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8.

Hans Steinherr war in seinem Knabenzimmer aufgewacht. Es dauerte lange, bis er sich in die Situation, in die Umgebung hinein fand. Er lag in den weichen Kissen, in denen er acht Stunden ununterbrochen und fest geschlafen hatte, und ließ die fragenden Blicke an den Wänden des Zimmers umherwandern, vom Plafond bis zum Fußboden, und vom Fußboden zurück zu der gemalten Decke, die ihm so bekannt erschien.

Langsam wachte das Bewußtsein auf.

Er war zu Hause. – –

Das erste Gefühl, das er empfand, war das Gefühl des Geborgenseins.

Das Gefühl des Kindes, das in dem elterlichen Hause eine uneinnehmbare Festung erblickt.

Und er schloß die Augen und schlief ruhig weiter. Unbesorgt um den Tag.

Dann fuhr er auf.

Ein Gedanke hatte sich in seinen Traum hineingebohrt. Der Gedanke, daß er seine Mutter noch nicht begrüßt hatte.

Er wollte aufspringen und sich ankleiden. Dann zögerte er und blieb.

Ach ja, er würde sie ja nicht im Hause finden. Daß er das vergessen hatte – –.

Dieses Haus gehörte jetzt ihm allein; aber die Mutter – gehörte nicht mehr ihm allein.

Es hatte sich eben vieles verändert, während er in der Fremde gewesen war. Er selbst hatte sich ja auch verändert, weshalb da die anderen nicht? Aber die anderen hatten dadurch gewonnen, und er –?

Die kinderselige Stimmung war verflogen. Er lag ausgestreckt in den Kissen und starrte in das Zimmer wie in ein Unbekanntes. Er bemühte sich, den Zweck der Heimreise zu ergründen, und zwang sich Bettinas Bild vor die Augen. Aber das Bild ließ ihn kalt, zu kalt, um ihn heimgetrieben zu haben. Es mußte ein stärkeres gewesen sein.

Die Heimat selbst? – Es dämmerte in ihm auf, daß er auch mit der Heimat die Fühlung verloren haben würde. Sie wußte nichts von seinem Leben, und er nichts mehr von ihrem. Er war ja allen so fremd geworden, Menschen und Dingen. Und mit bitterem Lächeln gestand er sich: Es wird wieder eine Illusion gewesen sein, der du voreilig nachgegeben hast; eine Illusion, wie so viele schon in deinem Leben.

Er lag ganz still und wartete, ob etwas antworten würde, von außen oder in seinem Innern. Aber er hörte nur die Taschenuhr auf dem Tischchen neben sich ticken, und er sagte sich: Nun, wenigstens die Zeit läuft um.

Stunde auf Stunde verging, und er konnte sich nicht entschließen, aufzustehen. Ihn beherrschte das lastende Empfinden, als habe er nichts, so gar nichts zu versäumen.

Dann vernahm er die Hausuhr, deren glockentiefen Klang er als Knabe so geliebt hatte. Er zählte aufmerksam ihre Schläge nach. Zehn Uhr! Was half's, für heute mußte er nachgeben.

Die Frische, die er beim Erwachen verspürt hatte, war gewichen. Mit müden Bewegungen kleidete er sich an, und als er fertig war, dachte er: Was nun? Er würde sich wohl zunächst zum Frühstückszimmer begeben müssen …

Die Hausverwalterin war eine würdige Matrone. Sie war früher schon im Hause bedienstet gewesen und kannte die Eigenheiten der Familie. Als Hans in das Zimmer eintrat, fand er den Tisch gedeckt, mit Düsseldorfer Bäckereien versehen, Butter und Gelee bereit gestellt und die Kaffeemaschine lustig brodeln. Die Alte mußte an seiner Tür gehorcht haben, um pünktlich zur Minute aufwarten zu können.

Diese kleine, vertrauliche Aufmerksamkeit tat ihm doch wohler, als er es für möglich gehalten hätte. Während er sich niederließ und das Abkühlen des Kaffees abwartete, tönten in ihm feine, zage Stimmchen eines uneingestandenen Behagens. Da lagen auch die Morgenzeitungen, sauber zusammengefaltet, neben seinem Gedeck. Lächelnd griff er danach. Was sollte ihm der Moniteur der Provinzstadt zu sagen haben? Zuerst las er die hohe Politik, Zeile für Zeile, ohne sich viel Neues dabei denken zu können. Aber allmählich wurde das Interesse selbsttätiger, als er über die Lokalereignisse geraten war. Er las im Kunstbericht über eine große Aufführung der Nibelungentrilogie in der Oper, mit den besten Kräften aus aller Welt. Und staunend las er unter der Rubrik »Städtische Angelegenheiten« von den riesigen Projekten, die in der Durchführung begriffen waren, dem gewaltigen Bau einer zweiten, festen Rheinbrücke, der Zuschüttung des alten Sicherheitshafens, den in Angriff genommenen mächtigen Hafen- und Werftanlagen, die in wenigen Jahren beendet sein sollten und das alte Düsseldorf zur stolzen, gleichwertigen Rivalin des hochgemuten Köln machen würden. Zufällig traf in einer Notiz sein Auge die Einwohnerziffer. Die stille Gartenstadt, die Oase am Niederrhein, marschierte rüstig auf die Viertelmillion zu. In weniger als zehn Jahren hatte sie ihre Einwohnerzahl auf das Doppelte vermehrt. Da lag Gesundheit und Fruchtbarkeit im Boden. Das war gesegnetes Land.

Der Kaffee war ihm über dem Studium kalt geworden, aber er schmeckte ihm auch so. Und das Schwarzbrot, dies einzig in der Welt existierende bergisch-märkische Schwarzbrot, und der weiße, lockere »Bauernplatz«! Er aß, als ob er ausgehungert wäre, und hatte doch vor einer halben Stunde nicht den geringsten Appetit verspürt. Schlaf, Appetit – aha, die Heimatsluft meldete sich doch. Und mit der Heimatsluft die Heimatslust. Die Kunde, die er da aus dem Anzeiger schöpfte, von dem Vormarsch Düsseldorfs, von dem Blühen und Wachsen der Stadt, berührte direkt sein vaterstädtisches Herz, das er im Lärm der Metropolen verloren zu haben glaubte, und er murmelte wie ein Alteingesessener: »Hoho, hinter den Bergen wohnen auch noch Leute!«

Was mochte die edle Malkunst angeben? Den großen Worten Hüsgens traute er nicht recht. Aber nun war er ja selbst am Platz und würde sich schon unterrichten. An Zeit fehlte es ihm ja nicht – ah, an Zeit! Und wieder kroch die Beklommenheit heran und legte sich von neuem auf die frischgesproßten Triebe wie ein Rauhreif.

Er nahm Hut und Mantel, ging langsam die Treppen hinab, um die Haushälterin zu begrüßen und die unumgänglichen Anordnungen zu treffen, und benutzte die Hintertür, um einen kurzen Umweg durch den Garten zu machen. Der Gärtner hatte schon vorgearbeitet, Bäume, Büsche und Ranken waren beschnitten und die Wege ausgeharkt und mit bläulich schimmerndem Rheinkies bestreut. Aber die Kahlheit, der Mangel an Farbe und Leben ließ ihn frösteln, die dürre Laube, in der er einst, als die Blätter rauschten, Hannes wiedergesehen hatte, maß er mit großem, erschrockenem Blick, und er eilte, die Straße zu gewinnen.

Viele Leute sah er an den Fenstern und vor den Häusern, und er brauchte sich nicht auf die Namen zu besinnen. Aber es war keiner, der ihn wiedererkannt hätte. Man hatte ihn nicht vermißt und wußte vielleicht nicht einmal mehr, daß der alte Philipp Steinherr einen Sohn besessen hatte. Wodurch auch? Er hatte es ja nicht für nötig befunden, sich in der Erinnerung zu halten, weder durch einen Wunsch, noch durch eine Tat.

Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß man ihn mit Aufmerksamkeit betrachtete, mit einer Aufmerksamkeit, der ein spöttisches Lächeln beigemischt wäre. Er wußte ganz genau, daß er es mit einer Einbildung zu tun hatte, und trotzdem konnte er sich nicht von ihr befreien und wanderte mit niedergeschlagenen Augen durch die Straßen der Vaterstadt wie ein Mensch, der sich eines Unrechts bewußt ist. Den Weg zur Immermannstraße hatte er gedankenlos eingeschlagen, und ebenso gedankenlos blieb er stehen und wunderte sich, daß er sich vor der Wohnung Springes befand.

Wie ein blinder Gaul, der seine alte Tränke wiedererkennt, sagte er sich.

Dann schritt er mit einer Eile hinauf, als käme er dadurch schneller über den Moment des Wiedersehens hinweg.

Er brauchte nicht zu klingeln. Frau Margot hatte ihn schon seit dem frühen Morgen am Fenster erwartet und stand jetzt auf dem obersten Treppenabsatz, um ihn als erste in Empfang zu nehmen.

»Mutter!« stammelte er, als sie hastig die Arme um seinen Hals legte und ihn in ihr Zimmer zog.

Frau Margot konnte nicht sprechen. Sie klopfte nur immer wieder seine schmalen Wangen, strich ihm das Haar zurecht, drückte seinen Kopf an ihre Schulter und küßte ihn auf den Scheitel. Sie saßen sich gegenüber, und noch einmal sagte er leise: »Mutter«, legte seinen Kopf in ihren Schoß und seine Lippen auf ihre Hände.

So hatte er sich das Wiedersehen nicht ausgemalt, so nicht. Diese schweigende Liebe, diese stumme, mitfühlende Rücksichtnahme traf ihn tief. Er fühlte sich mehr denn je aus den Gleisen geschleudert.

Allmählich sammelte er sich, und er brachte es über sich, aufzublicken und die Mutter mit einem herzlichen Lächeln anzuschauen. Das Lächeln aber fand den lange vorbereiteten Widerschein.

»Mein lieber Junge, da bist du ja wieder. Also ganz vergessen hattest du mich doch nicht!«

»Nein, Mama, dich nicht.«

»Wie männlich, wie stattlich du geworden bist!«

»Und wie du jung geblieben bist, Mama. Du hast dich so gar nicht verändert.«

»O doch«, sagte sie, und eine geheime Freude vibrierte in dem Ton. »Du wirst mich auslachen wegen meiner Eitelkeit, aber – aber – ich bin noch jünger geworden.«

Die Worte hatten einen so vollen, tiefen Klang gehabt. Sie benahmen dem Heimgekehrten jedes Grübeln, jede Frage. Er wußte jetzt, daß er eine glückliche Frau vor sich hatte, eine glückliche Gattin, und – wenigstens heute, in dem Augenblick, da sie das Gesicht des Sohnes wiedersah – eine glückliche Mutter. Nur war sie auch eine glückliche Frau und glückliche Gattin gewesen die Jahre hindurch, die er fern von ihr verbracht hatte! Wenn er morgen wieder ging – ob er wirklich eine Lücke hinterließe?

Da waren die Zweifel wieder, die ihn von jedem Auskosten des Genusses zurückschreckten.

Nein, er würde keine Lücke hinterlassen. Im Gegenteil, er war doch, bei Licht und mit vernünftiger Erwägung betrachtet, ein störendes Element in diesem Hause der Fröhlichkeit. Man hatte zuviel Zartgefühl, um ihn das merken zu lassen. Aber das liebe bißchen Sentimentalität beiseite geschoben, und im Grunde verhielt es sich so. Nur keine Selbstüberhebung mehr, nur nicht den anmaßlichen Glauben, als sei er, nah oder fern, die Angel der Familie! Welcher Familie denn? Hier gab es nur eine Familie Springe.

Das alles zog ihm ruhig und geordnet durch den Kopf und gab ihm die höfliche Haltung eines Mannes, der für jede erwiesene Freundlichkeit ein dankbares Empfinden besitzt, ohne ihre Äußerungen als selbstverständlichen Tribut beanspruchen und herbeiführen zu wollen.

»Ist Heinrich zu Hause?« fragte er, und im gleichen Moment suchte er sich zu verbessern. »Entschuldige, Mama«, sagte er verwirrt, »das – das sollte natürlich keine Achtungsverletzung dir gegenüber sein. Die – die alte Gewohnheit brach durch. Wünschest du, daß ich ihn Vater nenne?«

»Großer Dummkopf«, lachte sie errötend, »bist du denn ein Baby? Mir ist nichts lieber, als daß er dein Freund ist, nichts als dein Freund. Gibt es denn etwas Schöneres unter Männern?«

Er betrachtete sie still, und nun wurde auch er gewahr, daß sie jünger schien als vor Jahren, daß in ihren Augen ein mädchenhafter Glanz lag und über ihre Züge eine weiche Hand geglitten war. Zum ersten Male überkam ihn eine innere, selbstlose Mitfreude, und er nahm ihre Hände zärtlich zwischen die seinen.

»Ich gratuliere dir zu allem, Mama.«

Da löste sie rasch ihre Hände, zog ihn fest an sich und atmete dabei tief, wie von einem Alpdruck befreit.

»Danke dir, mein Junge, danke dir …«

»Soll ich jetzt Heinrich begrüßen?« fragte er nach einer Weile.

»Er ist fortgegangen. Er meinte, er hielte es sonst doch nicht aus und würde uns in die weichste Stimmung hineinprasseln. Da hat er sich vor sich selber in Sicherheit gebracht.«

Sie sahen sich lächelnd an. Nun war auch der Gatte und Freund in ihren Kreis einbezogen.

»Erzähle mir von dir, Hans! Mich interessiert alles, was du erlebt hast. Nein, nein, du brauchst keine angstvollen Augen zu machen, ich will dich nicht inquirieren. Erzähle mir nur Heiteres, was dich freut.«

»Ich habe nichts Heiteres erlebt, liebe Mutter. Was soll ich da erst berichten!«

»Du warst krank, armer Junge? Heinrich hat es mir von Berlin aus geschrieben.«

»Krank? Ach ja, ganz recht, ich war auch krank. Ich muß die Krankheit schon lange in mir gehabt haben.«

»Aber nun ist sie behoben, Hans; du fühlst dich wieder gesund –?«

»Rekonvaleszentenstimmung, Mama, nicht schwarz, aber auch nicht übermäßig farbig. Es wird sich schon klären.«

»Du solltest zu uns ziehen, Hans«, drängte sie sanft, »wenigstens auf ein paar Monate, bis du dich eingelebt hast. Ich möchte dich so gern pflegen.«

»Du würdest mich ja nur aufs neue verzärteln, liebe Mama.«

»Wenn auch. Hast du denn nur schon gemerkt, daß hier eine ganz besondere Luft weht, mein ernster Junge? Eine Luft, in der man gar nicht anders kann, als fröhlich sein und lachen?«

»Man kann auch mit traurigem Herzen lachen.«

»Hier nicht, hier ganz gewiß nicht«, versicherte Frau Margot lebhaft. »Und in sechs Wochen käme eine neue Pflegerin hinzu, oder – vielleicht – eine halbe Patientin.«

»Von wem sprichst du, Mama?«

»Von Johanna. Von Hannes. Freut es dich nicht, deine kleine Jugendfreundin wiederzusehen?«

»Ob es mich freut? Darauf wird's wohl nicht zuerst ankommen. Ob es sie freuen wird, Mama, das ist die richtige Frage. Und ich fürchte fast – doch wozu sich darüber heute schon den Kopf zerbrechen!«

»Du möchtest also nicht zu uns ziehen, Hans? Da draußen wird es dir bald einsam werden.«

»Ich bin ein Einsamkeitsmensch, Mama. Habe Geduld mit mir, und ich will dir dankbar sein.«

Sie wollte Geduld haben; so unendlich viel Geduld Seit ihr in der Nacht Heinrich Springe in kurzen, scharfen Umrissen Bild für Bild aus dem Leben des Sohnes gezeichnet hatte, glaubte sie manches Gleichlautende in ihrem und Hans' Charakter und damit manche Wiederholung von Kämpfen und Schicksalen erkannt zu haben. In der Erziehung war es versäumt worden. Die Jahre der Jugend hatten ihn nicht mit dem nötigen Fonds an rheinischer Frische und Elastizität ausstatten können, weil er daheim im Vater nur den rastlos drauflos arbeitenden Geschäftsmann, in der Mutter die vielbeschäftigte oder die ausruhende Weltdame, die für das begehrliche Knabenherz wenig Zeit erübrigen konnte, erblickt hatte.

Und in Frau Margots Phantasie verschoben sich die Maßstäbe, und sie war geneigt, alle Schuld sich selbst zuzuschreiben und nun den Dingen, wie sie geworden waren und deren Vorentwicklung in der Knabenseele sie nicht rechtzeitig gesteuert hatte, das Geringe entgegenzusetzen, das ihr blieb: die unendliche Geduld.

»Mama«, sagte Hans, »du quälst dich, ich seh' es dir an. Du hast ja gar keine Ursache.«

»Doch, doch; du verstehst das nicht.«

»Ich verstehe es schon, Mama. Was in und außer mir fehlgeschlagen ist, das mußte kommen, weil der Grundfehler in mir selber lag. Ich hatte immer nur Träume, sprunghafte Gedanken, die jeden Schein, der mir fremd geblieben war und mir deshalb im ersten Augenblick imponierte, schleunigst zu einem neuen Erfahrungssatz stempelten. Mir fehlte die Sammlung, Mama, und die Freude, anderen wie mir eine Freude zu machen; und so schwebte ich in der Luft.«

»Ich hätte dir helfen sollen, Hans.«

»So beunruhige dich doch nicht. Es gibt für jeden Menschen einen Zeitpunkt, an dem er Farbe bekennen muß, was denn eigentlich an ihm ist. Ganz nach Ausfall dieses Examens richtet sich die eigentliche Entwicklung. Wer hier den Anschluß verpaßt, aus Leichtsinn, Trägheit oder Überhebung, der bekommt seinen Stempel für das ganze Leben. Davon hilft ihm selbst alle für ihn aufgebotene Familienliebe nicht ab.«

Er strich freundlich über ihre Hände, als wäre er der Tröster und sie das Kind.

»Nun heißt es, sich mit dem empfangenen Stempel auf möglichst anständige Weise abfinden.«

Sie hielt seine Hände fest und drückte sie mutig.

»Mein Junge«, sagte sie mit tiefer Überzeugung, »es gibt für jede Krankheit eine Heilung. Wir dürfen nur nicht die Krankheit lieb gewinnen und den Arzt vorüberlassen, wenn er kommt. Siehst du, wir sind erwachsene Menschen, und ich kann es dir sagen, ohne Furcht, gegen deinen Vater undankbar zu erscheinen, von dir mißverstanden zu werden. Auch ich war krank, lange, sehr lange sogar. Eigentlich bis zu dem Tage, an dem Heinrich Springe kam, zum zweiten Male kam. Ich hatte ihn als Mädchen gern, und doch habe ich nicht gewartet und habe mich anders entschieden, weil auch mir die rechte Sammlung fehlte und ich in der Luft schwebte. Weil ich mir angewöhnt hatte, alles nur von mir aus zu beleuchten. Und der Rückschlag blieb auch bei mir nicht aus. Es gab gar nicht genug Zerstreuungen, um über eine Leere hinwegzukommen. Zum Schluß war es doch nur ein Vegetieren in vornehmem Stil. Es war reichlich spät, da kam der Arzt. Und ich nahm alle meine Gesundheit zusammen und alle meine Erinnerung an die Gesundheit, und diesmal ließ ich ihn nicht vorbei und griff zu, als er mir die Hand bot, und weil ich das Wollen hatte, riß er mich mit einem Ruck heraus. Ins Leben.«

Sie sah den Sohn strahlend an, und wieder wunderte er sich, wie jung sie war.

»Da steh' ich nun im Leben«, fuhr sie fort, »nicht in dem, was die große Welt Leben nennt und was nichts ist als eine Parodie auf das Menschentum, sondern in dem Leben, das einem so viel Umarmungen zurückgibt, als man ihm bietet. Ach, Hans, ich möchte meine Arme nur immer so ausstrecken! Wie viel verlieren wir törichten Menschen doch durch die Blasiertheit und Gespreiztheit unseres Wesens!«

»Du mußt sehr glücklich geworden sein, Mama!«

»Weil ich sehe, daß ich imstande bin, andere glücklich zu machen.«

Er verstand sie. Und lächelnd nahm er der Mutter schönes Gesicht in seine Hände, sah ihr lange in die Augen und küßte sie auf den Mund.

Ein Vergleich drängte sich ihm auf, ein ganz vager Vergleich, der kaum Berührungspunkte besaß, aber selbst an dieses Minimum klammerte er sich plötzlich an. Die Mutter mußte ihm antworten können, wenn überhaupt einer.

»Glaubst du, Mama, daß eine Frau darüber hinwegkommen kann, wenn sie einen Mann geliebt und doch verabschiedet hat?«

»Nein, mein Junge, sie wird es nicht können. In der ersten Zeit bildet sie es sich ein. Das Neue schafft ihr Beschäftigung. Aber wenn das Neue alt wird und die Beschäftigung ausbleibt, und wenn sich dann, so ganz allmählich und zuerst wie zur Zerstreuung, die Erinnerungen einstellen – mein alter Hans, die Erinnerungen sind unsere liebsten Freunde, aber sie können auch unsere schlimmsten Feinde werden. Wenn sich bei einer Frau die Erinnerungen einstellen und erst leise und dann lauter zu rufen beginnen: Dies und das war dein und du hast es aus Laune oder Feigheit verscherzt, und wenn sie dann kein Mittel sieht, an das alte Ende den neuen Anfang zu knüpfen – die Frau wird innerlich alt vor der Zeit, und selbst das schöne Wort der Pflichterfüllung kann ihr nur äußerlich aufhelfen.«

»Und was soll der Mann tun, der aus Laune oder Feigheit verleugnet worden ist?«

»Den Wert der Frau zu erkennen suchen und danach handeln.«

»Es gibt also doch Unterschiede?«

»Frauen können wie Kinder den Weg verfehlen; dann gebührt ihnen immer noch Liebe und Nachsicht.«

»Und wenn sie es bewußt tun, als fertige Menschen, mit der Berechnung, im Wiederholungsfalle nicht anders zu handeln?«

»Mein lieber Hans, über solche Frauen spricht man nicht.«

Des Heimgekehrten Gedanken schweiften noch einmal zurück zu der Stadt, die er gestern verlassen hatte.

Ȇber solche Frauen spricht man nicht.

Des Heimgekehrten Gedanken schweiften noch einmal zurück zu der Stadt, die er gestern verlassen hatte. »Über solche Frauen spricht man nicht.« Hast du es gut verstanden, Bettina? – Ein bitterer Geschmack legte sich ihm auf die Zunge, und über sein Gesicht breitete sich die Selbstironie. Von Hannes zu Bettina – das war eine Reise gewesen, des Schweißes der Edeln wert! »Über solche Frauen spricht man nicht«, tönte es laut und hallend in seinem Innern – aber man denkt auch nicht mehr an sie.

Das war Hans Steinherrs letzter Gedanke an Bettina Wittelsbach.

»Mama«, sagte er, und der Versuch, heiter zu erscheinen, gelang ihm, »lach mich doch aus, weil ich hier in der schönen Pose des Weltschmerzlers vor dir agiere. Und solch ein Beispiel wie dich vor Augen! Ist das nicht närrisch?«

»Willst du Herrn von Springe begrüßen?« griff Frau Margot lebhaft die Stimmung auf, »und Frau Stahl?«

Der Sohn erhob sich sofort.

»Wenn ich ihnen gelegen komme?«

»Das sind zwei Menschen, denen nie etwas ungelegen, kommt«, lachte Frau Margot heiter. »Geh nur hinüber. Unterdes werde ich in der Küche nachsehen, ob man auch die Ehre des Tags zu würdigen weiß. Heute habe ich meines Jungen wegen aber auch alles verbummelt.«

War das seine Mutter? fragte er sich, als er über den Korridor schritt. In der Küche wollte sie nachsehen? War das ein Scherz, oder vermischte sich bei ihr das Interesse für das geistige und leibliche Wohl ihrer Lieben jetzt in eins? Sie ist wirklich eine Frau geworden, dachte er staunend, meine verwöhnte, geistreiche und – so viel gelangweilte Mama, eine wirkliche und wahrhaftige Frau …

Auf sein Klingeln an der Korridortür Herrn Friedrich Leopold von Springes wurde nicht sogleich geöffnet. Aber einen Streit vernahm der Draußenstehende ganz deutlich, und als er die Worte verstand, wußte er, daß er nicht fehlgegangen war.

»Nee, nee, nee, verehrte Frau, sagen Sie das nicht. Die jüngsten Beine von uns beiden habe ich

»Aber, Herr von Springe, dafür bin ich doch da.«

Und dann öffneten ihm alle beide. Rechts stand Herr Friedrich Leopold in der Hausjoppe, links Frau Stahl in weißer Schürze.

»Der Hans! Der Hans!« schrie Herr Friedrich Leopold und schwenkte an hocherhobenem Arm die Hand wie eine Wetterfahne.

»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte die Greisin trocken, aber auch in ihrer Stimme zitterte etwas.

Der alte Junker hatte den Besucher gleich mit Beschlag belegt. Seinen Arm um den des jungen Freundes geschoben, führte er den Heimgekehrten im Triumph in seine Burggemächer.

»Ha', hamm', ham' mer dich emol, du Durchgänger? Herr Doktor müssen schon verzeihen, daß ich Du sage, aber da ich nun einmal durch Recht und Gesetz Ihr Großvater bin, du liebenswürdiger Jüngling du, so kannste nix mache. Höchstens – – aber natürlich! Nach alter, deutscher Sitte! Wollen zuallererst doch mal Bruderschaft trinken. Wie sagt doch Krökel, der Klausner alt und greis? ›Mit Verlaub, ich bin so frei!‹ Das soll ein Manneswort sein. Frau Stahl, edle Burgverschließerin, bitte ganz ergebenst um eine Flasche Rauentaler Ausbruch.«

»Rheinwein, Herr von Springe? Und so schweres Zeugs?«

»Rheinwein, dem Rheinwein gebührt! Und was ist schwer, wenn zwei kräftige Männer das Werk mit Händen anfassen! Notabene, woher wissen Sie tugendhafte Frau denn, daß das Zeugs so schwer ist? Sie haben wohl mal – ganz heimlich – mit Verlaub, ich bin so frei – –?« und er machte die entsprechende Geste.

Als sich Frau Stahl, entrüstet über den Verdacht, in den Keller begab, wollte sich Herr Friedrich Leopold totlachen.

»Siehst du, mein Sohn, das mußt du dir für später merken. Das ist ein Kniff von mir, mit dem krieg' ich alles. Nur den lieben Seelen insinuieren, als ob sie das Beste für sich behalten wollten. Dann kommt die Entrüstung und mit der Entrüstung die verächtlich tuende Freigebigkeit. Aber mir schmeckt's doch.«

Nach fünf Minuten plauderte der alte Herr bereits, als ob sie nie getrennt gewesen wären.

»Du«, meinte er zwischendurch geheimnisvoll, »deine Mutter ist eine charmante Frau. Weißt du? – –«

Dann brachte Frau Stahl den Wein, und der alte Herr putzte selbst die langstengligen Römer aus.

»So, mein Junge, nu mal fix übers Kreuz. So – o –.« Er wischte sich den Mund. »Ich heiße Friedrich Leopold. Ach nee, das zieht ja zwischen uns beiden nicht. Also ich bin dein Großvater, der dich sehr lieb hat und dasselbe von dir beansprucht. Und nun wollen wir mal, wie echte Kreuzritter gegen den Heiden ziehen.«

»Gegen den Heiden?« wiederholte Hans Steinherr verwundert und ließ sich das Glas frisch füllen.

»Hie Buch und Kreuz und Mönchsgebet – sie müssen alle von dannen«, variierte der strenggläubige Zecher. »Dieser Rauentaler, dieser Heide, hat sich selbst der schmerzlosesten Taufe entzogen. Vertilge ihn, vertilge ihn! Er ist reif!«

Er stieß mit Hans an und zwinkerte, verständnisvoll schmunzelnd, mit dem Auge.

»Du – die charmante Frau soll leben! Jung', Jung', ham' mer en Freud'!«

Hans verstand zwar nicht recht, weshalb sich der alte Herr gerade heute so unbändig über die charmante Frau freute, aber er nahm an, daß das wohl die Normalempfindung Herrn Friedrich Leopolds gegenüber Frau Margot sei, und dankbar tat er Bescheid. Die Trinksprüche waren indes noch nicht zu Ende.

»Einmal ist keinmal, nicht wahr, Frau Stahl? Aber dreimal – das können sie durch die einfachste Addition feststellen – das ist dreimal. Das dritte Glas also – Was? Ich soll vor Tisch nicht mehr trinken? O, wenn Sie ahnten, wem wir dies dritte Glas bringen, hätten Sie schon aus purstem Familienegoismus geschwiegen. Das dritte Glas unserem Prachtmädel, unserem Hannes. Marke: Stahl!«

Er drängte der alten Freundin ein Glas auf, verbeugte sich höfisch und ließ die Gläser fein aneinander klingen.

Hans Steinherr fühlte eine sich steigernde Beklommenheit. Rasch trat er auf die alte Frau zu und hielt ihr das Glas hin.

Die Greisin sah ihm, ohne eine Gemütsregung zu äußern, ruhig in die Augen und stieß mit ihm an. Dann wandte sie sich dem alten Herrn zu, der am liebsten sofort in eine allgemeine Fiduzität hineingesegelt wäre, und sagte warnend: »Herr von Springe, Frau Margot und Ihr Herr Sohn erwarten uns in einer Viertelstunde drüben zu Tisch. Und Sie sind noch immer in der Hausjoppe.«

»Donnerwetter«, meinte Herr Friedrich Leopold, »eine Berufung auf Frau Margot, das heißt so viel als: stramme Haltung! Na, nimm's nicht übel, mein Sohn, daß ich verschwinde. Ich lass' dich ja, während ich Gala anlege, in der allerbesten Gesellschaft zurück.«

Dann war Hans Steinherr mit Frau Stahl allein.

Er saß auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, die Arme auf den Lehnen, und beobachtete sinnend jede ihrer Bewegungen, während sie ab und zu ging, den Tisch in Ordnung brachte und sich im Zimmer zu schaffen machte.

»Wissen Sie noch, Frau Stahl, wie ich an dem Sonntag zu Ihnen kam, drüben in der Pempelforterstraße, und bei Ihnen Kaffee trank?«

»Weshalb sollte ich das nicht mehr wissen, Herr Doktor?«

»Wie lang' ist das her! – – Ich war damals noch ein Junge.«

»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Doktor.«

Er zuckte zusammen. Sie hatte ihn falsch verstanden oder mißverstehen wollen.

»Haben Sie gute Nachrichten von – von Hannes?« fragte er nach einer Pause.

»Ich danke. Man muß schon zufrieden sein, wenn sie gesund bleibt.«

»Haben Sie denn – haben Sie denn Besorgnisse? Ich meine: Ihre Enkelin fühlt sich doch wohl?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr Doktor. Meine Enkelin hat bis heute noch nicht geklagt.«

Wieder die Pause, die kein Ende nehmen wollte. Nur das mechanische Klappern von Stricknadeln.

Da erhob sich Hans Steinherr von seinem Stuhl und ging zu der alten Frau hinüber.

»Frau Stahl, ich bin nach Düsseldorf zurückgekommen, um meinen Frieden zu schließen, mit meinen Angehörigen und, wenn es angeht, auch mit mir. Meine Mutter hilft mir, Heinrich Springe und der alte Herr helfen mir – wollen Sie allein nicht?«

»Wir sind doch nicht Ihre Angehörigen, Herr Doktor.«

Hans Steinherr preßte die Lippen zusammen. Dann streckte er die Hand aus und sagte leise: »Verzeihen Sie mir!«

Die Greisin ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und sah ihn mit großen Augen an.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Herr Doktor. Ob Ihnen Johanna was zu verzeihen hat, das hat sie mir nie gesagt.«

»Doch, Frau Stahl. Sie – gerade Sie. Sie haben mich damals voll Vertrauen auf meine Ehrlichkeit in Ihr Haus aufgenommen und mich Einblicke in ein starkes, stolzes Leben tun lassen, jeder andere wäre daran gewachsen. ›Scham ist Feigheit‹, sagten Sie damals. Mein Wankelmut hat das Wort traurig bestätigt, ich mußte erst noch einmal durch die Schule gehen, um es in seiner Wahrheit verstehen zu lernen. Frau Stahl, ich bin nicht mehr feige, ich bin nur noch beschämt. Vielleicht halten Sie es der Mühe wert, dies trübe Geständnis entgegenzunehmen.«

Die alte Frau rückte unruhig auf ihrem Stuhl.

»Wenn ich Ihnen von der Beschämung abhelfen könnte –. Aber gute Lehren sind Stroh statt Hafer.«

»Verzeihen Sie mir!« sagte er noch einmal leise.

Sie sah zu ihm auf. Sie sah sein müdes Gesicht und das Ruhebedürfnis in seinen Augen. Und dann erhob sie sich und nahm seine Hand an. Sie packte sie mit festem Druck und hielt sie in der ihren. Irgend etwas wollte sie sagen. Doch sie nickte nur, ließ seine Hand los und ging in ihre Küche.

»Ich hätte es nicht ertragen«, murmelte Hans Steinherr; »von allen, nur von ihr nicht. Nun ist mir freier.«

Er nahm seinen Platz wieder ein und wartete auf Herrn Friedrich Leopold, der bald erschien.

»Oho – so ganz solo? Ja, mein Sohn, weiß man denn außerhalb Düsseldorfs nicht mehr, wie man Süßholz raspelt? Ausgerissen ist dir die verehrte Frau? Du bist zu schüchtern, Hans.«

Er strich sich den weißen Schnurrbart hoch und klopfte behutsam ein Stäubchen vom Rockärmel.

»Tipp topp, gelt? Als wenn's zum Tanzen ging'.«

Draußen wurde an der Schelle gerissen, daß es Sturm läutete.

»Das sind die jungen Leute von drüben«, sagte Herr Friedrich Leopold, »überschüssige Kraft.« Und er ging öffnen.

Dann stürmte Heinrich Springe ins Zimmer. Frau Margot folgte gemütlich am Arme des Vaters.

»Da bist du ja, Hans. Herrgott, wie ich mich freue! Und rote Backen hat er schon gekriegt, ordentlich rote Ba –« Sein Blick fiel auf den Senior. »Du, sag mal, du hast ja auch rote Backen gekriegt, aber so verdächtige? Ihr habt wohl das Krökelspiel gespielt, vom frommen Klausner? Ah, sieh da, der stumme Zeuge. Rauentaler Auslese. Hm, hm, hm. Margot«, wandte er sich an seine Frau, »wirf doch den Plebejer, den Zeltinger, aus dem Eiskühler. Die Herren haben bereits anders bestimmt.«

Der alte Herr aber freute sich, als ob er den Sohn mit einer brillanten Pointe hineingelegt hätte.

Dann ging es zu Tisch. Hans Steinherr führte die Mutter, Herr Friedrich Leopold holte Frau Stahl herbei, und Heinrich Springe machte den Beschluß. Feierlich zogen sie über den Korridor in die andere Wohnung hinüber.

Nach der Tafel verlangte es Hans, die Fabrik zu sehen. Inmitten der Fröhlichkeit war plötzlich ein Drang nach Tätigkeit in ihm erwacht. Er bat, ihn für den Nachmittag zu entschuldigen, und versprach, sich zum Abend wieder einzustellen.

Langsam wanderte er durch den frischen Tag hinaus nach Bilk. Hier bleiben können, hier bleiben können! tönte es in ihm. Er reckte sich in den Schultern, und es war ihm, als spürte er neues Blut.

Wie die Sonne dort über dem Feldstreifen zittert. Gerade, als ob es schon Frühling wäre … Und dann sprach er vor sich hin: »Die Heimat. Die Heimat. Das hier ist die Heimat …«

Manchmal blieb er stehen und sog aus tiefen Lungen die frischwehende Luft ein. Alles schien ihm in Glanz eingehüllt, und obwohl die Landschaft hier nichts Anziehendes bot und ringsumher die Mauern und Schornsteine der industriellen Werke emporragten, glaubte er, selten ein schöneres Bild gesehen zu haben.

Und er malte es sich verlockend aus, hier wieder Wurzel zu schlagen, unter diesen Menschen hier wieder das Lachen zu lernen, durch angespannte Tätigkeit sich die Achtung zu verdienen und – ja, ja! weshalb sollte es nicht möglich sein! es mußte sich auch das ermöglichen lassen bei tapferem Ausharren und unermüdlichem Werben – und am eigenen Herd das Glück festzuhalten. »O, du Jugendkraft, du, du! Die vom Niederrhein haben dich in Erbpacht!«

Warm lief es ihm durch alle Glieder. Die Märzsonne hatte für ihn Juliglut. – –

Bis zum späten Abend war er in der Fabrik geblieben. Er hatte die Feierabendglocke gehört und die Scharen geschwärzter Arbeiter unter dem Fenster des Privatbureaus vorüberwallen sehen, während er immer noch saß und sich von dem Leiter der Werke einen Überblick über die Geschäftslage geben, Pläne vorlegen, den Gang der Fabrikation erläutern ließ. Und je länger er saß, umso schärfer und quälender wurde die Entdeckung, daß ihm jeder Sinn für das fehlte, was ihm der Teilhaber der Firma Philipp Steinherr doch so klar und übersichtlich an Hand der Bücher, Karten und Tabellen vortrug, daß er nie den Sinn dafür erlangen würde. Denn die genialste Berechnung, in technischer wie in kaufmännischer Beziehung, rüttelte kein außergewöhnliches Interesse in ihm wach. Mit stumpfer Bereitwilligkeit hörte er zu und stellte immer nur sein Unvermögen fest.

Er hatte sich von dem Teilhaber, der noch einige wichtige Arbeiten zu erledigen wünschte und deshalb noch nicht in die Stadt hineinfuhr, mit herzlicher Danksagung verabschiedet, den Wagen abgelehnt und den Heimweg zu Fuß angetreten. Aber die Sonne war fort, und die Frühlingsahnung war fort. In seinem Innern waren alle die hoffnungsfröhlichen Stimmen des Nachmittags jäh verstummt, so angstvoll er auch horchte.

Und plötzlich warf er sich an einer Böschung nieder und preßte sein Gesicht verzweifelt gegen die Heimatserde.

»Es ist nichts mehr, es ist nichts mehr. Es ist ja alles verpfuscht! – – –«

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