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Die Geheimnisse des Li Fu

Jan Hollebeek war in bester Laune. Dieser Ah Ling verdiente wirklich ein hübsches Abschiedsgeschenk für alle seine Aufmerksamkeiten, die er nicht müde wurde, seinem Hausgenossen zu erweisen.

Am Nachmittag hatte er den Bescheid gebracht, daß der Besitzer eines Hauses, das sonst Europäern verschlossen sei, sich nach langem Zureden bereit erklärt habe, an diesem Abend eine Ausnahme zu machen.

»Heute abend?« wiederholte Jan erfreut. »Das soll fein werden! Wohin werden Sie mich führen?«

Der Chinese machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Sie werden sehen, Herr!«

»Also eine Überraschung? Umso besser! Dann will ich nicht weiter fragen. Wann fahren wir hier ab?«

»Zwei Stunden nach Sonnenuntergang.«

»Gut; um acht Uhr werde ich bereit sein. Was braucht man für solchen Ausflug? Natürlich Geld und für alle Fälle einen Revolver?«

Das schien Ah Ling als einen Witz zu betrachten.

»Nein, nein, keine Waffen,« sagte er lachend. »Ich liebe keine Orte, wo es gefährlich ist.«

Auf Jans Gesicht malte sich Enttäuschung.

»Es wird also doch nur ein harmloser Ausflug, wenn solche Vorsichtsmaßregel von vornherein als überflüssig erscheint,« sagte er sich; laut fuhr er fort: »Dann lasse ich das Schießzeug natürlich hier. Sollte es dennoch Streit geben, wird mein kräftiger Stock genügen.«

»Wir Chinesen haben immer Angst, wenn ein Europäer böse wird,« erwiderte Ah Ling bescheiden.

Diese Selbsterkenntnis machte Jan lachen. Im gesunden Kraftgefühl reckte er die Glieder und sah dabei im Geiste eine feige gelbe Bande unter seinen Hieben nach allen Richtungen auseinanderfahren.

Pünktlich zur festgesetzten Stunde stellte sich der Führer ein. Zwei Rikschawägelchen standen schon wartend vor dem Hause. Ohne einen Befehl abzuwarten, trabten die sehnigen Kuli davon, wie üblich ihren Fahrgästen überlassend, bei Straßenkreuzungen durch Zurufe eine etwa gewünschte Änderung der Fahrt zu bezeichnen.

Ah Ling fuhr voraus, so daß Jan nur aufzupassen brauchte, daß sein Kuli richtig folgte.

Im flotten Trabe der sehnigen Beine ging es durch die warme Nacht. Hier außerhalb der eigentlichen Geschäftstadt machte sich die allabendlich einsetzende Seebrise angenehm bemerkbar. Stark dufteten Blüten, die nur nachts ihre Wohlgerüche von sich gaben. Überall blitzten Leuchtkäfer auf, und zwischen den gefiederten Kronen der die Straße säumenden Palmen schimmerten am blauschwarzen Himmel helle Sterne – eine Umgebung, die zum Träumen einlud.

In erwartungsvoller Stimmung malte Jan sich aus, welche Äußerungen eines fremden Volkslebens er wohl in dieser Nacht kennen lernen sollte. Selbst die ihm noch unbekannten Düfte des Chinesenviertels, in das sie jetzt einbogen, trugen dazu bei, ihn den besonderen Reiz dieses Unternehmens empfinden zu lassen. Nur vermißte er die Gesellschaft seines Freundes, mit dem er alle neuen Eindrücke hätte austauschen mögen. Wie gern wäre sicher Arnold dabei gewesen, der noch immer nicht müde wurde, die ihm fremde Welt zu bestaunen. Seine Begeisterungsfähigkeit hatte auch für seine Begleiter stets das Vergnügen erhöht, und Jan freute sich darauf, ihm am übernächsten Tage von allen Erlebnissen zu erzählen.

Die Straßen wurden schmäler, die Häuser unscheinbarer. Der Verkehr ließ nach; immer spärlicher wurde die Beleuchtung. Die Umrisse des vorausfahrenden Rikscha, vom Licht der von hinten unsichtbaren Laterne scharf hervorgehoben, glitten gespensterhaft durch die Dunkelheit.

Zwischenräume zur Linken zeigten eine schimmernde Wasserfläche, die näherzurücken schien. Immer schmaler wurde der trennende Landstreifen. Das jetzt auftauchende letzte Haus auf dieser Seite mußte mit seinem hinteren Teil beinahe das Wasser berühren, wenn es nicht gar, wie die meisten Bauten der Malaien, auf Pfählen errichtet war und sich wenigstens zum Teil über die Wasserfläche erstreckte.

Dieses einsame Haus war das Ziel. Der führende Rikscha bog ab, und wenig später sah sich Jan Hollebeek einem dicken Chinesen gegenüber, der in der Nähe der Tür ihre Ankunft erwartet zu haben schien.

Nachdem er mit Ah Ling halblaut einige kurze Sätze gewechselt hatte, wandte er sich in gebrochenem Englisch an den jungen Holländer, der sich herablassen wollte, sein »niedriges schmutziges Haus« zu betreten.

Diese chinesische Sitte, bei Begrüßungen das Eigene schlecht zu machen, dagegen alles, was mit dem Angeredeten in Verbindung steht, in übertriebenen Ausdrücken zu loben, entsprach in der Beschreibung des Hauses nur der Wirklichkeit. Niedrig war der dunkle Gang, in dem der Wirt mit einer braungelben Papierlaterne voranleuchtete. Mit einem Besen war der Boden offenbar schon lange nicht mehr in Berührung gekommen.

Etwas Geheimnisvolles lag in der Luft. Obwohl man Jan nach dem Betreten des Hauses keine Zeit gelassen hatte, sich lange prüfend umzusehen, war ihm doch aufgefallen, daß dieser merkwürdig lange Gang unmittelbar neben dem Hauseingang abgebogen war. Die Tür hatte offen gestanden; wäre sie geschlossen gewesen, hätte wohl niemand an jener Stelle eine Öffnung in der Wand vermutet. Der Gang führte offenbar parallel zur Außenwand zum hinteren Teil des Hauses.

»Passen Sie auf, gleich kommen einige Stufen,« sagte Ah Ling, woraus Jan schloß, daß er hier besser bekannt sein müsse, als er bisher angedeutet hatte. Im übrigen unterhielten sich die Chinesen in ihrer eigenen Sprache.

Nach etwa zwanzig Metern öffnete der vorangehende dicke Mann eine Tür, die in ein nicht erleuchtetes kleines Zimmer führte. Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf Rohrsessel, die einen kleinen, ebenfalls aus Peddigrohr geflochtenen Tisch umstanden.

.

»Wir müssen noch etwas warten,« sagte er dabei mit seiner auffallend hohen Stimme. »Trinken wir unterdessen eine Tasse Tee.«

Auf einen Zuruf öffnete sich geräuschlos eine glatte Wand. Ein Diener erschien mit einem Tragbrett. Nachdem er es abgesetzt und die Tassen verteilt hatte, zündete er zwei weitere Papierlaternen an.

Die beiden Chinesen lachten über Jans Erstaunen.

»Dieses Haus hat Geheimnisse,« krähte der Dicke, »ja, Sir, Geheimnisse, die kein Europäer vor Ihnen kennen gelernt hat.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich mein Versprechen halten werde,« erwiderte Jan treuherzig.

»Oh, ich weiß ganz bestimmt, Sie werden nichts verraten,« kam es unter erneutem Lachen zurück.

Wie wenn die Worte einen verborgenen guten Witz enthielten, stieß der Sprecher seinen Landsmann an, mit einem Blick, der ihn offenbar veranlassen sollte, einzustimmen. Doch Ah Ling blickte sich um, als ob er etwas suche.

»Noch nicht hier?«

»Nein, erst Tee trinken!«

Jan merkte wohl, daß die beiden sich etwas sagten, was er nicht verstehen sollte. Es fiel ihm auch auf, wie ernst die noch eben lachenden Gesichter wurden; doch alles, was er jetzt erlebte, kam ihm so wundervoll abenteuerlich vor, daß schon mehr dazu gehört hätte, ihn mißtrauisch zu machen. Ängstlichkeit war ihm überhaupt fremd, und wenn wirklich eine Beobachtung geeignet gewesen wäre, ihn bedenklich zu stimmen, hätte die Tatsache, daß sein guter Bekannter Ah Ling sich hier heimisch zu fühlen schien, vollkommen genügt, ihn sofort wieder zu beruhigen.

»Wird in diesem Hause gespielt und Opium geraucht?« fragte er den Wirt.

»Wenn Ah Ling Ihnen das gesagt hat, will ich es nicht bestreiten,« kam es mit einem Lächeln zurück, das Jan anwiderte, so falsch blitzten dabei die geschlitzten Augen.

Wieder wechselten die beiden einige Sätze in einer unverständlichen Sprache; dann wandte sich der Dicke aufs neue dem Ingenieur zu.

»Ich bin ganz sicher, daß Sie nichts verraten werden,« sagte er mit demselben Meckern wie vorhin, »deshalb dürfen Sie die ganze Wahrheit erfahren. Haben Sie schon einmal von einem geheimen Bund gehört?«

Jan, dessen Augen vor Erregung funkelten, bejahte.

»So mögen Sie wissen, daß ein solcher Bund in diesem Hause oft heimlich zusammenkommt.«

Jan lag die Frage auf der Zunge, ob er wohl einmal ungesehen eine solche Versammlung beobachten könne; doch gleichzeitig fiel ihm ein, daß er ja kaum mehr Zeit habe. Jedenfalls wollte er aber versuchen, näheres darüber zu erfahren.

»Was ist denn eigentlich der Zweck des Bundes?«

»Die Befehle auszuführen,« lautete die Antwort.

»Wer gibt sie?«

»Ein reicher Mann, dem eure dumme Polizei niemals zutrauen würde, daß er unsere Geheimnisse mehr liebt als seine Geschäfte. Einst war er ein armer Mann; jetzt gehören ihm viele Häuser und Schiffe.«

»Und durch euren Bund ist er reich geworben?«

»Nein und ja. Das ist eine lange Geschichte.«

»Die möchte ich gerne hören.«

»Fragen Sie ihn doch selber danach!«

»Dazu müßte ich ihn kennen lernen.«

»Wer weiß, ob es nicht geschieht!«

Jan glaubte nach dem verschmitzten Gesichtsausdruck des anderen, dies sollte ein Scherz sein; doch in Ah Lings Gesicht ließ nichts darauf schließen. Er saß da mit gerunzelter Stirn und machte gerade dem anderen durch Kopfschütteln ein Zeichen, wie wenn er ihn veranlassen wolle, nichts mehr darüber zu sagen.

Dann war der scheinbar so harmlose Ah Ling also auch ein Mitglied des Geheimbundes! Jetzt erst kam dies dem erstaunten Jan zum Bewußtsein. Wie hätte sonst der andere so offen darüber gesprochen!

Aber wie kam es, daß man ihm selbst, dem Europäer, so viel Vertrauen schenkte? Hatte sich Ah Ling für ihn verbürgt? Wie war das nach der kurzen Bekanntschaft möglich? Und auch dann blieb die Frage offen: wie konnte man die Geheimnisse einem Fremden preisgeben, der nur zur Polizei zu gehen brauchte, um alle ins Verderben zu stürzen?

Der Diener hatte mittlerweile an einem Nebentisch den Tee bereitet und stellte nun vor jeden eine dampfende Tasse. Dann brachte er Zigaretten. Von Jan, der eine nahm, wandte er sich an Ah Ling, um auch diesem das Schälchen anzubieten, aus dem sie lagen. Doch dabei entglitt es ihn: und fiel zu Boden.

Sein Herr fuhr ihn zornig an. Sofort wurde eine neue Schachtel geöffnet, und aus dieser bedienten sich nun die Chinesen.

Was er eigentlich zu hören oder zu sehen bekommen sollte, war dem Gast immer noch ein Rätsel. Eine erneute Frage danach lag ihm auf der Zunge; doch die bestimmte Zuversicht, daß Ah Ling ihn nicht hierhergeführt habe, um nur Tee zu trinken und Zigaretten zu rauchen, hielt ihn ab, sie auszusprechen.

Aber welcher Art mochte die Überraschung sein, die man ihm anscheinend zugedacht hatte? Wie in einem hitzigen Fieber zauberte ihm seine Phantasie wundervolle Bilder vor die Seele, und dabei überrieselte ihn ein unbeschreibliches Wohlsein, das ihn allmählich das Ungewöhnliche seiner Lage ganz vergessen ließ.

Den Tee hatte er ausgetrunken, den Rest der Zigarette achtlos fallen lassen. Dem Gespräch der beiden Tischgenossen hörte er nicht mehr zu. Die unterhielten sich ja doch in einer Sprache, die er nicht verstand. Mit meist halbgeschlossenen Augen lauschte er dagegen einem fernen Klang, der allmählich anschwoll und sein Ohr mit einer seltsamen, nie zuvor gehörten Musik erfüllte.

Was war Traum, was Wirklichkeit? Unmöglich, es auseinanderzuhalten. Er sah und hörte, was in seiner nächsten Nähe vor sich ging, aber sein Denken war gelähmt. Willenlos ließ er alles geschehen.

Ah Lings stets dienstbereites Lächeln verwandelte sich in ein boshaftes Grinsen. Triumphierend starrten die drei Chinesen ihrem Opfer ins Gesicht, denn auch der vermeintliche Diener hatte sich den beiden anderen zugesellt. Dabei blieben die Lippen in bestimmter Bewegung, bis das Geräusch einer sich öffnenden Tür einen Wechsel des Bildes herbeiführte.

Ein mittelgroßer Chinese, bei dessen Erscheinen die drei anderen aufstanden und dienerten, betrat den Raum.

Wer gewohnt war, Li Fu nur in dem blauseidenen Gewande zu sehen, das er sonst zu tragen pflegte, hätte Mühe gehabt, ihn in dieser gesucht einfachen Kleidung wiederzuerkennen. Seine Haltung und Sprechweise indessen verrieten, daß er an diesem Ort eine besondere Stellung einnahm.

»Ich sehe, er genießt schon einige der fünf Seligkeiten,« scherzte er, indem er sich dem unbeweglich in seinen Sessel gekauerten Europäer näherte; diesen ansprechend, fuhr er mit erhobener Stimme in gebrochenem Englisch fort: »Verstehen Sie, was ich Ihnen sage?« Der Betäubte regte sich nicht.

»Hoffentlich hat er die wichtigen Papiere bei sich; untersucht seine Taschen,« sagte er dann zu seinen Landsleuten.

Ah Ling leistete dem Befehl ebenso bereitwillig Folge wie seine Spießgesellen. Geldbörse, Taschenmesser, Schlüssel und ein Merkbuch wanderten auf den Tisch; doch die gesuchten Papiere fanden sich nicht vor.

»Ich an seiner Stelle hätte mich nie von so wichtigen Plänen getrennt,« brummte Li Fu unzufrieden. »Noch in dieser Nacht durchsuche ich mit Ah Ling die Wohnung. Ich bin sicher, daß er Pläne besitzt und darin die Fundorte eingetragen hat.«

»Aber der Malaie, sein Koch, wird uns beim Suchen nach den Plänen stören,« wandte der Mann ein, der die Rolle des Hausbesitzers so vortrefflich zu spielen verstand.

»Schläft der etwa im Hause?« fragte Li Fu.

»Nein; doch seit gestern ist er auch persönlicher Diener. Ich habe versucht, es zu verhindern, und dringend gebeten, diesem braunen Gesellen zu mißtrauen, aber ohne Erfolg.«

»Schade, daß er nicht auch hier ist; das wäre einfacher,« murmelte Li Fu halblaut vor sich hin. »Ah Ling, ich werde dich begleiten. Noch in dieser Nacht müssen die Pläne gefunden und die Gepäckstücke so geordnet werden, daß eine plötzliche Abreise glaubhaft erscheint. Wo ist Wong Tsau?«

»Er wollte noch heute abend hierher kommen, um eine Pfeife zu rauchen.«

Li Fu runzelte mißbilligend die Stirn.

»Das soll er bleiben lassen; er braucht einen klaren Kopf. Sage ihm, daß er morgen ganz früh bei Ah Ling erfahren wird, was er tun und sagen soll! Der Malaie darf ihn nicht vorher sehen. Wenn der braune Bursche dann von zwei verschiedenen Seiten hört, welche Befehle sein Herr für ihn zurückgelassen hat, wird er hoffentlich an die plötzliche Abreise mit der Prau glauben.«

»Und wenn er an das Wasser läuft, um sich zu überzeugen?«

»Täglich fahren mit Sonnenaufgang mehrere Prauen aus; wie sollte er da feststellen können, ob sein Herr wirklich fort ist oder nicht? Aber ich weiß ein gutes Mittel, ihn zu überzeugen. Ah Ling gibt ihm mit der Bestellung seinen Lohn und dazu einen Dollar als Geschenk. Denkt er daran, auch den anderen Herrn zu begleiten, müßt ihr dafür sorgen, daß er nicht angenommen wird. Sagt, er habe gestohlen und sei deshalb entlassen worden! Das ist der einfachste Weg, ihn loszuwerden.«

In diesem Augenblick öffnete Jan die Lippen, als ob er sprechen wolle; doch nur undeutliches Murmeln wurde hörbar.

»Genieße nur noch ein paar Stunden die Glückseligkeit des Nichtwissens,« höhnte Li Fu. »Wann tritt er seine Reise an?«

»Morgen oder übermorgen abend fährt unser Mann aus; solange müssen wir ihn hier behalten.«

»Gut gefesselt, mit einem Knebel im Mund,« ergänzte Li Fu. »Erst weit draußen wird das lebende Bündel über Bord geworfen. Ich werde meine Anordnungen morgen noch persönlich einschärfen. Spurlos muß er verschwinden und mit ihm Li San, der Verräter! Nun bindet ihn! Ich gehe mit Ah Ling in seine Wohnung, um dort nach dem Rechten zu sehen …«

Als Haydock gegen zehn Uhr zu seinem Auftraggeber fuhr, um ihm zu melden, daß alles zur Abreise bereit sei, traf er Li Fu in schlechter Laune an.

»Gut; fahren Sie sofort ab,« brummte er verdrießlich. »Ich hatte gehofft, Ihnen die Pläne des anderen mitgeben zu können, aber es war nichts zu finden. Wahrscheinlich wird sie sein Kamerad aus Deli mitbringen. Nun müssen Sie durch Kundschafter zu erfahren suchen, in welcher Gegend sich der andere Teil der Expedition niederläßt. Haben Sie es herausbekommen, brauchen Sie sich nur mit Wong Tsau in Verbindung zu setzen. Er sagt Ihnen, ob dort wirklich viel zu holen ist, und wird danach handeln, wie ich ihm befohlen habe. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen, damit Ihr zartes Gewissen nicht beunruhigt wird,« fügte er mit spöttischem Lachen hinzu.

»Und Hollebeek, der Holländer – was wird aus ihm?« konnte sich Haydock nicht enthalten zu fragen.

In der vergangenen Nacht hatte er wieder Höllenqualen ausgestanden. Immer hatte er den Ingenieur mit drohend erhobener Faust vor sich gesehen und seine Stimme gehört. Bei der bloßen Erinnerung meinte er noch die Worte zu hören: »Du hast geraten – du bist ein Mörder!« Lange vor Tagesanbruch war er hinausgeeilt, um bei der Arbeit auf andere Gedanken zu kommen. Doch die innere Stimme ließ sich nicht so leicht zum Schweigen bringen. Deutlich verriet sein verstörtes Gesicht, daß es ihm nicht gelungen war, die ersehnte Ruhe zu finden.

»Der Holländer,« wiederholte der Chinese lässig, »der ist bereits aus dem Felde geschlagen, wird Ihnen also keine Schwierigkeiten machen. Es war übrigens ein guter Gedanke von Ihnen, ihn mir zu überlassen. Sein Wunsch, etwas zu erleben, ist in Erfüllung gegangen, wenn auch in anderer Weise, als er meinte. Das Haus ›Zu den fünf Glückseligkeiten‹ ist um ein Geheimnis reicher.«

Der Engländer erbleichte.

»Das wollte ich nicht – das wollte ich nicht,« stotterte er in furchtbarer Erregung. »Sagen Sie die Wahrheit, Sir; lebt er noch – ist er noch zu retten? Ich will nichts damit zu tun haben, wenn Sie oder Ihre …«

»Schweigen Sie!« gebot der Chinese in so herrischem Ton, daß dem anderen auf der Stelle das Wort im Munde erstarb. »Wollen Sie uns beide durch Ihr Geschrei unglücklich machen? Meiner Diener bin ich sicher, aber bedenken Sie, daß die Fenster offen stehen und so laute Worte auf der Straße gehört werden können.«

»Sagen Sie mir wenigstens, ob …«

»Mister Haydock, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen als: fahren Sie ab, damit Sie auf andere Gedanken kommen! Wenn das Wohlbefinden des Holländers Ihnen wichtiger ist als unser Vorteil, hätten Sie mir nicht den guten Rat geben sollen.«

»Nichts habe ich geraten,« fuhr Haydock auf.

Li Fu ließ ihn jedoch nicht zu Worte kommen; mit eisiger Ruhe fuhr er fort: »Einverstanden; Sie haben mir bloß einen leisen Wink gegeben. Fehlte nur, Sie sagten, ich hätte ihn mißverstanden! Gewiß, so war es! Und nun bitte ich Sie dringend: kümmern Sie sich nicht mehr um etwas, das erledigt ist! Gute Reise und vor allem guten Erfolg!«

Beim Berühren der fetten Finger, die der Chinese ihm zum Abschied reichte, vermochte der Engländer ein Gefühl heftigen Widerwillens kaum zu unterdrücken. Aber ein Zurück gab es nicht mehr, auch nicht für ihn. Wie er soeben gehört hatte, war das Furchtbare, das er ahnte, bereits geschehen. Nun hatte er nur noch einen Gedanken: fort, nur fort – keine Minute länger als nötig an diesem Ort bleiben!

Wie von Sinnen fuhr er durch die Straßen. Er hetzte den Rikschakuli an den Strand, daß dem Mann der Schweiß in Bächen von dem gelbbraunen Oberkörper hinabrieselte. Auf der Prau wartete man bloß noch auf den Befehl zur Abfahrt. Wenige Minuten, nachdem Haydock an Bord gekommen war, schwamm sie bereits ihrem Ziele zu …

Arnold Hemskerk hatte gehofft und nach Jans letztem Brief sogar bestimmt darauf gerechnet, seinen Freund gleich an der Anlagestelle der »Malaya« begrüßen zu können. Aber vergebens suchten seine Augen unter den Weißen und Farbigen, die den Dampfer erwarteten, das vertraute Gesicht zu entdecken.

»Vielleicht hat er sich nur verspätet,« dachte er beim Anlandgehen.

Er überlegte noch, ob er hier kurze Zeit warten oder sich sogleich zu der von Jan angegebenen Adresse fahren lassen sollte, als ein hochgewachsener Chinese auf ihn zutrat und nach höflichem Gruß sagte: »Sind Sie der Freund von Mister Hollebeek?«

»Also verhindert, wie ich vermutet hatte,« dachte der Angekommene, indem er bejahte, erfreut, wenigstens durch den Boten von Jan zu hören.

»Ich bin Wong Tsau.«

»Der Vorarbeiter; mein Freund hat Ihren Namen erwähnt,« ergänzte Arnold, als der Chinese stockte. »Haben Sie mir etwas zu bestellen?«

»Ja, Herr; er ist schon gestern von hier fortgefahren und …«

»Abgefahren, ohne mich? Unmöglich!« unterbrach Arnold mit dem Ausdruck höchster Überraschung.

»Es ist so; ich soll es Ihnen erklären.«

»Nicht einmal einen Brief hat er mir hinterlassen?« rief der Angekommene in erneutem Staunen.

»Nein; es blieb keine Zeit dazu. Der Engländer – Sie wissen, die andere Prau …«

»Ja, ich weiß – was ist damit?«

»Die Prau des Engländers hat gestern Pinang verlassen. Etwas später fuhr eine andere Prau ab, die auch den Mudafluß hinauf will, aber nicht um Zinn zu suchen. Zufällig ist es Mister Hollebeek zu Ohren gekommen. Da hat er mit dem Führer dieses Fahrzeuges gesprochen und darauf befohlen, in größter Eile Lebensmittel zusammenzupacken. Mit diesem wenigen Gepäck habe ich ihn auf die Prau begleitet.«

Verständnislos schüttelte Arnold Hemskerk den Kopf.

»Was soll das bedeuten?«

Der Chinese lächelte verschmitzt und dämpfte die Stimme, als er antwortete: »Eine Kriegslist! So erfahren wir, bis wohin der Engländer fährt.«

»Und was soll ich nun tun?«

»So schnell wie möglich mit unserer Prau folgen! Alles ist bereit. Wenn Sie befehlen, fahren wir noch heute ab.

»Das soll geschehen,« lautete der augenblicklich feststehende Entschluß. »Lassen Sie mein Gepäck auf die Prau bringen! Hier ist der Ausweis. In zwei Stunden werden wir unterwegs sein. Ich habe inzwischen noch etwas zu besorgen. Welches ist der nächste gute Gasthof?«

»Das ›Oriental-Hotel‹.«

»In einer Stunde bin ich an Bord.«

Während Wong Tsau sich entfernte, ging Arnold Hemskerk in der entgegengesetzten Richtung auf eine nahe Rikschahaltestelle zu, wo eine Reihe der leichten Gefährte auf der Schattenseite der Straße Fahrgäste erwartete.

Er hatte schon zum Einsteigen den Fuß erhoben, als ein brauner Eingeborener, der unbemerkt gefolgt war, ihn mit geheimnisvoller Miene anredete. An einzelnen Worten erkannte er, daß es Malaiisch war, doch der Sinn blieb ihm verborgen. In der Annahme, einen zudringlichen Bettler vor sich zu haben, machte er eine abwehrende Handbewegung und rief dem Kuli den Namen des Gasthofs zu.

Doch plötzlich stutzte er. Kein Zweifel: aus dem immer eindringlicher klingenden Wortschwall war der Name Hollebeek an sein Ohr gedrungen. Nun erst sah er sich den Mann genauer an. Nein, ein Straßenbettler sah anders aus.

»Sprichst du Holländisch?« fragte er in seiner Muttersprache.

»Ja, Mynheer, ein wenig,« kam es sofort zurück.

»Dann wiederhole. Von deiner Sprache verstehe ich nicht genug.«

Der Eingeborene machte ein erstauntes Gesicht, begann aber sogleich in gebrochenem Holländisch zu sprechen. Dabei ließ er die Augen mit mißtrauischem Ausdruck fortwährend herumschweifen, wie wenn er fürchtete, beobachtet zu werden. Besonders die Stelle, wo Wong Tsau verschwunden war, schien ihn zu beunruhigen.

Arnold Hemskerk hatte in Jans Briefen alles, was die gemeinsamen Unternehmungen betraf, so oft gelesen, daß ihm jede Einzelheit vertraut war. Bei dem Namen Jama erinnerte er sich daher auch sogleich des malaiischen Kochs und Dieners, zumal da dieser noch im letzten Brief wegen seiner Zuverlässigkeit ein Lob erhalten hatte.

»Mynheer Hollebeek nicht mehr hier,« begann er traurig.

»Das habe ich soeben gehört. Ich wundere mich, daß er seinen Diener Jama nicht mitgenommen hat.«

Über das braune Gesicht huschte ein Lächeln, das jedoch sofort wieder von dem trüben Ausdruck abgelöst wurde.

»Wong Tsau sagt, ich soll hier bleiben, weil der gute Herr mich nicht mehr sehen will. Wong Tsau ist ein schlechter Mann. Er hat mich einen Dieb genannt, weil eine silberne Schachtel für Zigaretten fehlen soll. Aber ich habe nie gestohlen, und ich will zu meinem guten Herrn und es ihm sagen. Wong Tsau muß gelogen haben, sonst hätte er mich nicht hier gelassen. Herr, traue nicht diesem Chinesen,« fuhr er nach einem abermaligen schnellen Rundblick fort, »er ist böse.«

Arnold fiel ein, daß vielleicht der Rassenunterschied zu Reibereien Veranlassung gegeben habe.

»Die anderen waren gewiß unfreundlich gegen dich, weil sie keinen Malaien unter sich haben wollten,« erwiderte er ruhig. »Das kommt wohl hier öfters vor.«

Doch diese Erklärung wollte der braune Bursche nicht gelten lassen.

»Nein, Herr, es ist etwas anderes. Ich verstehe ein wenig von ihrer Sprache; das wissen sie nicht. Es sind nicht viele Worte, aber ich lese zugleich in ihren Gesichtern, was sie dabei denken. Sie spotten über den guten Herrn, aber wenn er vor ihnen steht, sind sie eifrig, ihm zu gefallen. Und wenn ich auch keine Beweise dafür habe, ich bin sicher, es droht ihm eine große Gefahr. Ich wollte noch mehr hören, ehe ich ihm davon sprach; aber nun ist er plötzlich abgefahren und hat mich zurückgelassen.«

Arnold schüttelte ungläubig den Kopf. Es war ja offensichtlich, daß der Mann in seinem Grimm über die unerwartete Zurücksetzung vielleicht an und für sich richtige Beobachtungen falsch deutete. Die geheuchelte Unterwürfigkeit der Chinesen mochte den Andersgesinnten abstoßen; sie daraufhin zu beschuldigen, daß sie Böses im Schilde führten, ging selbstverständlich zu weit.

»Ich verstehe,« antwortete er freundlich, »daß die unwahre Beschuldigung dich kränkt, und ich werde meinem Freund erzählen, was wir miteinander gesprochen haben. Aber nun muß ich eilen. In einer Stunde fahre ich ab.«

Er wollte einsteigen, doch der flehende Ausdruck in Jamas Gesicht hielt ihn zurück.

»Herr,« kam es zögernd und zugleich eindringlich bittend von den braunen Lippen, »nimm mich mit! Du brauchst einen Koch, und ich will dir ein treuer Diener sein. Du glaubst nicht, was ich vorhin gesprochen habe? Es ist wahr; ich schwöre es. Der gute Herr hat mich nur fortgeschickt, weil man ihn belogen hat. Ich möchte wieder bei ihm sein.«

Arnold überlegte. Vielleicht war es unklug, den Chinesen gegen ihren Willen diesen fremden Malaien aufzudrängen. Jan hatte sich wahrscheinlich nur des lieben Friedens wegen im letzten Augenblick entschlossen, auf die Dienste des Kochs zu verzichten. Aber wie es auch sein mochte: in dem Gehörten kam eine rührende Anhänglichkeit zum Ausdruck, und diese wog gewiß etwaige Unannehmlichkeiten auf, die sich während des Zusammenlebens bei der Wasserfahrt ergeben mochten.

»Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte er endlich in entschlossenem Ton. »Folge mir zum ›Oriental-Hotel‹ und warte dort, bis ich zum Strand fahre.«

Der Malaie strahlte vor Freude.

»Danke, Herr, danke! Ich will …«

Arnold Hemskerk wartete nicht auf das Ende seiner Beteuerungen, sondern bestieg nun schnell den Karren, der sich sofort in Bewegung setzte.

Bei der nächsten Straßenbiegung wandte er den Kopf. Richtig: aus Angst, das Gefährt aus den Augen zu verlieren, trabte der Malaie hinterdrein. So langte dieser auch fast gleichzeitig am Ziel an, wo er schweißüberströmt, doch offenbar sehr befriedigt an einer schattigen Stelle niederhockte, von der man alle Ausgänge im Auge behalten konnte.

Arnold blieb in der luftigen Vorhalle. Er ließ sich ein kühles Getränk bringen und begann alsbald zu schreiben.

Ohne darauf zu achten, was um ihn her vorging, blieben seine Gedanken fast eine Stunde lang mit diesem an Jans Eltern gerichteten Brief beschäftigt. Anfangs flog die Feder über das Papier; bald aber gab es lange Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Während er hier in Ruhe alles berichtete, was er über den plötzlichen Entschluß des Freundes erfahren hatte, drängten sich aufs neue die unbestimmten Zweifel vor, die er vorher nur mit Mühe unterdrückt hatte. Zu sehr widersprachen Jans angebliche Absichten seinem ganzen Wesen, und immer mehr wuchs in ihm die Überzeugung, daß der Wunsch, Haydocks Absichten nachzuforschen, nicht die alleinige Ursache der plötzlichen Abreise gewesen sein könne. Aber was sonst mochte ihn zu dem überstürzten Schritt veranlaßt haben?

In langem Grübeln suchte Arnold nach einer einleuchtenden Erklärung. Doch je mehr er darüber nachsann, desto weniger war er selbst von dem überzeugt, was er geschrieben hatte, und als er endlich den ganzen Brief überlas, klangen ihm daraus seine Zweifel und Sorgen getreulich entgegen.

»Soll ich ihn so abschicken?« fragte er sich unentschlossen. Der ohnehin schon ängstlichen Mutter bereitete er gewiß neue Schmerzen; doch auch die beiden Männer mochten sich angesichts einer so ungewissen Nachricht wohl beunruhigt fühlen.

Vergebens suchte er nach einem Ausweg. Durfte er in einer so wichtigen Angelegenheit etwas anderes als die reine Wahrheit schreiben? Seine innere Stimme antwortete ein entschiedenes Nein, und das gab den Ausschlag. Vielleicht bot sich schon in den nächsten Tagen Gelegenheit, einem nach Pinang segelnden Boot eine befriedigende Erklärung mitzugeben.

Mit diesen tröstenden Gedanken schloß er den Brief und warf ihn beim Verlassen des Hotels eigenhändig in den an der Außenseite des Gebäudes angebrachten Kasten.

Jama, der Koch, eilte ihm augenblicklich entgegen. In zwei Rikschawagen fuhren sie zum Strand, wo es für Arnold eine neue unangenehme Aufgabe zu lösen gab. Mochten die Chinesen beim Anblick seines Schützlings mißvergnügte Gesichter aufsetzen: mit der Größe der Aufgabe, die er vor sich sah, fühlte er die eigene Kraft wachsen, und er war entschlossen, sich durch festes Auftreten gleich von vornherein die dem Leiter der Expedition gebührende Achtung zu verschaffen.


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