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Anhang
Aus Briefen meines Sohnes, geschrieben in Konzentrationslagern

I

Ich kann Dir Bachsche Musik nur immer wieder ganz dringend empfehlen. Man wird von der Gewalt und Objektivität dieser Musik so herrlich ruhig, und alle Aufregungen werden unwichtig. (Während die ganz subjektiv gerichtete »Musik« des 19. Jahrhunderts – ich betrachte das ja eigentlich gar nicht als Musik – entweder die persönliche Unruhe steigert oder, wenn sie der momentanen Stimmung des Hörers fernliegt, einfach langweilt.) Ich bin jedesmal glücklich, wenn ich Sonntags im Leipziger Sender eine Bach-Kantate (manchmal auch Orgelmusik des 17. Jahrhunderts) hören kann. Das ist zur Zeit überhaupt so ziemlich das einzig Erfreuliche für mich.

II

Die Muttergottes-Bilder, die Du mir geschickt hast, sind herrlich. Ich habe sie mir immer wieder angesehen und mich nicht entscheiden können, welche die schönste ist … Ich würde sehr gern von der Schongauerschen Madonna in der Rosenlaube eine Photographie haben. Mir liegt an dem Bild sehr viel. Die Lochnersche Maria im Rosenhag ist sehr schön, aber die Rosen sind darauf nur äußere Staffage, allenfalls symbolische Entsprechung zur Figur der Himmelskönigin. Bei Schongauer aber kommt zum Ausdruck, daß Maria die Ursache ist – entsprechend der Zeile: »Da haben die Dornen Rosen getragen« aus dem mittelalterlichen Marienlied – und auf diese Beziehung kommt es mir an. Ich will das Bild jemand zu Weihnachten schenken, der weiß, daß der tote Dornwald wirklich Rosen trägt, wenn Maria mit dem Kinde unter dem Herzen hindurchgeht – was ja die Menschen unseres Jahrhunderts meistens nicht mehr wissen.

III

Mit Heinzens Auffassung von Heinrich IV. bin ich sehr einverstanden. Daß das Stück keine Falstaff-Komödie ist, hat Shakespeare meiner Ansicht nach selbst dokumentieren wollen, als er nachträglich mit den »Lustigen Weibern« eine wirkliche Falstaff-Komödie schrieb. (Übrigens halte ich Falstaff mindestens zur Hälfte für eine tragische Figur.) Ich habe hier kürzlich das Stück mit einem Kameraden zusammen gelesen, und wir waren gerade von der Stärke der historischen Szenen wieder ganz erschlagen. Überhaupt geht es mir bei jedem Shakespeare-Stück so, daß mir fast jede Zeile bei jedem neuen Lesen immer erstaunlicher wird. Ich begreife kaum noch, daß es einmal einen Menschen gegeben hat, der das alles fertigbekommen hat. (Daß eine Zeitlang intelligente Leute den Schöpfer dieser Werke mit dem Philosophen Bacon identifizieren wollten, sollte man heute nur noch als einen ergötzlichen Beitrag für die Rang-Blindheit des abgelaufenen Zeitalters vermerken.) Ich habe mich auch sonst noch viel mit Shakespeare beschäftigt. Von unserer gemeinsamen Lieblingsstelle im »König Lear« glaube ich jetzt eine einigermaßen mögliche Übersetzung zustande gebracht zu haben. Die Tiecksche Übersetzung: »Sehn wir den Größern tragen unsern Schmerz – kaum rührt das eigne Leid noch unser Herz«, geht am Gehalt der Stelle ziemlich vorbei, deren wörtliche Übersetzung etwa lauten würde: »Wenn wir unsere Besseren (das heißt diejenigen, die besser sind als wir) unsere Schmerzen tragen sehen, halten wir unsere Mißgeschicke kaum für unsere Feinde.« Also: wir empfinden unser Unglück genau so intensiv wie sonst (das wird bei Tieck verfälscht), aber nicht als unseren Feind, sondern (das ist der geheime Unterton) im Gegenteil als einen erwünschten Ausgleich, der uns das Leiden des wertvollen Menschen noch eben erträglich macht. Bei Gundolf heißt es: »Sieht man den Besseren tragen unsere Not – dünkt man sich kaum vom eigenen Leid bedroht.«

Der Gehalt der zweiten Zeile kommt ja auch noch nicht richtig heraus; vor allem aber ist die Übersetzung: »Bessern« unmöglich, weil das für uns unfehlbar einen moralisierenden Beigeschmack hat, während das Wort im Sprachgebrauch der Renaissance und des Barock noch eine reine Wertbezeichnung ohne moralisches Urteil gibt. Ich glaube, mit folgender Fassung dem Original relativ am nächsten gekommen zu sein: »Sehen wir, wer mehr als wir, trägt unsere Last – dünkt unser Leid uns kaum als Feind verhaßt.«

IV

Zur Zeit beschäftigt mich unsere Lieblingsstelle aus dem »König Lear«. Ich glaube, daß meine Übersetzung, die ich Dir seinerzeit schrieb, und die gegenüber Tieck und auch Gundolf sicher einen Fortschritt bedeutet, noch lange nicht ausreicht. Es muß alles getilgt werden, was irgendwie an die banale Weisheit »geteilter Schmerz – halber Schmerz« erinnern könnte, und es muß ganz klar herausgearbeitet werden, daß es hier um das Problem des menschlichen Ranges geht. Von der wörtlichen Übersetzung – »Wenn wir diejenigen, die mehr wert sind als wir, unsere Schmerzen tragen sehen, halten wir unsere Leiden kaum für unsere Feinde« – kann man zur Wiedergabe des eigentlichen Gehalts wohl nur gelangen, wenn man das irgendwie aus dem Negativen ins Positive wendet. Es muß ganz scharf herausgearbeitet werden, daß wir angesichts des Leidens des wertvolleren Menschen das eigene Leiden nicht nur nicht als Feind empfinden, sondern geradezu als Freund herbeisehnen. Denn die Tatsache, daß auch der große Mensch leiden muß – obwohl das ruhig auf uns minderwertige Menschen beschränkt bleiben könnte! –, gehört für jeden nicht ganz abgestumpften Menschen zum Quälendsten, was es im Weltganzen gibt, und wir brauchen als Ausgleich geradezu ein möglichst großes Maß eigenen Leidens, um die furchtbare Tatsache des Leidens des Großen einigermaßen ertragen zu können. Das sind so zur Zeit meine Gedanken und Stimmungen, das steht auch bestimmt so in den zwei Zeilen von Shakespeare, man müßte es nur in der Übersetzung herausholen. Übrigens wirst Du in Rilkes »Neuen Gedichten« mehrfach auf das gleiche Problem stoßen.

V

Das Wessobrunner Gebet

Das erfragt ich im volke als frühestes Wunder.
Daß erde nicht war noch oben himmel
Noch baum irgend noch berg nicht war
Noch vom süden sonne nicht schien
Noch Mond nicht leuchtte noch der meer-see.
Da nichts nicht war an enden noch wenden.
Und da war der eine allmächtige Gott.
Der männer mildester. und da waren auch manche mit ihm.
Gute Geister und Gott der heilige.

(Eigene Übersetzung.)

Ich halte das Wessobrunner Gebet nicht für die Bearbeitung eines Psalmes und überhaupt nicht für christlich, sondern für ein heidnisches Schöpfungsgedicht (was allerdings dem Aufzeichner nicht mehr bewußt war, der es als Einleitung eines in Prosa gehaltenen wirklichen Gebets in christlichem Sinne aufzeichnete.) Beweis: Die Zeile »Daß erde nicht war noch oben himmel« findet sich fast wörtlich in dem gegen tausend auf Island aufgezeichneten Edda-Gedicht »Völuspa« (Der Seherin Schau) wieder. Das Wessobrunner Gebet ist um 800 aufgezeichnet, gegenseitige Beeinflussung ausgeschlossen. Beide müssen also auf gemeinsamer Grundlage beruhen, die schon existiert haben muß, als zwischen Nord- und Westgermanen noch Sprachgemeinschaft bestand, also spätestens 400 nach Christus. Die Wendung »der eine allmächtige Gott« braucht nicht christlich gedeutet zu werden, sondern kann sich auf einen obersten Gott (im Gegensatz zu anderen, weniger mächtigen) beziehen, und die Bezeichnung »der männer mildester« ist für den christlichen Gott undenkbar. Sie kommt in frühen christlichen Dichtungen wohl für Christus, aber nie für Gottvater vor. Die beiden letzten Zeilen fehlen bei v. d. Leyen – wohl weil er mit den meisten Herausgebern glaubt, daß sie bruchstückhaft sind, weil nach den Worten »und Gott der heilige« eine Schilderung seiner Taten folgen sollte. Ich bin der Meinung, daß das Gedicht da zu Ende ist. Sollte es wirklich eine Fortsetzung gehabt haben, so hat der Zufall mit der bruchstückhaften Überlieferung eine ganz starke Wirkung erzielt, denn der unendliche Ruhepunkt, den die nochmalige Erwähnung Gottes hinter die Vielheit der guten Geister setzt, ist dichterisch ungeheuer stark. Die vierte Zeile ist verstümmelt; Rhythmus und Stabreim verlangen in der ersten Hälfte ein betontes mit s beginnendes Wort. Die meisten Herausgeber ergänzen »sundana« = »von Süden«, dem folgt unsere Übersetzung. In der nächsten Zeile lesen die meisten Herausgeber »mareo« (mit kurzem a), das ist gen. plur. von »mari« = »das Meer«. Meine Lesung ist möglich, denn die Handschrift macht (wie ich an Hand des Faksimiles in der Königschen Literaturgeschichte feststellen konnte) zwischen ä und a keinen Unterschied; die Zusammensetzung »meer-see« ist in anderen Texten bezeugt, und dichterisch halte ich sie für stärker. Übrigens ist Wolfskehl auch unter Berücksichtigung seiner Lesung mit der Übersetzung nicht zurechtgekommen. »Märchen-Meer« ist eine romantische Verfälschung; die Landschaft ist nicht märchenhaft, sondern mythisch gesehen. In der später erschienenen Auswahl der Insel-Bücherei hat er geändert in »die mächtige See« – das ist sinngemäß richtiger, schwächt aber den Klang zu sehr. In der gleichen Neufassung hat er im ersten Teil dieser Zeile das rhythmisch unmögliche »leuchtet«e in »licht war« geändert; das geht rhythmisch, ist aber klanglich unmöglich. Daß er die einzig mögliche Form »leuchtte« nicht wagte, ist eine der Wirkungen des von Luther zur Schriftsprache erhobenen obersächsischen Kanzleistils, der solche »Kürzungen« nicht duldet.

VI

Ich arbeite zur Zeit an einer sehr wichtigen Aufgabe: Das deutsche Mittelalter und die germanische Frühzeit für 14-16jährige Jungens auszuwählen. Ich glaube nämlich, daß man diese Kultur auch in ihren eigenen Zeugnissen (Bildwerke und Dichtungen) ohne romantische Verfälschung schon 14jährigen zugänglich machen kann, allerdings in Auswahl. Ich bringe ziemlich viel von den älteren Edda-Liedern, einiges aus den Sagas, eine Episode aus dem angelsächsischen Beowulfslied. Dann aus Deutschland: Hildebrandslied, Merseburger Zaubersprüche, Wessobrunner Gebet, Muspilli, eine Szene aus dem Heiland (Petrus schlägt dem Kriegsknecht Malchus das Ohr ab, mit dem entsprechenden Relief des Naumburger Doms), Rolands Tod aus dem Rolands-Lied des Pfaffen Konrad (wenig bekannt, aber ungeheuer stark), ein paar Proben mittelhochdeutscher Lyrik (unter fast völliger Ausschaltung der Minnedichtung, nur des Kyrenbergers »ich zoch mir einen valken« wird als erste Andeutung gebracht) und eine sehr ausführliche Auswahl aus dem Nibelungen-Lied. Von Bildern: Aus dem Naumburger Dom Ekkehard und Uta, der Bamberger Reiter, der Dom von Worms (zum Nibelungen-Lied), einiges aus der nordischen Schnitzerei und Holzarchitektur, einige südliche Normannen-Burgen (als Denkmäler des Wikingergeistes) und einige ritterliche Miniaturen (Weingartners Liederhandschrift usw.). Die nordischen Dichtungen in der Übersetzung von Genzmer, die mittelhochdeutschen im Urtext (denn »Übersetzung« aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche ist genau so ein Unfug, als ob man Luthers Bibel in heutiges Deutsch »übersetzen« wollte), die angelsächsischen, althochdeutschen und altsächsischen Dichtungen wahrscheinlich in eigener Übertragung, an der ich gerade arbeite, weil mir die bisherigen Übersetzungen den dichterischen Gehalt noch nicht genügend wiederzugeben scheinen.

VII

Kunstmerkblatt für Anfänger

(Aufzeichnungen zu einem Vortrag, gehalten im Konzentrationslager Lichtenburg, im Kreise von Kameraden)

I. Das Wesen der Kunst

Kunst ist die Gestaltung metaphysischer Realität durch physische Ausdrucksmittel. Diese Definition ist erschöpfend, es darf aber auch aus ihr kein Wort gestrichen werden.

1. Kunst ist Gestaltung metaphysischer Realität durch physische Ausdrucksmittel. Damit ist gesagt, daß jede Wiedergabe physischer Realität – vom Tisch bis zur subtilsten psychologischen Regung – nichts mit Kunst zu tun hat. Derartige Schilderungen physischer Realitäten mögen gelegentlich wissenschaftlichen oder auch moralischen Wert haben. Künstlerisch sind sie belanglos. Gewöhnlich hat diese Art von »Kunst« nur die Funktion eines Erlebnis-Ersatzes für erlebnisschwache Naturen.

2. Kunst ist Gestaltung metaphysischer Realität durch physische Ausdrucksmittel. Die Frage, ob Metaphysisches überhaupt real oder nur in der menschlichen Vorstellung vorhanden ist, ist bekanntlich umstritten. Wissenschaftlich ist die Existenz des Metaphysischen weder beweisbar noch widerlegbar. Das Vorhandensein des Kunstwerks setzt aber das Vorhandensein einer metaphysischen Realität voraus. Es genügt also nicht, daß menschliche Gedanken über das Metaphysische oder menschliche Sehnsüchte nach dem Metaphysischen gestaltet werden. Eine solche Gestaltung bleibt immer Gestaltung menschlicher Seelenregungen. Also, physischer Realitäten. Es ist also scharf zu unterscheiden zwischen Gestaltung metaphysischer Realität und Gestaltung bloßer menschlicher metaphysischer Stimmungen, Gedanken usw. Werke der letzten Art, die man als »romantisch« zu bezeichnen pflegt, haben mit der Kunst ebensowenig zu tun wie die grobe Wirklichkeitsschilderung.

3. Kunst ist Gestaltung metaphysischer Realität durch physische Ausdrucksmittel. Für das Zustandekommen des Kunstwerkes genügt es nicht, daß sein Schöpfer den Kontakt zur metaphysischen Realität gefunden hat. Er muß auch die Fähigkeit haben, die von ihm erlebte metaphysische Realität in physische Ausdrucksmittel umzusetzen. Hat er diese Fähigkeit nicht, so bleibt sein Erlebnis für andere unsichtbar. Er kann Mönch oder – beim Hinzukommen besonderer anderer Fähigkeiten – Prophet oder Priester, aber niemals Künstler sein. Nach der Verschiedenheit des physischen Ausdrucksmittels unterscheiden sich die einzelnen Zweige der Kunst (fälschlich »Künste« genannt): Ausdrucksmittel der Dichtung ist der Laut, Ausdrucksmittel der Musik der Ton, Ausdrucksmittel der Malerei die ruhende Farbform usw. Andere Unterschiede zwischen den einzelnen Kunstzweigen bestehen nicht.

4. Kunst ist Gestaltung metaphysischer Realität durch physische Ausdrucksmittel. Damit ist gesagt, daß zwischen der metaphysischen Realität und dem physischen Ausdrucksmittel das Verhältnis der Gestaltung, das heißt der unmittelbaren Umsetzung bestehen muß. Es genügt also nicht, das bloße Reden über eine metaphysische Realität. Wer eine metaphysische Realität erlebt hat, sie aber nicht durch Laute gestaltet, sondern in Lauten über sie redet, ist Theologe oder Prediger, aber nicht Dichter. (Damit soll nicht bestritten werden, daß es Predigten gibt, die gleichzeitig Dichtungen sind, zum Beispiel die Predigten von Tauler.) Der Satz: »Es gibt einen Gott«, ist eine (zutreffende) Aussage über eine metaphysische Realität; Dichtung, das heißt Gestaltung metaphysischer Realität durch Laute, ist er nicht. (Natürlich könnte der Satz, in richtigen Zusammenhang gesetzt, Bestandteil einer Dichtung werden, aber für sich allein ist er nicht dichterisch. Dagegen sind die Verse Hölderlins

»Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See«

Gestaltung einer metaphysischen Realität, obwohl sie, als Aussage gefaßt, nur von höchst physischen Realitäten handeln. (Ich sehe davon ab, daß die Fortsetzung

»Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilig nüchterne Wasser«

als Aussage über eine physische Realität überhaupt nicht mehr faßbar ist und damit auch die physische Realität des Inhalts der drei ersten Zeilen in Frage gestellt wird; denn die drei ersten Zeilen sind schon für sich allein dichterisch, und wenn sie uns etwa als Fragment erhalten wären, so wäre dieses Fragment bereits eine Dichtung.) Man darf sich also nicht durch den »Inhalt« eines Werkes zu falschen Urteilen verführen lassen.

II. Mensch und Kunstwerk

Bei aller Verschiedenheit der landläufigen Kunsttheorien pflegt in der Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Kunstwerk Übereinstimmung dahin zu bestehen, daß die Kunst dem Menschen zu dienen habe; während nach richtiger Auffassung der Mensch der Kunst zu dienen hat. Die beiden verbreitetsten Theorien betrachten die Kunst als Genußmittel oder als Erziehungsmittel.

1. Wie verbreitet die Auffassung von der Kunst als Genußmittel ist, erkennt man am besten daraus, daß man heute, ohne sich lächerlich zu machen, von »Kunstgenuß« reden kann. Nun gibt es ja in der Tat Werke, die nur als Genußmittel aufgenommen werden können, weil sie eben nichts weiter als Genußmittel sind; so zum Beispiel Bilder von Monet, Musikstücke von Debussy usw. Diese Werke haben aber mit Kunst nichts zu tun. Die Anhänger der Genußmitteltheorie pflegen aber auch wirkliche Kunstwerke zum Genußmittel zu degradieren. Sie »genießen« eine Bachsche Fuge, eine Shakespearesche Dichtung, ein Rembrandtsches Gemälde!

Nicht viel höher steht die Auffassung von der Kunst als Erziehungsmittel. Zwar ist es richtig, daß jedes große Kunstwerk auf den Betrachter eine erziehende Wirkung ausübt. Aber das tut es kraft der ihm innewohnenden Eigengesetzlichkeit; dagegen darf die Kunst nicht in den Dienst menschlicher Zwecksetzung gestellt werden. Die einzig angemessene Haltung des Menschen gegenüber dem Kunstwerk ist der Dienst an der Kunst. Allerdings ist es nicht möglich, diese Erkenntnis einer Zeit beizubringen, die selbst im Gottesdienst nicht mehr das sieht, was der Name besagt, sondern ihn zum Erziehungsmittel (»sittliche Besserung«) oder gar zum Genußmittel (»Erbauung«) degradiert.

Die vielfach gewünschte Verdeutschung des Kernsatzes des Kunstmerkblatts würde lauten:

Kunst ist Gestaltung übersinnlicher Wirklichkeit durch sinnliche Ausdrucksmittel.

 


© Greifenverlag zu Rudolstadt 1947 1.

Auflage der Neuausgabe 1984 Lizenz-Nr. 384-220/16/84 LSV7103
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30

 


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