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9.

Der erste Tag im Mai!

Wieder war Düsseldorf, das glücklich gelegene, den anderen Städten im Reich um reichlich vierzehn Tage vorausgeeilt, im Hofgarten rauschten die vollbelaubten Kronen der Bäume, das Gesträuch war mit Blüten übersät, und der Flieder duftete über die ganze Stadt.

Seit einer Woche hatte in der Immermannstraße Hannes Einkehr gehalten.

Sie hatte eine anstrengende Tournee hinter sich, aber sie fühlte sich, wie sie lachend versicherte, trotz alledem elastisch wie eine Haselgerte und gedächte sich nur deswegen sechs Monate auf die faule Seite zu legen, um den nötigen Vorrat an Düsseldorfer Luft zu sammeln.

»Man muß doch zuletzt wissen, wo man ›zuständig‹ ist«, erklärte sie Heinrich Springe, »wenn man nicht ganz verzigeunern will. Und das Zigeunertum – ach Gott, das ist eine schöne Lüge.«

»Du, Mädel, so schlau wie du ist nun auch der Hans. Ganz still und beschaulich …«

»Er gefällt mir nicht«, sagte sie, »ich wollt', er schlüge Skandal.«

»Na, hör mal, so was von Radaulustigkeit – –! Du wirst wohl noch nach Oberkassel tanzen gehen?«

»Dem Hans tät's vielleicht gut. Es riss' ihn aus seiner Beschaulichkeit.«

»Aber Kind, gerade über die Beschaulichkeit sind wir ja so herzensfroh!«

»Ihr seid liebe Menschen«, sagte sie und lehnte sich an seinen Arm, »ihr denkt nur Gutes und Gesundes, weil ihr selbst gut und gesund seid.« Sie sah zu ihm auf, ohne sich an seiner Schulter zu rühren. »Wißt ihr denn, was es mit dieser stillen Beschaulichkeit von Hans auf sich hat? Ach, Onkel Springe, ich habe es gleich gewußt. Er beschaut seine Wunden.«

»Hannes!« rief Springe erschrocken und zog das Mädchen mit einem Ruck an sich, »Hannes, das willst du gleich gewußt haben? Herrgott, sollten wir denn wirklich blind gewesen sein? Und du – du meinst – du hätt'st recht?«

Sie sah ihn noch immer an und nickte mit traurigen Augen.

»Es ist so, Onkel Springe. Wundert es dich, daß ich dafür ein feineres Verständnis habe als ihr?«

Auf die Frage war Springe nicht vorbereitet, und er fand kein Wort der Entgegnung. Aber sein gerades, ehrliches Herz erkannte die gleichgesinnte Natur und schwoll empor bei diesem offenen Eingeständnis.

»Mädel, Mädel«, brachte er nur heraus und fuhr ihr mit breiter Hand über Haar und Gesicht, »was bist du für ein Mädel!«

Das war nicht geistreich, das empfand er selbst. Aber für ihn gab es in diesem Augenblick alles wieder, und für sie auch; und das war ihnen beiden die Hauptsache.

»Was fang' ich nur an, um ihn aus dieser verdammten Beschaulichkeit wieder 'raus zu kriegen, Hannes? Ich schäm' mich ja zu Tod'. Beinah – beinah – na, muß ich's sagen? Beinah wie in Berlin, Kurfürstendamm: und Heinrich Springe ging hinaus und weinte bitterlich, weil er sich aus einem finsteren Cato in einen Pudel verwandelt hatte, der vor zwei schönen Frauenaugen hübsch Apport machte. O Gott, o Gott, Hannes, sag das nur keinem wieder! Wenn ich damals nicht dich gehabt hätte! Wie ein Chirurg gingst du los … Ihr Frauen seid doch die geborenen Ärzte.«

»Du, Onkel –«

»Gut«, sagte Springe und drückte ihr die Hand. »Wenn ich nämlich an die Affaire denke, wird mir immer noch glühheiß. Das brauchte nur Margot zu wissen. Ich läge platt unterm Pantoffel. Also sprechen wir wieder von Hans; schon, damit ich meine Haltung wiederfinde.«

»Onkel«, sagte das Mädchen nachdenklich, »ich glaube, ihr drückt ihn zu sehr mit eurer Liebe. Da kommt er sich vor wie ein Invalide, wie ein Almosenempfänger. Mit solchen Kranken muß man sich frisch-fröhlich herumzanken, ihren Widerspruchsgeist wecken. Der Mensch fühlt sich nie gesünder, als wenn er widersprechen kann. Das steigert sein Selbstgefühl und macht ihn trotzig.«

»Ob Trotz gerade die richtige Tugend ist – –?«

»O, du unkluger Mann! Trotz gibt nach, und dann ist der Trotzige der Gebende. Aber Resignation, die nachgibt, bleibt die Empfangende. Das verträgt kein Mann auf die Dauer an sich selbst.«

»Sag mal, Kind, ich hoffe, diese Weisheit hast du nur aus deinen Arien.«

»Sie ist mir über Nacht gekommen, seit ich Hans gesehen habe.«

»Und was soll ich tun? Jetzt stehe ich blind zu deiner Verfügung.«

»Suche ihn zu zerstreuen, bring ihn unter Männer, rede mit ihm über Dinge, die ihm am Herzen liegen, über Kunst, über Literatur, und zeig dich unwissend, dreist oder ungeschickt, damit seine Empörung wach wird, seine Verteidigungslust; damit er ins Feuer gerät. Ach, Onkel, wenn ich könnte, wie ich wollte –«

»So will doch, Kindchen! Du nähmst mir da wirklich ein Kommissiönchen ab.«

Sie schüttelte den Kopf, und auf ihrer Stirn grub sich die Falte, die sie als Kind so oft gezeigt hatte.

»Ich kann mich doch nicht wegwerfen«, murmelte sie. »So was tut man wohl in der Stunde der Gefahr, aber doch nicht aus freien Stücken. Das säh' ja aus, als ob ich Sonderinteressen dabei verfolgte.«

»Wenn du ihn lieb hast …« fragte Springe unsicher.

»Weil ich ihn lieb habe, weil, weil! Er soll gesund werden, nicht ich. Ich – ich bin's ja.«

»Das weiß Gott!« sagte Springe herzlich. »Und jetzt versteh' ich dich auch ganz. Seinen Stolz willst du.«

»Ja«, sagte sie leise, mit einem versonnenen Lächeln, und sie hatte nasse Wimpern.

»Ich werde es einmal mit Herrn Friedrich Leopolds Rezept versuchen«, entschied Heinrich Springe. »Der Wein erfreut des Menschen Herz, und heute, am ersten Mai, fließt im ›Malkasten‹ die allgemeine Maibowle. Da kommen die Malmännlein aus Höhlen und Klüften, Hunderte an der Zahl. Und viele – ach, wie viele! – waren beim Barbarossa im Berg und haben geschlafen, die Zipfelmütze über beide Ohren, einen gottgesegneten Schlaf. Da verwandelte sich der Pinsel in ihrer Hand zum Weißquast, und die heilige Ölfarbe zur unheiligen Tünche. Aber ein Geschwätz machen sie, ein Geschwätz, sag' ich dir, daß den umsitzenden Künstlern graut. Hans soll es mitmachen!« – –

Hans Steinherr war in der letzten Woche nur zweimal in Burg Springe als Gast erschienen. An dem Tage, an dem die Familie Hannes feierlich am Bahnhof eingeholt hatte, war er erst zur Abendstunde gekommen.

Im Besuchsanzug, einen Strauß Flieder in der Hand, war er ins Atelier eingetreten, in dem das Mädchen vor einem neuen Werke Springes, einem schlummernden Parkteich, überwacht von dichtgedrängten, blühenden Kastanien, stand.

Als sie seinen Schritt vernahm, wandte sie sich um.

»Guten Tag, Herr Hans. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«

Und er hatte auf das schöne, in sich gefestigte Geschöpf hingestarrt, und als er die Lippen bewegte, um zu erwidern, spürte er, daß in ihm etwas zerrissen war, in diesem Augenblick.

»Hannes, Fräulein Hannes …« sagte er mit Anstrengung, und dann bot er ihr zögernd die Hand, die die Blumen hielt, und sie nahm die Blumen und nahm seine Hand.

»Wie aufmerksam von Ihnen! Haben Sie herzlichen Dank!«

»Sie sind aus dem Garten draußen«, sagte er, um nur seine Stimme zu hören. »Der Frühling kam zeitig dies Jahr.«

Sie nickte und vergrub ihr Gesicht in den Strauß. Der herbe Zug um seinen Mund tat ihr weh.

Dann sprachen sie von ihren Reisen. Ganz so wie Menschen, die sich auf einer Station getroffen haben und plaudern, um die Zeit hinzubringen. Und doch achtete und wartete sie auf nichts anderes als auf ein Wort, das den alten Hans verraten würde, und alles, was er sprach, ging an ihrem Ohr vorüber, eilig, schnell zerflatternd, damit sie die Aufnahmefähigkeit behielte für das, was doch kommen mußte.

Aber es kam nicht. Der Mann, der vor ihr saß, war nicht mehr kindergläubig genug, um durch den Schleier hindurch in ihrer Seele zu lesen. Er sah nur die Zerstreutheit, mit der sie ihm zuhörte und antwortete, und sein unruhiges Gewissen gab ihm ein, daß es ihr peinlich sein müßte, dem Manne höflich und freundlich gegenüber zu sitzen, den sie als Mädchen geküßt hatte.

Einmal dachte er daran, die Vergangenheit zu berühren und sie um Verzeihung zu bitten. Aber angesichts dieser vornehm stillen Erscheinung, deren selbstsichere Haltung keinen Schluß mehr auf das wilde, zärtliche Gemüt des einstigen Hannes zuließ, schien ihm seine Anwandlung anmaßend und kindisch. Die Kinderzeit, in der ein einziges »Sei wieder gut!« die Schranken wegräumte, war nicht mehr. Hier hieß es nicht, reden, hier hieß es, zeigen. Und er hatte nur einen Bankrott aufzuweisen gegen ihre Reichtümer. Einen solchen Handel machte er nicht. Er war kein Betrüger.

So lief die Stunde ab, und das Ergebnis war der Wunsch auf ferneres Wohlergehen. Dann saß sie wieder vor dem Bild mit dem schlummernden Parkteich und den blühenden Kastanien, aber sie saß mit geschlossenen Augen.

Im Nebenzimmer begrüßte Hans seine Mutter. Hannes hörte, wie er bat, ihn zum Abendessen zu entschuldigen, und wie Frau Margot ihm doch abschmeichelte, daß er blieb. Dann saßen sie miteinander bei Tisch, und Großvater Springe war aufgeräumter denn je, und seine unbesiegbare Laune holte sich auch heute den Triumph, die Tischgesellschaft zu erheitern und die gewonnene Stimmung durchzuhalten. Später bestürmte Frau Margot Hannes um ein Lied, um ein ganz kleines nur. Aber als sie nachgeben wollte, obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war, sah sie, daß Hans geräuschlos das Zimmer verließ. Da versprach sie für morgen so viel Lieder, als man zu hören wünschte, nur heute möchte sie sich schonen.

Auch Heinrich Springe hatte das stille Verschwinden des Freundes wahrgenommen und war ihm gefolgt. Als er zurückkam, teilte er mit, daß Hans nicht durch Abschiednehmen habe stören wollen. Der Junge fühle sich heute nicht recht wohl, habe aber ebenfalls für morgen alles mögliche versprochen. Und die beiden Springes, Frau Margot und selbst Frau Stahl nahmen das mit unschuldigem Herzen als ein gutes Zeichen und tauschten, heimlich sich zunickend, strahlende Blicke miteinander aus.

Hans aber war nach Hause zurückgekehrt und saß die Frühlingsnacht hindurch in der Laube und hörte nicht die Stimmen des Frühlings und hörte nur die Stimmen der Nacht.

Das ist nun vorüber, alter Junge …

Was ist vorüber? fragte er sich mit bewußter Selbstironie.

Und er fuhr fort, sich Rede und Antwort zu stehen und den Sarkasmus wider sich selbst zu kehren.

Was vorüber ist? Nun, was denn sonst als das Wiedersehen? Oder hattest du dir gar etwas anderes gedacht, als du hingingst? Ja, mein lieber, eingebildeter Mensch, wenn du noch solche Träume spinnen konntest, wirst du jetzt belehrt sein, daß das, was du meintest, längst, längst schon vorüber ist.

Sie ist schön, nicht wahr? Wie die goldrote Haarwelle auf ihrem feinen Knabenköpfchen ruht, als wollte sie locken: Löse mich. Dich brenne ich nicht. Wenn du mich über dein Gesicht legst, will ich dich kühlen …

Sie ist ein Märchen, gab er zur Antwort. Hast du vergessen, daß alle Märchen beginnen: Es war einmal …?

Und wenn das Märchen dennoch Leben gewinnt und die Augen aufschlägt?

Ach, du armer Phantast, die Augen werden an dir vorübergehen. Schau dich an. Sieht so ein Märchenprinz aus? Überbleibsel bringt man nicht auf eine Königstafel, und gierige Bettler werden im Hofe abgefertigt.

Ich bin kein Bettler! brauste es ihm durch den Kopf. Ist es mir denn in den Sinn gekommen, zu betteln? Bin ich so weit herunter, daß ich auf Freibeuterei ausgehe? O nein, mein guter Hans, o nein, so viel Anstand hast du doch noch in den Knochen, um dich nicht wehleidig aufzudrängen und um Gottes Barmherzigkeit willen ein Almosen zu verlangen. Um zu erklären: Jetzt, du schöne, lachende Frau, wo es dir geglückt ist und mir nicht, passen wir besser zusammen. O nein, ich bin kein Bettler. Ich weiß sehr gut, was ich bin, und mache mir keine Illusionen.

Seine Lippen legten sich fest aufeinander, und je fester sie sich schlossen, desto heller wurde sein Auge, in dem das alte Erbgut der Kinder dieses Landes glänzte und schimmerte: der Spott, der selbst mit dem Tiefstand des Lebens noch um ein Lachen trotzt.

Und er zog die Bilanz der letzten Wochen, der Zeit, die er wieder in der Heimat zugebracht hatte, und verglich die Kredit- und Debetseite. Wieder und wieder hatte er sich aufgerafft, wie nur ein Mann es kann, und war hinausgegangen in die Fabrik, um sein Interesse mit zäher Energie zu zwingen. Aber was half all sein Wollen? So zappelt auch ein Fisch auf dem trockenen Land. Das Element, in dem er sich befand, war nicht das seine, ihm fehlte die kaufmännische Gabe und das technische Verständnis.

Dann hatte er es im stillen mit der Kunst versucht. Die Muse zwar war nicht zu beleben, denn jede Gefühlsäußerung erschien ihm wie ein Hohn, und künstlerische Formspielereien waren ihm verhaßt. Aber durch die Kunstausstellungen war er gewandert und durch die Ateliers, und er hatte sich einen Überblick verschafft über den Stand der vaterstädtischen Kunst, über den neuen, urwüchsigen Heimatstrieb und über den alten Zopf. Das war ein Gebiet, das er beherrschte, und hierfür gedachte er zu schaffen.

Sobald er jedoch vor dem Stoß weißen Papieres saß, befiel ihn wieder der Gedanke an den Unwert all seines Tuns. Weshalb denn nur etwas leisten wollen? Für wen denn? Für das Streicheln einer lieben Hand. Für das Leuchten zweier Augen. Das hätte sich gelohnt, das hätte gefördert. Aber für das bißchen Ehrgeiz oder, wenn es hoch kam, für das Kerzenstümpfchen Idealismus? – Und die Freude, die ihm auf Sekundenlänge über die Schulter geguckt hatte, war entflohen – –.

Das also, schloß er, ist das Resultat! Daß es etwas minimal ist, kann ich nicht verneinen.

So verging die Frühlingsnacht.

In den nächsten Tagen sah er Hannes wieder, plauderte mit ihr, bis er merkte, daß er mitten im Satz verstummt war und sie seit Minuten anstarrte, und sich schnell empfahl, um der Selbstquälerei ein Ende zu machen. –

Als am Abend des ersten Mai Heinrich Springe bei ihm erschien, packte ihn die Angst, der Freund käme, um ihn zu einem Familienabend zu holen. Umso hastiger ging er auf den Vorschlag ein, der Maibowle des ›Malkastens‹ beizuwohnen. Er wurde sogar ordentlich aufgeräumt, und Heinrich Springe dachte erstaunt und beschämt zugleich: Das Sakramentsmädel, der Hannes, hat doch mal wieder recht behalten. Er gehört unter trinkfeste Männer. –

Im ›Malkasten‹ war es gedrängt voll. Hunderte von Künstlern und Kunstfreunden waren in den weiten Räumen untergebracht, aber sie mußten dicht zusammenrücken, denn das Fähnlein der Durstigen war in der Rheinstadt schon an Abenden ohne tiefere Bedeutung nicht klein. Eine Schicht blauen Zigarrendampfes schwamm wie ein Nebel über der Festversammlung und gab dem Bilde das Kolorit eines alten niederländischen Gemäldes.

»Teniers oder Höllenbreughel?« fragte Springe lachend seinen Begleiter, während er sich durch das Labyrinth der Tische einen Weg bahnte. »Was? Das nennt sich doch noch gesunde Kneipenluft! Und dieser göttliche Radau! Hier kommt's nicht drauf an, was man sagt, sondern daß man es möglichst laut sagt. Stimmenschwerheit entscheidet! Achtung, der Pitter hat's Wort! Hier – hier ist noch Platz.«

An einem mächtigen, runden Ecktisch hatten sie Unterkunft gefunden. Man bat um Ruhe. Man klopfte ganz energisch auf die Tischplatten. Dann ebbte das Stimmengewirr ab wie eine lange, chromatische Tonleiter.

»Der ›Pitter‹, ein weißhaariger, unverwüstlicher Maler der älteren Generation, stand neben dem Klavier und strich mit überlegener Miene den weißen Knebelbart. Er hatte als Maler und Mensch warten gelernt. Plötzlich erfaßte er den ersten Moment der Ruhe. Wie eine Fanfare drängte sich sein schmetterndes Organ in die Pause hinein und füllte den Luftraum mit einer Vehemenz, daß kein fremder Hauch neben ihm noch Platz zu finden vermocht hätte. Pitter hatte das Wort. Daran war nicht mehr zu rütteln. Und er gab es von sich, als sänge er Samuels Fluch über König Saul.

»Auch eine Auffassung«, nickte Springe zustimmend. »Das Schwermutslied von der ›Krone im Rhein‹ durchweg auf forte gesungen. Is mal was Neues.«

Dann sorgte er, daß aus dem riesigen Wandbassin, in dem das Meer der Bowle floß, auch ihnen der Humpen häufiger gefüllt werde. Ernste Männer traten von Zeit zu Zeit an den köstlichen Quell, prüften den Pegelstand des Inhalts und besprachen in geheimnisvollem Flüsterton die Zufuhr an Mosel- und Sektflaschen. Dann feierten die Humpen auf den Tischen, und es war dürre Zeit im Land, bis die Auserwählten geprüft und wieder geprüft hatten und sich der schweigende Ernst ihrer Mienen in die strahlend aufsteigende Sonne der Zufriedenheit wandelte.

Der Geist der Töne bedrängte heute viele im ›Malkasten‹. Von Viertelstunde zu Viertelstunde erhob sich ein neuer Sänger, begehrte stürmisch die allgemeine Aufmerksamkeit, lächelte und begann. Man sang Getragenes und man sang Kitzliges, letzteres aber, der guten Sitte wegen, im Düsseldorfer Dialekt; und man sang endlich im Chor aus den »hundert allerschönsten Volksliedern für einen Silbergroschen« manch ein artig Stückchen.

Springe amüsierte sich herrlich. »Jeder Kerl hier«, behauptete er, »ist ein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Sein Genre könnt ihr am Singen erkennen. Der Landschafter singt urwüchsig, der Schlachtenmaler mit edlem Feuer, der biblische Historienmaler mit schönem nasalen Ton, der Genremaler mit neckischen Koloraturen, der Porträtist möglichst korrekt und der Tiermaler grunzt. Das gehört zum Metier.«

Sofort wurde am Tisch widersprochen. Nicht aus Gekränktheit, aus der bloßen Lust des Rheinländers am Opponieren. Und ehe drei gezählt werden konnte, lag das längst erwartete Thema, die alte und die neue Kunst, auf der Tischplatte wie ein Vivisektionstier, und jeder schnitt lustig mit seinem Messer darin herum.

Hans Steinherr hatte kaum ein Wort gesprochen. Er hörte auch nur mit halbem Ohre hin. Was ihm auffiel, war, daß er unter den Hunderten von Köpfen keinen einzigen zurechtgemachten Künstlerkopf fand, keine Samtjackengenialität, keinen Satanisten, keinen Melancholiker. Eher noch einen gemütlichen Biedermeier aus der Hasencleverzeit. Aber den meisten war ein festererbter, knorriger Zug zu eigen, der Vertrauen weckte und Vertrauen gab, trotz der Spottsucht um den Mund.

Das ist die Gesundheit, sagte sich Hans Steinherr; Ungesundes wird hier abgestoßen wie ein tote Zelle im Gewebe.

In dem Stimmengewirr am Tisch war das Wort »modern« gefallen. Und Heinrich Springes Stimme erscholl: »Also 'raus mit der Sprache! Haltet ihr mich für modern oder nicht?«

»Aber natürlich! Wenn Sie nicht, wen denn?«

»Soo? Das möcht' ich mir denn doch ergebenst verbeten haben. Sie glauben wohl wunder was für eine Schmeichelei Sie mir gegenüber da losgeworden sind. Nee, meine Herren. Ich male meinen Stiebel nach meiner Art; wie, das ist Nebensache; mit welchen technischen und Anschauungsmitteln, das besagt nichts; die Hauptsache ist: ist das Bild gut?! Gut, meine Herren, gut! Da liegt der Hase im Pfeffer. Und ich sage Ihnen: das ist und bleibt der ideale Hase! Prost, ihr Herren!«

»Prosit! Prosit! Springe hoch! Springe soll eine Rede halten! Si-len-ti-um!!«

»Soll ich den Kerls mal den Kopf waschen?« fragte Heinrich Springe lachend Hans. Er hoffte heimlich, auch den Freund aus seiner Lethargie aufzurütteln, und er ließ sich bewegen und erhob sich. Er sprach nur für den dichtgefüllten, mächtigen runden Ecktisch, der jetzt auch von den Nebentischen belagert wurde.

»Ihr wißt«, begann er, »ich bin ein Feind jedes akademischen Zopfes; aber der schwache Mensch kann auch in das Extrem verfallen, und auch das mißbillige ich. Der Künstler, ob Anhänger der alten oder neuen Kunst, muß seine Ideale haben, das erst gibt seiner Kunst die Weihe. Das Wort ›Ideal‹ steht heute ziemlich tief im Kurs. Es ist nicht ›modern‹. Und damit ist ihm von den vielen, die da vorgeben, die beste Gesellschaft auf allen Gebieten des Lebens, der Künste, der Wissenschaften, mit einem Wort, der herrschenden Mode zu repräsentieren, der Stab gebrochen. Ideale! Was unserer Zeit mehr als je das Gepräge gibt, ist der unbändige Geschäftssinn, der nach allen Dingen des Tages seine Fühler streckt und als Ausgleich das leichte Amüsement für die mißhandelten Nerven beansprucht, wenn nicht eine besondere Sensation. Der ›Geschäftssinn‹, bewußt oder unbewußt, ist der Totschläger des Ideals. Unbewußt bei den vielen Tausenden, die blind den Hammelsprung als Herde mitmachen, aus Furcht, der ›Mode‹ nicht zu genügen. Bedauernswerte Menschen, denen ein neuer Gewandschneider mehr zu sagen hat als alle Weisheit einer großen Überlieferung.«

»Der Gewandschneider dominiert. Nicht allein in der Kleidung. Seine Doppelgänger bearbeiten das Gebiet der Kunst, des gesellschaftlichen Lebens; sie bestimmen das Niveau des Geisteslebens. Der Charlatanismus hat hohe Zeit und schießt üppig ins Kraut. Heute heißt es, um jeden Preis originell sein! Ist originell gleichbedeutend mit individuell, soll ihm Lob und Preis gesungen werden. An solchen Charakteren kann ein Volk nie wohlhabend genug sein, denn sie geben ihm den Stempel der Kraft und Ursprünglichkeit. Aber welch traurige Konterbande wird mit diesen Begriffen getrieben! Spekulative Köpfe haben einen billigen Ersatz gefunden. Um aus der Allgemeinheit emporzutauchen, wird irgend eine ›neue Richtung‹ ausgerufen, je kühner und extravaganter, desto besser. Schwarz wird für Weiß ausgegeben, eckig und kantig für allein bequem, unsinniges Gestammel für Offenbarung, Frivolität für den Gipfel des feinen Menschentums und der Tingeltangel für die letzte und schönste Blüte der dramatischen Kunst. Edle Dreistigkeit hat immer noch suggestiv gewirkt, zumal im lieben deutschen Vaterland.«

»Aber, ihr Herren, ohne die Pflege seiner altüberlieferten Ideale, an die sich harmonisch die neuen knüpfen, ist eine wurzelechte Entwicklung eines Volkslebens nicht denkbar. Und diese Pflege bedingt Tiefe des Gemüts und Ernst der Gesinnung, just die Erscheinungen, durch deren starkes Vorhandensein der Deutsche sich in allen Zeiten vor den Nationen auszeichnete, die seiner Gesamtheit den Namen des ›Volkes der Denker‹ gaben. Aller tüftelnder Geistreichtum, der heute so vielfach mit Worten und Dingen spielt, um die eigene Persönlichkeit modisch in griechisches Feuer zu setzen, erhält diesen hohen Sinn im Volkstum nimmer wach. Und aller Spott, alle Ironie, mit der man die tiefreichenden Volksanschauungen heute vielerorts in Literatur, den bildenden Künsten und dem Leben zu Gunsten eines Witzes lächerlich zu machen trachtet, wird den Parteigängern im letzten Grunde selbst zum Schaden gereichen. »Die Mode ist vergänglich, das Ideal unsterblich. Aber daß es nicht für eine ganze Zeitspanne verstümmelt und einer aufblühenden Generation entzogen werde, dafür, ihr Herren, ist ernstlich Sorge zu tragen. Die Ideale im Volksleben sind die Wurzeln eines kraftvoll vorwärtsstrebenden, in sich gefestigten Staatswesens. Sie sind die Stützen zur Macht. Sie schaffen den Glauben an eine große Vergangenheit und die Hoffnung auf eine große Zukunft. Nehmt einer Nation ihre Ideale, und ihr zeigt ihr den Weg zur Internationalität. Der Kunst aber liegt es vor allem ob, die Hüterin der Volksschätze zu sein, sie zu hegen und zu pflegen, damit sie einst in der Stunde, in der das Vaterland an die Ideale appeliert, nicht an ausschlaggebendem Wert eingebüßt haben. Eine deutsche Seele muß unsere Kunst in sich tragen, und sie muß in den Werken unserer Künstler zum sieghaften Ausdruck gelangen, soll sie frei und individuell neben der ausländischen bestehen und dermaleinst in der Kunstgeschichte als Epoche bezeichnet werden. Daran laßt uns in Düsseldorf festhalten, und wir werden die Düsseldorfer Kunst wieder an der Spitze marschieren sehen trotz aller französierender Mantelträger da draußen. Ihr Herren? In diesem Sinne trinke ich auf die Stadt Düsseldorf!«

Das war Heinrich von Springes Maienrede.

Er hob seinen Bowlenhumpen und trank ihn bis zur Nagelprobe aus.

Und die Alten und die Jungen drängten sich um ihn herum. Man stieß mit ihm an, man schüttelte ihm die Hand, man sprach auf ihn ein und klopfte ihm auf die Schulter. Doch als er sich nach Hans Steinherr umwandte, sah er gerade noch, wie dieser still den Saal verließ.

Da stellte auch Springe sein Glas hin, holte seinen Hut aus der Garderobe, und als er auf der Straße stand und den Freund zwischen den Bäumen des Hofgartens verschwinden sah, folgte er ihm aus der Ferne. –

Hans Steinherr gedachte einen Abschiedsgang zu tun.

Während er den einstigen Mentor im ›Malkasten‹ reden hörte und alle Glocken des Lebens um ihn läuteten, fühlte er sich einsamer und überflüssiger denn je. Seine Ideale lagen zertrümmert, und dem Menschenkind, das allein ihm hätte aufbauen helfen können, hatte er einst selbst die Wege gewiesen.

Schluß der Tragikomödie! tönte es in ihm – Vorhang nieder, bevor du an Altersschwäche eingehst! Sei ein Mann!

Und während um ihn herum das lachende Leben mächtiger erbrauste, hatte Hans Steinherr ruhig und schweigend seinen Tod beschlossen.

Der volle Mond stand über dem Hofgarten, den Steinherr langsam durchwanderte. Wie Silber rieselte es an den grünen Zweigen und Stämmen herab. Die ganze Landschaft lag in Silber und Grün. Links ihm zur Seite murmelte der glitzernde Düsselbach, und durch das frühlingsprangende Gebüsch blinkten die weißen Teiche, auf denen träumende Schwäne stille Bahnen zogen. Der Zauber der Romantik lag ausgebreitet über dem Kleinod des Niederrheins.

Und weiter wanderte er, bis er durch die Nacht die Wogen des Rheinstroms klingen hörte und die rastlos drängenden Wassermassen sah. Er schaute den Strom hinab und hinauf, und wieder hinauf und hinab. Mit einem langen, dankbaren Blick. Dann wandte er sich zur Stadt zurück und schritt, am Hohenzollernschloß, dem Jägerhof, vorbei, die Pempelforterstraße entlang.

Da lag das kleine, baufällige Haus, in dem Hannes ihre Jugend verbracht hatte, in dem er das junge, sonst so trotzige Geschöpf zum ersten Male in seiner süßen Weichheit unter Rosen gesehen hatte. Unter seinen Rosen. Er entsann sich ganz genau, wie er die Blumen selbst am frühen Morgen im Garten abgeschnitten hatte. Die Rosen aber, die sie jetzt schmückten, waren nicht mehr die seinen, und das alte Haus wurde nun abgerissen.

Er konnte nicht anders, er nahm den Hut ab, wie zum Gebet. Seine Augen lagen tief eingesunken und erloschen in ihren Höhlen.

Als er sich endlich losriß, sah er einen Menschen neben sich stehen.

Es war Springe.

Wortlos standen sich die beiden Männer gegenüber. Dann nahm der Ältere sanft den Arm des Jüngeren.

»Komm nach Hause, Hans!«

»Ich bin auf dem Wege.«

»War der Umweg so dringend nötig?«

»Ja, Alter, er war nötig.«

»Hans«, sagte der andere und faßte ihn unwillkürlich fester am Arm, »du hast mir noch nie so schlecht gefallen wie in dieser Mondbeleuchtung.«

»Das wird sich bis morgen geändert haben.«

»Rede nicht so delphisch. Ohne Grund hast du nicht gerade diese Route zum Nachhausegehen gewählt. Du führst etwas im Sinne. Das – das sah vorhin einem Abschiednehmen ganz verteufelt ähnlich. Hans! Sei offen gegen mich. Du willst uns verlassen, dich treibt es wieder fort …«

»Und wenn es so wäre. Wir hätten alle Ruhe.«

»Ruhe –? Du, schau mich einmal an. Ganz frei, ganz ohne Rückhalt, so, wie du als Junge konntest –«

Und plötzlich durchfuhr es den Mann. Er hatte in diesem stillen, lächelnden Blick etwas gelesen. Er glaubte sich zu täuschen. Er faßte den seltsam ruhigen Freund bei den Schultern und starrte ihm in das weiße Gesicht. Es war kein Zweifel mehr, er hatte Klarheit.

»Hans«, brachte er mühsam hervor, »Hans, das darfst du nicht. So weit sind wir, bei Gott, noch lange nicht! In acht, in vierzehn Tagen bist du gesund, ich garantier' es dir. Aber das darfst du nicht!«

»Was ist denn Großes dabei – bei einer Reise!«

»Lüge nicht, Hans! Du kommst nicht wieder, wenn du reisest; du – du willst dich töten …«

Das Wort war gesprochen, und atemlos wartete Springe auf ein Echo.

»Lieber Heinrich«, sagte Hans Steinherr ernst, »so lieb ich dich habe: in meine letzten Entschlüsse einzudringen oder gar einzugreifen, dazu gebe ich niemand das Recht. Auch dir nicht.«

Heinrich Springe nahm sein Herz in beide Hände. Er zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe, zur kühlen Überlegung. Hier war nur Kaltblütigkeit am Platz.

»Hans«, sagte er, »ich sehe, du entziehst mir dein Vertrauen, obwohl ich nun genug weiß. Aber was hilft mir das Wissen! Über dein Leben habe ich nicht zu verfügen, und wollte ich es doch tun, so würd'st du schon Mittel und Wege genug finden, um dein Vorhaben auszuführen. Nur einen Aufschub verlang' ich.«

»Dies ist die letzte Nacht.«

»Wann hast du es beschlossen?«

»Vor einer Stunde.«

»Vor einer Stunde erst? Und jetzt schon –? Hans, so stehlen sich Kassendefraudanten aus dem Leben oder unreife Knaben. Nicht Männer, die da wissen, daß sie eine Mutter und Freunde zurücklassen. Du wirst noch eine Nacht darüber hinweg gehen lassen, du wirst den Mut bekunden, am hellen, lichten Tag deinem Vorhaben ins Auge zu sehen. Du wirst dich zur Ruhe legen, und wenn du morgen früh aufstehst und du sagst mir: Es bleibt dabei – so will ich gehen und dich nicht mehr hindern. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort, mein heiliges, nie gebrochenes Wort.«

»Es ist zwecklos, aber ich will dir den Wunsch erfüllen. Komm mit! Du kannst mich sogar überwachen.«

Schweigend schritten sie durch die mondbeglänzte Frühlingsnacht, die tausendfältig das Leben gebar.

*


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