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2

Anstatt mich zu entschuldigen, hielt ich es für besser, schleunigst Bericht über die Vorfälle im Domino-Klub zu erstatten, in der Hoffnung, daß seine Gedanken hierdurch von meiner Person abgelenkt würden.

»Ein Fall von Inspektor Charles pflegt fast immer auch ein Fall für mich zu sein«, lautete das Urteil des greisen Arztes, als ich geendet hatte. »Doch das wußten Sie nicht.« Im nächsten Moment stand er schon vor dem Bett. »Richten Sie ihm bitte aus, daß ich sofort kommen werde, und bestellen Sie meinen Wagen. Und dann machen Sie sich ebenfalls so schnell wie möglich fertig.«

Ich brauchte keinen Ansporn zur Eile. Fiebernd sehnte ich mich nach dem Schauplatz jenes Maskengetümmels zurück, um zu erfahren, was sich dort zugetragen hatte. Ich beglückwünschte mich zu der geübten Vorsicht: in meinem gewöhnlichen Anzug war ich von Sir Franks Haus fortgegangen und genau so gekleidet heimgekehrt. Keine Seele im Domino-Klub – mit Ausnahme des Mitglieds, dem ich die Eintrittskarte verdankte – ahnte meine Identität; Entlarvung drohte mir nach menschlichem Ermessen demnach nicht. Aber es galt ein gefährliches Spiel zu spielen – mit Tarleton als gefährlichem Gegner. Und ungeachtet seiner Güte und Freundlichkeit für mich zitterte ich bei dem Gedanken, in das Bereich seiner unheimlichen Fahndungsgabe zu kommen.

Sobald ich Inspektor Charles verständigt und einen Topf mit Kaffee auf die kleine Spiritusmaschine gestellt hatte, tauchte ich meinen Kopf in kaltes Wasser. Dann rasch wieder in die eben erst abgestreiften Kleider hinein! Als mein Chef sein Zimmer verließ, konnte ich, fix und fertig, ihm eine dampfende Tasse Mokka anbieten und wurde durch das Behagen, mit der er sie austrank, für meine kleine Mühe belohnt. Ich nahm ihm die viereckige Ledertasche ab, die alles enthielt, was für die Behandlung eines Giftfalles in Frage kam, und ständig in seinem Schlafzimmer bereit stand, und schritt neben ihm die Treppe hinunter.

Unten vor der Haustür wartete schon der Wagen. Während wir dann durch die Straßen rollten, in denen sich gerade die ersten Anzeichen des morgendlichen Lebens regten, teilte mir Tarleton Näheres über die Persönlichkeit von Inspektor Charles mit.

»Er ist ein ehemaliger Offizier und sieht es nicht ungern, wenn man ihn Captain Charles nennt. Nebenher ist er auch der jüngere Sohn eines Peers. Da seine Familie albern genug ist, seinen Dienst bei der Polizei als unvereinbar mit der Ehre eines adligen Sprößlings zu finden, verschweigt er aus Rücksicht auf diese verbohrten Angehörigen seine Abstammung meist. In Scotland Yard ist sie natürlich bekannt, und deshalb verwendet man ihn bei allem, was in die gute Gesellschaft hineinspielt. Vermutlich wähnt man, daß er unter diesen hohen Herrschaften gut Bescheid weiß. Aber wenn Sie mich fragen, Cassilis, so sage ich Ihnen, daß ein erfahrener Kammerdiener zehnmal mehr weiß. Sie werden in Charles einen aufrechten, korrekten, gewissenhaften Menschen finden, doch erwarten Sie nur nicht, daß er einen Zoll über seine eigene Nase hinaussieht.«

Dies letztere tröstete mich. Aber leider gaben mir die nächsten Worte meines Chefs einen schrecklichen Stoß. »Eigentlich müßten Sie, Cassilis, doch imstande sein, mir ein bißchen über unser Ziel zu erzählen. Domino-Klub! Das klingt wie diese Nachtvergnügungen, die das Ministerium so unpassend für meinen künftigen Assistenten fand.«

Wie sich aus dieser Klemme ziehen? ... Die Wahrheit zu sagen, schied von vornherein aus. Weniger um meinetwillen als um einer anderen Person willen mußte meine Teilnahme an diesem verhängnisvollen Maskentrubel verschwiegen bleiben. Und schon stand ich im Begriff, jegliche Bekanntschaft mit dem Klub rundweg zu leugnen, als mir einfiel, daß vielleicht irgendeine unbewußte Bewegung, irgendeine gedankenlose Bemerkung dem scharfsichtigen Tarleton später verraten könnte, daß mein Fuß die Schwelle dieses fragwürdigen Lokals doch schon überschritten hatte.

»Ja«, erwiderte ich langsam, »jetzt, da Sie davon sprechen, erinnere ich mich eines dort verlebten Abends. Jeder der Anwesenden trug eine Maske und irgendein Kostüm. Man munkelte, es sei ein Ort, wo Leute von höchstem Rang sich amüsierten und austobten ... Gerichtspräsidenten, Minister, Aristokraten und so weiter.«

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen in einer der altmodischen Straßen von Chelsea, vor dem Eingang eines sonderbaren Gebäudes oder besser einer Gruppe von Gebäuden, die den Namen Vincent-Ateliers trugen.

Die Räumlichkeiten ähnelten einem Kaninchenbau. Ein paar Stufen führten vom Straßenpflaster abwärts in eine dunkle, höhlenartige Halle, die an drei Seiten zahlreiche Türen aufwies. Hinter den meisten dieser Türen befanden sich Ateliers von Künstlern – etliche mir persönlich bekannt; Ateliers, so höhlenartig, wenn auch nicht ganz so dunkel wie die Halle. An ihrer hinteren Querwand führten riesige Glastüren in verwunschene Gärten oder gartenähnliche Höfe, überwuchert von Kresse und anderen Pflanzen, die den Ruß und den Schmutz der Vorstädte Londons zu lieben scheinen. Als Abschluß lagerten ganz hinten riesige Stapel Bauholz, wie eine Bergkette, die eine Landschaft begrenzt. Irgendein längst vergessener, vielleicht schon vermoderter Bauherr hatte es hinterlassen, und da es von den Erben nie entdeckt worden war, blieb es jahraus, jahrein ein Besitztum der Ratten.

Am Ende der Eingangshöhle las man auf zwei nebeneinander liegenden Türen noch den Namen zweier Künstler, von denen der eine, unlängst siegreich in die Akademie eingezogen, seine Schaffensstätte in die sonnigere Region von Bedford Park verlegt hatte, während der andere den Pinsel mit einer größeren Profit versprechenden Waffe vertauschte. Lediglich die Eingeweihten wußten, daß die Tür mit der Aufschrift »J. Loftus, Kunstmaler« jetzt zum Domino-Klub führte. Die Nachbartür – nur oberflächlich von dem Namen James Yelverton befreit – diente als Lieferanten- und Personaleingang für den Klub. Ferner benutzten sie solche Mitglieder, die aus irgendwelchen Gründen sich nicht in Karnevalskostümen durch die Straßen wagten. Mit Rücksicht auf diese Herrschaften waren kleine Ankleidekabinen eingerichtet worden, in denen sie sich von grauen Motten in glänzende, farbenfreudige Schmetterlinge verwandeln und wieder zurückverwandeln konnten.

Vor dem Klubeingang stand breitbeinig ein Kriminalpolizist, der Sir Frank respektvoll grüßte.

»Inspektor Charles werden Sie drinnen finden, Sir«, sagte er, die Tür für uns aufreißend.

Ein schmaler Gang mit vielen Kleiderhaken nahm uns auf, und die Tür an seinem Ende führte direkt in den Tanzsaal.

Das ehemalige Atelier hatte sich eine Dekoration gefallen lassen müssen, die fraglos Träume von Arabischen Nächten heraufzaubern sollte. Ansichten maurischer Arkaden und plätschernder, von Palmen und Oleander beschatteter Springbrunnen waren auf die Wände gemalt. In gewissen Zwischenräumen ragten hölzerne Säulen empor, um Vorhänge von gestickter Gaze zu tragen, die diese so gebildeten Nischen halbwegs den Blicken der Tanzenden entzogen. Der ganze Saal wurde noch von dem Schein einer Reihe roter Laternen übergossen. Aber durch eine jetzt weitgeöffnete Glastür drang gleichzeitig das Tageslicht herein, und wo es hinfiel, bekam der rötliche Lampenschein etwas Verstörtes, Gespensterhaftes. Er mutete an wie das Antlitz einer alten Frau, von dem die Schminkschicht in Streifen abgeschält war, so daß die Runzeln und scharfen Knochen erbarmungslos hervortraten.

Inspektor Charles, groß und stattlich, in seiner ganzen Erscheinung Gesetz und Ordnung versinnbildlichend, winkte uns mit feierlicher Geste nach einem verhangenen Alkoven, ganz nahe der Gartentür.

Vor diesem Moment hatte ich gebangt. Aber ich zwang meinem Gesicht eine gleichmütige Maske auf, als ich hinter meinem Chef die Nische betrat. Auf einem niedrigen Diwan lag eine Gestalt im Gewand eines Inquisitors. Die schwarze Robe umschloß ihn in schön geordneten Falten, jedoch die spitze Haube mit den beiden Augenschlitzen war über den Kopf zurückgestreift und gab das Gesicht frei. Ein fesselndes Gesicht, fesselnd in jeder Weise; das Gesicht eines Mannes, den ich auf achtundvierzig bis fünfzig Jahre schätzte. Eine gut gewölbte Stirn, die auf Intelligenz schließen ließ; die Augen, weit geöffnet und glasig im Tode, hatten sicher im Leben scharf und durchdringend geblickt. Nase und Kinn wie von dem Meißel eines schönheitsdurstigen Künstlers geformt; nur die Lippen – überreife Früchte – deuteten etwas Böses an, das die Würde und Kraft der sonstigen Züge Lügen strafte. Ich prüfte die ruhende Gestalt mit schmerzhafter Neugier. Nur allzu gut kannte ich das Kostüm. Im Laufe der verflossenen Nacht hatte ich überreichlich Gelegenheit gehabt, es zu bemerken. Aber das Gesicht war mir ebenso fremd wie meinen beiden Gefährten. Selbst die Augen, infolge des Rauschgiftes unnatürlich geweitet, schienen wenig Ähnlichkeit mit denen zu haben, die vor einigen Stunden durch die schwarzen Seidenschlitze gespäht hatten.

»So, wie Sie ihn hier sehen, ist er gefunden worden«, wandte sich Inspektor Charles an meinen Chef, »als man kam, um die Lichter in der Nische abzudrehen. Anfänglich wähnten die Kellner, er läge im schweren Schlaf des Alkohols, und versuchten ihn durch Schütteln zu ermuntern. Als das mißlang, holten sie Madame Bonnell, die Besitzerin des Klubs, ohne deren Genehmigung sie das Antlitz nicht zu entblößen wagten. In dieser Hinsicht sind die Regeln des Klubs sehr streng. Madame Bonnell erkannte sofort, daß sie neben einem Toten stand, benachrichtigte unverzüglich Scotland Yard und achtete darauf, daß die Leiche bis zu unserer Ankunft nicht berührt wurde. Ich selbst habe sie auch noch nicht angerührt.«

Knapp, sachlich, sich auf die nackten Tatsachen beschränkend, lautete Inspektors Charles' Bericht, dem der berühmte Arzt mit einem befriedigten Nicken lauschte.

»Sie deuteten in Ihrem Gespräch mit Dr. Cassilis an, es liefe vermutlich auf eine Opiumvergiftung hinaus«, bemerkte er.

Captain Charles würdigte mich eines Blickes, in dem ich so etwas wie Mißbilligung über mein jugendliches Aussehen las.

»Jawohl, Sir Frank, ich schloß das, weil nichts auf einen Kampf oder ein Unwohlsein deutet. Er scheint in seinem Schlaf den letzten Atemzug getan zu haben.« Abermals nickte Tarleton zustimmend. Und nun drehte er sich zu mir um:

»Was meinen Sie, Cassilis?«

»Bis zu einem gewissen Grade pflichte ich Captain Charles bei. Aber ...« Zweifelnd wiegte ich den Kopf. »Können Sie uns angeben, zu welcher Stunde man den Mann leblos fand?« fragte ich den Kriminalbeamten.

»Jetzt ist es halb sieben«, erwiderte dieser, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. »Kurz nach fünf kam ich hierher, demnach wird es halb fünf gewesen sein, als der Tote gefunden wurde.«

Ich sah zu dem Gelehrten hinüber, dessen Finger schon wieder an dem Bande seiner Uhr lagen, und mit der langsamen Bewegung eines Pendels ging sie hin und her. »Wenn das Opium nicht sehr früh genossen wurde – in welchem Falle sicherlich irgend jemand die Wirkung bemerkt haben dürfte –, muß es eine gewaltige Dosis gewesen sein, um so bald den Tod herbeizuführen«, ließ ich mich vernehmen, da mein Chef Schweigen bewahrte. »Ich argwöhne fast, daß die rapide Wirkung mit Herzschwäche oder sonst einem physischen Fehler zusammenhängt. Mir gefällt nämlich die Hautfarbe nicht.«

»Ah! Ist es Ihnen aufgefallen? ...« Tarleton beugte sich einige Sekunden tief auf das tote Antlitz herab. »Und nun – wer ist der Mann?« forschte er, sich wieder aufrichtend.

»Wilson hieße er, erklärte mir die Besitzerin. Doch sie scheint wenig über ihn Bescheid zu wissen.«

»Wilson? ...« Mit skeptischer Betonung wiederholte Tarleton den Namen. »Smith, Miller, Wilson – solche Decknamen sind an Stätten dieser Art recht beliebt. Kann ich die Besitzerin sprechen?«

Captain Charles ging fort, um sie zu holen. Und kaum hatte er uns verlassen, so wisperte mir mein Chef ins Ohr: »Kein Wort mehr über die Todesursache im Beisein eines Dritten, Cassilis. Ich tadele mich schon, daß ich Sie nach Ihrer Meinung fragte. War falsch. Aber ich unterschätzte Ihre Beobachtungsgabe. Pst! ...«

Bei diesem warnenden Laut drehte ich mich um und sah, wie eine, nicht mehr junge Frau, in schwarze Seide gekleidet, quer durch den Raum auf uns zukam. Sehr tüchtig und geschäftsmäßig schaute sie aus, mit ihrem gut frisierten Haar und befehlenden schwarzen Augen, ihrem gepflegten Gesicht, ihrer vollschlanken Gestalt und jenem erstaunlichen Anstrich von Ehrbarkeit, den nur eine Französin in einer mit Sünde geschwängerten Atmosphäre aufrechterhalten kann. In Madame Bonnells Gegenwart wurde das Laster seiner Unschicklichkeit beraubt, und selbst Mord nahm den Charakter eines geschäftlichen Fehlschlages an, von dem man am besten möglichst wenig Aufhebens macht. Offensichtlich hatte Madame die Zeit seit der Entdeckung dieses besonderen Fehlschlages dazu benutzt, ihr persönliches Erscheinen wirksam vorzubereiten. Sie begrüßte uns mit gewinnender Liebenswürdigkeit. Sogar Tarleton, so dünkte es mich, wurde von ihrer anmutigen und dennoch würdigen Haltung gefangen genommen. Im Handumdrehen schienen wir uns in vier Freunde verwandelt zu haben, die vertraulich über eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse plaudern. Und Madame war es, die uns einlud, Platz zu nehmen.

»Nicht wahr, Madame, Sie begreifen hoffentlich, daß uns keine feindliche Absicht hergeführt hat«, begann der Vertrauensmann des Ministeriums. »Wenn es sich ermöglichen läßt, die Angelegenheit im Stillen zu erledigen, ohne Sie und Ihr Etablissement in einen Skandal zu verwickeln, soll es mich herzlich freuen.«

Eigentlich erübrigte sich diese Versicherung. Madame Bonnell wies allein schon durch ihre Art die Möglichkeit ab, in einen Skandal oder in irgend etwas, was sich mit dem Charakter einer ehrbaren Geschäftsfrau nicht vertrug, verwickelt zu werden.

»Sie haben, wie ich hörte, den Toten mit dem Namen Wilson identifiziert. Haben Sie eine Ahnung, ob dies sein wirklicher oder ein vorgeschützter Name ist?«

Madame Bonnell hatte keine Ahnung. Und Madame Bonnell war untröstlich darüber, weil Sir Frank doch anscheinend gern das Gegenteil von ihr gewünscht hätte.

Es gelang Madame, uns zu überzeugen, daß es nicht zu ihren Gepflogenheiten gehörte, einen Gast mit zudringlichen Fragen zu behelligen oder sich den eigenen Kopf über eine andere Eigenschaft als die Zahlungsfähigkeit des Betreffenden zu zerbrechen.

Unter der spiegelglatten Oberfläche von Gleichgültigkeit witterte ich nichtsdestoweniger bei der Besitzerin das deutliche Bewußtsein, daß sie von den Vertretern des Gesetzes über eine bitterernste Affäre verhört wurde, und daß es ihrerseits nicht klug sein würde, irgendeine wesentliche Information zu verschweigen. Offenheit hielt sie unbedingt für die beste Politik – zum mindesten Offenheit bis zu feinem gewissen Punkt. Auf Tarletons nächste Frage, wie sie die Bekanntschaft des Toten gemacht habe, erwiderte sie lang und ausführlich. Monsieur Wilson habe sich ihr vorgestellt, als sie vor zwei Jahren ein kleines Restaurant in Soho leitete, und er sei es auch gewesen, der ihr vorgeschlagen habe, ihre Stellung dort mit der einträglicheren der Besitzerin eines mondänen Nachtklubs zu vertauschen. Monsieur hätte sich erboten, das für die Eröffnung eines derartigen Klubs nötige Kapital zu verschaffen und ihm einen mondänen, eleganten Stempel zu geben. Beide Versprechen seien erfüllt worden. Denn die sämtlichen ersten Klubmitglieder hätte der Verstorbene ihr zugeführt und seither noch manche andere. Madame bekannte, daß sie tief in Wilsons Schuld stünde. Um sie wenigstens etwas abzutragen, widmete sie, während sie sprach, seinem Schicksal ein paar Zähren, aber diese Abschlagszahlung wertete ich nicht sehr hoch. Gegenwärtig war der Domino-Klub ein blühendes Unternehmen und bedurfte schwerlich noch der weiteren Unterstützung des Toten.

Madame Bonnells Aussage hatte das Geheimnis vertieft, anstatt es zu lichten. Wer war dieser unbekannte Wilson? Was konnte ihn bewogen haben, einen Nachtklub ins Leben zu rufen? Und woraus rührte sein Einfluß her, dank dem er so viele Mitglieder aus den höchsten sozialen Kreisen zu werben vermochte? ...

Inspektor Charles hatte sich bei diesem Verhör darauf beschränkt, seinem Notizbuch Daten und Adressen einzuverleiben – getreu der blöden, durch Überlieferung geheiligten Methode. Endlich trat in dem Zwiegespräch zwischen Tarleton und Madame eine Pause ein, und ich benutzte sie für eine Frage, mit der mein Hirn sich schon längere Zeit beschäftigte.

»Diese Leute, die Wilson dem Klub zuführte, müssen mit ihm befreundet gewesen sein. Soweit ich ein Bild zu gewinnen vermag, setzte sich der Klub gänzlich aus seinen persönlichen Freunden oder Freunden dieser Freunde zusammen. Kommt man angesichts dieser Sachlage nicht auf den Gedanken, daß er selbst das Gift nahm und es ihm nicht irgendwie heimlich eingeflößt wurde?«

Mit einem Ruck wandten meine drei Gefährten mir ihre Köpfe zu und starrten mich überrascht an, obwohl ich nur eine logische Schlußfolgerung geäußert hatte. Mein Chef sagte nichts, doch die Furchen seiner Stirn verrieten mir eindeutig, daß er meine Theorie verwarf. Captain Charles aber machte einen fatalen Einwand.

»Nachdem er den Klub gegründet und alles, getan hatte, um ihm zu einem Erfolge zu verhelfen, sollte er gerade in seinen Räumen Selbstmord begehen? Also etwas, woraus dem Klub größter Schaden erwachsen würde?«

Zum erstenmal bemächtigte sich der Französin eine echte Aufregung.

»Um Gottes willen, das darf nicht bekannt werden!« rief sie scharf. »Sie, Sir«, – das galt Tarleton – »werden wissen, wie es am leichtesten zu bewerkstelligen ist, daß dieser Unglückliche anderswo hingeschafft wird. Bedenken Sie doch das Aufsehen, wenn man erfährt, daß ein Verbrechen in Anwesenheit des Prinzen begangen wurde! ...«

Offenbar betrachtete Madame Seine Königliche Hoheit als eine Karte, mit der sie ihr Spiel gewinnen konnte. Vielleicht geschah es nicht zum ersten Male in ihrer geschäftlichen Laufbahn, daß sie die Polizei geneigt fand, vor unliebsamen Zwischenfällen, in die hohe Persönlichkeiten verstrickt waren, beide Augen zu schließen.

Aber der Vertreter des Innenministeriums wehrte ab. »Ich habe mich noch nicht entschieden, welchen Weg ich den Behörden anraten werde«, sagte er. »Haben Sie nichts auf Dr. Cassilis' Frage zu erwidern, Madame? Hat er recht mit der Vermutung, daß vergangene Nacht nur Freunde Wilsons hier geweilt haben?«

Derart bedrängt, bot Madame Bonnell das Bild einer widerwilligen Zeugin, die mit der Aussage zögert, weil sie die Folgen fürchtet.

»Solange ich glaube, daß man nicht gegen den Klub, der mir gehört, einschreiten wird, steht alles, was ich weiß – sogar etwaige Verdachtsmomente – der Polizei zur Verfügung«, warf sie vorsichtig hin.

Es war ein Handel, den die listige Französin ganz offen den Behörden vorschlug. Tarleton zuckte die Schultern – er würde sich als Allerletzter irgendwie verpflichtet haben.

»In derselben Sekunde, wo ich die Überzeugung gewinne, daß Sie mit einer Auskunft hinter dem Berge halten, sorge ich dafür, daß die Polizei das Lokal schließt. Und überdies werde ich dann Ihre Ausweisung in die Wege leiten, Madame Bonnell.«

Im Nu erkannte die Französin ihren falschen Schachzug und korrigierte ihn mit wunderbar gespielter Betrübnis.

»Oh, Monsieur muß mir verzeihen! Mich verwirrt die Lage, in die ich mich versetzt sehe. Unbekannt mit den britischen Gesetzen, unterwerfe ich mich bereitwilligst jeder Forderung, die Monsieur stellt. Womit kann ich jetzt dienen?«

»Ich erwarte, daß Sie Dr. Cassilis antworten.«

Madame Bonnell schenkte mir einen flehenden Blick, den ich nicht beachtete, so daß sie sich gezwungen sah, ohne Unterstützung zu sprechen.

»Monsieur le docteur irrt sich«, entgegnete sie endlich, jedes Wort sorgsam abwägend. »Fraglos war Monsieur Wilson mit den Leuten, die er hier einführte, bekannt, aber nicht alle waren seine Freunde. Im Gegenteil! Es befanden sich Feinde darunter, schlimme Feinde, vor denen er Todesangst hatte.«

»Weiter!« gebot Tarleton, als sie innehielt. »Woher wissen Sie das?«

»Weil er mich selbst ins Vertrauen zog und meinen Schutz erbat. Vor dem, was sich ereignet hat, zitterte er schon lange. Er wies mich an, jedes Getränk für ihn mit eigener Hand einzugießen und es ihm durch den Kellner zu schicken, den er für verläßlich hielt. Gérard heißt der Mann.«

»So. Das ist die erste wertvolle Auskunft«, bemerkte Tarleton. »Haben Sie die Güte, Madame, unverzüglich diesen Gérard herzuschicken.«


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