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7.

Herr Friedrich Leopold von Springe saß an seinem hochbeinigen Schachtisch, dessen eingelegte Platte von einer niederen Galerie umgeben war, um die Figuren vor dem Hinabstürzen zu bewahren. Er trug eine elegante, flauschige Jagdjoppe, sein dünnes Haar war sorgfältig frisiert, und sein schlohweißer Schnurrbart strebte noch immer in keck gestutzten Spitzen nach oben. Nur in seinen Händen war ein leichtes, wenn auch kaum auffallendes Zittern zu bemerken, wenn er den Läufer zum Sturm beorderte oder den Springer den Rösselsprung vollziehen ließ. Er behauptete zwar, das sei die Aufregung des Spiels, kompliziert durch die Partnerschaft einer angebeteten Dame.

Diese Partnerin und Verehrte seines Herzens thronte in Gestalt Frau Stahls auf einem hohen Ledersessel ihm gegenüber. Über ihre faltigen Züge huschte, so oft sich Herr Friedrich Leopold in einer chevaleresken Bemerkung gefiel, ein kurzes, verschämtes Lächeln, das sie alsbald unter einem verdoppelt strengen Ernst zu verstecken sich mühte, gerade so, als müßte man sich von dem gefährlich tuenden alten Herrn der unglaublichsten Heißspornigkeiten gewärtig halten und dürfte daher seinem Jugendfeuer nicht die geringsten Konzessionen machen.

Eine warme Gemütlichkeit herrschte in dem Zimmer. Kein Geruch nach Lavendel und Rosmarin. Aber es duftete verräterisch nach echtem Sellnerschen Punsch vom Karlsplatz.

»Durchaus nicht, weil ich am Alkohol hänge«, pflegte der alte Herr jedesmal zu betonen, wenn er aus dem Tischuntersatz das Glas hervorholte und verbindlich gegen Frau Stahl hob. »Ich bin eigentlich von Haus aus Vegetarier und schwärme für junges Gemüse. Aber wo soll der Mensch in den ersten Tagen des Märzen Maikräuter herbeziehen!«

Gegen diese eiserne Logik ließ sich nichts einwenden. Und wenn auch Frau Stahl von Zeit zu Zeit mit dem liebevoll geschärften Blick, mit dem man große Jungen zur Einkehr zwingt, auf die nach dem Tischuntersatz tastende Hand des alten Herrn schaute, so ungefähr, als ob sie auf seinem Handrücken etwas ganz außerordentliches erblickte, so erhob sie sich doch zu mehreren Malen am Abend, um aus dem Kamin schweigend den dampfenden Wasserkessel hervorzuziehen.

Dann saß Herr Friedrich Leopold ganz still, die Hände im Schoß gefaltet, und beobachtete ihr Tun. Mit leichtgewölbten Nasenflügeln schnupperte er den Duft, der aus der innigen Vermählung des Punschsirups mit dem brodelnden Wasser aufstieg, und bewegte leise die Lippen.

»Aber, Herr von Springe«, sagte die alte Frau mahnend, »können Sie denn gar nicht abwarten?«

»Ach«, erwiderte Friedrich Leopold harmlos, »Sie meinen also wirklich, das geschehe wegen des Punsches? O, meine gute Frau Stahl, in welchem Irrtum bewegen Sie sich. Wenn meine Lippen sich regen, so tun sie es, weil es sie zum Reden drängt. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Und wenn ich so die Zierlichkeit Ihrer Bewegungen bei der Punschbereitung betrachte – nein, nein, lassen Sie mich nicht weitersprechen. Aber das Wort des einzigen Philosophen, den ich anerkenne, bleibt dennoch wahr: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.«

»Haben Sie denn Sorgen, Herr von Springe? Das bißchen Podagra meldet sich doch nur beim Witterungsumschwung.«

»Liebessorgen, meine verehrte Frau; Liebessorgen um Sie.«

»Ja«, sagte die alte Frau und hob betrüblich die Achseln, »da ist freilich nix zu machen. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich bleib' fest, aus Konsequenz.«

»Na, dann geben Sie mir wenigstens den Leidenskelch. Frau Stahl, Frau Stahl! Wenn ich in meinen besten Mannesjahren jählings zum Trinker werde – Sie tragen die Verantwortung. Nein, nein!« protestierte er, »keine stärkere Wasserzugabe. Ich bin durch Ihre Absage genügend abgebrüht.«

Sie aber ließ sich nicht behindern, den Trank nach Gutdünken zu mischen.

In dem offenen Kamin knatterten die Holzscheite hinter dem Eisengitter. Das war bei kaltem Wetter Herrn Friedrich Leopolds größte Freude.

»Sehen Sie«, belehrte er Frau Stahl, »der Stolz auf sein altes Adelsgeschlecht, das ist doch kein leerer Wahn. Man muß ihn nur richtig handhaben. Ich bin ja nur ein dürres Reis an unserem Stammbaum, aber trotzdem, ich habe die Geschichte unseres Hauses im kleinen Finger. Und wenn ich so sitze und grüble – dann gehört ein offenes Kaminfeuer dazu und das Rattern und Knattern der Scheite. An so einem Kaminfeuer haben sich auch meine Herren Vorgänger im lustigen Mittelalter höchst ihre Fußsohlen gewärmt, wenn sie von mehr oder weniger tugendhaftem Beginnen auf ihre Burg am Rhein zurückkehrten. Geben Sie gut acht. Der Kamin und das Füßewärmen tun's nicht allein; aber – die Tradition. Es ist so ein eigentümlich Ding um so eine Familientradition. Man sollte ihr auch in Bürgerkreisen mehr nachgehen. Glauben Sie mir, die Gedanken daran wandeln sich in Blutkörperchen um, und die Blutkörperchen geben Haltung. Man weiß, man ist seinen Vorgängern und Nachfolgern etwas schuldig, und wäre es auch nur die – gute Haltung. Ein Meteor, das sich von seinem Heimatstern ablöst, strahlt zwar sehr schön und setzt alle Welt einen Atemzug in Staunen, aber wenn es seine Bahn durchsaust hat, sinkt es in fremder Erde in Nacht und Grauen. Höchstens findet's ein Professor. Der klopft und riecht dran herum und – o Tragikomödie des Meteors – erklärt der gläubigen Jüngerschar: Meine Herren, das, was Sie hier sehen, ist durchaus kein Element an sich. Es hatte einmal elementare Qualitäten, als es noch seine Kräfte aus dem zuständigen Heimatsrevier des Saturn oder Uranus zog. Jetzt aber, jetzt – tun Sie's in Ihre Sammlung, unter: Verschiedenes.«

Der alte rheinische Junker stemmte seine Füße fest gegen das Kamingitter und fuhr fort: »Die Familientradition, ja, die hat eben etwas an sich. Man braucht sie nicht nachzubeten, bloß in den Knochen soll man sie haben. Das ist auf alle Fälle ein feiner Regulator zwischen dem modernen Geist und der alten Materie. Sie mögen sagen, was Sie wollen: das sind Imponderabilien, die man bei der Rassenentwicklung nicht unterschätzen soll. Schauen Sie sich um unter den Söhnen des Landes. Bengel sind sie ja alle, gottlob!, und das ist ein gesundes Zeichen. Aber wie Sie, im engeren, unter den Akademikern untrüglich die Verbindungsstudenten herauswittern, so werden Ihnen, im weiteren, immer die jungen Leute auffallen, die durch ihre Erziehung darauf hingeleitet worden sind, ihrer Altvorderen, ob bürgerlichen oder adligen Grades, zu gedenken. Was natürlich mit der persönlichen Hinneigung des einzelnen zum Genie oder zum Schafskopf auch nicht das allermindeste zu tun hat. Ich resümiere nur auf die Haltung; in allen Lebenslagen.«

Die alte Frau, die das Leben wissend gemacht hatte, nickte. Auch heute freute sie sich an der draufgängerischen Frische des Altersgenossen, aber sie hatte Lust, zu opponieren.

»Und wenn ein Kind keine Familientradition besitzt? Es gibt doch auch solche Würmer.«

»Donnerwetter«, sagte der alte Herr eifrig, »dann heißt es eine anlegen; auf einer Basis, so groß und breit und tief und unveräußerlich, wie – na – kurz – wie ein Fideikommiß. Deubel ja, muß das schön sein, eine werdende Familie zu etablieren, so eine mit Haken und Ösen. Und der dolle Stolz, den man dann darauf hat!«

»Zum Beispiel: wie der alte Steinherr«, meinte Frau Stahl nebenbei.

Herr Friedrich Leopold sah sie groß an.

»Ich sprach doch nicht von einem Krämergeschäft mit Addieren, Multiplizieren und Bruch- und Prozentrechnung, bis die Siebenstellige im Münzwert voll ist? Nein, meine verehrte Frau, ich meinte die Etablierung eines besonders feinen und körperlich gesunden Menschenschlags, mit Addieren und Multiplizieren, bis die Siebenstellige im geistigen oder seelischen Wert voll ist, von der dann die Nachkommen auf Generationen hinaus zehren. Um Ihnen ebenfalls mit einem Beispiel zu dienen: Hannes!« – –

Die alte Frau stand auf, ging zum Kamin und schüttelte dem Realphilosophen derb die Hand.

»Ja, ja, ja«, philosophierte der weiter, »und langlebig macht so eine gute, alte Familienerinnerung! Wenn andere Leute in das Kaminfeuer blicken, denken sie zurück bis zu dem Tage, an dem sie ihre Nase im Gesicht verspürten. Bei mir jedoch werden hundert Jahre wie ein Tag. Da seh' ich alle meine Leute durch die Jahrhunderte schreiten, und alle sind sie mir bekannt, die Würdigen und die Borstigen, und so oft ich sie aufmarschieren lasse – ätsch, ich bin der Jüngste. Sehen Sie, meine verehrte Freundin, darin liegt das große Geheimnis meiner Jugend.«

Die Greisin sann nach.

»Sie sind ein glücklicher Mensch«, sagte sie dann.

»Bin ich auch.«

»Den einen trifft's und den anderen kann's auch treffen. Wenn man in die Jahre kommt, von denen geschrieben steht: sie gefallen mir nicht …«

»Nee, nee, nee, Frau Stahl, nun schwindeln Sie. Die Jahre gefallen uns gar nicht schlecht. Jungen Leuten wie uns kann's doch nicht auf ein paar lumpige Jahre ankommen. Die Hauptsache ist: leben, und wissen, daß man lebt! Beste Freundin, Ihre Lippen sind sonst doch immer schwer an Sprüchen der Weisheit. Ist Ihnen denn über den Wert des Lebens kein kräftig Wörtlein geläufig?«

Die alte, ungebeugte Frau mit dem großen Lebenstrotz saß auf ihrem Ledersessel und strich mit der Handfläche über die aufmarschierten Schachfiguren hin und her. Dann begann sie zu reden: »Es begegnet dasselbe einem wie dem anderen, dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert. Wie es dem Guten gehet, so gehet's auch dem Sünder. Wie es dem, der schwört, gehet, so gehet's auch dem, der den Eid fürchtet. Das ist ein bös Ding unter allem, das unter der Sonne geschieht, daß es einem gehet wie dem anderen; daher auch das Herz der Menschen voll Arges wird, und Torheit ist in ihrem Herzen, dieweil sie leben; danach müssen sie sterben. Denn bei allen Lebendigen ist, das man wünscht: Hoffnung; denn ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe

»Bravo!« rief Herr Friedrich Leopold und rieb sich die Hände. Besonders das Beispiel hatte seinen Beifall.

»Denn die Lebendigen«, fuhr die Greisin mit einem kleinen Lächeln über des alten Freundes Zustimmungsruf fort, »wissen, daß sie sterben werden; die Toten aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr; denn ihr Gedächtnis ist vergessen, daß man sie nicht mehr liebet, noch hasset, noch leidet; und haben keinen Teil mehr auf der Welt in allem, das unter der Sonne geschieht.«

»Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe«, bestätigte der Zuhörer.

»So gehe hin«, schloß die Greisin frisch, »und iß dein Brot mit Freuden, trinke deinen Wein mit gutem Mut –«

»Bravo, bravo –«

»– denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider immer weiß sein, und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben währet; denn das ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der Sonne. Alles, was dir von Handen kommt zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch Weisheit.«

»Schade um den Schluß«, sagte Herr Friedrich Leopold, »aber bange machen gilt nicht, und Spaß muß sein.«

Dann verließ er seinen Kaminsitz, nahm Frau Stahl gegenüber am Schachtisch Platz und schaute sie voll ehrlicher Bewunderung an.

»Allen Respekt, Verehrteste, das war eine Leistung. Aber, aufrichtig: aus sich selbst haben Sie das nicht, das haben Sie mal irgendwo gelesen.«

»Das steht in der Bibel, Herr von Springe; im Prediger, neuntes Kapitel.«

»Ja, ja, ja«, sagte der alte Junker ein wenig kleinlaut … »Hören Sie mal«, meinte er nach einer Pause, und das ehrliche Staunen stand wieder in seinen Augen, »wie haben Sie das nur alles seit der Schulzeit behalten?«

»Ich habe das seit der Schulzeit regelmäßig wieder aufgefrischt, Herr von Springe.«

»Aber natürlich, aber natürlich … Eigentlich schlimm, daß ich … Aber nun hab' ich ja den Pastor im Hause, mir wird nichts mangeln«, und er schüttelte der Freundin vergnügt die Hand.

Dann spielten sie, wie allabendlich, ihre Schachpartie zu Ende.

Draußen stritt die Dämmerung mit dem Märzabend. Hier drinnen war es friedlich und fröhlich. Eine hohe Stehlampe mit breitem, rotem Schirm erleuchtete und beschattete zugleich harmonisch die kleine Welt der beiden Alten, die kraft ihrer Erinnerungen die Grenzen ausdehnen konnten zu einem weiten Reich und zusammenziehen zu einem stillen Hafen. Im Kamin sangen die Buchenkloben alte, einfältig schöne Lieder, und von der gebräunten Ledertapete schauten im engen Beisammen ein paar nachgedunkelte Ahnenbilder, Frau Margots strahlende Züge und die klaren, kühnen Mädchenaugen des Lieblings Hannes herab.

Herr Friedrich Leopold streifte die Bilderreihe mit einem liebevollen Blick.

»Wir sind das Bindeglied«, meinte er und nickte zu der kleinen Galerie hinüber. »Wir sitzen hier als Vermittler auf der Wacht, bis wir selber ein Ahne werden. Aber dazu muß man zunächst Großvater sein …«

Frau Stahl sah ihn prüfend an und lachte dann vor sich hin.

»Finden Sie nicht«, fuhr der Unverbesserliche fort, »daß man uns eigentlich ein großes Vertrauen schenkt, uns so mutterseelenallein zu lassen? Das heißt: das Vertrauen hat eigentlich etwas Beleidigendes. Wie alt sind wir denn? Knapp fünfundsiebzig pro Person. Vor lumpigen vierzig Jahren hätte man uns nicht so allein gelassen, meine verehrte Frau. Das sollten wir den Rackers da drüben doch mal anstreichen, und da wir sicher noch kostbare fünfundzwanzig Jährchen vor uns haben, so meine ich, ein ehrenwerter Antrag – –«

Und er schmunzelte wie ein Spitzbube, der seinen Partner in Bedrängnis gebracht hat.

Frau Stahl legte den Kopf auf die Seite und blinzelte ihn an.

»Na ja«, ließ sie sich nach einer oberflächlichen Prüfung des Antragstellers vernehmen, »das Köpfchen wäre ja noch ganz gut, aber …«

»Bitte, da gibt es durchaus kein Aber!« rief Herr Friedrich Leopold und reckte seine lange Gestalt, um schleunigst wieder zusammenzuknicken. Irgendwo in den Gelenken hatte es verdächtig geknackt.

»Achtung, Achtung! Nicht das Spiel aufhalten!« Frau Stahl tat mit der Königin einen kühnen Raubzug.

»Das Spiel? Na, warten Sie. Das wollen wir gleich haben. Ah, siehste wie de biste? Gardez la reine!«

»Jawoll«, gab sie zur Antwort, schlug seinen Springer und bedrängte ihn im eigenen Lager. »Schach dem König, mein Herr.«

»Oho, das wäre …«

»Ist bereits so. Matt!«

Betrübt ließ der alte Herr die Figuren durcheinander fallen.

»Da hört sich doch alles auf. Kein Glück in der Liebe und kein Glück im Spiel. Und Sie können über solch eine doppelte Schicksalstücke auch noch lachen! So sind die Weibsen!«

Sie ließ ihn ruhig sich ausschelten, aber das heimliche Lächeln blieb in ihren Augen sitzen.

»Sie haben ganz und gar unrecht«, sagte sie endlich sanft.

»Ich unrecht? Na Ja, den verehrten Damen ist es ja selbst möglich, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen. Aber in meinem Falle – – Nee, nee, bitte, keinen Honig, lieber ein Glas Punsch.«

»Sollen Sie haben«, entgegnete die alte Freundin, »zur Feier Ihres Glückes.«

»Meines – Glückes –? Und soeben sehen Sie erst klipp und klar, daß ich weder Glück in der Liebe noch –«

Sie stellte das gefüllte Glas vor ihn hin und legte ihre verarbeiteten Hände auf die seinen.

»Doch. Sie haben Glück in der Liebe. Ganz ihrem Wunsch gemäß …« Und sie ließ den Blick nach den Ahnenbildern schweifen.

»Frau Stahl – –! Verehrte Freundin – –!« Der alte Junker wußte nicht, wo ihm der Kopf stand.

»Still, still. Ich sollte ja eigentlich noch nichts davon verraten …«

»Still?« schrie Herr Friedrich Leopold und sprang auf die Beine, ohne auf das verdächtige Gliederknacken zu achten. »Still? O meine verehrte Frau, ich bin gewiß ein Mann von Erziehung, aber da soll der Deubel still bleiben, ich sage Ihnen, der Deu – – –«

Da hatte sie ihm schon die Hand auf den Mund gelegt.

»Aber ja, aber natürlich. Nur muß es doch zunächst Herr Heinrich erfahren. Das sehen Sie doch ein. Vielleicht kommt er heute abend schon zurück; dann können Sie morgen, wenn Sie wollen, die Fahnen zum Haus herausstecken.«

»Tu' ich auch«, murmelte der alte Herr und marschierte aufgeregt im Zimmer auf und ab, »tu' ich auch.« Und immer wiederholte er leise frohlockend, schmeichelnd, streichelnd: Ein Stammhalter … ein Stammhalter.«

Plötzlich kehrte er zum Tisch zurück, stand kerzengerade, faßte sein Glas und leerte es auf einen Zug.

»Das war für Frau Margot, die liebe … liebe … Frau Margot.«

Der rüstigen Greisin standen lachende Tränen in den Augen.

»Nun aber genug. Habt ihr Männer denn gar kein Zartgefühl? Bedenken Sie doch, wenn eine Frau gewissermaßen große Gesellschaftsdame gewesen ist, und überdies fünfundvierzig, die man ihr zwar nicht ansieht –«

»Ach was«, fiel Herr Friedrich Leopold lebhaft ein.

»Große Gesellschaftsdame! Fünfundvierzig! Ein ganz famoses Frauenzimmer ist sie, mit der ich Staat machen werde, an der sich unsere Hyperkultur ein Beispiel nehmen soll! Meine Großmutter war gut und gern ein halbes Dutzend Jahre älter, als mein Vater sich zur Stelle meldete. Das nenn' ich gesunden, rheinischen Schlag. Widersprechen Sie nicht. Ich versichere Sie meiner vollsten Unzufriedenheit, Frau Stahl.«

Er ereiferte sich von neuem, rannte strahlenden Auges herum und gestikulierte mit den Händen.

»Parbleu, diese Margot, diese – diese – – Nein, das halt' ich nicht aus. Die muß geküßt werden, die muß – –«

Und mit einem Male begann er aus Leibeskräften zu rufen.

»Margot! – – Margot! – –«

Da riß der alten Frau die Geduld.

»Wenn Sie nicht augenblicklich Ruhe geben, Herr von Springe, so sag' ich Ihnen schlankweg, daß ich Ihnen ein Märchen aufgebunden habe, und Frau Margot wird Ihnen dasselbe sagen. Was wollen Sie dann machen?«

Das leuchtete Herrn Friedrich Leopold ein, und ganz beschämt strich er die Segel bei.

»Liebe Frau Stahl«, bat er flehentlich, »aber sehen möcht' ich sie nur, bloß sehen und mich an ihr freuen. Das werden Sie mir doch zugestehen können? Ich will ja kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«

Damit erklärte sich Frau Stahl einverstanden, nachdem sie ihm noch einmal »Zartgefühl« eingeschärft hatte.

»Ich will nur schnell den Abendtisch richten«, sagte sie, »dann ruf ich sie.«

Dem alten Herrn ging heute das Anrichten nicht schnell genug. Er sah sich veranlaßt, verschiedentlich in die Küche hineinzugucken und in zarten Worten seinem Mißfallen Ausdruck zu verleihen.

»Frau Stahl, Frau Stahl, sonst sind Sie doch immer die Jüngste – –«

Endlich ging sie, Frau Margot zum Tee zu bitten; und nun wäre ihr Herr Friedrich Leopold am liebsten nachgelaufen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Denn er wußte absolut nicht, wie er sich nur benehmen sollte.

Da öffnete sich die Tür, und Frau Margot schlüpfte herein, weich und schmiegsam, lustig und lachend. Vom Scheitel bis zur Sohle ganz die Frau, die im zweiten Frühling ungeahnt emporgeblüht ist und jede Zeitrechnung Lügen straft. »Guten Abend, Papachen! Schachpartie zu Ende? Du Ärmster, hat dich Frau Stahl matt gesetzt?«

»Mein Kind«, antwortete Herr Friedrich Leopold mit Haltung und bot ihr den Arm wie einer Fürstin, »Unglück im Spiel – Glück in der Liebe.«

Sie saßen um den Teetisch herum und plauderten. Keiner verspürte rechte Lust, ordnungsgemäß zuzulangen. Frau Margot war mit ihren Gedanken immer wieder in Berlin, und immer wieder nannte sie den Namen ihres Gatten.

»Nun ist er fast eine Woche fort, eine ganze Woche, der Herumtreiber. Wenn er nur nicht mit Hannes durchgegangen ist! Pst, nicht in Schutz nehmen, Papachen! Die Liebe zu den Stahls liegt den Springes im Blut. Aha, jetzt wirst du rot. So ist's recht, immer hübsch Farbe bekennen!«

Der alte Junker warf Frau Stahl einen schadenfrohen Blick zu.

»Das ist also, was die Damen ›Zartgefühl‹ nennen. Das muß für spätere Fälle festgestellt werden.«

Frau Stahl machte ihm heftige Zeichen mit dem Kopf. Sie traute dem Landfrieden nicht.

Aber Frau Margot war bereits wieder bei ihrem alten Thema. »Von Hannes hat Heinz spaltenlange Berichte geschickt. Und die Kritiken erst! Nein, das Mädel ist auch zu einzig. Hätt' ich es doch hier, das liebe, liebe Ding – – Ich hab' immer eine Sehnsucht danach, das ist nicht zu beschreiben. Gott, was mag nur mein armer Junge anstellen – –«

»Schreibt denn Heinrich nichts Neues von Hans?«

»O doch. Er ist täglich mit ihm zusammen. Der arme Kerl lebt seit einiger Zeit ganz außer Verkehr, schreibt Heinz, aber er hätte doch die alten Spuren in ihm wieder aufgedeckt und viel von der warmen Seele wiedergefunden, die der Junge früher in so reichem Maße besaß. Weißt du, Papa, ich mache mir seit langem schon die trübsten Vorwürfe, daß ich ihm früher nicht genug Mutter, oder doch nicht genug mütterliche Kameradin war.«

»Gold gehört ins Feuer, wenn es geläutert werden soll«, bestimmte Friedrich Leopold. »Und der Junge ist Gold, verlaß dich darauf. Ich habe auch nicht die Spur Angst.«

»Ja«, meinte Frau Margot sinnend, »du bist auch nicht seine Mutter.«

Da schwieg der alte Herr sinnend. Das Wort Mutter hatte seit einer Stunde für ihn einen besonders heiligen Klang.

»Ach, Großmutter Stahl«, sagte Frau Margot und spann träumerisch ihre Gedanken weiter, »Hans und Hannes –. Unsere schönen Pläne – –. Nun sind wir hier, und. der ist da, und der ist dort. Warum –?«

Die Greisin antwortete nicht. Sie blickte finster vor sich hin.

»Sie haben Hans nicht verziehen?«

»Nein.«

»Aber wenn er heimkommt – Heinz schrieb mir, daß er ihn überreden würde – Sie werden mir helfen und ihm auch helfen. Die Jugend glaubt ja doch, sie müsse sich erst immer Kämpfe schaffen, sonst sei das Glück nichts wert.«

»Wir wollen warten, bis er da ist, Frau Margot. Vielleicht bedankt er sich wieder einmal für unseren guten Willen.«

Es klingelte an der Korridortür. Frau Margot erhob sich sofort, um nachzusehen. Als sie zurückkam, hielt sie ein Briefchen in der Hand.

»Von Heinz«, sagte sie erregt und brach das Kuvert auf, »ein Dienstmann brachte es vom Bahnhof.«

»Heinrich ist angekommen?« rief der Senior so freudig, als ob der Sohn eine Weltumsegelung bestanden hätte. Frau Margots Augen überflogen hastig das Billett. Dann klärten sich ihre gespannten Züge, ihre Lippen lächelten, und sie mußte die Augen schließen, um sich zu sammeln.

»Nicht allein Heinz«, sagte sie mit zuckendem Munde. »Er hat sein Wort eingelöst, der treue Mann. Er bringt mir meinen Jungen zurück. Soeben sind sie in Düsseldorf angekommen.«

»Und noch nicht hier?« rief Herr Friedrich Leopold. »Ja da soll doch gleich! Müssen die denn zunächst stante pede irgendwo einen Schoppen machen?«

»Nein, nein, Papa, wo denkst du denn hin? Hans ist nicht ganz auf dem Posten gewesen in den letzten Tagen, schreibt Heinz, und nun möchte er sich nicht als Halbkranker präsentieren. Mein eitler Junge! Und Heinz ist mit ihm nach der Grafenbergerchaussee gefahren und liefert ihn in seinem Knabenstübchen ab. In seinem Knabenstübchen – –. Möge er dort, in der ersten Nacht unter dem heimatlichen Dache, finden, was ihm not tut: das Vergessen und – das Erinnern.«

Nie zuvor hatte Frau Margot ihr mütterliches Gefühl so stark ausströmen gefühlt.

»Ich glaube, heute bin ich wirklich glücklich«, sagte sie, und ihre Augen sahen in die Weite.

Herr Friedrich Leopold legte den Arm um ihre Taille und führte sie zum Kaminsitz, mit der zärtlichen Sorge, mit der man ein Kind geleitet. Wie schön, wie wohltuend das war. Sie streichelte ihm dankbar die Wange.

»Wie gut du bist, Papachen – –.«

Und der alte Herr, ganz überwältigt von den vielen Eindrücken des Abends, stotterte: »Ach was, Margot, gut – –! Lieb hab' ich dich, Töchterchen, lieb, ganz furchtbar lieb. So lieb, daß ich gleich Hurra! schreien möcht'. Und überhaupt, wenn der Heinrich kommt – ach Gott, der glückliche Bengel! Du bist nun doch einmal ein Prachtweib, und nun, bitte – nun gib mir einen Kuß!«

Sie sah ein wenig scheu und errötend zu Frau Stahl hinüber. Aber als die Vertraute des Hauses gleichmütig fortfuhr, den Tisch abzuräumen, umfaßte sie schnell den schneeweißen Kopf, der dem des Gatten so ähnlich sah, und küßte ihn zu wiederholten Malen auf den Mund.

»So! Bist du jetzt zufrieden, Papa? Ihr seid doch Schwerenöters, ihr Springes. Vater wie Sohn.«

Und sie lachte glücklich in sich hinein, und der alte fröhliche Herr tat desgleichen.

Dann saßen sie, Herr Friedrich Leopold, Frau Margot und Großmutter Stahl, vor dem Kamin und gaben ihren Gedanken Audienz. Ein jeder still für sich. Ein jeder dachte sich eine Welt. Und doch war der Kreis ihrer Gedanken so eng umsponnen, daß sie sich alle darin wiederfanden.

Die Lampe surrte, und die Holzscheite knisterten in hellen Funken auf, die lustige Reigentänze vollführten. –

Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, da fuhr Frau Margot auf.

»Heinrich!«

Aber Frau Stahl war schon fort, um zu öffnen.

»Heinz! Heinz!« und sie lag an seiner Brust, glückstrahlend wie ein junges Mädchen.

»Bummler!« lachte sie, »Ausreißer, unverbesserlicher Junggeselle! Warte, ich werde dir die Leviten lesen, daß du dich wundern sollst! Acht Tage – –! Acht Tage – – Und nun unterschlägt er mir auch noch den Jungen.«

»Wenn du meinen Mund nicht freigibst …«

Sie ließ ihn in ihrer Freude nicht zu Worte kommen. Alle Fragen, die sie erwartungsvoll im Herzen getragen hatte, drängten sich auf ihre Lippen und überholten sich.

»Was ist das mit Hans? Weshalb kommt er nicht zuerst zur Mutter? Du, so sag doch, wie er aussieht! Ich bin ja so froh, daß er da ist. So froh! Mach nicht solch ein liebes, dummes Gesicht. Natürlich freu' ich mich auch über dich. Doch, doch! Aber wenn der Hans krank ist – du, ich möcht hin, sogleich. Ach Gott, wenn der Mann doch endlich sprechen wollte!«

Nun war es an ihm, ihr die Hände auf die Lippen zu legen.

»Was ist das für ein Empfang? Wie? Existiere ich gar nicht mehr? Ja, ja, gewiß, ich kusche schon. Also der Hans! Der ist in der alten Wohnung. Und da laß ihn heute abend allein, du liebste Frau und Mutter. Er ist noch ein bißchen herunter und möchte sich erst – hm – zurechtfinden. Verstehst du das? Bei einem Mann? Na, ja, ich wußte es. Morgen mit dem frühesten ist er bei dir. Und wenn ihr mich jetzt verhungern lassen wollt, kann ich nachher nicht weiterreden.«

Er hatte sie um die Taille gefaßt und schwenkte sie lachend durch die Luft wie einen Kreisel.

Herr Gott, dachte Herr Friedrich Leopold, wo bleibt denn die große Gesellschaftsdame?

Aber dann zupfte er seinen Junior am Rock, und als sich der Racker durchaus nicht stören lassen wollte, zupfte er energischer und ruckte mißbilligend mit dem Kopf.

»Margot, Margot«, rief Heinrich Springe, »nun schau dir doch um alles in der Welt mal diesen schamhaften alten Herrn an. Oder – du – er ist eifersüchtig!«

»Er weiß eben noch nichts; er hat eben auch nicht die geringste Ahnung«, sagte Herr Friedrich Leopold weise zu Frau Stahl. »Dieser große Kindskopf. Es ist unglaublich.« –

Frau Margot sorgte, daß für den Gatten noch einmal aufgetischt wurde. Als er abgespeist hatte, saß die ganze Gesellschaft wieder um den Kamin herum, und Springe berichtete. »Den Hans, den hätten wir hier. Ein bißchen erkältet zwar, auch seelisch, aber ich vertrau' auf euch Frauen. Mit Kamillentee wird's nicht allein zu machen' sein, aber ihr habt ja auch noch andere Heilmethoden, wie den Magnetismus, das Handauflegen. Gerade das Handauflegen – so eine liebe, stille und doch vielsagende Frauenhand –. Aber wem sag' ich das! Was wir Männer mit dem Seziermesser suchen, das findet ihr Frauen mit dem Instinkt!«

»Und deine Meinung, Heinrich?«

Er strich der Gattin über das ängstlich zu ihm aufschauende Gesicht. »Heimweh an den Rhein«, resümierte er kurz.

Da atmete sie tief auf und drückte ihm dankbar die Hand.

»Denkst du noch an den Abend, als wir uns verlobten? Dort drüben auf der Veranda? Ich hatte nur eine Bedingung zu stellen: Mach mir auch den Hans glücklich. Dann fehlte mir nichts mehr, um auch an mich zu denken.«

»Und an mich nicht?« fragte Heinrich Springe schalkhaft.

»O, du bester Mensch, wenn ich an mich denke, so heißt das doch: an dich.«

Da konnte sich der Ehemann nicht enthalten. Er mußte sich erheben und trotz der Zuschauer Frau Margot in die Arme nehmen und eine Familienszene absolvieren. Wieder stand Herr Friedrich Leopold hinter ihm, und als der Junior den Kopf hob, rieb sich der Senior vor Freude die Hände und nickte ihm mit weitaufgerissenen, leuchtenden Äuglein heftig zu, als wollte er sagen: »Ich gratuliere, ich gratuliere.« Aber er sagte keinen Ton. Der Junge machte ein zu dämliches Gesicht.

Und nun wandte sich Heinrich Springe zu der Greisin und nahm ihre Hände und berichtete von Hannes. Wunderdinge! Wie ihr die vornehmsten Menschen der Reichshauptstadt und selbst die Damen vom Hof zugejubelt hätten, ohne Aufhören, zehnmal, zwanzigmal. Und wie sie ausgesehen hätte. Noch viel schöner und vornehmer als die ganze vornehme Umgebung. »So echt und recht Stahlsch«, sagte Herr Heinrich mit einer Verbeugung. Und gesungen hätte das Mädel, gesungen! »Wie nur ein Menschenkind singen kann, das über seine Schönheit hinaus eine gewaltige Gottesseele besitzt.«

In den Augen der Greisin zitterte ein Licht, und es wurde, je weiter der Mann da vor ihr sprach, ein stolzes Licht, und sie bewegte unhörbar die Lippen. Sie gedachte wohl der Tochter, die ihr Mutterglück draußen auf dem Goltzheimer Friedhof verschlafen mußte, und des einsamen Mannes, der bei Spichern lag, und segnete sie um ihrer Liebe willen.

»Grüße hat mir das Mädel aufgetragen«, schloß Herr Heinrich, »Grüße, damit würd' ich bis morgen nicht fertig. Aber das Beste ist doch: in sechs Wochen haben wir sie hier, und bis zum Winter sollen wir sie behalten.«

Frau Margot empfand beinahe eine mütterliche Eifersuchtsregung. »Und Hans?« fragte sie hastig. »Wie lange werden wir Hans haben?«

»Wenn er sich wiederfindet – für immer. Und wie sollte er nicht, unter den guten Augen einer solchen Mutter!«

»Glaubst du wirklich, daß er wieder heimisch werden könnte – –?«

»Die Guttaten der Heimat werden den hartgewordenen Sinn weich und gütig machen.«

»Du weißt nicht, was er unter gut versteht«, sagte sie nachdenklich. »Er ist so eigenartig – – der arme Junge.«

Da aber legte sich Herr Friedrich Leopold ins Mittel.

»Darüber kann es nur eine einzige Auffassung geben«, versicherte er aufs bestimmteste, »ebenso wie es nur einen einzigen Philosophen gibt, der, weil unwiderlegbar, die allgemeinste Anerkennung besitzen muß. Wie sagt also dieser einzige Philosoph? Er sagt:

›Das Gute, dieser Satz steht fest,
Ist stets das Böse, das man läßt.‹

Wonach sich zu richten. Gute Nacht.«

Und heiteren Gemütes trennte man sich. –

*


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