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4. Kapitel.
Wegen Verbreitung von Greuelnachrichten …

»Dachau, den 23. Nov. 1937

Wegen Verbreitung von Greuelnachrichten über das Konzentrationslager Dachau durch die Juden im Ausland werden wir hier isoliert und haben bis auf weiteres Postsperre.

Hans Litten.«

 

War das die Antwort?

Ich hatte den Verdacht, daß man mich in eine Falle locken wollte. Daß man unserem Briefwechsel mißtraute, ging ja klar daraus hervor, daß man die beiden letzten Briefe von uns unterschlagen hatte. Vielleicht wollte man jetzt beobachten, ob über diese Tatsachen in der ausländischen Presse geschrieben wurde. Und dann hätte man jedenfalls mich in der Hand gehabt. So mußte also festgestellt werden, ob noch andere solche Karten geschrieben worden waren.

Heinz, der inzwischen die Adresse von Angehörigen eines halbjüdischen Schutzhäftlings, der sich in derselben Kompanie wie Hans befand, herausbekommen hatte, stellte fest, daß dieser eine Karte desselben Inhalts geschrieben hatte.

Inzwischen traf wieder ein Brief von Hans ein:

 

»Dachau, den 6. Dez. 1937

Der Neue Vorwärts (Karlsbad) Nr. 229 vom 31.10.37, weiter die Deutsche Volkszeitung (Paris) Nr. 46, II. Jahrgang vom 14.11.37, weiter die Deutsche Volkszeitung (Prag) Nr. 44 vom 31.10.37 und »Die Stimme«, Jüdische Zeitung (Wien) Nr. 693 vom 10.11.37 haben erneut Greuellügen über die Konzentrationslager verbreitet. Diese unverschämten Lügen werden von den Emigranten-Juden erfunden. Die Juden in Dachau stehen wieder im Verdacht, Lügennachrichten hierzu aus dem Konzentrationslager geschmuggelt zu haben. Bis zur Feststellung der Täter werden wir Juden in Isolationshaft genommen.

Wir teilen Euch mit, daß wir für die Dauer der Isolation streng abgeschlossen sind, alle Bequemlichkeiten verlieren und Post weder senden, noch empfangen dürfen.

Es liegt an Euch, die Emigranten-Juden in Prag zu beeinflussen, solche blödsinnigen Lügen über die Konzentrationslager künftig zu unterlassen, da die Juden in Dachau als Rassegenossen hierfür verantwortlich gemacht werden.

Hans Litten.«

 

Nach dieser Aufforderung konnte ich ja handeln.

Ich rief Herrn Dr. Berndorfer an, las ihm den eingegangenen Brief am Telefon vor und sagte, ich möchte natürlich die gewünschten Schritte tun und wollte vorher mit ihm besprechen, was ich tun solle. Er meinte, er hätte die nächsten Tage absolut keine Zeit und wäre furchtbar mit Konferenzen belastet. Ich brauche doch seinen Rat gar nicht, ich solle tun, was ich für richtig hielte. Als ich nicht locker ließ, sagte er: »Bitte wenden Sie sich an meinen Vertreter, Herrn König«, und er machte gleich eine Verabredung mit ihm aus. Er war anscheinend intelligent genug, um zu übersehen, daß diese Angelegenheit ihm große Unannehmlichkeiten bringen konnte, die er von sich abwälzen wollte.

Wir setzten zu Hause mehrere Briefentwürfe auf. Es war keine leichte Arbeit. Der Brief mußte so gehalten sein, daß die betreffenden Zeitungen von der Furchtbarkeit der Situation in Dachau benachrichtigt wurden und ihre Campagne fortsetzten. Andererseits mußte die Gestapo aus dem Brief den Eindruck gewinnen, daß ich den Wunsch hatte, die Greuelnachrichten zu stoppen.

Ich erschien nun bei Herrn König, teilte ihm den Sachverhalt und meinen Plan mit, an die Emigrantenpresse zu schreiben. Er sagte: »Ja, das finde ich ganz richtig. Aber das ist doch ganz einfach. Wozu brauchen Sie da meinen Rat? Sie schreiben eben einfach, ich teile Ihnen mit, daß ich meinen Sohn gesehen habe, und daß ich ihn in gutem Zustand vorgefunden habe.«

Ich: »Nein, das halte ich nicht für zweckmäßig. Ich weiß, daß man diese Mitteilung von mir erwartet, und ich werde sie auch machen, um die Greuelpropaganda zu stoppen. Ich möchte aber gleich auf eins aufmerksam machen: Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich meinen Sohn nicht in gutem Zustand vorgefunden habe; daß ich, obwohl ich keine Spuren von Mißhandlungen festgestellt habe, den Zustand meines Sohnes ganz entsetzlich finde und immer wieder darauf dringen muß, daß die Behandlung dort geändert wird. Ich würde Sie jetzt, wo ich Sie gerade um einen Rat bitte, nicht mit diesen Dingen verstimmen, aber es muß ganz offiziell gesagt werden, denn sonst könnte mir später, wenn ich mich wieder beschwere, vorgehalten werden: Was wollen Sie eigentlich! Sie haben doch nach Ihrem Besuch im Lager in aller Öffentlichkeit erklärt, daß Sie Ihren Sohn in gutem Zustand vorgefunden haben. Also: Ich stehe auf dem Standpunkt, daß mit einer solchen Mitteilung gar nichts erreicht wird.

Ich habe den leidenschaftlichen Wunsch, die Greuelnachrichten draußen zu stoppen, um meinen Sohn und die anderen Schutzhäftlinge aus dieser entsetzlichen Situation zu befreien. Schreibe ich nur einfach diese Mitteilung heraus, so wissen die Leute ja gar nicht, welch ungeheuren Schaden sie mit ihren Artikeln für die Schutzhäftlinge anrichten. Außerdem werden sie sagen: Na ja, so eine alte Frau, die ist dumm, die merkt nichts. Und drittens werden sie vielleicht sagen: ›Eine Arierin, die lügt natürlich‹.«

Er (entsetzt): »Wieso sollen Sie sagen, daß eine Arierin lügt?«

Ich: »Sie sagen doch dauernd, daß die Juden lügen. Da ist es doch ganz selbstverständlich, daß die Juden nun annehmen, daß die Arier lügen.«

Er sah mich sehr nachdenklich an. Ich fuhr fort: »Ich habe schon einen Brief geschrieben, wie ich ihn für richtig halte, aber ich möchte ihn vorher zur Begutachtung vorlegen.«

Er: »Frau Litten, Sie können wirklich machen, was Sie wollen. Das wissen Sie doch. Wir haben Ihnen nicht das Mindeste dreinzureden.«

Ich: »Ja, das weiß ich, aber man kann doch nie wissen, wie eine Sache wirkt, die man macht. Und ich bin doch nun mal so ungewandt. Da möchte ich wirklich nichts ohne das Einverständnis der Gestapo tun. Ich möchte mir nachher nicht nachsagen lassen, daß ich mich falsch benommen habe. Wenn Sie meinen Brief richtig finden, dann weiß ich doch, daß alles in Ordnung ist.«

Ich legte ihm nun meinen ersten Entwurf vor, den ich am liebsten herausgebracht hätte. Ich hatte an die vier in Frage kommenden Emigrantenblätter geschrieben:

»Mein Sohn schreibt mir folgenden Brief«, und dann eine Abschrift seines Briefes gegeben. – Hier stutzte er schon: »Nein, eine Abschrift des Briefes herauszusenden, ist natürlich unmöglich.«

Ich: »Aber weshalb denn eigentlich? Dann wissen doch die Leute klar und deutlich, was geschieht, und werden die Konsequenzen daraus ziehen und den Mund halten. Und das ist doch das Einzige, worauf es ankommt.«

»Nein«, meinte er. »In diesem Brief sind doch alle Zeitungen aufgeführt, die Greuelnachrichten gebracht haben. Es erscheint mir doch nicht richtig, daß man das herausschickt.«

Also legte ich meinen zweiten Entwurf vor und sagte: »Der gefällt mir eigentlich nicht so gut. Gut, daß ich ihn eingesteckt habe. Vielleicht sind Sie mit dem mehr einverstanden.«

Merkwürdig. Er hatte nichts dagegen einzuwenden.

Dieser Brief hatte folgenden Wortlaut:

 

»4. Dez. 1937

An die Redaktion des »Neuen Vorwärts«, Karlsbad.

Auf Grund Ihrer Ausführungen vom 31. Oktober 1937 (Nr. 229) sind die jüdischen Schutzhäftlinge im Konzentrationslager Dachau in den Verdacht gekommen, Lügennachrichten aus dem Lager geschmuggelt zu haben. Daraufhin sind bis zur Feststellung der Täter die Juden im Dachauer Konzentrationslager in Isolationshaft genommen worden. Sie teilen ihren Angehörigen am 27. November 1937 mit, daß sie für die Dauer der Isolation streng abgeschlossen sind, alle Bequemlichkeiten verlieren und Post weder senden noch empfangen dürfen. Sie schreiben an ihre Angehörigen: ›Es liegt an Euch, die Emigranten-Juden zu beeinflussen, solche blödsinnigen Lügen über die Konzentrationslager künftig zu unterlassen, da die Juden in Dachau als Rassegenossen hierfür verantwortlich gemacht werden.‹

Ich erkläre hiermit, daß ich meinen Sohn am 25. Nov. 1937 in Dachau besuchen durfte. Mein Sohn hat mir versichert, daß es ihm sehr gut gehe Durch diese Formulierung, insbesondere durch den Kanzleistil-Konjunktiv wollte ich die Empfänger auf die Unwahrheit dieser Behauptung hinweisen.. Außerdem bitte ich Sie, die oben angeführten Emigrantenkreise, zu denen ich keinerlei Beziehungen habe, in dem von meinem Sohn gewünschten Sinne zu beeinflussen.

Irmgard Litten geb. Wüst.«

 

Als König dieses Schreiben genehmigt hatte unter der nochmaligen Versicherung, daß all dies aber wirklich nicht sein Wunsch, sondern nur der von mir so unbedingt erbetene Rat sei, und daß ich natürlich ganz machen könne, was ich wolle, sagte ich: »Ich wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie hier noch den Gestapo-Stempel aufdrücken würden.«

Das ging ihm doch zu weit. Er sagte: »Nein, so was geht denn doch nicht. Wie kommen Sie denn überhaupt auf so eine Idee?«

»Ich fürchte, daß mein Brief ohne den Gestapo-Stempel gar nicht über die Grenze gelassen wird. Sehen Sie mal, ich schreibe da doch an vier Zeitungen, die anscheinend furchtbare Greuelzeitungen sind, und schreibe über das Lager. Bestimmt werden solche Sachen an der Grenze angehalten.«

Er: »Ach nein, dafür ist schon Vorsorge getroffen, daß sie durchkommen.«

Da verlor ich meine Fassung und sah ihn perplex an.

Er meinte: »Na ja, die Kommandantur in Dachau scheint doch zu wünschen, daß Sie schreiben, und da nehme ich an, daß sie auch dafür sorgen wird, daß die Briefe durchkommen.

Würde es Ihnen übrigens unangenehm sein, diesen Brief hierzulassen? Sie haben doch wahrscheinlich einen Durchschlag gemacht.«

»Im Gegenteil, es ist mir äußerst angenehm, wenn Sie auf diese Weise genau kontrollieren können, was ich geschrieben habe.«

Ich war auch noch einmal auf die Judenfrage bei diesem Besuch zurückgekommen. Ich sagte ihm: »Ich muß noch einmal meiner Empörung darüber Ausdruck geben, daß mein Sohn sich in der Judenkompanie befindet. Nicht etwa, weil ich das ehrenrührig finde; ich lehne die Anschauungen des Dritten Reiches in der Judenfrage auf das Schärfste ab. Ich kämpfe aus einem ganz anderen Grunde dagegen. Nämlich, weil ich weiß, daß in sämtlichen Lagern und besonders in Dachau die Judenkompanie besonders schlecht behandelt wird.«

Ich führte aus, daß mein Sohn nicht in die Judenkompanie gehöre. Das sei einfach rechtswidrig, und ich würde eine Eingabe an den Herrn Reichsführer machen, wenn nicht von hier aus Abhilfe geschaffen würde.

Er: »Das wird wenig Zweck haben. Ich kann Ihnen schon vorher sagen, was Ihnen der Herr Reichsführer antworten wird: Die Gestapo steht über den Gesetzen. Und die Gestapo hat bestimmt, daß im Lager jeder Jude ist, auch wenn er nur 25 Prozent – ja, wenn er auch nur einen Tropfen jüdisches Blut hat.«

Zum Schluß erklärte er mir, ich solle mich doch immer an ihn wenden, wenn ich seinen Rat brauche. Er stünde mir jederzeit gern zur Verfügung.

Ich schrieb nun den genehmigten Brief auf der Schreibmaschine mit mehreren Durchschlägen ab und schickte nur Durchschläge an die betreffenden Zeitungen. So war es für die Redaktion deutlich, daß ich einen »Massenversand« hatte, was sie auch, wie aus den Besprechungen meines Briefes hervorging, alle begriffen hatten.

Ich schickte den Brief eingeschrieben gegen Rückschein, und die pünktlich eingetroffenen Rückscheine gaben mir den Beweis, daß man meine Briefe durchgelassen hatte.

Durch einen Zufall erhielten wir eine Prager Zeitung in deutscher Sprache, deren Schlagzeile lautete:

 

»ERPRESSERBRIEF HIMMLERS AN DIE D.V.Z.
Die Mutter des Rechtsanwaltes Litten zur Unterschrift gezwungen.«

 

Dann wurde eine Photographie meines Briefes gebracht und der ganze Fall Hans Litten mit allen Scheußlichkeiten, die geschehen waren, von neuem aufgerollt.

Die Wirkung ging also weit über das hinaus, was wir erwartet hatten.

Erst eineinhalb Jahre später gelang es mir, Schicksalsgenossen aus Dachau ausfindig zu machen und von ihnen Schilderungen der dortigen Verhältnisse während der Isolation zu bekommen. Aber das war nicht leicht, da viele der Leute noch so unter dem Eindruck des Terrors stehen, daß sie selbst ihren vertrautesten Freunden nicht das mindeste berichten. Man hatte ihnen die furchtbarsten Strafen für ihre noch in Deutschland lebenden Angehörigen angedroht, wenn sie über ihre Hafterlebnisse sprechen, ja man hat ihnen gesagt, es gäbe keinen Erdteil, kein noch so entlegenes Land, wo der Arm der Gestapo sie nicht erreichen würde, wenn sie redeten. Andere leiden noch so unter dem grausam Erlebten, daß sie nur den einen Wunsch haben, darüber hinwegzukommen. Sie wollen einfach ihre Erinnerungen nicht wieder aufleben lassen.

Aber wenigstens das, was in den verschiedensten Berichten von jungen Menschen, die Hans in Dachau nahe standen, übereinstimmt, sei hier berichtet:

In der Baracke 6, in der Hans sich befand, waren damals etwa hundertachtzig Menschen. Juden, Halbjuden, Vierteljuden. Es waren Jungens, die sich in der Welt umhergetrieben hatten und Heimweh bekamen, die nun zur Umschulung hierhergebracht worden waren. Es waren »Meckerer«, »Rasseschänder«, ja selbst siebzigjährige Greise, die auf Grund von Denunziationen unter dem Verdacht der Rassenschande eingesperrt worden waren. Unter diesen gänzlich uninteressanten und uninteressierten Kleinbürgern befanden sich etwa zwanzig »Politische« und sonst noch einige Künstler und Intellektuelle, die Niveau hatten. Sie fanden sich rasch zu einer Gemeinschaft zusammen. Den meisten dieser Leute war Hans von seiner Anwaltstätigkeit bekannt, den anderen durch die Berichte, über seine schreckliche Behandlung und über sein kameradschaftliches Benehmen. – Man war ja ständig, durch den häufigen Lagerwechsel der Häftlinge, über alles Wichtige in den anderen Lagern informiert.

Baracke 6 hatte einen anständigen Blockältesten, den fünfundzwanzigjährigen Münchener Studenten Heinz Eschen. Er war Jungkommunist, eine ausgesprochene Persönlichkeit, ein Gesinnungsmensch. Im allgemeinen wurden die brutalsten Elemente zu Blockältesten, Vorarbeitern und ähnlichen Posten, die Gefangenen übertragen wurden, ausgesucht. Da sie für alles bestraft wurden, was nicht in Ordnung war und für die Arbeit der Gefangenen verantwortlich waren, so war es kein Wunder, daß diese an sich üblen Elemente sich zu noch brutaleren Quälern der Häftlinge als die SS-Leute auswuchsen. Auch verhältnismäßig anständige Häftlinge verrohten rasch, wenn sie solche Posten erhielten. Es war einfach Selbsterhaltungstrieb. Sie wurden natürlich auch bestechlich, und Häftlinge, die ihnen Geld gaben, wurden besser behandelt. So breitete sich allmählich neben der Brutalität jede Art von Korruption und Spitzelei aus. Ein Häftling mußte schon besonderes Format haben, um in dieser Atmosphäre ein anständiger Mensch zu bleiben. Manche erlagen der Versuchung, sich durch Denunziationen eine etwas bessere Behandlung zu sichern.

Besonders erwähnenswert ist die Art der Verhöre in Dachau, die bei jeder Denunziation, bei der geringsten Kleinigkeit stattfanden. Die Häftlinge wurden »krumm geschlossen«, Hände und Beine auf dem Rücken zusammengebunden und so aufgehängt. Oder sie wurden mit den Händen nach hinten so an einen Pfahl gehängt, daß sie frei in der Luft schwebten, – bis sie aussagten.

Kann man einem Menschen einen Vorwurf daraus machen, wenn er nach so stundenlanger Qual aussagt, was von ihm verlangt wird? Ja, wird man es nicht begreiflich finden, daß er aus Furcht vor dieser Art des Verhörs das Blaue vom Himmel aussagt, um ihm zu entgehen? Es gab Helden, die durchhielten – stundenlang. Heinz Eschen hat (einen Tag vor Hansens Tod) neun Stunden am Baum gehangen, ohne »auszusagen«. Am anderen Morgen fand man ihn im Bunker – erhängt.

Es war eben im Lager genau so, wie es in ganz Deutschland ist: Die Machthaber versuchen mit allen Mitteln, den Menschen das Rückgrat zu brechen, jedes Gefühl für Moral und Menschlichkeit in ihnen zu töten. Im Lager mit wesentlich brutaleren Mitteln als im »freien Lande«. Und wenn es noch immer eine große Anzahl von Häftlingen gibt, bei denen es ihnen nicht gelingt, so liegt das einfach daran, daß es im allgemeinen ja gerade der wertvollste Teil des deutschen Volkes ist, der in Konzentrationslagern und Zuchthäusern eingesperrt wird.

Weshalb arbeitet die Regierung mit allen Mitteln darauf hin, das deutsche Volk moralisch zu verderben? Nun, ein Volk, das vor Angst zittert, ein Volk, das zu feigen Sklaven, zu brutalen Verbrechern gemacht wird, verliert den Sinn für Menschenwürde, weiß selbst nicht mehr, was Recht und Unrecht ist, wird keine Empörung mehr gegen eine bestialische Verbrecherregierung aufbringen. Man kann einem solchen Volke einreden, was man will, man kann mit ihm machen, was man will. Es wird zu allen Scheußlichkeiten, die seine Regierung von ihm verlangt, bereit sein.

Die politischen Häftlinge hielten mehr zusammen als die anderen und hatten im allgemeinen mehr Rückgrat. Sie hatten ihre Gesinnung, die sie aufrechterhielt.

Heinz Eschen und sein Kreis versuchten den sehr deprimierten Hans, der sich in der neuen Umgebung äußerst unglücklich fühlte, vom ersten Augenblick seiner Ankunft an aufzuheitern, und mit Heinz Eschen verband Hans bald eine herzliche Freundschaft.

Hans hatte in Buchenwald wieder einen Unfall gehabt. Man hatte dort auf sein steifes Knie keine Rücksicht genommen, er war dort anscheinend wieder überfahren worden, und sein krankes Bein war wieder gebrochen. Jeder Schritt war für ihn eine Qual, trotzdem mußte er dieselbe Außenarbeit machen wie die gesunden und kräftigen Leute. Die Kameraden litten selber darunter, ihn so leiden zu sehen; sie nahmen ihm in der Baracke alle Arbeit ab, aber bei der Arbeit im Freien, unter den Augen der Wachmannschaften, die mit Fußtritten nachhalfen, wenn es nicht schnell genug ging, gab es keine Möglichkeit zu helfen.

Am 24. November 1937 trat ein Ereignis ein, das den alten Dachauern nichts Neues war: Isolierung!

Ein Freund von Hans berichtet mir darüber:

»Die Fenster wurden verschraubt und weiß angestrichen, die Türen verschlossen. Wir hatten Abschriften von einem Zettel anzufertigen und an unsere Bekannten im Ausland zu schicken. Wir schrieben diese Briefe gern, weil wir hofften, daß dadurch die Welt erst recht auf die entsetzlichen Zustände in Dachau aufmerksam würde.

Ich weiß nicht, ob man einem Außenstehenden die Atmosphäre einer Isolierung klarmachen kann. Die Luft ist abscheulich. Die Strohsäcke liegen auf dem Boden, so daß man keinen Platz hat, sich zu bewegen. Die Menschen, mit denen man zusammen sein muß, habe ich bereits geschildert. Brotdiebstähle beginnen. Man muß den ganzen Tag nichtstuend und auf den Strohsäcken eng nebeneinanderliegend (drei Mann auf zwei Strohsäcken) zubringen, ohne Buch, ohne Zeitung, ohne Bleistift. Aus den geringsten Gründen entstehen dauernd Streitigkeiten, die in dieser gereizten Atmosphäre zu Schlägereien ausarten.

Wir Politischen hatten uns schon früher fast alle in eine Gruppe zusammengelegt. Wir nutzten diese uns gegebene Freizeit allerdings ganz anders aus: Wir versuchten uns über die verschiedensten Fragen, die uns bewegten, klar zu werden.

Bisher hatten wir Hans Litten bei jeder Gelegenheit geholfen, so gut es eben möglich war. Jetzt wurde er unser Mittelpunkt.

Eines Tages hatte Hans Sprecherlaubnis mit seiner Mutter bekommen. Er kam als anderer Mensch aus der Sprechstunde zurück, ruhiger und zufriedener im Gesichtsausdruck. Der Blockführer, der die Unterhaltung überwacht hatte, hatte schon seinem Erstaunen darüber auf bajuvarisch Ausdruck gegeben, daß die Beiden über Kunst oder ähnlichen ›Firlefanz‹ sich unterhalten hätten.

Hans, der eine andere Meinung über Kunst vertrat als wir, diskutierte mit uns während der Isolierungszeit. Unter uns war auch ein bekannter Literaturhistoriker. Sogar er erklärte, niemals einen Menschen mit so einer Fülle von Wissen getroffen zu haben. Um seine Auffassung von Kunst zu belegen, zitierte Hans sechs Tage hintereinander täglich vier Stunden Rilke. Aber auch andere Fragen behandelte er. Sein Tagesplan während der Isolierung sah etwa folgendermaßen aus: Kaum waren wir aufgestanden und hatten unsere Brühe heruntergeschluckt, so begann Hans mit einigen von uns die deutsche Literaturgeschichte von ihren ersten Anfängen an zu behandeln. Selbstverständlich zitierte er dabei die betreffenden Schriftsteller seitenlang, und das alles, ohne sich die geringste Notiz zu machen. Nachher, bis zum Mittagessen, behandelte er mit anderen Kameraden Geschichte. Er vertrat auf allen Gebieten seine besondere Auffassung mit solchen Beweismitteln, daß man ihm schwer beikommen konnte.

Nachmittags hörte er sich bei einem Kameraden einen Kurs über Psychologie an. Abends erzählte er uns ab und zu etwas über seine Anwaltstätigkeit.

Dies alles in einer so einfachen und anständigen Weise, daß es unmöglich war – trotz sachlicher Gegnerschaft –, ihn nicht gern zu haben.

Hans, der sich früher ziemlich ruhig und gedrückt verhalten hatte, lebte während der Isolierung auf. In seiner besonderen Weise versuchte er uns ›auf den Baum zu bringen‹. Zum Beispiel ließ er sich als psychoanalytischer Traumdeuter nieder und deutete jedem gern seine Träume.

Aber wir durften uns über seinen wahren Gesundheitszustand nicht täuschen. Zuweilen sackte er ganz plötzlich zusammen und war lange Zeit ohnmächtig.

Trotz unserer Bitten schonte er sich nicht. Nützlich sein zu können, uns etwas zu geben, das war für ihn die größte Genugtuung. Wenn wir abends dann unsere Lieder sangen, straffte sich sein Gesicht. Man fühlte direkt, wie in ihm die Erinnerungen an seine Jugendzeit aufstiegen. Oft erzählte er uns zum Abschluß des Abends noch einige fröhliche Fahrtenerlebnisse.

Als Marter gedacht, wurde für uns Politische die Isolierung zu einer Erholung. Was scherte uns Kohldampf, was der Gestank, was die Streitigkeiten unserer Mitgefangenen.

Hans hatte sich während dieser Isolierung erholt. Das Gefühl einer festen Gemeinschaft stärkte ihn.«

*

Die Sperre blieb über Weihnachten. Es durften keine Weihnachtspakete geschickt werden – kein Weihnachtsgruß.

Anfang Januar kam eine kurze Nachricht, daß die Sperre aufgehoben worden sei. Aus den Briefen ersah ich, daß die Zustände weiter grauenvoll waren, und daß Hans mit seinem baldigen Tode rechnete.

Machen konnte ich nichts weiter, als im Auslande um eine starke Aktion ohne jede Rücksichtnahme zu bitten. Es kam jetzt nicht mehr darauf an, ob man Hans gefährdete. Es galt nur noch, die Ermordung zu verhüten, indem man die Weltöffentlichkeit dauernd auf diesen Fall aufmerksam machte.

In England war aber das Gerücht verbreitet worden, daß im Januar eine Amnestie in großem Umfange stattfinden sollte. Man hoffte, daß auch Hans darunter fallen würde und fürchtete, durch eine Aktion für ihn die Regierung zu verärgern.

Als bis Ende Januar keine Amnestie erfolgte, entschloß man sich, einen großen Kampf um Hans in der Öffentlichkeit zu beginnen. Ein Artikel, der von Lord Allen als Auftakt der Aktion für die »Times« geschrieben war, erreichte die Presse, als es zu spät war …


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