schlauberger!« lachte er. »Übrigens ist das bereits auch geschehen. Die Herren Musikkritiker verstehen zwar durch die Bank mehr von Instrumentalmusik als von einer Stimme, aber diesmal haben sie sich denn doch zu einem schönen Jubelchor vereinigt. Mein Mädel hat es ihnen angetan, mußte es ihnen ja antun; mir hattest du es ja auch angetan, daß ich den unbezwinglichen Drang verspürte, alle Menschen teilnehmen zu lassen, irgend eine gute Tat zu tun, und da bin ich spornstreichs zum Hans gelaufen.«

Damit war das Wort gefallen. Die beiden sahen sich ernst an.

»Eine Frau ist im Spiel«, sagte Springe kurz.

»Liebt er sie – –?«

»Wenn's das wäre! Gelt, Mädel, dann würden wir uns bescheiden. Aber das ist es eben nicht. Es ist schlimmer. Er ist mit seinen Sinnen, seinem Hochmut, seiner Eitelkeit engagiert. Das ist ein böses Trifolium für einen Mann, der gewohnt ist, alles von sich selbst aus zu beurteilen und sich in jeder Situation zu bespiegeln. Die Coeur-Dame aber hat ebenfalls ihren Ehrgeiz für sich. Sie möchte außer einem Gatten von Rang und Würden auch noch einen Mantelträger – hm, anders kann ich dir das nicht erklären – und für dies ehrenvolle Pöstchen hat sie in ihrer großen Güte Hans ausersehen.«

»Und Hans – und Hans?«

»Ist aus allen seinen Himmeln gestürzt. Ich habe die feste Gewißheit, daß er sie nicht liebt, so, weißt du, Kind, wie wir das Wort verstehen, mit dem Ewigkeitsbegriff. Aber er ist im Lauf der Jahre ein armer, einsamer Mensch geworden, und todmüde. Da kommt nun eine schöne Frau des Wegs – sagen wir: die gefeiertste Weltdame – und da der verschlossene Sonderling für sie Nouveauté ist, beginnt sie zur Kurzweil das Spiel. Der Mann, der schon auf alle Freuden des Lebens verzichtet hat, traut seinen Augen nicht, zögert, alte Erinnerungen werden in ihm lebendig, und, teils aus Haß, teils aus Gier, noch einmal seine Kräfte zu erproben – er greift zu. Wenn ein Todkranker sich an etwas anklammert, mein Kind, dann fragt er nicht viel nach den Qualitäten, dann redet nur noch sein Egoismus, denn er weiß, es ist das letzte Mal …«

Springe sann nach. In seinem Geiste sah er, wie Bild für Bild sich entwickelt hatte.

»Die schöne Frau aber«, fuhr er mit ironischer Betonung fort, »hatte bereits andere Pläne, auf die sie nicht verzichten wollte. Und da ihr unterdes Hans unentbehrlich geworden war, als Troubadour, so wirkte sie mit verdoppeltem Nachdruck auf seine Sinne, um ihn für das vorbehaltene Pöstchen des Schleppenträgers gefügig zu machen. Gestern abend erfolgte die Erklärung, und der überrumpelte Hans warf dennoch im ersten Ansturm den Bettel über den Haufen.«

»Ah – –« stieß die Zuhörerin hervor, und über ihr blaß gewordenes Gesicht huschte eine Röte.

»Das muß der Frau wohl imponiert haben. Möglich auch, daß sie darauf vorbereitet war, den Mann erst ein bißchen der Raserei überlassen wollte, um sich dann über den Niedergebrochenen gnädig zu neigen, überzeugt, daß er nun für ein Glück halten werde, was ihm zuvor das Anfassen nicht wert schien. Als ich gestern bei Hans war und meine Plaudereien aus der Heimat ihn still und in sich gekehrt gemacht hatten, platzte in die frommste Stimmung ein billet de diable hinein. Und die schönste Explosion war fertig.«

»Ich halte im allgemeinen nichts von sogenannten Schickungen. Das sind Eselsbrücken für Faulpelze, die nicht fest zupacken wollen. Aber als in diesem Augenblick bei Hans just eine schwere Erkältung zum Durchbruch kommen mußte, Schüttelfrost, Fieber, Kopfschmerz, na, Kleine, da hab' ich für das eine Mal die Segel gestrichen und die ›Schickung‹ akzeptiert. Auf vierundzwanzig Stunden mindestens liegt er in der Klappe. Gottlob! Mit einem feudalen Husten und Schnupfen kann man weder den Othello, noch den Romeo agieren.«

»Onkel Springe«, bat sie leise, »sei doch ernsthaft!«

»Ich war nie ernsthafter als jetzt. Als ich gestern nacht vor dem Schlafengehen noch für einen Moment in das Café des Kaiserhofs trat, traf ich Herrn Willibald Hüsgen, der Hans bei uns vermutete und ihm auflauern wollte, um sich für den ›genußreichen Abend‹ im Hause Frau Bettina Wittelsbachs zu bedanken. Hans hatte ihn auf seine Quälereien hin dort eingeführt. Herr Willibald war ebenso konfus wie wütend, scheint sich aber einen gut rheinischen Abgang gemacht zu haben. Von ihm hörte ich, daß der bevorzugte Bräutigam ein kleiner, wenn auch etwas abgetakelter Prinz ist. Verstehst du jetzt? Und hier ist das Billett, das Hans gestern nach dem intimen Verlobungszirkel noch erhielt. Ich habe es eingesteckt.«

Er legte die Karte Bettinas auf den Tisch, und Hannes las. Dann lehnte sie sich schweigend zurück, aber in ihren Augen und um ihren Mund stand ein Zug fester Entschlossenheit.

»Nun –?« fragte Springe. »Jetzt gilt's, den Kriegsplan entwerfen, Kleine.«

»Ich werde zu der Dame hingehen.«

»Was – –? Du – –?«

»Jawohl, ich. Es muß doch auf der Stelle etwas geschehen. O nein, nicht meinetwegen.«

»Aber, Mädel, alter, tapferer Hannes, was willst du denn dort?«

»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich ihr gegenüberstehe, werd' ich es wissen.«

Springe schwieg. Dann nahm er Hannes' Hände.

»Hör mich mal an. Ich weiß mit Frauenzimmern schlecht Bescheid, oder sie müßten sein wie Frau Margot, du und Mutter Stahl. Düsseldorfer Auslese. Aber daß du zu der Dame hingehst, das duld' ich nicht. Wenigstens jetzt noch nicht. Du bist ein junges Mädchen, und ich ein gesetzter Mann, wenn's auch keiner glaubt. Folglich – werde ich hingehen. Das war auch meine Absicht.«

»Onkel Springe, dir werden deine Kavaliertugenden im Wege stehen.«

»Ja, Kind, um mich dort herumzuprügeln, geh' ich auch nicht hin.«

Nun mußte sie doch lächeln, trotz ihrer schweren Stimmung.

»So meinte ich es nicht. Aber gewisse Dinge können sich nur Frauen sagen. Und wenn du nichts erreichst?«

»Dann, ja dann soll die Reihe an dir sein. Abgemacht!«

Sie erhoben sich und unternahmen einen Spaziergang, über die Linden, durch das Brandenburger Tor und den Tiergarten. Das Thema wurde nicht weiter berührt. Sie waren beide wortkarg geworden.

Als es gegen elf Uhr ging, verabredeten sie, da das Wetter heiter war, eine Rendezvousstelle am westlichen Ausgang des Tiergartens. Springe nahm einen Wagen und fuhr zum Kurfürstendamm. Dem Hausmädchen, welches ihm die Korridortür öffnete, gab er seine Karte und trug ihm auf, der gnädigen Frau zu bestellen, daß er eine Mitteilung von Herrn Doktor Steinherr zu überbringen habe. Wenige Minuten darauf stand er im Empfangssalon Bettina gegenüber.

Sie sah etwas abgespannt aus, aber gerade der matte Flor um die Augen verstärkte den pikanten Reiz.

»Meine gnädige Frau«, sagte er mit tiefer Verbeugung, »ich erbitte Ihre Verzeihung, daß ich so gänzlich ungerufen –«

»O«, erwiderte sie lächelnd, »die Freunde des Herrn Doktor Steinherr sind auch meine Freunde.«

»Ich werde mir diesen Vorzug zu eigen machen.«

Sie zog einen Moment die Augenbrauen hoch; dann wies sie lässig auf einen Sessel. »Sie ließen mich wissen, daß ein Auftrag des Herrn Doktor Sie zu mir führe …«

»Ein Auftrag? Pardon, nein. Das ist ein Mißverständnis. Lediglich ein Mitteilungsbedürfnis trieb mich her.«

Eine Pause trat ein. Frau Bettina war auf der Stelle orientiert. Und diese Pause benutzten sie beide, um sich schweigend zu beobachten. Dann sagte die Dame des Hauses kalt: »Jetzt ist es an mir, Ihre Verzeihung zu erbitten. Aber ich erwarte in dieser Minute noch Besuch.«

Heinrich Springe verneigte sich, aber er blieb sitzen.

»Der Besucher, meine gnädige Frau, ist leider durch eine heimtückische Krankheit ans Bett gefesselt.«

»Hans ist krank – –?« entfuhr es ihr so schnell, daß sie ihren Fehler nicht mehr korrigieren konnte.

»Ja«, wiederholte Springe höflich, »er ist krank. Gestern abend ist er plötzlich erkrankt.«

Sie nagte nervös an der Lippe, um die Beherrschung wiederzufinden. Dann sah sie ihr Gegenüber scharf an.

»Sie wissen, um was es sich handelt?«

»Um eine Influenza, gnädige Frau.«

»Ah –!« rief sie zornig und sprang auf. »Mir scheint, Sie wollen die Situation ins Lächerliche ziehen.«

Auch Springe hatte sich sofort erhoben.

»Wenn gnädige Frau mit der Frage etwas anderes bezweckten, dann allerdings habe ich –«

»Nein, nein«, lachte sie ungeduldig auf, »es handelt sich in der Tat um diese – diese Influenza.«

Springe lachte unaufgefordert mit, als ob er die Pointe in ihren Worten durchaus nicht verstanden hätte.

»Sie haben recht, gnädige Frau, das ist freilich eine außerordentliche komische Krankheit.«

Da wurden ihre Gesichtszüge unbeweglich.

»Ich danke Ihnen, mein Herr, für die Freundlichkeit, mich zu benachrichtigen. Ich darf aber wohl Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Und als Springe zögernd auf seinem Platze verharrte, sagte sie mit einer hoheitsvollen Abschiedsverneigung: »Herr von Springe – –?«

Da rückte sich Springe zusammen und trat einen Schritt näher.

»Gestatten Sie mir, meine gnädige Frau, daß ich noch ein bei der Vorstellung entstandenes Versäumnis nachhole. Ich möchte nicht gehen, ohne mich Ihnen in meiner Eigenschaft als Vater Hans Steinherrs zu präsentieren.«

Frau Bettina trat überrascht zurück, glühende Röte auf der Stirn. »Sie scherzen«, stammelte sie verwirrt, »das ist doch nicht möglich.«

»Die Verwunderung ist ganz auf meiner Seite, gnädige Frau. Sollte Hans das nie erwähnt haben?«

»Er liebte es nicht, von daheim zu sprechen«, gab sie, immer noch fassungslos, zur Antwort. »Nur einmal, ganz kurz, erwähnte er eines alten Freundes, der durch Heirat sein, Hansens, Stiefvater geworden sei.«

»Dieser alte Freund bin ich, gnädige Frau, und die Freundschaft ist auf meiner Seite unverändert geblieben.«

»Sie sind nicht alt …« sagte sie gedankenlos.

»Ist denn äußerlich erkennbares Alter ein unbedingtes Erfordernis zum Ehemann?«

Sie zuckte zusammen. Das war Hohn.– – Nun hatte sie sich wieder.

»Da Sie sich als Vater meines besten Freundes ausweisen«, sagte sie mit lächelnder Liebenswürdigkeit, »so müssen Sie mir schon erlauben, daß ich Sie noch ein wenig hier behalte. Das ist eine unerwartete Freude für mich.«

Springe stutzte; aber er ließ sich wieder nieder.

»Und nun erzählen Sie mir von ihm. Von dem Hans, als er noch ganz klein und unartig war.«

»Sollte es nicht«, erwiderte Springe verblüfft, »in unserem Falle richtiger sein, Sie erzählen mir von dem Hans, als er schon ganz groß und – artig war?«

»Bitte, bitte«, schmeichelte sie, und ihre dunklen Augen schienen weich und flehend. »Was ich zu berichten habe, ist nicht immer erfreulich. Er hat mir viel Sorgen gemacht, aber ich hab' ihn gern und bewundere sein Talent; und von seinen Freunden erträgt man viel, das haben Sie wohl auch erfahren. Erzählen Sie mir von seiner Jugend. Nachher mag die Reihe an mich kommen, zu ergänzen.«

Noch einmal machte Springe einen Anlauf, das Gespräch auf der anderen Bahn zu halten. Aber sie legte ihm sanft die Spitzen ihrer zarten Finger auf die Hand und sah ihm mit dem rätselhaft lächelnden Blick in die Augen.

Das arme Ding, dachte er mitleidig, sie kann nun einmal nicht gegen ihre Natur. Es ist ein Jammer, daß man so einem schönen Geschöpf wehe tun muß. Na, anders geht's doch nicht.

Aber er begann zunächst zu erzählen. Vom Rhein, vom Düsseldorfer Leben, von seiner ersten Bekanntschaft mit Hans, von den großen Qualitäten des jungen Freundes und seiner Entwicklung, von den feinen, dichterischen Talenten, die durch eine Jugendliebe geweckt worden seien, und vieles mehr. Jedesmal, wenn er zu Ende kommen wollte, berührte sie leise seine Hand, und ihr Auge verlangte, daß er fortfahre.

Mitten in einer Schilderung hielt er inne. Die Zimmeruhr hatte die Mittagsstunde geschlagen. Der Zweck seiner Mission fiel ihm heiß aufs Herz. »Gnädige Frau«, sagte er sich erhebend, »Sie müssen mir den Jungen freigeben, zumal ich mich gleichzeitig beehren darf, Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche zur Verlobung auszusprechen.«

Frau Bettina lehnte sich tief zurück. Das war die Ironie, die ihr immer imponierte.

»Und wenn ich ihn trotzdem behalten möchte.«

»Das ist des Rheinlands nicht der Brauch. Wir da von der Westgrenze sind als reichlich selbstbewußt, oder sagen wir ruhig: hochmütig verschrieen bei aller unserer Lebensleichtigkeit; auch in unserem Lieben machen wir Anspruch auf die erste Stelle.«

»Und in Ihrem Hassen?«

»Ich bin kein Adelsnarr. Aber auf dem Wappen meiner Familie steht der rechte Spruch: ›Pectus amicis, hostibus frontem.‹ Sie haben die Wahl.«

»Ich verstehe kein Latein.«

»Ich auch nicht. Ich hab's wieder verlernt, seitdem ich merkte, daß in der Welt viel zu wenig ›deutsch‹ geredet würde. ›Die Brust dem Freund, die Stirn dem Feind‹, lautet der Spruch.«

»Wollen Sie mein Freund sein, Herr von Springe?«

»Gnädige Frau tun mir unverdiente Ehre an.«

»Wer ist heute noch ein Freund? Ihr Hans, o ja; heute schon läßt er mich allein. Aber ein Mann ist er doch, der Tollkopf, und deshalb muß er mein Freund bleiben. Und Sie sind sein Erzieher … Aus dieser Quelle hat er geschöpft. Lassen Sie mich auch davon profitieren.«

»Meine gnädige Frau, der Zweck meines Besuches ist denn doch wohl –«

»Den Zweck Ihres Besuches«, fiel sie ein und schüttelte ihm herzlich die Hand, »den sollen Sie mir morgen sagen, um diese Stunde. Kommen Sie allein, oder kommen Sie mit Hans. Heute laß ich mir die schöne Stimmung, die ich Ihnen danke, nicht angreifen. Das ist Ihre eigene Schuld.«

Sie sah ihn an, mit halb über die Augen gesenkten Wimpern.

»Auf Wiedersehen, Herr von Springe! Ihrem Pflegling die zärtlichsten Wünsche.«

Da stand er draußen; lachend, wütend, vollständig durcheinandergewirbelt. Die Hexe, sprudelte es in ihm. Da hat sie mich so lange von Düsseldorf erzählen lassen, bis wir glücklich so familiär geworden waren, daß ich ihr nicht mehr grob kommen konnte. Hannes meinte ja gleich, meine Kavalierstugenden – – ach was, Kavalierstugenden! Blamiert hast du dich, alter Sohn! Von zwei kokettierenden Satansaugen hast du geschnurrt wie ein Kater, dem man das Fell streicht!

Als er seiner Bundesgenossin ansichtig wurde, schlug ihm doch das Herz. Aber er bemäntelte seine Niederlage nicht.

»Sie hat mich in Watte gewickelt«, knurrte er und biß sich auf den Schnurrbart. »Viel hätte nicht gefehlt, und ich wär' ihr um den Hals gefallen.«

»Gott sei Dank!« gab das Mädchen zur Antwort.

»Gott sei Dank?« wiederholte Springe perplex. »Wieso denn das?«

»Onkel Springe, wenn selbst du nicht standhalten kannst, ist Hans doch auch entschuldigt!«

Das ist die Logik der Liebe, dachte Springe. Aber er war kleinlaut geworden und sagte es nicht laut.

»Erwarte mich im Hotel, Onkel. Spätestens in einer Stunde bin ich zurück.«

Er sah ihr nach, wie sie über den Damm mit leichtem, flotten Gang auf eine Droschke zuschritt. In dem rotblonden Haar lag die Vorfrühlingssonne wie eine lustige Lohe. Ist das ein Mädel! gestand sich Springe. Man wird gesund und fröhlich vom bloßen Anschauen. Da liegt ein anderer Schmiß drin als in der Treibhausblume von vorhin. – – – Na, na, na … Nachträglich Schimpfen, das ist auch so eine Art –.

Dann wandte er sich ab und schlug langsam den Weg, zum Hotel ein. – – –

Hannes hatte Frau Bettina ihre Künstlerkarte hineingeschickt, wie sie sie im Verkehr mit Konzertdirektoren und Arrangeuren zu benutzen pflegte.

»Johanna Stahl?« las Bettina nachdenklich. »Die berühmte Altistin, die gestern erst im Philharmonischen – Sagen Sie der Dame, Anna, daß ich sehr erfreut bin, sie zu empfangen.«

Die beiden Frauen standen sich gegenüber.

»Mein gnädiges Fräulein«, sagte Bettina, überwältigt von der eigenartigen Erscheinung und der jugendlichen Schönheit der Sängerin, und streckte ihr beide Hände entgegen, »was verschafft mir den Vorzug, einen so ausgezeichneten Gast bei mir zu sehen?«

»Bewilligen Sie mir wenige Minuten Gehör, gnädige Frau? Ich möchte vorausschicken, daß die Angelegenheit, die mich herführt, in erster Linie Ihre Interessen tangiert.«

Bettina ließ die Arme sinken. Die andere hatte ihre Willkommensbewegung gänzlich übersehen.

»Nehmen Sie Platz, mein Fräulein«, sagte sie mit formeller Höflichkeit. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Hannes machte von der Einladung keinen Gebrauch. Eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Die eine sah die dunkeläugige, gefährliche Favoritin, die andere das freie, unerschrockene Germanenmädchen.

»Ich spreche gern die Hoffnung aus«, begann Hannes ruhig, »daß unsere Unterredung ebenso kurz wie befriedigend verläuft. Mein Pflegeonkel, Herr von Springe, ist, wie sich denken ließ, unverrichteter Sache heimgekehrt. Ich hatte ihm gleich gesagt, daß das kein Geschäft für Männer sei.«

»Ein Geschäft –? Mein Fräulein, Sie bedienen sich recht seltsamer Ausdrücke.«

»Wir wollen hier nicht um Worte streiten, gnädige Frau. Das würde die Erledigung der Angelegenheit nur verzögern.«

»So – so – –, Sie kommen aus demselben Grunde wie Herr von Springe? Nun, ich finde das für Sie nicht sonderlich delikat.«

»Gnädige Frau, Sie wollen gütigst beachten, daß das – Parfüm nicht von mir herstammt.«

»Mein Fräulein!«

»O nein, Sie erschrecken mich nicht. Ich fasse mich kurz. Das ist auch mein Geschmack. Es liegt in Ihrem Interesse, daß ich Sie bitte, Ihre Beziehungen zu Herrn Hans Steinherr ohne weiteres abzubrechen.«

»Verehrtes Fräulein«, lachte Bettina und zuckte die Achseln, »die Rolle der verlassenen Ariadne, in der Sie sich gefallen, ist einfach lächerlich.«

»Es freut mich, daß Sie das Kolorit dieser Rolle richtig taxieren, obwohl ich nicht viel mit ihr zu tun habe. Ich reise morgen nach München und singe in acht Tagen in Paris. Aber eben Sie, gnädige Frau, möchte ich vor dieser Rolle bewahren.«

»Tragen Sie keine Sorge. Ich qualifiziere mich nicht dazu.«

»Das zu erfahren, läge lediglich in meiner Hand.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Ich frage Sie nur, ob Sie, die Verlobte eines hohen Herrn, die Beziehungen zu meinem Jugendfreunde lösen wollen oder nicht.«

»Und wenn ich Ihnen jegliche Antwort darauf verweigerte?«

»Soll ich das als Antwort auslegen?«

»Es steht in Ihrem Belieben.«

»So zwingen Sie mich, auf der Stelle zum Prinzen Georg hinzufahren und ihm den Inhalt dieser Unterredung mitzuteilen. Entscheiden Sie sich!«

Bettina war erblaßt. Ihre Brust hob und senkte sich tief, und die langen Wimpern zitterten über ihren Augen.

»Wenn Sic durchaus Lust verspüren, sich selbst mit diesem Schritt zu kompromittieren – –. Sie verstehen, mich wohl. Übrigens wird man Sie nicht empfangen.«

»Man wird mich empfangen. Ich bin meiner Kunst dankbar, daß sie mir alle Türen öffnet. Und vor einer Kompromittierung fürchte ich mich nicht. Das ist mir die Freundschaft schon wert.«

Die beiden Frauen sahen sich fest in die Augen. Dann sagte Bettina mit einer starken Willensanstrengung: »Ihr glühendes Eintreten stellt mir den Preis so verlockend vor, daß ich Lust habe, freiwillig dem Prinzen abzusagen und Herrn Doktor Steinherrs Werbung heute noch anzunehmen.«

»Das kommt zu spät, gnädige Frau.«

»Mein Fräulein, ich muß mir jetzt jeden weiteren Einspruch verbitten.«

»Gestern hätten Sie noch ein Recht dazu gehabt, heute nicht mehr. Ich lasse Hans nicht unglücklich machen.«

»Unglücklich? Wenn ich ihn heirate? Das ist zum wenigsten originell.«

»Hans würde über die gestrige furchtbare Enttäuschung nie hinwegkommen. Er würde nie das Vertrauen zurückgewinnen und an den quälenden Gedanken zu Grunde gehen.«

»In Ihnen aber, nicht wahr, in Ihnen würde er die rechte Gefährtin finden. Nun, ich bin nicht seelengroß genug, um Ihnen den erwählten Gatten abzutreten. Mein Entschluß ist jetzt gefaßt.«

»Gnädige Frau«, begann Hannes, und ihr stolzer Mädchenkörper reckte sich hoch auf. Über ihrem Gesicht lag eine finstere Ruhe. »Gnädige Frau, ich habe bis jetzt nicht von mir gesprochen, aber wenn Sie mich zwingen, werde ich von mir sprechen.«

»Ah – das klingt wie eine Drohung …«

»Und es ist eine Drohung. Sehen Sie mich an. Wir sind zwei Frauen, und keiner hört uns. In der Stunde der Gefahr soll keine falsche Scham zwischen uns stehen. Sehen Sie mich an. Sie sind schön und üben Ihren Einfluß auf die Männer; und ich –« eine dunkle Röte flog über ihre Stirn, aber in ihren Augen blieb das stahlharte Leuchten – »ich traue mir zu, es mit ihnen aufzunehmen. Kein Mann hat mich je berührt, mit Ausnahme Hans Steinherrs, als er noch ein halber Knabe war. Das fällt mit in die Wagschale. Wagen Sie es, von seiner Stimmung Gebrauch zu machen, wagen Sie es, ihn für immer an sich zu ketten und damit sein Leben zu zerstören, nachdem Sie seinen Glauben schon zerstört haben! Selbst dann werde ich meine mädchenhafte Scheu überwinden, und ich werde schöner sein und treuer sein als Sie, und ich werde länger jung bleiben um seinetwillen! Wagen Sie den Kampf? Ich werde ihn mit der Heimatsstimme rufen und dem Ton der alten Erinnerungen. Für sein Glück soll mir kein Opfer zu schwer sein, und der Herrgott wird es mir verzeihen.«

Frau Bettina starrte das Mädchen an. Das war kein Ausbruch verwundeter Eitelkeit, das war die hinreißende Frauenreinheit, die alles darf, und die durch nichts befleckt wird. Und mit einem Male kam sie sich alt und müde vor neben dem jungen, zu jedem Kampf entschlossenen Geschöpf.

»Gehen Sie, gehen Sie!« murmelte sie und drückte die Hand vor die Augen.

Da trat Hannes auf sie zu und zog Frau Bettinas Hände herab. »Ich bin, als ich eintrat, Ihrem Händedruck ausgewichen, gnädige Frau. Lassen Sie mich jetzt Ihre Hände drücken.«

»Ich weiß nicht, womit Sie es mir angetan haben«, stammelte die Frau. »Sie – Sie haben den gläubigen Mut …« Und plötzlich, dem Impuls des Weibes folgend, schlang sie den Arm um Hannes und sah ihr leidenschaftlich in das ernste und doch so jugendstrahlende Gesicht.

»Leben Sie wohl, Sie glückliche Natur! Ihr Hans soll nie wieder von mir hören. Nur drei Abschiedszeilen zum Adieu.«

Mein Hans – dachte Hannes mit einem wehmütigen Lächeln. Aber sie behielt tapfer ihre Haltung bei, und ruhig Und gefaßt schieden die Frauen voneinander. – –

Im Hotel ließ sie Springe auf ihr Zimmer bitten. Sie nickte dem aufgeregt Hereinstürmenden zu.

»Hans wird nicht über Bord gehen. Die Gefahr ist vorbei.«


Als Springe am Nachmittag den Freund aufsuchte, fand er ihn am Schreibtisch sitzend. Stumm wies Hans Steinherr auf ein Blatt Papier. Bettina schrieb ihm, daß sie noch am selben Abend zu Verwandten ihres Verlobten abreise, ihn aber um seine Verzeihung bitte.

»Komm mit nach Düsseldorf!« sagte Springe ernst. »Du bist es dir und du bist es auch der Mutter schuldig. Die Heimat wird dich gesund machen.«

»Ich glaube an kein Gesundwerden mehr, Heinrich. Ich habe meine Wurzeln eigenhändig zerstört.«

Aber er ließ sich leicht überreden, er war müde und hatte eine traurige Sehnsucht. –

Hannes war nach München abgereist. Er hatte ihre Grüße empfangen und sie selbst nicht gesehen. Sie schien vor ihm geflohen zu sein, und das schmerzte ihn tiefer, als er es Springe wissen ließ.

In den ersten Märztagen fuhr Hans Steinherr an der Seite Heinrich von Springes durch Hannover, Westfalen und das niederrheinische Land. In sich versunken blickte er auf die Lichter Düsseldorfs, die sich rasch näherten. Er kam nicht als Sieger, aber er kam.

Die Heimat hatte ihren erkrankten Sohn zurückgefordert.

*


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