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2. Kapitel.
Ich »denunziere«

Eines Tages erschien bei mir ein Kriminalbeamter, zeigte mir Bilder von Hans und fragte mich: »Wer ist das?« Ich sagte sofort: »Das ist mein Sohn«, und gab auf Befragen alle näheren Daten aus seinem Leben an. Er wollte wieder gehen mit der Bemerkung: »Danke schön, dann ist alles in Ordnung.« Doch ich hielt ihn zurück: »Würden Sie mir auch eine Frage gestatten? Was bedeutet diese ganze Geschichte?«

Er: »Ach, das ist so üblich. Jeder Verbrecher, der eingeliefert wird, wird photographiert, und man zeigt seinen Angehörigen sein Bild, um seine Identität festzustellen; denn es kommt sehr häufig vor, daß Verbrecher unter falschem Namen und mit falschen Papieren leben, und daß dann später ein ganz harmloser Mann unter diesem Mißbrauch zu leiden hat. Decken sich aber die Angaben mit denen seiner Angehörigen, so haben wir den Beweis, daß die Angaben stimmen.«

Ich: »Sie haben eben den Ausdruck ›Verbrecher‹ gebraucht. Ich muß Sie dringend bitten, diesen Ausdruck zurückzunehmen. Sie scheinen nicht zu wissen, daß es sich hier um einen politischen Häftling handelt, und ich will nicht hoffen, daß Sie einen politischen Häftling als Verbrecher ansehen.«

Er, mit dunkelrotem Kopf: »Nein, so habe ich das natürlich nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, daß Verbrecher das sehr häufig tun, und daß wir daher dieses Verfahren bei jedem eingelieferten Gefangenen anwenden.«

»Würden Sie so nett sein, mir das Bild meines Sohnes noch einmal zu zeigen?« Er reichte mir den Bogen hin, deckte aber das untere Ende der Bilder mit beiden Händen zu. Das eine war ein ausgesprochen geistiger Profilkopf, die beiden anderen en face zeigten völlig verstörte Augen.

»Was halten Sie mit Ihren Händen eigentlich zu?«

»Ach, Sie brauchen nicht zu sehen, an welchem Ort sich Ihr Sohn befindet.«

»Ich weiß doch, daß er in Dachau ist.«

»Na, dann brauche ich ja kein Geheimnis daraus zu machen.« Unter den Bildern stand die Unterschrift: »Hans Litten. Dachau.« Trotzdem hielt er aber immer noch eine Stelle zu und erklärte: »Das dürfen Sie nun aber bestimmt nicht sehen. Das ist die Nummer des Gefangenen.«

Natürlich schielte ich intensiv unter seine Hand und las die Nummer: Dreitausend und einiges. Also so viele Häftlinge hatte das Lager mindestens!

Das Bild meines Sohnes im Zusammenhang mit seinem letzten Brief regte mich natürlich furchtbar auf. Noch mehr aber ein Besuch, den ich am nächsten Tage erhielt.

Als ich auf Klingeln die Tür öffnete, drängte sich ein Mann mit einem Ruck herein und schlug die Tür hinter sich zu. Er rief mir dann mit leiser, aber sehr befehlender Stimme zu: »Sechster Block, dritte Stube. Was ist das?«

Ich: »Das ist doch die Adresse meines Sohnes in Dachau.«

»Gut, dann weiß ich, daß Sie die Mutter von Hans Litten sind.«

Dann leise und sehr eindringlich: »Ihr Sohn wird in Dachau durch grauenvolle Mißhandlungen systematisch zum Selbstmord getrieben. Versuchen Sie, ob Sie helfen können?«

»Wer sind Sie? Kommen Sie von meinem Sohn?«

»Nein, ich kenne Ihren Sohn nicht. Ich bin nie Häftling gewesen. Ich komme aus ganz anderen Kreisen.«

»Wollen Sie mir nicht mehr sagen?«

»Nein, das würde mich gefährden.«

»Ich werde auf die Gestapo gehen; aber was soll ich sagen?«

Er, plötzlich ganz laut: »Die Wahrheit!«

Tür auf und fort war er.

Ich schrieb zunächst das ganze Gespräch auf, rief dann sofort Heinz telefonisch nach Hause. Wir beschlossen, daß es das einzig vernünftige wäre, die Sache so, wie sie sich zugetragen hatte, auf der Gestapo zu melden und um energische Maßnahmen in Dachau zu bitten.

Ich meldete mich dringend bei Hauptmann Suchanneck an, der mich auch sofort empfing. Ich schilderte ihm genau, was in den letzten Tagen vor sich gegangen war, erwähnte auch den schlechten Eindruck, den ich aus den letzten Briefen meines Sohnes gewonnen hatte, und berichtete von dem Besuch einer durchreisenden Engländerin, die sich bei mir sehr empört über die Gerüchte über Buchenwald geäußert und gemeint hatte, daß man bei allem Verständigungswillen nichts mehr mit Deutschland zu tun haben wolle, wenn man derartige Dinge höre.

Suchanneck: »Daß eine Greuelhetze im Auslande wieder im Gange ist, wissen wir ja. Wir wissen auch, weshalb. (Damals spielte die Diskussion über die Rückgabe der Kolonien eine große Rolle.) Aber daß sich diese Greuelhetze wieder einmal auf Ihren Sohn erstreckt, das wußten wir bisher nicht.«

»Es handelt sich hier um keine Greuelhetze, es handelt sich um Tatsachen. In Dachau herrschen furchtbare Zustände. Die müssen Sie abstellen.«

»Lassen Sie sich doch nicht solche Dinge einreden.«

»Ich lasse mir von niemandem etwas einreden. Aber auch nicht von Ihnen. Wenn in Dachau alles in Ordnung wäre, könnten Sie mir ja erlauben, meinen Sohn zu sehen. Weshalb bekomme ich denn keine Besuchserlaubnis? Das hat doch seinen Grund. Es soll etwas vor mir verborgen werden.«

Er (verlegen, doch andererseits etwas drohend): »Was Sie da vorbringen, ist so schwerwiegend, daß es dem Herrn Reichsführer gemeldet werden muß.«

Ich: »Das finde ich auch dringend notwendig. Aber ich bitte Sie, mir zu gestatten, dem Herrn Reichsführer diese Dinge selber vorzutragen. Ich glaube, daß es eindrucksvoller sein wird, als wenn Sie es tun.«

Er verschwand und kam nach etwa einer halben Stunde zurück, führte mich aber leider nicht dem Herrn Reichsführer vor, sondern sagte: »Sie werden in den nächsten Tagen Besuchserlaubnis erhalten, um sich davon zu überzeugen, daß es Ihrem Sohn gut geht. Im übrigen sind die Dinge, die Sie mir erzählt haben, so schwerwiegend, daß ich Sie bitten muß, sie ganz genau so, wie Sie es eben getan haben, noch einmal dem Herrn Kriminalkommissar Heller vorzutragen.«

Ich trug also Herrn Kriminalkommissar Heller noch einmal alles vor. Er sagte: »Wie können Sie nur einen solchen Unsinn glauben! Derartige Dinge kommen nicht vor.«

Ich: »Da derartige Dinge aber bereits vorgekommen sind, wie einwandfrei festgestellt ist, so können sie auch wieder vorkommen.«

»Ach so, Sie meinen Sonnenburg. Über diese Frage haben wir uns ja damals gesprochen. Ich bin mit Herrn Dr. Mittelbach selber im Auto hingefahren. Sie wissen ja, daß wir damals sofort die Sache abgestellt haben. So etwas kommt einfach nicht mehr vor.«

»Wenn Sie das wirklich glauben, sind Sie aber sehr schlecht informiert. Solche Dinge sind weiter andauernd vorgekommen. Dann hat es einmal eine kleine Pause gegeben, jedenfalls bei meinem Sohn, und jetzt sind wieder alle die Scheußlichkeiten da. Da können Sie sich schon auf meine Aussagen verlassen.«

Ich erzählte ihm einige der haarsträubenden Geschichten, die meinem Sohn früher passiert waren. Auch meine Unterhaltung mit dem Kommandanten von Brandenburg und seine Äußerung: »Das werden mir aber die Schutzhäftlinge büßen!«

Er: »Diese Äußerung war aber wirklich sehr dumm von dem Herrn.«

»So, dumm nennen Sie so etwas! Ich habe einen ganz anderen Ausdruck für so ein Benehmen. Und in der Verschiedenheit der Beurteilung einer solchen Äußerung liegt auch die Verschiedenheit unserer Einstellung zu den Vorkommnissen.«

Schließlich sagte er: »Ich höre ja, Sie werden sich selber davon überzeugen dürfen, wie die Verhältnisse in Dachau sind. Im übrigen ist das, was Sie mir erzählt haben, so schwerwiegend, daß ich Sie bitten muß, es zu Protokoll zu geben.«

Es wurde ein Sekretär hereingerufen, dem Herr Heller kurz den Tatbestand mitteilte, und der mich dann in einen größeren Raum führte, in dem etwa sechs Leute an verschiedenen Tischen arbeiteten.

Ich sollte sofort einer Stenotypistin meine Aussagen zu Protokoll geben. Mir begann zu dämmern, was die Leute von mir wollten. Ich wollte etwas Zeit gewinnen. Ich begann also meine schon wiederholt mit Erfolg gedrehte Walze aufzulegen: gesprächiges, aber nicht sehr intelligentes altes Mutterchen: »Da soll ich nun einfach diktieren. Ja, wie mache ich denn so etwas? Da müssen Sie mir aber helfen.«

Er half mir auch sehr liebenswürdig, und zuerst wurde die Geschichte des Kriminalkommissars zu Protokoll gegeben.

Ich war ungeschickt und ließ ihn ruhig die ganze Sache formulieren. Es wurde aber mit keinem Wort erwähnt, warum mir diese ganze Begegnung wichtig war. Er fand es ganz belanglos, daß ich meinen Sohn schlecht aussehend fand, während ich ihm erklärte: »Nein, das ist ja gerade das Wesentliche, weshalb ich diese Sache vorgebracht habe.«

»Also gut, dann schreiben wir: ›Ich fand, daß mein Sohn nicht sehr gut aussah‹.«

Da blieb mir nichts anderes übrig, als meine schüchterne Rolle aufzugeben: »So geht das nicht. Ich habe ja schließlich das Protokoll nachher zu unterschreiben. Also schreiben Sie: ›Der Ausdruck meines Sohnes war so entsetzlich, daß ich weiß, daß er schwer mißhandelt wird‹.«

Nun kam der schwierige Punkt dran. Ich sollte über meine englischen Beziehungen Auskunft geben. Da mußte ich schon ein bißchen mit Lügen anfangen. Es war eine mir unbekannte Dame, die mich aufgesucht hatte. Ihren Namen hatte sie zwar genannt, aber ich hatte ihn nicht verstanden und war zu höflich, noch einmal zu fragen. »Wissen Sie«, sagte ich, »Engländer sind doch immer sehr schwer zu verstehen. Vielleicht können Sie so gut englisch, daß Sie sich das nicht so vorstellen können (das ärgerte entschieden den ungebildeten Menschen), aber ich kann es leider nicht.«

Er (interessiert): »Wie haben Sie sich denn mit der Dame unterhalten? Konnte sie gut deutsch?«

»Da konnte ich doch noch besser englisch. Aber wir waren uns beide darüber klar – soweit konnten wir uns verständigen –, daß diese Vorkommnisse mit meinem Sohn jedem anständigen Menschen Abscheu einflößen. Die Dame erklärte, daß jeder Engländer, der für eine Verständigung mit Deutschland wäre, einen Schlag vor den Kopf bekäme, wenn er diese Dinge höre, und sich überlege, daß eine Verständigung mit solchen Leuten doch nicht das Richtige sei.«

Nun war man sehr interessiert, wer diese Engländerin gewesen sei. Die anderen im Raume, die schon längst ihre Federn weggelegt und meinem Verhör zugehört hatten, verlegten sich aufs Raten. Zunächst sollte ich beschreiben, wie diese Engländerin aussah. Da die Dame klein und zierlich war, schilderte ich sie als groß, schlank und sportlich. Na, wie eben so eine Durchschnittsengländerin aussieht.

Was wohl ihr Beruf gewesen sein mag? Davon hatte ich natürlich keine Ahnung. Aber sie war ein gebildeter, energischer, sicher sehr einflußreicher Mensch, der ganz bestimmt politisch arbeitet. Denn sonst wäre sie doch nicht so interessiert für diese Fragen gewesen. Nun nannte man mir allerhand Namen, darunter verschiedene, die mir wohlbekannt waren. Man nannte mir auch eine Frau, die ich vor ein paar Tagen gesprochen hatte, und erzählte mir ganz treuherzig, daß sie vor einiger Zeit bei ihnen gewesen wäre, um etwas für die Schutzhäftlinge zu tun. (Mit Bedauern sah ich daraus, an was für untergeordnete Stellen die Ausländer zuweilen geraten.) Auf eine dieser Damen traf meine Beschreibung ungefähr zu, aber glücklicherweise hatte einer der Schreiber geäußert, daß diese Dame fließend deutsch sprach. Also nein, das konnte sie keinesfalls sein. Denn meine Besucherin hatte wirklich nur immer ab und zu mal ein kaum verständliches deutsches Wort eingefügt.

Nun kam der dritte, der wichtigste Besuch an die Reihe.

Ich: »Also da brauche ich Ihre Hilfe nicht. Diese Sache war mir so wichtig, daß ich sofort, nachdem mein Besucher mich verlassen hatte, unser Gespräch genau aufgeschrieben habe. Ich werde es Ihnen diktieren.«

Ich schilderte nun diesen Besuch äußerst lebhaft und dramatisch, diktierte unser Gespräch genau, und als ich schloß mit dem Ende unseres Gespräches: »Die Wahrheit! Und der Mann war verschwunden«, da sprang mein Verhörer auf und sagte: »Toll!« und die anderen Schreiber echoten: »Toll!«

»So, Frau Litten, nun fehlt mir noch die Beschreibung dieses Mannes.«

»Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen.«

»Nun, wir müssen natürlich genau wissen, wie der Mann aussieht.«

»Ich bin hierher gekommen, um eine Anklage zu erheben. Sie verlangen, daß ich denunziere. Ich werde diesen Mann nicht beschreiben.«

Er, etwas drohend: »Sie werden diesen Mann beschreiben.«

»Ich soll diesen Mann beschreiben und in Ihre Hände ausliefern, der zu mir gekommen ist, um meinem Sohn zu helfen? Wenn ich das tue, bin ich ja ein ganz großes Schwein.«

Er, sehr nachdrücklich: »Wenn Sie das tun, sind Sie eine gute Deutsche.«

Ich, empört: »Nein, das will mir nicht in den Kopf, wie man gleichzeitig eine gute Deutsche und ein großes Schwein sein kann. Ich werde nicht denunzieren.«

Er, vollständig ruhig: »Sie müssen diesen Mann beschreiben.« Pause. – Ich dachte nach. – Es war mir klar, ich mußte denunzieren. Alle diese Leute hier im Raume interessierten sich brennend für mich und meinen Fall. Das durfte ich mir nicht verscherzen. Ich hatte oft genug auf der Gestapo erfahren, wie wichtig das Wohlwollen jedes einzelnen, auch des kleinsten Angestellten für mich war, und wie sie mich schikanieren konnten, wenn ich ihnen mißfiel. Bei ihnen war ja immer der Gedanke im Spiel: »Das ist eine ›Feine‹, die können wir ducken; die soll mal sehen, daß wir die Mächtigeren sind.« Ich wußte, wie oft sich die Leute auf ihren kleinen Posten geärgert hatten, wenn ich sie übersprang und bei den hohen Beamten etwas erreichte, denen gegenüber ich immer sehr bewußt als Dame auftrat. Also ich mußte hier schon versuchen, das Interesse für mich wachzuhalten in so starkem Maße, daß sie ihre Überlegenheitsgefühle der »Dame« gegenüber unterdrückten. Außerdem, wenn ich nur hierher kam, um mich in meiner temperamentvollen Art über die Greuel zu beklagen, so war ich eben einfach der Staatsfeind. Ich mußte also kuschen und denunzieren. Hätte ich es nicht getan, so hätte ich bestimmt nicht die Besuchserlaubnis bekommen und wäre nicht mehr so gut wie bisher behandelt worden. Andererseits, wenn ich denunzierte, benahm ich mich ja genau so charakterlos, wie es jetzt so viele Leute taten, und wie es nun auf der Gestapo gang und gäbe war. Und das war mir doch ganz klar, daß mein kompromißloses Verhalten oft auf die Leute einen starken Eindruck gemacht hatte, und daß ich letzten Endes nur durch diese Haltung etwas erreicht hatte.

Der Entschluß war wirklich schwer. Ich fühlte, wie alles in Spannung auf mich starrte, und hörte dann den Beamten sagen (sehr energisch): »Also, Frau Litten, bitte!«

Ich sprang auf, lief ein paarmal aufgeregt hin und her und spielte einen seelischen Kampf: »Ich kann mich nicht entschließen zu denunzieren.«

Er: »Sie werden den Mann beschreiben, Frau Litten.« Ich schnappte einen Augenblick nach Luft und sagte:

»Also gut, ich werde denunzieren. Der Mann, der bei mir war, hat mir ja gesagt, ich soll die Wahrheit sagen. Vielleicht hat er vorausgesehen, was man hier von mir verlangt, und hat mit dieser Bemerkung gemeint, daß ich keine Rücksicht auf ihn nehmen soll. Bitte – schön, fragen Sie mich!« Ich beschrieb:

»Es war ein großer, schöner, schlanker, kräftig aussehender Mann.«

»Haare?«

»Blond.«

»Augen?«

»Ja, wie mag die Farbe gewesen sein? Die Augen leuchteten und strahlten und sahen mich sehr durchdringend an – dann muß es doch eigentlich blau gewesen sein.«

»Was glauben Sie, was der Mann für einen Beruf hatte?«

»Das ist schwer zu sagen. Am Tag vorher war der Kriminalbeamte bei mir gewesen. Nun dachte ich wieder an etwas Ähnliches. Aber das Benehmen dieses Mannes war so befehlshaberisch, daß ich annahm, daß er einen höheren Posten bekleiden müsse. Als er hereinkam, hatte ich das Gefühl, das ist jemand von der Gestapo. Es könnte zum Beispiel ein Standartenführer in Zivil gewesen sein. Früher würde ich angenommen haben, daß so jemand ein Offizier in Zivil ist. Aber andererseits hatte der Mann einen so ausgesprochen geistigen Kopf, daß, wenn ich nur den Kopf gesehen hätte, ich ihn für einen geistigen Arbeiter gehalten haben würde.«

»Wie schätzen Sie seine Größe ein?«

»Na, er war eben groß.«

»Nein, nein, ich meine die Zentimeterzahl. War er 160, war er 165?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Unter Zahlen kann ich mir nichts vorstellen. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie meine Größe ist.«

Er stand auf und fragte mit etwas eitlem Lächeln: »Nun, etwa so groß wie ich?«

Ich stellte mich zum Vergleich neben ihn und sagte: »Ach nein, viel größer. Wissen Sie, zu dem Mann mußte ich direkt aufsehen.«

»Na also, dann schätzen wir …«, und er nannte eine Zahl, die ich vergessen habe.

»Also, nun die Kleidung.«

»Da muß ich nun aber ehrlich sagen, von der Kleidung habe ich keine Ahnung. Als der Mann hereinkam, war mein erster Gedanke: ›Donnerwetter, ein großartiger Kopf.‹ Da habe ich überhaupt nichts mehr gesehen.«

»Was für einen Hut hatte denn der Mann auf?«

»Hut? – Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. – Nein, einen Hut kann er überhaupt nicht aufgehabt haben. Ich habe doch leuchtendes, blondes Haar gesehen. Wahrscheinlich hat er den Hut in der Hand gehabt. Aber sagen kann ich das nicht.«

»Und was für einen Anzug hatte der Mann an?«

»Das weiß ich nicht.« (Nachdenklich.) »Er hatte einen Mantel an, und ich glaube, der Mantel war offen.«

»Wie war der Mantel? Elegant oder ein billiger Mantel von der Stange?«

Ich, sehr treuherzig: »Wissen Sie, damit möchte ich mich nun aber wirklich nicht festlegen. Nachher finden Sie den Mann, und dann hat er entweder einen sehr eleganten oder sehr ruppigen Mantel an. Wenn ich dann etwas anderes gesagt habe, gelte ich für unglaubwürdig oder werde vielleicht sogar bestraft. Sehen Sie, so was ist doch schrecklich persönlich. Ich kenne Leute, die ganz teure Sachen tragen und trotzdem unansehnlich aussehen, und dann kenne ich Leute, die in dem ruppigsten Anzug großartig aussehen. Zum Beispiel erinnere ich mich, daß ich zu den jungen Offizieren, die bei uns im Hause verkehrten, wenn ich sie in Zivil sah, manchmal sagte: ›Weiß der Deibel, Jungens, wie macht Ihr's bloß, daß Ihr immer so anständig ausseht. Was Ihr da anhabt, ist doch sicher ein Ramschstück aus der ›Goldenen Hundert‹.«

Die Leute im Raum lächelten sich an. Ich las in ihren Blicken: »Komische alte Frau, ganz nett mal so ein Verhör.«

Ich mußte aber unbedingt noch angeben, ob dieser so ausführlich erörterte Mantel ein Fischgrätenmuster hatte oder einfarbig war. Ich wußte es nicht. Aber offenbar gehörte diese Angabe nun einmal zum Protokoll, ohne die schien es nicht zu gehen. Schließlich sagte ich: »Dann werde ich mich also für Fischgrätenmuster entscheiden. Aber ich tue es wirklich auf gut Glück. Vielleicht machen Sie doch lieber eine Bemerkung darüber im Protokoll. Ich möchte wirklich nicht, daß wegen so etwas nachher meine Glaubwürdigkeit angezweifelt wird.«

Wieder ein lächelnder Blick meines Ausfragers zu den andern hin: »Rührend, daß sie sich um so etwas ängstigt.« – Aber eine Frau, die so vorsichtig mit ihren Angaben war, war doch sicher glaubwürdig.

Keiner von ihnen schien zu ahnen, daß meine Beschreibung absolut falsch und irreführend war.

Nun kam noch der Kriminalbeamte dran, dessen Personalien man vergessen hatte aufzunehmen, und ich meinte: »Wissen Sie, da kann ich Ihnen bestimmt nichts Genaues sagen. Der Mann sah derartig belanglos aus, daß ich seinen Kopf einfach nicht beschreiben kann. Aber ich weiß noch genau, daß er einen grauen Fischgrätenmantel anhatte, und daß er einen grauen Hut neben sich auf den Tisch legte. Sehen Sie, wenn Sie mir jetzt zehn Leute hinstellen würden, den Kriminalbeamten würde ich bestimmt nicht herausfinden. Wenn Sie mir aber tausend Leute vorführen würden, den anderen Mann würde ich sofort wiedererkennen. Ich glaube, Sie würden das Verfahren sehr vereinfachen, wenn Sie bei der Schöneberger Kriminalpolizei anrufen würden, ob sie mir jemand ins Haus geschickt hat. Der Kriminalbeamte würde doch sofort zur Gestapo kommen. Dann können Sie doch gleich selber ins Protokoll diktieren, wie er aussieht.«

Wieder ein Lächeln.

Ich stand auf und sagte: »Ist nun alles fertig? Ach, ich hätte doch nicht so genaue Angaben machen sollen. Ich habe mich wirklich wie ein großes Schwein benommen. Jetzt tut es mir eigentlich leid.«

Er verbeugte sich: »Sie sind eine gute Deutsche.«

*

Ich habe mein Leben lang nicht gelogen. Nicht aus prinzipiell religiösen oder moralischen Gründen, sondern einfach, weil ich es für unter meiner Würde hielt, nicht zu dem zu stehen, was ich tat. Jetzt war ich gezwungen zu lügen. Und es ging wunderschön. Nicht einmal Gewissensbisse hatte ich. Ich befand mich Verbrechern gegenüber in Notwehr, und es war mir direkt eine Genugtuung, wenn sie auf meine Lügen hereinfielen.

Ich dachte viel darüber nach, sprach auch einmal mit einem befreundeten Pastor über diese Frage. Ich bewunderte ihn, weil er trotz seiner religiös-pazifistischen Weltanschauung von einem ausgesprochenen Kampfesgeist beseelt war.

» Natürlich lüge ich«, erklärte er mir, »wenn ich mit der Gestapo verhandele. Wie soll man sich denn sonst gegen diese Verbrecher schützen? Allerdings tue ich es mit schlechtem Gewissen.«

»Wenn ich nun einen Eid zu leisten hätte, wie hätte ich mich da zu verhalten?«

»Natürlich ist es Ihre Pflicht, einen Meineid zu leisten, wenn Sie damit einen Menschen aus den Klauen dieser Ungeheuer retten.«

Ja, gelogen wird im Dritten Reich.

Die Nazis belügen das Volk, um es ihrem Willen gefügig zu machen und um ihre Verbrechen zu beschönigen.

Wir Gegner lügen aus ethischen Gründen und aus Notwehr.

Die Unentschiedenen lügen aus Feigheit oder Bequemlichkeit.

Kann man sich da wundern, wenn die Moral des deutschen Volkes erschüttert wird, wenn es jeden ethischen Maßstab verliert?


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